Der Rettungswagen parkte auf dem Bürgersteig. Die blinkenden Blaulichter spiegelten sich in den Pfützen, auf denen Blätter trieben.
Carl schlug den Kragen hoch. Er fror.
Zwei Sanitäter wuchteten die Rolltrage, auf der Leon Vogt lag, durch die Hecktüren. Der Kommissar schien noch immer bewusstlos zu sein. Ein paar Schaulustige umringten das Wrack, das sein Wagen gewesen war. Vogt hatte eine Laterne getroffen. Die Frontscheibe des Fahrzeugs war geborsten. Stoßstange, Motorhaube und ein Kotflügel verbeult. Ein Polizist versuchte, die Gaffer zurückzuhalten. Er fluchte, als einer sein Handy zückte, um Fotos zu schießen.
Carl versenkte seine Hände in den Taschen seines Mantels.
Es hatte wieder zu nieseln begonnen, dennoch standen eine Handvoll von Leon Vogts Kollegen vor dem Gebäude Columbiadamm 4. Im Schein einer Laterne beobachteten sie stumm das Geschehen. Einer der Kommissare hielt sich an einer Zigarette fest. Sein Gesicht war von Falten zerfurcht.
Carl konnte sich gut vorstellen, was in ihm vor sich ging. Ab und zu sah der Raucher zu ihm herüber und dann spürte er die unterdrückte Wut. Keine Frage, der Mann mit der Zigarette machte ihn verantwortlich für das, was geschehen war. Und seine Kollegen vermutlich auch. Doch damit musste er nun einmal zurechtkommen.
Carl warf einen prüfenden Blick zu dem Karton mit Leon Vogts Sachen. Er stand neben seinen Füßen. Allmählich durchweichte der Regen die Pappe.
Er zog die Schultern hoch. Der Wind blies kalt.
Es war nicht seine Idee gewesen, die Leitung der Sonderkommission »Innen« zu übernehmen. Ganz im Gegenteil. Zu viel war in den letzten Jahren geschehen. Es war ein Wunder, dass er die Kurve gekriegt hatte. Gerade so. Er hatte sich darauf eingerichtet, noch ein paar Jahre Dienst nach Vorschrift zu machen und dann in Frühpension zu gehen.
Warum auch nicht? Er hatte sein Leben dem Landeskriminalamt geschenkt. Alles, wirklich alles hatte er für den Job aufgegeben. Er hatte es sich verdient, die letzten Jahre eine ruhige Kugel zu schieben. Am Schreibtisch, wenn irgendwie möglich. Aber jetzt stand er hier. Durchgefroren. Todmüde. Und musste sich auch noch dumm von Kollegen anstarren lassen.
»Blödes Arschloch«, knurrte er, als der rauchende Kommissar wieder zu ihm herübersah.
»Wie bitte?«
»Du hast mich schon verstanden.« Carl wusste, dass es klüger wäre, die Klappe zu halten, aber es war ihm gleich.
Der Kommissar mit dem faltenzerfurchten Gesicht schnippte die Kippe zu Boden und zertrat sie unter dem Hacken seines Schuhs. Er deutete zu dem Rettungswagen, dabei ließ er Carl keine Sekunde aus den Augen. »Wie fühlt man sich, wenn man einen Kollegen fertiggemacht hat? Leon hat eine Frau und einen Sohn. Na, bist du stolz auf dich?«
Jetzt wäre der Moment gewesen, sich umzudrehen und davon zu gehen, aber etwas in Carl schien auf Streit aus zu sein. Er trat auf den Raucher zu.
»Du redest Blödsinn.« Carl spürte, wie sein Herz schneller schlug. Sein Gegenüber war einen halben Kopf größer als er und durchtrainiert dazu, doch das war ihm gleich. »Meine Kollegen und ich sind nicht dafür verantwortlich, was geschehen ist, also verpiss dich.«
»Ach? Und was, wenn nicht?« Der Raucher legte den Kopf schief und grinste ihn herausfordernd an.
Carl presste den Kiefer zusammen. Wie von alleine ballten sich seine Hände zu Fäusten.
Auf einmal spürte er, wie jemand seinen rechten Unterarm berührte.
Paula.
»Na, was ist denn nun?«, höhnte der Raucher. Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen.
Paula zog an seinem Arm. »Nicht.«
Auf einmal kam er sich dämlich vor. Um ein Haar wäre er auf einen Kollegen losgegangen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Carl wandte sich ab.
Paula machte Anstalten, sich nach dem Karton zu bücken, doch er kam ihr zuvor.
»Haben Sie etwas in Erfahrung gebracht?«, fragte er seine Kollegin nach ein paar Schritten. Verdammt, war der Karton schwer.
»Ein wenig. Von einem der Rettungssanitäter.«
»Und?«
»Es ist eine Schussverletzung.«
»Eine was?«
»Hauptkommissar Leon Vogt hat sich eine Kugel eingefangen. Hier.« Paula deutete auf ihre linke Seite.
Kein Wunder, dass der Kommissar so furchtbar ausgesehen hatte. Erstaunlich, dass er sich trotz der Wunde überhaupt auf den Beinen gehalten hatte.
»Was hat der Sanitäter gesagt? Kommt er durch?«
Paula zuckte mit den Schultern. »Der Kommissar hat ziemlich viel Blut verloren. Wahrscheinlich hat er auch innere Verletzungen, meinte der Sanitäter, doch das können sie erst sagen, wenn er genauer untersucht wurde. Erst einmal ist es ihnen gelungen, seinen Zustand einigermaßen zu stabilisieren. Sie wollen ihn ins Benjamin-Franklin bringen. Da ist er wohl am besten aufgehoben. Alles Weitere wird sich dann zeigen.«
»Wann werden wir ihn befragen können?«
»Er ist bewusstlos, Herr Hauptkommissar. Wann er aufwachen wird, steht in den Sternen.«
Falls er aufwachte.
Carl atmete langsam ein. Der Karton in seinen Armen wurde schwerer und schwerer. Wieso war Leon Vogt angeschossen worden? Und von wem? Wenn es etwas mit ihren Ermittlungen zu tun hatte, dann …
»Sie machen sich Vorwürfe«, riss ihn Paula aus seinen Gedanken.
Er blieb stehen und sah sie an. »Vorwürfe?«
»Was war das eben mit Ihnen und dem Kerl vom Dezernat 34?«
»Eine kleine Meinungsverschiedenheit unter Kollegen, nicht mehr.«
»Für mich sah es aus, als würden Sie Streit suchen.«
Er erwiderte nichts.
»Sagen Sie mir, dass Sie es nicht darauf angelegt haben, zusammengeschlagen zu werden.«
»Zusammengeschlagen? Ich?«
»Der Kerl war ein Riese mit Oberarmen wie Baumstämme. Er hätte Sie auseinandergenommen, Herr Hauptkommissar. Ist das Ihre Art, Schuldgefühle zu bewältigen?«
»Reden Sie so, weil Ihre Mutter Psychologin ist oder hat man Ihnen den Schwachsinn im Studium beigebracht?«
»Sie können nichts dafür, dass wir gegen Leon Vogt ermitteln. Wir erledigen unseren Job. Unvoreingenommen. Aber wenn sich herausstellen sollte, dass er sich nicht korrekt in den Ermittlungen gegen Staatssekretär Amann verhalten hat, muss er die Konsequenzen tragen. Wie jeder, der das Gesetz bricht.«
»Unvoreingenommen?« Carl schnaubte. »Sagen Sie das einmal der Presse. Für die steht seine Schuld fest.«
»Schon möglich, aber Sie können das nicht ändern. Sie müssen darauf achten, dass Sie professionellen Abstand zu den Ermittlungen wahren. Sie sind zu engagiert.«
»Wie kann man als Polizist zu engagiert sein? Was wir tun, ist kein Beruf, sondern eine Berufung.«
»Wann sind Sie gestern Abend nach Hause gegangen? Gegen Mitternacht?«
»So ungefähr.« Tatsächlich hatte er die halbe Nacht am Schreibtisch verbracht, um die Akten der Soko noch einmal durchzugehen. Er hatte ein paar Stunden zusammengerollt auf einem Sofa geschlafen. Sein Jackett hatte er als Kopfkissen verwendet.
»Haben Sie in letzter Zeit mal in einen Spiegel geschaut, Herr Hauptkommissar?«
Das hatte er nicht, aber wenn er so aussah, wie er sich fühlte, wusste er, was Paula meinte.
»Der Fall ist wichtig«, erwiderte er. Wieso verstand seine Kollegin nicht, weshalb er sich so in die Ermittlungen vertiefen musste?
»Darauf hat der Herr Innensenator immer wieder hingewiesen, ich weiß.«
»Ich leite die Sonderkommission. Ich habe es mir nicht ausgesucht, aber ich trage nun einmal die Verantwortung. Was bleibt mir denn anderes übrig?«
»Gerade, weil Sie so viel Verantwortung tragen, müssen Sie einen klaren Kopf behalten. Wie wollen Sie das Team führen, wenn Sie völlig übermüdet sind und kaum einen klaren Gedanken fassen können?«
»Blödsinn.« Sein Rücken schmerzte. Carl stellte den Karton vor sich auf den Boden. Er reckte sich.
»Ach wirklich? Sie lassen sich von den Ermittlungen aufreiben. Wem nützt es, dass Sie völlig übermüdet sind? Um sich irgendwie auf den Beinen zu halten, kippen Sie einen Kaffee nach dem nächsten rein. Gesund ist das nicht. Jede Wette, dass Sie deswegen so gereizt sind.«
»Gereizt? Ich?«
»Allerdings. Sie sind ein Pulverfass. Sie bemühen sich, es zu verbergen, aber wenn Sie auf Kollegen losgehen, ist das ein eindeutiges Zeichen. Verstehen Sie nicht, dass Ihr Verhalten unsere Arbeit behindert?«
Die Worte trafen ihn wie einen Schlag in die Magengrube. Er riss sich für das Team den Arsch auf und wie wurde es ihm gedankt?
Paula hob die Hände. »Herr Hauptkommissar, jeder im Team weiß, dass Sie sich für uns aufreiben. Und welcher Druck auf Ihnen lastet. Aber wir brauchen Sie. Und weil wir Sie brauchen, müssen Sie besser auf sich aufpassen. Gehen Sie nach Hause. Es bringt doch nichts, wenn Sie noch eine Nacht im Büro verbringen. Nehmen Sie eine heiße Dusche und dann legen Sie sich hin.«
Schlafen. Nur für ein paar Stunden. Es klang so verlockend. »Und was ist mit den Ermittlungen?«
Sie trat auf ihn zu und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Harms und Engels wissen, was sie tun und ich unterstütze die beiden, so gut ich kann. Für ein paar Stunden kommen wir auch ohne Sie aus. Schlafen Sie ein wenig. Und wenn Sie wieder bei Kräften sind, ziehen Sie ein paar frische Klamotten an. Denken Sie, es ist niemanden aufgefallen, dass Sie seit vier Tagen dieselben Sachen anhaben? Und da wir gerade dabei sind, Deo und eine frische Rasur würden auch nicht schaden.«
Sah er tatsächlich so schlimm aus? Wenn er seiner Kollegin zuhörte, klang es, als würde er wie ein Penner herumlaufen. Carl warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach sechs abends. »Sie haben mich überredet. Es ist ja wirklich schon spät.«
Er wollte sich bücken, um den Karton aufzuheben, doch Paula trat ihm in den Weg. »Ich kümmere mich um alles. Hauen Sie endlich ab.«
Er war viel zu müde, um zu widersprechen. »In Ordnung. Ich denke, ich werde die U-Bahn nehmen. Vielen Dank und bis morgen.«
Sie lächelte. »Bis morgen, Herr Hauptkommissar … Oh, Shit!«
Hinter sich hörte Carl das Quietschen von Reifen. Er wandte sich um und sah, wie die Fahrertür des schwarzen VW-Golfs, der neben dem Rettungswagen gehalten hatte, aufgestoßen wurde. Ein Mann sprang aus dem Wagen. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, den Motor auszuschalten. Die Scheibenwischer ruckten hin und her. Auf dem Dach flackerte ein Blaulicht.
Der Mann war Johnny Harms.
Der dritte Kollege der Soko Innen war klein und unter der schwarzen Bomberjacke, die er zu Bluejeans trug, zeichnete sich der Ansatz eines Bierbauchs ab. Seine Haare waren dunkel und ein wenig zu lang. Er hatte einen Schnurrbart.
Mit einer Schnelligkeit, die man dem stämmigen Mann nicht zugetraut hätte, eilte er auf sie zu. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass etwas geschehen sein musste. »Da bist du ja, Chef!«
»Was gibt's, Johnny?«
Carls Kollege beugte sich vorne über und stemmte einen Arm in die Seite. Er schnaufte. »Steig ein, ich erklär dir unterwegs, was es gibt.«
»Ich wollte eigentlich nach Hause. Mich ein wenig hinlegen. Ich bin ziemlich fertig, weißt du.«
»Das kannst du auch noch später tun. Los, mach schon.«
Carl warf einen Blick über die Schulter.
Paula Jacoby starrte ihn an. Ihr Gesicht war wie versteinert. Ihr Lächeln verschwunden.