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Sherlock Holmes - Neue Fälle 12: Und der Fluch der Titanic

von J. J. Preyer (Autor:in)
140 Seiten

Zusammenfassung

Sherlock Holmes und Doktor Watson versuchen das Rätsel um den Untergang der Titanic im Jahr 1912 zu lösen. Dabei lernen sie Überlebende des Unglücks kennen, darunter den Kopf einer gefährlichen Verschwörung. Ihm ist die Frau auf den Fersen, die Holmes schon einmal hinters Licht geführt hat: Irene Adler, die Frau im Leben des großen Detektivs. Zwischen Holmes und Irene Adler entbrennt erneut ein erbitterter Kampf. Die Printausgabe des Buches umfasst 192 Seiten. Achtung: Die Print-Ausgabe unserer Sherlock-Holmes-Reihe ist nur noch exklusiv in unserem Shop erhältlich.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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© 2015 BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Lektorat: Dr. Richard Werner

Umschlaggestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-211-0

DIE DREI DAVIDSKRIEGER

 

Kingsgate Castle, Wiltshire

29. Dezember 1902, Davidstag

 

Der athletisch wirkende junge Mann mit den wirren roten Haaren zog einen blühenden Kirschzweig aus der Vase und betrachtete ihn andächtig. Während Wasser auf die weiße Tischdecke tropfte, hob der Rothaarige zu singen an, zuerst etwas zaghaft, dann fester im Ton und sicherer.

 

Lo, how a Rose e’er blooming

From tender stem hath sprung!

Of Jesse’s lineage coming,

As men of old have sung.

It came, a flow’ret bright,

Amid the cold of winter,

When half spent was the night.

 

Es ist ein Ros entsprungen,

Aus einer Wurzel zart.

 

Nun schlossen sich die beiden anderen Zwanzigjährigen und ein älterer Mann, die mit dem Rothaarigen am Speisetisch saßen, dem Gesang an.

 

Wie uns die Alten sungen,

Aus Jesse kam die Art

Und hat ein Blümlein bracht,

Mitten im kalten Winter,

Wohl zu der halben Nacht.

 

»Wohl zu der halben Nacht«, wiederholte ein schmächtiger blonder Junge und trank das Glas mit dem Rotwein aus dem Süden Afrikas leer.

Der etwa vierzigjährige Colonel David King, ein kräftiger Mann mit gepflegtem Schnurrbart und einer kaum verheilten Schussverletzung an der linken Seite seiner Stirn, betätigte die Glocke, um den Butler zu rufen. »Das Mahl war vorzüglich, Jonathan. Danken Sie der Köchin und ihrem Gefolge in meinem Namen und im Namen meiner Gäste. Sie können die Teller abräumen. Und bringen Sie Nachschub! Der Wein ist alt, der Abend jung.«

Der Butler entfernte Geschirr und Servietten, dann kam er mit einem vollen Weinkrug zurück.

Colonel King füllte die Gläser und rief: »Auf den Sieg! Auf König David und seine Krieger!«

»Es lebe König David!«, jubelten die jungen Männer.

»Seid ihr bereit zur Lesung aus dem Heiligen Buch?«

»Wir sind bereit, Sir.«

Colonel King öffnete eine in dunkles Khaki gebundene Feldausgabe der Bibel und begann mit etwas undeutlicher Stimme zu lesen: »Und David ward lüstern und sprach: Wer will mir Wasser zu trinken holen aus dem Brunnen zu Bethlehem unter dem Tor? Da brachen die drei Helden ins Lager der Philister und schöpften Wasser aus dem Brunnen zu Bethlehem unter dem Tor und trugen’s und brachten’s David. Aber er wollte es nicht trinken, sondern gab es dem Herrn. Und sprach: Das lasse der Herr fern von mir sein, dass ich das tue! Ist’s nicht das Blut der Männer, die ihr Leben gewagt haben und dahingegangen sind? Und wollte es nicht trinken.«{1}

Colonel David King nahm einen tiefen Schluck aus seinem Trinkglas, dann wandte er sich wieder an seine Gäste: »Du bist Jasobeam, du Samma und du Eleasar. Ihr seid die drei Helden Davids, die die Philister besiegen, zu ihrem eigenen Ruhm und zum Ruhme ihres Königs. Denkt an die Worte des Heiligen Buches: Da brachen die drei Helden ins Lager der Philister und schöpften Wasser aus dem Brunnen zu Bethlehem unter dem Tor und trugen’s und brachten’s David. Eure große Tat geschah vor exakt einem Jahr, am Davidstag des Jahres 1901. Ihr brachtet mir, eurem Colonel, zum Ehrentag den Wein aus der Mitte der Feinde, aus dem Lager der Buren in Ysterspruit. Wie es im Heiligen Buche steht, opferten wir den Wein unserem allmächtigen Gott, der unsere Wege lenkt, uns den Sieg geschenkt hat und mich trotz der schweren Verwundung überleben ließ. Der euch, meine Krieger, nahezu unversehrt in die Heimat zurückführte.«

Der Colonel hatte sich von seinem Stuhl erhoben und schwankte leicht. Nicht unter dem Einfluss des Alkohols, sondern unter der Schwere seiner Gehirnverletzung, die auch seine Artikulation beeinträchtigte. »Mir wurde Anfang Dezember von Ihrer Majestät, der Queen unseres großartigen Landes, das Victoria-Kreuz verliehen, für Tapferkeit vor dem Feind.«

Die drei Soldaten klopften beifällig mit den Knöcheln ihrer Finger gegen die Tischplatte.

»Und weil ihr, meine Krieger, diese Auszeichnung mindestens ebenso verdient habt wie ich, habe ich euch zu dieser Feier nach Kingsgate eingeladen. Die tapfersten Soldaten meiner Truppe bekommen hiermit das Kreuz aus meiner Hand verliehen. Das Victoria-Kreuz für heldenhafte Taten im Südafrikanischen Krieg geht an Private Jasobeam, an Private Eleasar und an Private Samma.«

Mit unsicherer Hand heftete Colonel King den jungen Männern die Bronzemedaillen an ihre dunklen Jacketts, genau über dem Herzen. Dann nahm er die Kristallvase, der der Rothaarige den Kirschzweig entnommen hatte, goss das Wasser achtlos auf den Teppich des Speisesaals und füllte sie mit rotem Wein. Den Zweig tauchte er in die rote Flüssigkeit und stellte das Gefäß an das Fenster zum Park. Auf bunten Bleiglasscheiben wurde der Baum Jesse dargestellt, die Blutlinie des Hauses David, angefangen von Adam über König David und dessen Sohn Salomon, über den heiligen Josef und Jesus Christus bis herauf zu den verstorbenen Eltern des Schlossherren.

»Für den Herrn«, bemerkte der Colonel und füllte sein Glas und die Becher der Gäste bis zum Rand mit Rotwein. »Und das für uns. Auf unsere Zukunft!«

»Ich bedanke mich in meinem Namen und im Namen meiner Kameraden für die Auszeichnung, Sir!«, rief der blonde Junge mit den starken Brillengläsern. »Geben Sie einen Befehl, wir führen ihn aus!«

»Wir treffen uns in einem Jahr wieder. Hier, in meinem Schloss. Bis dahin macht ihr euch unentbehrlich im Umkreis eurer Väter. Versucht in euren zivilen Berufen voranzukommen, weit voran. Ich beobachtete euch lange im Krieg in Afrika und ich sah, dass ihr den Kameraden im Kopf und im Körper etwas voraushabt. Aber ich wählte euch auch wegen eures privaten Hintergrundes aus. Ihr könnt und werdet das Land verändern … verbessern

»Sagen Sie, was wir tun sollen, King David!«, rief der Blonde.

»Ihr könnt euch auf mich verlassen. Und ich mich auf euch, das weiß ich. Ich werde, sobald mein Kopf einigermaßen in Ordnung ist, wieder im Ministerium tätig sein. Ich trainiere täglich. Die Fortschritte sind zufriedenstellend.« Dann sagte er noch: »Und vergesst nicht das Symbol über dem Ausgang dieser Halle, die Schweigerose. Sie soll euch daran erinnern, dass nichts von dem, was hier gesprochen wird, nach außen dringen darf.«

»Wir werden schweigen, King David!«, riefen die Män-
ner.

Draußen hatte es zu schneien begonnen. Der Schnee schluckte die ohnehin spärlichen Geräusche in der Landschaft Wiltshires.

 

 

Zwölf Jahre danach

9. Jänner 1915, 19:34 Uhr

Tallis Street 11, London

 

Das Wasser in der Wanne war noch etwas zu heiß, also ließ der schlanke, fast hagere Mann kaltes Wasser nachfließen. Der Dunst legte sich auf die Kacheln des Badezimmers der gemieteten Wohnung in der Tallis Street, unweit der Londoner Fleet Street. Der Journalist Stanley R. Evans (das R. stand für Richard) hatte die schäbige Unterkunft in dem Backsteingebäude aus dem vorigen Jahrhundert bezogen, weil es von hier nicht weit zu seinem Arbeitsplatz, dem Verlagsgebäude der Pall Mall Gazette, war und sich der junge Lokalreporter bisher von seinem bescheidenen Gehalt ein besseres Quartier in dieser Gegend nicht hatte leisten können.

Doch das war anders geworden, seit ihm dieser amerikanische Schriftsteller sein Buch zugeschickt hatte: Hoffnungslos – oder Das Wrack der Titan. Bevor Evans begonnen hatte, den Text von Morgan Robertson zu lesen, hatte er gemeint, er handle vom Untergang der Titanic, die am 15. April 1912 auf ihrer Fahrt von England nach New York vor Halifax gesunken war. Dann jedoch hatte der junge Journalist entdeckt, dass Robertsons Novelle bereits im Jahr 1898, also vierzehn Jahre vor dem Unglück, erschienen war. Das im Buch beschriebene Schiff Titan sank wie die Titanic im Nordatlantik nach der Kollision mit einem Eisberg. Der Lokalreporter erkannte die Chance, das Thema Untergang der Titanic neu zu beleben, und wandte sich an seinen erfahreneren Kollegen Conolly, der sofort einen Abdruck des Romans in Fortsetzungen in die Wege leitete.

Der Autor des Buches lebte in den Vereinigten Staaten von Amerika und bewilligte für ein relativ bescheidenes Honorar den Nachdruck in der Gazette. Zudem versprach Robertson weiteres sensationelles Material den Untergang der Titanic betreffend. Das war der Schneeball, der die Lawine auslöste. Von da an – es war Anfang Mai 1914 – überschlugen sich die Ereignisse.

Stanley Evans hatte seither keinen Augenblick der Ruhe gehabt, nicht einmal über Weihnachten. Der junge Journalist fühlte sich ausgelaugt. Er fand seit Tagen keinen Frieden mehr, konnte nicht schlafen. Seine Hände zitterten so stark, dass es ihm schwerfiel, auf seiner Remington zu schreiben oder sich eine Zigarette anzuzünden. Er würde sich, wenn das Ärgste vorüber war, mehr Zeit für sich selbst nehmen, in Ruhe essen, spazieren gehen.

Das Badewasser hatte endlich die richtige Temperatur, und Stanley Evans ließ sich in die mit den Jahren rau gewordene Wanne gleiten. Seine Haut gab vor dem Untertauchen verstärkt den Geruch von Zigarettenrauch ab.

Evans atmete durch. Die größte Hektik, die seine und Conollys Artikelserie über den Untergang der Titanic ausgelöst hatte, war ausgestanden. Kaum dass die Gazette mit dem Abdruck des Romans begonnen hatte, übermittelte ihm Morgan Robertson weitere Dokumente. Brisantes Material, das auf einen gigantischen Versicherungsbetrug schließen ließ.

Der Chefredakteur gab grünes Licht, sodass die Gazette den ganzen Dezember über die sensationelle Artikelserie veröffentlichen konnte. Und Evans und Conolly hatten noch einiges an Material auf Lager, das den Untergang der Titanic in neuem Licht zeigen würde. Diese Artikel sollten in den nächsten Tagen in Druck gehen. Dann würde er Urlaub machen und sich eine größere Wohnung suchen, eine komfortablere Bleibe, etwas außerhalb des Stadtzentrums gelegen.

Evans spürte einen kalten Luftzug an den Schultern. Er drehte seinen Kopf in Richtung Tür und erblickte einen in dunklen Khaki gekleideten Soldaten, der eine Colt-Browning M1895 auf ihn richtete, einen Gasdrucklader, wie er im Burenkrieg Verwendung gefunden hatte. Sekundenbruchteile später zerfetzte eine Serie von Schüssen den Kopf des Journalisten.

Bedächtig legte der Soldat einen blühenden Kirschzweig auf den Rand der Wanne.

 

 

Fairmount Hotel, Sussex

21. Jänner 1915

 

In der Times, die im ersten Monat des Jahres 1915 voll von Kriegsmeldungen war, las Sherlock Holmes über das Bombardement der Städte Great Yarmouth und King’s Lynn durch die Deutschen. Diese Luftangriffe mit Starrluftschiffen, die nach ihrem Konstrukteur Zeppeline genannt wurden, hatten zwanzig Menschenleben gefordert. Bereits der zweite spektakuläre Erfolg für die Deutschen in diesem jungen Jahr, überlegte Holmes. Am Neujahrstag hatte ein deutsches U-Boot das Kampfschiff HMS Formidable vor Lyme Regis in Dorset versenkt. Eine furchtbare Katastrophe für England und die ganze Welt, in die mittlerweile alle Staaten Europas, aber auch die USA verwickelt waren.

Es war an der Zeit, dass England alle seine Kräfte bündelte, dass alle politischen Lager in einer einzigen Regierung zusammenarbeiteten. Ansonsten … Mycroft Holmes, der Bruder des Detektivs, hatte Premier Asquith von der Liberalen Partei eine Konzentrationsregierung vorgeschlagen, an der auch die Konservativen beteiligt werden sollten. Wie sein Bruder sah auch Sherlock Holmes darin die einzige Chance für das Land; interne Zwistigkeiten mussten überwunden werden, um den gemeinsamen Feind, die Deutschen, besiegen zu können.

Der Wind trieb den Regen, der an diesem Morgen mit Schnee vermischt war, vom Kanal her gegen das Fairmount Hotel an den Klippen von Sussex. Ein Wetter, das Luftangriffe der Deutschen erschweren wird, überlegte Holmes und blätterte in seiner einen Tag alten Ausgabe der Londoner Zeitung.

Das Fairmount Hotel lag zu weit von London entfernt, um eine täglich aktuelle Anlieferung der Times zu ermöglichen. So musste sich der Detektiv mit den Ausgaben des jeweiligen Vortages begnügen. Aber das war beinahe der einzige Nachteil seines neuen Zuhauses, in das er sich 1903 aus der Großstadt zurückgezogen hatte. Mit einundsechzig Jahren hatte er es sich verdient, das Leben im Lande und in der Welt mit etwas Distanz zu betrachten, meinte er, wohlversorgt durch Mr und Mrs Bromham, die jungen, bemühten Betreiber des Hotels, denen keine Anstrengung zu groß war, damit ihre vier Dauergäste mit Wärme und ausgezeichneten Mahlzeiten versorgt wurden.

Ein Klopfen an der Tür riss Holmes aus seinen Gedanken. Molly Fernwick, das Zimmermädchen, holte das Frühstückstablett ab und schob Holz in den offenen Kamin, der angenehme Wärme spendete. Als der Detektiv die Zeitung anschließend auf dem nun frei gewordenen Tisch am Fenster zum Meer ausbreitete, erregte ein unscheinbarer Bericht auf Seite fünf seine Aufmerksamkeit.

 

MORD AN JOURNALIST

Der junge Reporter Stanley R. Evans von der Pall Mall Gazette wurde am Abend des 9. Jänner im Badezimmer seiner Wohnung tot aufgefunden. Er starb nach Angaben der Metropolitan Police an mehreren Schussverletzungen, verursacht durch ein Maschinengewehr militärischer Herkunft. Wie die Polizei berichtet, fand man neben der Leiche einen blühenden Kirschzweig.

Evans war mit seiner Artikelserie über die Hintergründe des Titanic-Unglücks, die er gemeinsam mit einem Kollegen verfasste, bekannt geworden. Die Kollegen der Pall Mall Gazette zeigten sich erschüttert über den Tod ihres Mitarbeiters.

 

Trotz des nassen Winterwetters wollte Holmes nicht auf seinen Morgenspaziergang verzichten. Dieses Mal jedoch wählte er einen Pfad, der in das Landesinnere führte. Der Weg die Klippen entlang, den er ansonsten nahm, war den Winterstürmen zu sehr ausgesetzt. Als er nach einer Stunde durchnässt ins Hotel zurückkam, reichte ihm Mrs Halliwell, die verwitwete Mutter der jungen Hotelbesitzerin, die Post, die der Kutscher des Hotels aus dem benachbarten Yapton abgeholt hatte.

Holmes erkannte die Handschrift seines Bruders auf einem der Kuverts und öffnete dieses noch auf der Treppe zu seinen Zimmern im ersten Stock. Er vermutete, dass ihn Mycroft aus staatspolitischen Gründen kontaktierte, und dachte schon daran, abzulehnen. Immerhin lag die Schuld an der verfahrenen politischen Situation auch bei der englischen Regierung, und Holmes fühlte sich wenig geneigt, Position zu beziehen. Daher überraschte und beruhigte ihn der Inhalt des Schreibens. Mycroft Holmes schlug seinem Bruder ein Treffen im Londoner Diogenes Club vor, und zwar in einer wichtigen Angelegenheit, die in Zusammenhang mit dem Untergang der Titanic und Anschuldigungen eines Journalisten gegen einen persönlichen Freund Mycrofts stand.

Sherlock Holmes bat Mrs Halliwell, für elf Uhr eine Kutsche für die Fahrt nach London kommen zu lassen. »Ein wasser- und sturmdichtes Modell, wenn es sich machen lässt.«

»Sehr wohl, Mister Holmes. Simon wird Sie nach Yapton bringen und sich um ein geeignetes Gefährt für die Weiterfahrt kümmern.«

»Was würde ich wohl ohne Sie machen, Misses Halliwell«, bedankte sich der Detektiv.

»Jeder von uns ist ersetzbar, Mister Holmes«, antwortete die Witwe, die etwa das Alter von Holmes hatte.

»Mit Ausnahmen«, entgegnete Holmes.

»Natürlich. Entschuldigen Sie, Mister Holmes. Ich vergaß …«

»Ich denke ausnahmsweise nicht an mich, Misses Halliwell.«

 

 

Bevor Holmes den Brougham bestieg, verständigte er vom Postamt in Yapton aus seinen Bruder telefonisch, dass er ihn am übernächsten Tag zum Lunch im Club treffen werde. Er wollte zuvor noch einen Abstecher nach Tunbridge Wells zu seinem alten Freund und Biographen John Watson machen, der dort als Arzt für wohlhabende Londoner und Londonerinnen tätig war, die ihren Kuraufenthalt in der ruhigen Kleinstadt verbrachten. Der Doktor hatte sich, als er sechzig wurde, mit seiner dritten Frau, der charmanten Elsa, dorthin zurückgezogen.

Holmes war froh, als ihm der Turm von St. Swithun’s in East Grinstead, etwa fünfzehn Meilen westlich von Tunbridge Wells, das bevorstehende Ende der Zwischenetappe ankündigte. Es regnete heftig, aber wenigstens hatte der Schneefall nachgelassen, der dem Kutscher am Anfang der Reise so sehr die Sicht genommen hatte, dass sie nur langsam vorangekommen waren. Im Sommer, bei trockenem Wetter, war Tunbridge Wells in drei Stunden zu erreichen.

Mrs Elsa Watson, eine blühende Frau Ende vierzig, öffnete die Tür zu ihrem Haus, das in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Pantiles, dem Zentrum des eleganten Kurortes, lag.

»James«, so nannte Mrs Watson gelegentlich ihren Mann, »hat sich nach der Sprechstunde zurückgezogen. Ich werde ihn sofort rufen. Nehmen Sie doch Platz, Mister Holmes. Ich freue mich so sehr, Sie endlich wieder bei uns begrüßen zu können. Wie geht es Ihnen? Wie war die Fahrt?«

Holmes ließ Mrs Watson, die ohnehin auf keine Antwort wartete, geduldig ausreden und betrat das edle Haus.

»Holmes!« Watson kam etwas verschlafen die Treppe aus dem ersten Geschoss des Hauses herunter. »Ich habe Ihre Stimme erkannt.«

Der Detektiv wollte seinem Freund die Hand zur Begrüßung reichen, doch dieser umarmte ihn und drückte ihn fest an sich. Mrs Watson entfernte sich diskret und servierte den Männern wenig später im Salon des Hauses Sherry.

»Das Essen ist in einer halben Stunde fertig«, kündigte sie an. »Sie mögen doch Haddock, Mister Holmes? Ich muss auf die Gesundheit meines Mannes achten, und da ist Fisch am geeignetsten.«

»Sie sehen jünger aus als noch vor zehn Jahren«, sagte Holmes zu seinem Freund, nachdem sich die Dame des Hauses Richtung Küche entfernt hatte. »Die Ehe tut Ihnen sichtlich gut.«

»Ich war auch vor zehn Jahren verheiratet«, bemerkte der Doktor.

»Dann hat Ihr Aussehen andere Gründe. Womöglich hängt es damit zusammen, dass ich Sie nun mit meinen Fällen nicht mehr so strapaziere.«

»Das trifft in keiner Weise zu. Ihre detektivischen Fähigkeiten scheinen nachzulassen. Oder Sie wollen mich fernhalten von weiteren Ermittlungen, Holmes, und das gefällt mir gar nicht. Ich bin noch kein Greis und versichere Ihnen …«

»Es gibt keine weiteren Fälle, Watson, also auch keinen Grund, etwas vor Ihnen zu verbergen. Der Detektiv ist in den Ruhestand getreten und sieht keinen Anlass, daran etwas zu ändern.«

»Eine Lüge, eine glatte Lüge. Sie haben ein Leuchten in den Augen, das mir verrät, dass Sie einer interessanten Sache auf der Spur sind. Wie gern würde ich Sie wieder begleiten und die Praxis Praxis sein lassen und nach dem glücklichen Abschluss eines Falles darüber schreiben.«

»Und vernichtende Kritiken für die Bücher einstecken.«

»Ach, daher weht der Wind. Sie wollen nicht mehr, dass ich über Ihre Fälle schreibe, weil Sie meinen, dass meine schriftstellerischen Fähigkeiten ebenso bescheiden sind wie mein detektivisches Talent.«

»Aber nein«, beeilte sich Holmes zu widersprechen. »Im Gegenteil.«

»Was meinen Sie damit?«

»Womit, teurer Freund?«

»Mit im Gegenteil

»Eine Phrase, Doktor. Nur so dahingesagt. Sie haben meinen Ruhm mit Ihren wundervollen Textchen über die Welt verbreitet.«

»Textchen! Da haben wir es wieder. Sie selbst halten nichts von meinen Romanen.«

»Schluss jetzt!«, unterbrach Mrs Watson ihren Mann und den Detektiv und servierte Gemüsesuppe. »Wenn den Herren keine anderen Tischgespräche einfallen, verordne ich totales Stillschweigen während des Essens.«

Watson erwähnte das Thema nicht mehr bis zum frühen Nachmittag des nächsten Tages, als der Detektiv einen Brougham nach London bestieg. »Lassen Sie Misses Hudson grüßen«, sagte er noch, dann senkte er traurig den Blick und ging zurück in das Haus.

 

*

 

»Mister Holmes! Warum haben Sie mich nicht verständigt?«, klagte die Landlady des Hauses Baker Street 221b. »Die Räume im ersten Stock sind ungeheizt. Ich hätte …«

»Sehen Sie, Misses Hudson, das ist der Grund, warum ich unangemeldet komme«, unterbrach Holmes sie. »Ich werde mich um all das selbst kümmern.«

»Weil Sie meinen, dass ich in meinem Alter nicht mehr dazu fähig bin! Es ist ein Fluch, alt und hässlich zu werden.«

»Sie beleidigen mich, Misses Hudson«, erwiderte Holmes lächelnd. »So deutlich müssten Sie es nicht ausdrücken.«

Die alte Hausdame begann zu weinen. »Entschuldigen Sie, Mister Holmes … die Freude! Sie überwältigt mich. Dass Sie nun wieder da sind! Ich hoffe, es wird sein wie früher, als …«

»Als mir Misses Hudson Tee und Gebäck servierte.«

»Aber doch nicht am Abend!«, protestierte die über Achtzigjährige. »Haben Sie etwas Geduld. Bald gibt es ein Festessen.«

»Bei dem Sie mir Gesellschaft leisten werden«, fügte der Detektiv hinzu.

»Ach, Mister Holmes, Sie sind zu liebenswürdig. Ich weiß, was meine Aufgabe im Hause ist, der ich nun leider nicht mehr so wie früher nachkommen kann.«

»Sie fühlen sich krank, Misses Hudson?«

»Alt und müde bin ich geworden. Ich muss gestehen, dass mir meine Nichte hilft, das Haus und Ihre Wohnung in Ordnung zu halten. Ohne Helen wüsste ich nicht, was ich täte.«

»Ich hoffe, ich bekomme eine Chance, Ihre Nichte kennenzulernen«, erwiderte der Detektiv.

»Oh ja, Helen wird Ihnen das Frühstück bereiten. Sie ist momentan mit einem jungen Mann unterwegs, den sie …«

Aber da war Holmes schon die Treppe in den ersten Stock hochgeeilt. Er wollte in der vertrauten Umgebung nachdenken. Ein Detail der Zeitungsnotiz hatte seine Aufmerksamkeit erregt und beunruhigte ihn außerordentlich. Der blühende Kirschzweig, den man neben dem erschossenen Journalisten entdeckt hatte. Was für ein Kontrast! Eine Waffe militärischer Herkunft und eine zarte Blüte, Tod und blühendes Leben. Dieser Mord wich von den üblichen Verbrechen ab, er hatte etwas phantasievoll Verrücktes. Ein Umstand, der den Detektiv an etwas erinnerte und ihn reizte.

DIOGENES CLUB

 

Das Frühstück, das Mrs Hudson und Ms Lomax zubereitet hatten, war besser als das im Fairmount Hotel und sogar reichhaltiger als jenes von Elsa Watson. Holmes bat Mrs Hudsons Nichte Helen, die die Teller und Tassen auf dem Tisch auftrug, sich einen Moment zu ihm zu setzen. Verlegen nahm das sechzehnjährige Mädchen am Frühstückstisch Platz.

»Sie kommen vom Land und sind harte Arbeit gewöhnt«, stellte der Detektiv fest. »Aber Sie sind glücklich bei Ihrer Tante, hier in der Großstadt.«

»Tante Jane hat Ihnen von mir erzählt?«, fragte das Mädchen.

»Wir hatten leider noch nicht die Gelegenheit zu einem längeren Gespräch«, heuchelte Holmes. »Ich schließe von der gesunden Gesichtsfarbe und den kräftigen Händen auf Ihren Hintergrund. Und die Tatsache, dass Ihnen Misses Hudson große Freiheiten gewährt, was Ihren Umgang mit jungen Männern betrifft, lässt ahnen, dass Sie nicht unglücklich sein können, Miss Lomax.«

Das junge Mädchen war errötet, aber Holmes erlöste es aus der unangenehmen Situation, indem er bat, für halb zehn eine Droschke für ihn zu bestellen. Erleichtert eilte Helen Lomax die Stiegen hinunter in das Erdgeschoss.

 

 

Diogenes Club

Pall Mall, London

 

Mycroft Holmes, der achtundsechzigjährige Bruder des Detektivs, ein untersetzter Mann von beachtlicher Statur, empfing Sherlock im Stranger’s Room, dem einzigen Ort im Gebäude des Diogenes Clubs, an dem Gespräche erlaubt waren.

»Ich gehöre zwar zu den Gründern dieses Clubs, doch selbst mir würde der unmittelbare Ausschluss drohen, sollte ich das Wichtigste unserer Gesetze brechen«, erklärte Mycroft Holmes.

»Das absolute Schweigegebot in den Clubräumlichkeiten.«

»So ist es, Bruder. Ein Paradies für Männer. Man ist in Gesellschaft und muss nicht reden. Du bist in letzter Zeit fülliger geworden, Sherlock.«

Sherlock Holmes erhob sich. »Da du mir anscheinend nichts Wesentliches mitzuteilen hast, wirst du verstehen, wenn ich mich entferne und dir die Möglichkeit gebe, in deinem Club weiter zu schweigen. Ein Verhalten, das ich dir angesichts dessen, was du vorzubringen hast, nur empfehlen kann.«

»Entschuldige, Sherlock. Ich dachte mir, gepflegte Scherze seien unter Brüdern möglich. Ich komme also zur Sache. Zu einer brisanten Sache, in der sich ein Clubmitglied an mich gewandt hat, mit der Bitte, dich zu beauftragen …«

»Ich nehme keine Aufträge mehr an«, unterbrach Sherlock Holmes.

»Mit der Bitte, dich höflichst zu ersuchen …«

»Und dieses Clubmitglied«, fiel Holmes seinem Bruder abermals ins Wort, »lauscht in diesem Moment an der halb geöffneten Tür zum Nebenraum.«

»Tritt ein, Bruce!«, sagte Mycroft Holmes in Richtung der Tür. »Der geniale Detektiv will es anders, als wir es uns gedacht haben.«

Ein schlanker Mann mit dunklem Haar und einem beinahe verwegenen Schnurrbart betrat den Stranger’s Room des Diogenes Clubs.

»Das ist mein Clubkollege Joseph Bruce Ismay, der Inhaber der White Star Line

Als Sherlock Holmes dem Mann die Hand schüttelte, bemerkte er, dass diese eiskalt und feucht war. Bruce Ismay stand unter psychischem Druck, was auch der starre Blick seiner eisgrauen Augen verriet.

»White Star Line«, wiederholte der Detektiv. »Das ist doch die Schifffahrtslinie, der die Titanic gehörte.«

»So ist es«, bestätigte Mycroft Holmes und zündete sich seine Bruyère-Pfeife an. Bald hüllte der aromatische Geruch des Royal Navy Flakes die Männer ein.

Der Cream-Sherry, den ein Butler des Clubs servierte, brachte ein wenig Farbe in das bleiche Gesicht des etwa fünfzigjährigen Bruce Ismay zurück. »Ja, die Titanic war der große Stolz von J. P. Morgan und mir.«

»John Pierpont Morgan ist der amerikanische Teilhaber Ihrer Firma, wenn ich mich nicht irre«, warf Sherlock Holmes ein.

»Sein Sohn, John P. Morgan junior, ist Eigentümer der International Mercantile Marine, der Mutterfirma von White Star«, präzisierte Bruce Ismay. »Sein Vater starb ein Jahr nach dem Untergang der Titanic, im März 1913.«

Mycroft Holmes fuhr fort: »Um zum Kern der Sache zu kommen: Die Gerüchte und Anschuldigungen gegen Bruce und seinen amerikanischen Freund sind seit dem Unglück nicht verstummt und haben durch die Sensationsartikel der Pall Mall Gazette neuen Auftrieb erhalten. Die verrückten Journalisten werfen Bruce und dem verstorbenen Pierpont Morgan vor, das Schiff versenkt zu haben, um für ihre Firma eine gigantische Versicherungssumme zu kassieren.«

Joseph Bruce Ismay ergriff mit zitternder Hand sein Glas und trank den Sherry auf einen Zug. Dann sagte er: »Es ist mir aus geschäftlichen und privaten Gründen außerordentlich wichtig, von diesen Anschuldigungen reingewaschen zu werden, Mister Holmes. Deshalb habe ich mich mit der Bitte an Ihren Bruder gewandt, den Kontakt zu Ihnen herzustellen. Ihr Name hat Gewicht in weiten Teilen der Welt. Und wenn Sie nach eingehender Untersuchung zu dem Schluss kommen, dass es sich bei den Verdächtigungen um gemeine Lügen handelt, dann …« Der Mann konnte nicht weitersprechen. Er zitterte am ganzen Körper.

»Sie sagten, dass Ihnen eine Klärung der Umstände aus geschäftlichen und privaten Gründen wichtig sei, Mister Ismay«, sagte der Detektiv. »Ich frage Sie nun, welcher Art die privaten Gründe sind.«

»Ich weiß nicht, ob ich in der Lage bin, diese darzulegen«, antwortete der Mann. »Aber ich will es versuchen.«

»Ich werde Sherlock davon berichten«, schaltete sich Mycroft Holmes unterstützend ein. »Bruce nahm selbst an der verhängnisvollen Fahrt der Titanic teil. Er wurde gegen seinen Willen in ein Rettungsboot geworfen und überlebte.«

»Während ringsum Menschen um ihr Leben kämpften und viele diesen Kampf verloren«, ergänzte dieser beinahe unhörbar.

»Bruce musste während der Fahrt nach New York an Bord der RMS Carpathia von einem Arzt mit Opium beruhigt werden und ist seither ein geschlagener Mann, obwohl er in peinlichen Untersuchungen vor amerikanischen und britischen Behörden seine Unschuld nachweisen konnte.«

»Mit Ausnahme der Schuld, überlebt zu haben, während Hunderte andere im Eiswasser umkamen«, wandte Mr Ismay ein. »Ich höre die Schreie der Ertrinkenden, sobald ich mich zum Schlafen lege. Ohne Betäubung finde ich keine Ruhe mehr.«

»Und nun die neuerlichen unerhörten Anschuldigungen der Journalisten«, ergänzte Mycroft Holmes.

»Einer von ihnen musste sein Leben lassen«, stellte Sherlock Holmes fest. »Der Mann wurde erschossen.«

»Was die Sache nur noch schwieriger macht«, meinte Bruce Ismay. »Man verdächtigt mich, auch daran Schuld zu tragen. Ich bitte Sie, Mister Holmes, um alles in der Welt – befreien Sie mich von den Anschuldigungen! Ich werde Sie sehr gut bezahlen.«

»Ich werde alles unternehmen, um Licht in das Dunkel zu bringen. Ich muss Sie aber warnen, Mister Ismay: Sollte ich unehrenhaftes Verhalten auf Ihrer Seite oder auf der Seite Ihrer amerikanischen Geschäftspartner entdecken, werde ich meine Erkenntnisse keinesfalls verschweigen und sie den Behörden übermitteln.«

»Das ist ganz in meinem Sinn, Mister Holmes«, bekräftigte der Reeder. »Damit Sie sehen, wie ernst es mir ist, werde ich Ihnen eine bedeutende Anzahlung zukommen lassen.«

»Gut, das wird die Ermittlungen erleichtern«, erwiderte Holmes und fügte hinzu: »Als Erstes werde ich die Artikel über den angeblichen Versicherungsschwindel lesen. Sie können mir doch die Zeitungsausschnitte zur Verfügung stellen, Mister Ismay?«

»Sehr ungern. Dieses elende Geschmiere ist wie Leichengift. Es breitet sich immer weiter aus und macht mir das Leben zur Hölle.«

»Ich muss darauf bestehen.«

»Dann werde ich Ihnen die Artikel noch heute zukommen lassen, Mister Holmes. Es ist mir bewusst, dass ich nicht wehleidig sein darf, wenn ich je aus diesem dunklen Tal herauskommen will.«

»Eine letzte Frage für heute, Mister Ismay: Wo hielt sich Ihr amerikanischer Geschäftspartner auf, als das Schiff sank?«

»J. P. wollte ursprünglich ebenfalls an der Jungfernfahrt teilnehmen, aber er erkrankte. Ich war schon an Bord, als ich die Nachricht erhielt, dass er verhindert war.«

 

*

 

Das verschnürte Paket, das ein Kutscher am späten Nachmittag bei Mrs Hudson abgab, blieb den ganzen Abend über und auch am nächsten Vormittag unberührt. Holmes hatte sich mit seiner Stradivari in das Schlafzimmer zurückgezogen, wo er sich in Phantasiekompositionen verlor.

 

 

Alamac Hotel

Atlantic City, New Jersey

Vereinigte Staaten von Amerika

 

Der Tote bot selbst für den erfahrenen Arzt Jerry Brookman einen so makabren Anblick, dass er erst durchatmen musste, bevor er ihn untersuchte. Der Mann war im Stehen gestorben, angelehnt an einen Wäscheschrank von etwa derselben Höhe wie er. Sein Kopf, den er gegen die Ablagefläche des Möbelstücks gelehnt hatte, war die Stütze, die den Rest des Körpers aufrecht hielt. Er trug ein weites, langes Nachthemd und stand mit nackten Füßen auf dem Teppich.

Zunächst schloss der Doktor die vor Überraschung oder Entsetzen weit geöffneten Augen des Mannes. Sie waren von einem schmutzig-milchigen Grau wie der Atlantik, der an diesem Mittwoch, von kalten Winden aufgewühlt, gegen den Strand tobte. Dann zog er den bereits steif gewordenen Körper nach vorne, bis sich die Verankerung zwischen dem Genick des Mannes und dem Schrank löste und der Tote auf den Boden fiel.

Mit einer Schere öffnete der Arzt das Nachthemd des kräftig wirkenden Mannes, den er auf Mitte fünfzig schätzte. Der Körper wies keine Spuren einer Gewalteinwirkung auf. Womöglich handelte es sich um Selbstmord oder die Überdosierung eines Medikaments, denn auf dem Wäscheschrank standen eine braune Flasche mit Paraldehyd, einem sehr wirkungsvollen Schlafmittel, und ein Likörglas. Allerdings gab es keinen Abschiedsbrief, und das Fläschchen war randvoll, als ob ihm noch nichts entnommen worden sei. Das Glas schien unbenutzt. Der Mann musste an Herzstillstand verstorben sein, entschied Dr. Brookman und hielt diese Diagnose, die letztlich auf jeden Todesfall zutraf, im Protokoll fest.

Seltsam erschien ihm der Umstand, dass auf den nackten Zehen des Mannes ein blühender Zweig lag, doch er konnte sich damit nicht länger aufhalten. Weitere unangenehme Aufgaben warteten auf ihn an diesem unfreundlich kalten Morgen.

 

 

Baker Street 221b, London

 

Pünktlich um acht Uhr brachten Mrs Hudson und ihre Nichte das Frühstück in Sherlock Holmes’ Wohnung im ersten Stockwerk, zusammen mit einem soeben eingetroffenen Brief. Holmes riss ungeduldig das an ihn adressierte Kuvert auf und brummte befriedigt, als er einen Scheck darin fand. Die Summe, die ihm Joseph Bruce Ismay übermittelt hatte, war beträchtlich.

Anschließend zündete er seine schwarze Tonpfeife an und blies dichte Rauchschwaden in den Wohnraum. Nun erst öffnete er das Paket mit den Zeitungsausschnitten der Pall Mall Gazette, die mit dem Abdruck von Morgan Robertsons Roman Hoffnungslos – oder Das Wrack der Titan begonnen hatte. Evans und Conolly wiesen darauf hin, dass der amerikanische Autor den Text bereits im Jahr 1898, also vierzehn Jahre vor dem Untergang der Titanic, veröffentlicht hatte.

Je tiefer Holmes in die Lektüre eintauchte, desto faszinierter war er. Die Parallelen waren frappierend. Beide Schiffe sanken etwa an der gleichen Stelle, nachdem sie mit einem Eisberg kollidiert waren. Sowohl die Titan als auch die Titanic galten als unsinkbar und hatten aus diesem Grund nicht genügend Rettungsboote an Bord. Die Schiffe waren gleich groß und bestanden aus demselben Material, nämlich aus Stahl. Und beide Schiffe sanken im Monat April.

Holmes bewunderte auch das literarische Talent des Mannes, der eine menschlich berührende, spannende Geschichte entworfen und diese eindrucksvoll zu Papier gebracht hatte. Als der gigantische Dampfer Titan mit voller Kraft gegen den Eisberg fuhr, hielt der Held, der von seinen Gegenspielern mit einer starken Droge geschwächt worden war, die kleine Tochter seiner Geliebten in den Händen. Myra war schlafwandelnd auf dem Schiff unterwegs gewesen auf der Suche nach Sicherheit vor der unbewusst gefühlten nahenden Gefahr, von der sonst keiner wusste.

 

Rowland erwachte allmählich aus seiner Betäubung und stammelte die Worte: »Myras Tochter. Sie schläft.«

Er zog das nur in ein Nachthemd gekleidete Mädchen zu sich heran und hüllte den kalten kleinen Körper in seinen Mantel. Das Kind schrie erschrocken auf, als es erwachte.

Da rief der Beobachtungsposten: »Eis! Eis voraus! Direkt vor dem Bug!«

Der Offizier rannte mittschiffs, der Kapitän betätigte den Fernschreiber zum Maschinenraum.

Innerhalb von fünf Sekunden begann sich der Bug der Titan zu heben, und vor ihnen, zu beiden Seiten, tauchte aus dem Nebel ein Eisfeld auf, das, von der Meeresoberfläche ansteigend, allmählich eine Höhe von hundert Fuß erreichte.

Die Musik im Theatersaal verstummte. In der babylonischen Wirrnis von Rufen und Schreien und dem ohrenbetäubenden Knirschen, das Stahl erzeugt, der auf Eis entlangschrammt, hörte Rowland die verzweifelte Stimme einer Frau, die nach ihrer Tochter schrie.

75.000 Tonnen Masse, die mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Fuß in der Sekunde durch den Nebel glitten, waren gegen den Eisberg gekracht. Wäre das Schiff gegen eine senkrechte Wand geprallt, hätten Stahlplatten und -streben dem plötzlichen Druck nachgegeben und die Energie des Zusammenstoßes aufgefangen, indem sie sich verformten hätten. Die Passagiere wären kräftig durcheinandergewirbelt und der Bug des Schiffes wäre eingedrückt worden, wobei das eine oder andere Mitglied der Besatzung ums Leben gekommen wäre. Die Titan hätte die Reise aus eigener Kraft und mit reduzierter Geschwindigkeit fortsetzen können, wäre mit Versicherungsgeld repariert worden und hätte mit ihrer Unverwüstlichkeit werben können.

So lief die Titan jedoch auf den ebenen Teil des Eisbergs auf, in den sie wie ein Eisbrecher hineinschnitt. Ihr enormes Gewicht, das auf der Steuerbordseite lastete, hievte das riesige Schiff weit aus dem Meer heraus, immer höher, bis die Schiffsschrauben am Heck halb frei lagen. Dann wurde es von der Strömung unter dem Bug erfasst, gedreht und stürzte schließlich auf die Backbordseite.

In der senkrechten Lage brachen die Bolzen von zwölf Öfen und drei Dreifach-Maschinen. Gigantische Massen von Eisen und Stahl stürzten durch ein Gewirr aus Gittern, Leitern und Schotten nach unten und schlugen Löcher in die Flanken des Schiffes. Die Maschinen und die Heizräume füllten sich mit beißendem Dampf, der den Hunderten Männern, die dort arbeiteten, einen schnellen, aber qualvollen Tod brachte.

In dem Brüllen des entweichenden Dampfes, dem bienengleichen Summen Tausender Stimmen von Menschen in Todesangst und dem Pfeifen der durch Hunderte offene Luken entweichenden Luft bewegte sich die Titan langsam rückwärts und tauchte zurück in das Meer, in dem sie nun in starker Schräglage trieb. Ein sterbendes, brüllendes Monster, das eine tödliche Wunde erhalten hatte.{2}

 

Holmes war so sehr in die Lektüre des ihm übermittelten Materials versunken, dass er das Abendessen vollkommen vergessen hätte, wäre er nicht von Mrs Hudson und ihrer Nichte bei der Arbeit unterbrochen worden.

»Sie sehen doch, Misses Hudson«, sagte der Detektiv, »dass kein Platz für ein Gedeck vorhanden ist. Ich werde mich am morgigen Frühstück schadlos halten.«

Die Hausfrau gab sich jedoch nicht so einfach geschlagen. »Ich sehe sehr wohl, dass der gesamte Speisetisch von Zeitungen okkupiert ist, daher laden Helen und ich Sie zu einem kleinen Mahl in unsere Wohnung ein. Sie müssen nur eine kurze Pause machen.«

Widerwillig folgte Holmes den beiden Damen ins Erdgeschoss und war überrascht, wie gemütlich und zweckmäßig das Esszimmer von Mrs Hudson eingerichtet war. Der Tisch war mit Stoffservietten und brennenden Kerzen festlich gedeckt. Helen Lomax servierte Bouillon mit Ei.

»Die Baker Street hat sich sehr zum Nachteil verändert, seit Sie nicht mehr hier sind, Mister Holmes«, plauderte Mrs Hudson drauflos. »Und jetzt ist man seines Lebens nicht mehr sicher, seitdem die Deutschen begonnen haben, Krieg gegen uns zu führen. Ich habe keine Ahnung, wohin dies führen soll.«

»Sie sagen es, Misses Hudson«, stimmte Holmes ihr zu, um die aufgeregte Frau zu besänftigen. »Eine schwierige Lage.«

»Tante Jane ärgert sich in letzter Zeit über jeden und alles«, erklärte die Nichte.

Als die alte Frau protestieren wollte, meinte der Detektiv: »Ärger hält die Menschen jung, nicht wahr, Misses Hudson? Bei mir ist dies zumindest der Fall. Und natürlich die köstliche Hühnersuppe. Sie bringt mich wieder in Schwung.«

»Aber nicht, dass Sie wieder die ganze Nacht durcharbeiten, Mister Holmes! Das hat Ihnen noch nie gutgetan. Und jetzt sind Sie ohne Begleiter. Erzählen Sie mir, wie es Doktor Watson geht. Wann haben Sie ihn das letzte Mal getroffen?«

 

 

Obwohl er von dem gefüllten Huhn und dem Apfelkuchen mit Sahne angetan war, war Holmes froh, nach eineinhalb Stunden wieder in seine Wohnung und zu seiner Arbeit zurückkehren zu können. Erneut setzte er seine Pfeife in Brand. Nun konnte er sich den Artikeln zuwenden, die der ermordete Journalist Stanley R. Evans und sein Kollege Robert M. Conolly verfasst hatten.

Die beiden behaupteten darin, dass Joseph Bruce Ismay und J. P. Morgan in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren. Das Interesse an Luxusreisen von und nach Amerika war nicht so groß, wie sie es sich erhofft hatten. Zudem war das Schwesterschiff der Titanic, die Olympic, im September 1911 in der Nähe von Southampton mit der HMS Hawke kollidiert. Die britische Navy versicherte damals, keine Schuld an dem Zusammenstoß zu haben. Somit hatte die White Star Line die enormen Folgekosten für die Beschädigung zweier Schiffe allein zu tragen.

Zur selben Zeit war die Titanic fast vollständig fertiggestellt. Da eine Reparatur der Olympic die Jungfernfahrt verzögert hätte, entschlossen sich nun Ismay und Morgan nach Aussage der beiden Journalisten, ganz einfach die Namensschilder der fast identischen Schiffe zu tauschen. Die unversehrte Titanic trug daraufhin den Namen Olympic, und die beschädigte Olympic wurde als Titanic auf Jungfernfahrt geschickt mit der Absicht, sie gegen einen Eisberg fahren und sinken zu lassen, um die Versicherungssumme zu kassieren. Ein doppelter Gewinn für die White Star Line.

»Eine gewaltige Anschuldigung«, überlegte der Detektiv laut. »Immerhin kamen bei der Kollision der Titanic mit dem Eisberg 1.635 Menschen ums Leben. Ismay und Morgan wären Massenmörder, hätten sie das in Kauf genommen. Und immerhin war Ismay selbst an Bord des Schiffes gewesen.«

Das Verhalten von J. P. Morgan andererseits war mehr als merkwürdig. Nach den Aussagen von Evans und Conolly war Morgan nicht wirklich krank gewesen, sondern hatte die entscheidenden Tage im Haus seiner Geliebten verbracht.

Jedenfalls, so behaupteten die Journalisten weiter, hatten Ismay und Morgan vorgesorgt. Sie ließen die Titanic von einer ganzen Reihe von Schiffen ihrer Flotte begleiten, um die Passagiere nach dem Zusammenstoß mit einem Eisberg an Bord nehmen und retten zu können. Aber das Schiff war entgegen aller Erwartungen so schwer beschädigt worden, dass es viel schneller als geplant sank und den Großteil seiner Passagiere mit in die Tiefe riss.

Es wurde bereits hell, als Holmes den letzten Zeitungsausschnitt beiseitelegte. Er hatte eine Idee, wie er an den Fall herangehen würde. Zuallererst würde er den Journalisten Conolly in der Redaktion der Pall Mall Gazette in der Fleet Street aufsuchen.

AN BORD DER OLYMPIC

 

Um dem Frühstück der beiden Damen des Hauses zu entgehen, verließ der Detektiv bereits sehr früh am Morgen seine Wohnung. Er wanderte die Baker Street entlang in südlicher Richtung, winkte einen Hansom herbei und ließ sich in die Fleet Street bringen. Im Verlagsgebäude angekommen, gratulierte Sherlock Holmes Robert M. Conolly für die interessanten, wirklich gut geschriebenen Artikel in der Gazette.

»Nicht, dass ich Ihre Schlussfolgerungen teile, was die Ursache des Unglücks betrifft«, sagte der Detektiv zu dem sechsundvierzigjährigen Journalisten mit dem vollen Gesicht, in das sich erste Falten eingegraben hatten.

»Nur zu, Mister Holmes. Wenn Sie andere Erkenntnisse haben – meine Zeitung und ich sind offen für alles. Die veröffentlichten Details gehen vor allem auf die Recherchen von Stanley Evans und dem Amerikaner Morgan Robertson zurück. Meine Aufgabe beschränkte sich in erster Linie auf die eines journalistischen und rechtlichen Beraters.«

»Sie werden die Serie also fortsetzen?«

»Das war der Plan. Evans berichtete mir noch am letzten Tag des alten Jahres, dass er auf sensationelles neues Material gestoßen sei.«

»Wissen Sie, worum es sich dabei handelt, Mister Conolly?«

»Leider nein. Ich fand nichts Wesentliches in seinem Schreibtisch in der Redaktion. Und die Polizei gibt an, dass auch in seiner Wohnung keine journalistischen Unterlagen gefunden wurden. Ich habe aber eine vage Idee.«

»Und die wäre?«

»Ich werde sie Ihnen gerne verraten, wenn Sie mir sagen, für wen Sie arbeiten und was genau Sie untersuchen, Mister Holmes.«

»Mein Auftraggeber ist die White Star Line. Mister Joseph Bruce Ismay bat mich, die Anschuldigungen, die Sie und Mister Evans gegen seine Reederei und ihn erhoben haben, zu prüfen und zu einem Ergebnis zu kommen.«

»Sie sollen ihn also reinwaschen.«

»Hätte der Auftrag so gelautet, hätte ich den Fall nicht übernommen«, versicherte der Detektiv. »Ich habe freie Hand und fände es reizvoll, wenn wir einander bei den Ermittlungen unterstützen. Sie sagten zuvor, Sie hätten eine Vermutung das neue Material betreffend, das Ihr ermordeter Kollege veröffentlichen wollte.«

»Das trifft zu, Mister Holmes. Viel von dem, was wir abdruckten, stammte von einem Amerikaner, der …«

»Morgan Robertson?«, unterbrach ihn Holmes. »Ich habe seinen Roman über den Untergang eines Ozeandampfers namens Titan gelesen, den Sie in der Gazette veröffentlicht haben. Ein wirklich gut geschriebener Text.«

»Und das war nicht alles. Robertson war Seemann und kennt sich wirklich aus auf diesem Gebiet. Seine Recherchen sind unbezahlbar.«

»Ich hoffe auf ein persönliches Gespräch mit ihm.«

»Sie planen eine Reise in die Vereinigten Staaten?«

»Mein Plan geht darüber hinaus.«

»Erzählen Sie, Mister Holmes. Ich lasse uns Tee bringen.«

Bei starkem Tee und staubig-trockenen Biskuits legte Holmes dem Journalisten seine Überlegungen dar. »Ich werde Mister Ismay vorschlagen, um den 10. April herum eine Commemoration Journey, eine Gedenkreise, mit dem Schwesterschiff der Titanic zu machen. Ich kenne den Fahrplan der White Star Line noch nicht. Ideal wäre natürlich eine genaue Übereinstimmung der Daten mit jenen der Jungfernfahrt der Titanic.«

»Ich werde dabei sein und darüber berichten«, sagte Conolly mit einem begeisterten Beben in seiner Stimme.

»Das sollen Sie auch. Ich rechne damit, dass Ihre Artikel über diese Reise Bewegung in den Fall bringen werden. Es wird von einigem Interesse sein, wer sich alles für diese Fahrt Tickets besorgt.«

»Ich verspreche, Sie ganz groß herauszubringen, Mister Holmes. Was planen Sie als Nächstes?«

»Ich werde Mister Ismay meinen Plan unterbreiten.«

»Und dann?«

»Dann werde ich den Leseraum des British Museum aufsuchen und das Archiv des Jahres 1912 durchforsten. Es interessiert mich, was die Zeitungen seinerzeit über den Untergang der Titanic zu berichten wussten.«

»Entschuldigen Sie, Chef … es ist wichtig«, unterbrach ein junger Mitarbeiter des Redakteurs das Gespräch der beiden Männer. »Ein Fernschreiben aus den Staaten.«

»Einen Augenblick«, entschuldigte sich Conolly bei Sherlock Holmes.

Als der Mann völlig aufgelöst zurückkam, glänzte sein fülliges Gesicht vor Schweiß, und Holmes fragte ihn besorgt, was vorgefallen sei.

»Morgan Robertson ist tot. Ermordet, wie Evans.«

»Das ist fürwahr eine erschreckende Nachricht«, sagte Holmes nachdenklich.

»Soeben über den Telegrafen eingetroffen. Er starb in einem Zimmer des Alamac Hotels in Atlantic City«, berichtete Conolly. »Ich verstehe nicht, was er in dem Hotel machte. Der Mann lebte auf einem Schiff und war ständig in Bewegung. Wir erreichten ihn nur postlagernd. Robertson war auf der Spur der wahren Hintergründe des Titanic-Unglücks. Er wollte noch in diesem Monat einen Bericht an mich senden. Man hat ihn umgebracht, da bin ich mir völlig sicher.«

»Das sagten Sie schon. Ist Ihnen bekannt, woran er starb?«, fragte Holmes den Journalisten.

»Angeblich an Herzversagen. Doch es ist Mord, ganz eindeutig Mord.«

»Umso wichtiger wird unsere Reise in zwei Wochen für die Klärung der Umstände«, versuchte Holmes den Mann zu beruhigen.

 

 

Die nächsten Tage verbrachte Sherlock Holmes im Lesesaal des British Museum, wo er Berichte englischer und amerikanischer Zeitungen zum Untergang der Titanic studierte. Stunde um Stunde saß der Detektiv in jenem kreisrunden Dom aus Gusseisen und Glas in der Great Russell Street, in dem sich so trefflich arbeiten ließ. Dort las er auch den Nachruf, den Robert Conolly auf seinen amerikanischen Kollegen verfasst hatte.

 

TITAN-AUTOR TOT

Bedienstete des Alamac Hotels in Atlantic City fanden den leblosen Körper des Schriftstellers und ehemaligen Seemanns Morgan Robertson. Er starb an Herzversagen.

Den Lesern der PALL MALL GAZETTE ist Mr Robertson als Autor des Romans Hoffnungslos – oder Das Wrack der Titan bekannt, eines Textes, der im Jahre 1898 das Unglück der Titanic bis in Details voraussah.

Morgan Robertson gilt außerdem als Erfinder des Periskops, eines Gerätes, das die Navigation von U-Booten erheblich erleichtert. Viele Einzelheiten unserer Artikelserie über die wahren Hintergründe des Untergangs der Titanic stammen von ihm.

Die Redaktion der PALL MALL GAZETTE gedenkt voll Hochachtung ihres amerikanischen Kollegen und erneuert hiermit das Versprechen, das Bemühen um die Aufklärung der wahren Hintergründe des Untergangs der Titanic und seines Todes mit vollem Einsatz fortzusetzen.

 

Am Vormittag des 17. März 1915 betrat Sherlock Holmes das Gebäude der Royal-Maritime-Versicherung am Victoria Embankment in der City of Westminster, direkt am Ufer der Themse. Es handelte sich dabei um einen ausgedehnten dreistöckigen Bau aus hellem Portlandstein, über dessen Eingang der Bronzeguss eines Ankers hing.

Ein uniformierter Portier empfing Holmes und brachte ihn in den ersten Stock. Der Fußboden der Säle, in denen das Büro des Chefs der Royal Maritime untergebracht war, bestand aus spiegelndem, hellem Marmor. Die Wände und die Decke waren mit geschnitzten Eichenpaneelen verkleidet, die den Räumlichkeiten eine beinahe freundliche Atmosphäre verliehen.

Umso stärker hob sich die Sekretärin, Mrs Liza Rollings, von ihrer Umgebung ab. Die Frau, zu der der Portier Holmes führte, wirkte finster mit ihren kurzen, fast schwarzen Haaren, außerdem war sie dunkel gekleidet. Sie betrachtete den Detektiv mit forschenden, ernsten Augen. Holmes hätte nur zu gern gewusst, welches Geheimnis sich hinter der traurig wirkenden Frau verbarg.

Während Mrs Rollings konzentriert Briefe auf ihrer Underwood tippte, hüllte sie sich und ihre Umgebung in den dichten Rauch ihrer selbst gedrehten Zigaretten. Mit dunkler, belegter Stimme begrüßte sie den Besucher überraschend freundlich: »Es freut mich, Sie persönlich kennenzulernen, Mister Holmes. Sie müssen wissen, dass ich zu Ihren Bewunderern zähle.« Sie schüttelte seine Hand und Holmes war überrascht, wie kräftig die zierliche Frau zupacken konnte. »Ich führe Sie zu Mister Faber. Er erwartet Sie bereits.«

Das Büro von James R. Faber war ähnlich eingerichtet wie der Raum der Sekretärin, es war aber etwa dreimal so groß. Die vier Fenster gewährten einen prachtvollen Blick auf die Themse. James Faber war ein jugendlich wirkender Mann mit dichtem, dunklem Haar über dem sportlich gebräunten Gesicht.

Nach den ersten Sätzen der Begrüßung fragte ihn Holmes, seit wann er der Versicherung vorstand.

»Seit 1912 … seit dem Tod meines Vaters.«

»Sie wissen, warum mein Bruder Mycroft Sie um einen Gesprächstermin für mich gebeten hat?«, fragte Holmes.

»Mein Clubfreund Mycroft teilte mir mit, dass Sie auf seine Vermittlung hin klären wollen, inwieweit die Anschuldigungen der Journalisten der Wahrheit entsprechen.«

»Und was ist Ihre Meinung dazu? Immerhin geht es um Ihre Versicherungsgesellschaft, die den Artikeln von Evans und Conolly zufolge von den Inhabern der White Star Line betrogen wurde.«

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Ich werde Misses Rollings ersuchen, uns eine Erfrischung zu servieren. Sind Sie mit Tee und Brötchen einverstanden?«

Holmes nickte.

Als James Faber nach seiner Rückkehr schwieg, wiederholte der Detektiv seine Frage: »Wie sehen Sie die gegen die Schifffahrtsgesellschaft erhobenen Vorwürfe?«

»Ach ja, Ihre Frage von vorhin … Nun, ich betrachte die Angelegenheit mit großer Gelassenheit. Die Royal Maritime war bei über dreißig kleineren Versicherungsagenturen weltweit rückversichert, sodass uns aus dem Unglück kein finanzieller Schaden entstand. Zudem war ausschließlich das Schiff bei uns versichert. Das Risiko der Fracht trugen andere Gesellschaften, ebenso wie die Versicherung der Menschenleben. Somit sehen wir keinen Grund, von uns aus tätig zu werden. Wenn unsere Konkurrenten eine Chance sehen, das verlorene Kapital zurückzugewinnen, werden sie das sicher tun. Ich bin froh, dass ich nicht gegen Bruce vorgehen muss. Er ist ebenso Mitglied im Diogenes Club wie Ihr Bruder, Mister Holmes.«

»Und Sie selbst, Mister Faber.«

»Natürlich.«

»Wäre es möglich, mir Einblick in die Abwicklung des mit dem Untergang einhergegangenen Schadens zu gewähren?«

»Misses Rollings hat den Überblick über das gesamte Material. Sie kann Ihnen dabei behilflich sein. Und natürlich wird sie mein Assistent dabei unterstützen. Mister Hatter ist für die Kommunikation in unserem Unternehmen zuständig. Er hat dafür eine beinahe revolutionäre Technik entwickelt. Wenn es Sie interessiert …«

Holmes zeigte Interesse und wurde von Faber in das Arbeitszimmer von John Hatter geführt, der an einem Holzkasten mit der Tastatur einer Schreibmaschine saß. »Unser Fernschreiber«, sagte James Faber. »Eine Sendestation schickt die Radiosignale zu den Empfängern in unseren Niederlassungen, wo der Text ausgedruckt wird. Umgekehrt funktioniert es genauso.«

Mit einem strahlenden Lächeln begrüßte der Funker den Besucher und begann mit seinen Erklärungen.

»Das System basiert auf einer sequenziellen digitalen asynchronen Datenübertragung, wobei ein bestimmter Code verwendet wird, der die Daten verschlüsselt, sodass sie nicht von Fremden gelesen werden können. Also einfacher ausgedrückt: Die Nachricht wird mit modulierten hochfrequenten elektromagnetischen Schwingungen zwischen Sender und Empfänger übertragen.«

»Welche Reichweite hat dieses System?«, erkundigte sich der Detektiv.

»Es hängt von der Größe der Tonfunkensender ab. Wir von der Zentrale können Nachrichten über den Atlantik bis in die Vereinigten Staaten übermitteln, die Reichweite der Nebenstellen erstreckt sich nur bis nach Frankreich.«

»Ein System, das uns einen enormen Vorsprung gegenüber unseren Konkurrenten beschert hat«, erklärte Faber stolz. »Wir sind unabhängig von schlecht funktionierenden Telefonverbindungen und haben selbst mit entlegenen Regionen unseres Landes ständigen Kontakt. Mister Hatters Arbeit ist von großer Bedeutung für unseren Betrieb.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957192110
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Detektiv Spannung Sherlock Holmes Krimi Thriller Ermittler

Autor

  • J. J. Preyer (Autor:in)

J. J. Preyer wurde 1948 in Steyr, Österreich geboren. Mitarbeit an der Kinderzeitschrift "KLEX" von Peter Michael Lingens. 1996 gründete Josef Preyer den Oerindur Verlag, einen Verlag für lesbare Literatur und Krimis. Seit 2010 schreibt der Autor für die Romanserie JERRY COTTON im Bastei-Verlag.
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Titel: Sherlock Holmes - Neue Fälle 12: Und der Fluch der Titanic