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Sherlock Holmes - Neue Fälle 10: Sherlock Holmes und der Hund der Rache

von Michael Hardwick (Autor:in)
352 Seiten

Zusammenfassung

Doktor Watson wandelt auf Freiersfüßen, und Sherlock Holmes spielt mit dem Gedanken, in den Ruhestand zu treten. Doch er hat die Rechnung ohne die Kriminellen dieser Welt gemacht. In Hampstead Heath hieß scheint eine reißende Bestie ihr Unwesen zu treiben, die sofort Erinnerungen an den berüchtigten Hund von Baskerville weckt. Bei Ausgrabungen in London werden die Gebeine von Oliver Cromwell entdeckt – und prompt geraubt. Auf einer Kanalüberquerung wird ein Stewart ermordet. Es scheint unmöglich, dem Täter die Tat nachzuweisen. Und zu allem Überfluss soll Holmes auch noch im Auftrag des Königs von England eine pikante Angelegenheit möglichst dezent erledigen. An Ruhestand ist also noch lange nicht zu denken. Die nahtlose Fortsetzung des Romans DER HUND VON BAKERVILLE von Arthur Conan Doyle. Die Presse urteilt: Besser als das Original! Die Printausgabe umfasst 352 Buchseiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Michael Hardwick (1924-1991) wurde im englischen Leeds geboren und verbrachte wie Dr. Watson einen Großteil seines Lebens auf Reisen. Er verfasste von Kindesbeinen an Texte und arbeitete später als Zeitungsjournalist, war führender Drehbuchautor, Leiter des Bereichs Drama bei der BBC und Theaterschriftsteller. Aus seiner Feder stammen Hunderte von Skripten für Radio- und Fernsehproduktionen.

Bekannt wurde er weltweit durch seine Sherlock-Holmes-Pasticcios. Sie gehören für viele Eingeweihte zu den besten Werken, die nach dem Tod von Sir Arthur Conan Doyle verfasst wurden. Darüber hinaus zeichnete er für Bühnenadaptionen der Geschichten verantwortlich, die berühmten BBC-Radiofassungen und den Roman zum Film Das Privatleben des Sherlock Holmes von Billy Wilder. Seine Verbundenheit mit Dr. Watson nahm beinahe unheimliche Züge an und ermöglichte ihm, sich mit ihm zu identifizieren und ihn glaubhafter zu beschreiben als jeder andere Schriftsteller – außer Doyle selbst.

Nach Christopher Morley war Hardwick der zweite Träger des „Sign of the Four“ der amerikanischen Sherlock-Holmes-Gesellschaft Baker Street Irregulars, mit dem nur die würdigsten Nachlassverwalter des Detektivs ausgezeichnet werden.

© 2015 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Aus dem Englischen von Ralph Sander

Lektorat: Dr. Richard Werner

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-95719-209-7

KAPITEL 1

 

Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob Sherlock Holmes von meinen Absichten wusste oder nicht. Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass er eine gewisse Vorahnung hatte. Seine Anspielungen waren dahin gehend einfach zu offensichtlich, und seine Taktiken, mit denen er mich dazu verleiten wollte, alles preiszugeben, waren allzu leicht zu durchschauen.

Es war früh im Sommer des Jahres 1902. Edward VII. war zwar seit dem Tod seiner Mutter, Queen Victoria, im Januar des vorangegangenen Jahres unser Monarch, doch seine Krönung stand immer noch aus. Große Zeremonien und Feierlichkeiten hatten nicht zur Debatte gestanden, während sich unser alles andere als triumphaler Krieg in Südafrika dahinschleppte. Nachdem der nun endgültig hinter uns lag, stand einer Krönung nichts mehr im Wege. Pflichtbewusst reisten die Vertreter aller europäischen Königshäuser nach London, aber zwei Tage vor dem feierlichen Ereignis wurde der König von schweren Leibschmerzen heimgesucht. Sir Frederick Treves, sein Leibarzt, leitete umgehend eine Operation ein, von der sich der König sehr rasch erholte. Nach nur zwei Wochen war er praktisch völlig genesen, und das Wort Blinddarmentzündung war mit einem Mal in aller Munde. Zu diesem Zeitpunkt jedoch waren all die ungeduldigen adligen Gäste längst wieder abgereist.

Am ersten Julitag kehrte ich von einem wunderbaren Spaziergang zu Bloomsbury in die Baker Street zurück. Ich ließ mich dankbar im Salon vor dem lodernden Kaminfeuer im Sessel nieder, um mein schmerzendes Bein und meine brennenden Füße auf den Kaminvorsetzer aus Messing hochzulegen. Das Wetter war schwül geworden, und auch wenn ich das Gefühl gehabt hatte, über dem Boden zu schweben, war ich in Wahrheit über das Londoner Pflaster gelaufen, das ungewöhnlich hart und von einer eigenen Hitze erfüllt zu sein schien.

Pure Erhabenheit meiner Laune hatte mich davon abgehalten, eine Droschke zu nehmen. Ich war voller Stolz, meine Aura derart zur Schau zu tragen, dass jeder sie sehen konnte, war wie bei der Fahnenparade durch Straßen spaziert, die noch immer anlässlich der Krönung geschmückt waren, obwohl man das Ereignis längst verschoben hatte.

Als ich eintrat, sah Holmes zu mir herüber. Er saß in seinem Sessel und hatte seinen Morgenmantel locker umgelegt. Während er das dicke Album mit Zeitungsausschnitten zuklappte, in dem er geblättert hatte, wanderten seine stechenden Augen über meinen Leib, bis der Blick meine Stiefel erreicht hatte und dort haften blieb. Seine Neugier angesichts meines häufigen Kommens und Gehens in der letzten Zeit war nicht zu übersehen gewesen. Seine hoch empfindlichen Sinne mussten es ihm ermöglicht haben, einige Dinge zu folgern, doch sein kühler Stolz gestattete es ihm nicht, um eine Bestätigung seiner Vermutungen zu bitten. Bevor er eine wichtige Frage stellte, war es ihm am liebsten, dass er die Antwort darauf bereits kannte.

„Wieso ausgerechnet türkisch?“, begrüßte er mich verhalten.

Ich beschloss, es ihm ein wenig heimzuzahlen. Schon zu oft hatte er sich auf meine Kosten amüsiert. „Englisch“, antwortete ich und bewegte meine Füße. „Ich habe sie bei Latimer‘s in der Oxford Street gekauft.“

„Das Bad, nicht die Stiefel“, sagte er. „Das Bad. Warum ein entspannendes und kostspieliges Türkisches Bad, wenn das heimische ungleich günstiger und zudem belebend ist?“{1}

„Weil“, gab ich zurück, „ich mich in den letzten Tagen rheumatisch und alt gefühlt habe. Ein Türkisches Bad ist das, was wir in der Medizin als eine Alternative bezeichnen. Ein erfrischender Neustart, eine Reinigung des Körpers.“ Ich fügte Letzteres hinzu, da eine Verbindung zwischen meinen Stiefeln und einem Türkischen Bad für ihn durchaus logisch sein mochte, für mich jedoch nicht. Mehr als zwanzig Jahre Erfahrung mit seinen Methoden hatten mich genug gelehrt, um in der Lage zu sein, seine nun folgende hochtrabende Erwiderung zu durchschauen.

„Die Argumentationskette ist nicht allzu schwierig, Watson. Sie gehört zu den gleichen Grundlagen des Schlussfolgerns, die ich veranschaulichen würde, wenn ich Sie fragte, mit wem Sie die Droschke geteilt haben, mit der Sie heute Morgen gefahren sind.“

Das kam einem Hinterherschnüffeln gleich. Wäre ich nicht so guter Laune gewesen, dann hätte ich heftig widersprochen. Doch dieses eine Mal behielt ich die Oberhand, und so konnte ich es mir leisten, mich in meinem Sessel nach hinten zu lehnen und ihm zuzusehen, wie er versuchte, mich dazu zu bringen, ihn in meine Karten schauen zu lassen.

Wegen der Dreckspritzer, die er auf meinem linken Ärmel und an meiner linken Schulter zu sehen behauptete, folgerte er, dass ich den Platz in einer zweirädrigen Droschke mit jemandem geteilt hatte. Wäre ich allein gewesen, so erklärte er, hätte ich in der Mitte Platz genommen und wäre dort vor Spritzern geschützt gewesen.

Ich machte mir nicht die Mühe, ihn darauf hinzuweisen, dass die Straßen zum ersten Mal in diesem schlechten Sommer trocken waren. Stattdessen fragte ich: „Aber die Stiefel und das Bad?“

„Gleichermaßen kindisch.“ Er deutete mit dem Stiel seiner Pfeife auf meine Füße. „Sie haben die Angewohnheit, Ihre Schnürsenkel auf eine ganz bestimmte Weise zu schnüren. Wie ich sehe, sind sie heute zu einem kunstvollen Doppelknoten geschnürt, der nicht Ihrer üblichen Methode entspricht. Demzufolge haben Sie Ihre Stiefel zwischenzeitlich ausgezogen. Wer hat sie geschnürt? Ein Schuhmacher oder der Wärter im Bad? Dass es der Schuhmacher war, ist unwahrscheinlich, da Ihre Stiefel so gut wie neu sind. Nun, wer bleibt da noch übrig? Der Junge im Bad. So simpel, nicht wahr?“ Er überspielte seine Bemühungen, mein Geheimnis in Erfahrung zu bringen, damit, dass er seine abgenutzte Bruyère anzündete und dichte Rauchwolken ausstieß. Meine Weigerung, auf seinen Köder anzusprechen, war für ihn die Bestätigung, dass ich ein Geheimnis verbarg. Und allem Anschein nach war er der Meinung, dass es ihn beträfe. Das stimmte auch, doch diese Enthüllung konnte warten. Ich war noch nicht bereit, ihm zu sagen, dass eine gewisse junge amerikanische Lady sich soeben einverstanden erklärt hatte, die dritte Mrs John H. Watson zu werden.

KAPITEL 2

 

„So, John“, hatte meine liebe Coral gesagt, als sie den letzten der Doppelknoten festzog. Sie kniete neben dem gepolsterten Hocker, auf den ich meine Stiefel gestellt hatte, und sah auf, um mich anzulächeln. „Die werden so bald nicht wieder aufgehen.“

„Ich werde sie den ganzen Abend tragen“, sagte ich, „weil du sie geschnürt hast.“

Dieser Moment war noch nicht ganz eine Stunde her, abgespielt hatte er sich in dem Haus, in dem sie mit ihrer Tante Henrietta am Russell Square wohnte. Obwohl beide sich gleich um die Ecke vom Britischen Museum eingemietet hatten, waren sie wenige Monate zuvor im unwirtlichen Februar nicht aus wissenschaftlichen Gründen aus den Vereinigten Staaten hierher gekommen. Vielmehr wollte Tante Henrietta nach den beiden Rennpferden sehen, die einige Wochen zuvor hergebracht worden waren, damit sie rechtzeitig für die Rennsaison trainiert wurden.

Mit vollem Namen hieß sie Mrs Henrietta Wilmington Atkins, abkömmlich aus Omaha im Staate Nebraska. Ihrem Ehemann gehörte Land, das auf halber Strecke nach Kansas City gelegen war und das er zum größten Teil an kleine Farmer verpachtet hatte. Ich war ihr zum ersten Mal im Mai anlässlich eines Militärturniers begegnet. Zutritt dorthin hatte mir eine kostenlose Eintrittskarte verschafft, die Holmes von einem zufriedenen Klienten aus den Reihen des Militärs überreicht worden war. Holmes hatte mir die Karte über den Frühstückstisch zugeworfen, begleitet von verächtlichem Gemurmel darüber, wie dumm es sei, so kurz nach dem Fiasko in Südafrika derart säbelrasselnden Pomp zu präsentieren.

Mein Platz erwies sich als einer der Besten in der Grand Agricultural Hall von Islington. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch die Nähe einer passend gekleideten Dame in ansprechendem mittleren Alter, die mich anlächelte, während ich mich setzte. Kaum hatte ich Platz genommen, stellte sie sich mir mit jener amerikanischen Direktheit vor, die man entweder begrüßt oder ablehnt. Ihr Akzent war eindeutig der des Mittleren Westens. Ihr Auftreten war von einer durch Reichtum erlangten Selbstsicherheit geprägt.

„Und dies“, fügte sie an und deutete dabei auf ihre jüngere Begleiterin, „ist meine Nichte, Miss Coral Atkins.“

Ich verbeugte mich und begrüßte sie beide mit Handschlag, während ich mich vorstellte. Miss Atkins war ungefähr siebenundzwanzig. Auch sie trug ein teures Kleid. Gesicht und Gestalt waren von einer erfrischenden Schönheit, die sie von den anderen anwesenden, modisch gekleideten Damen unterschied. Ihr Haar war von einem kupfernen Farbton, ihre Haut war so blass wie Porzellan, und ihre weißen Zähne strahlten so, wie man es oft bei amerikanischen Frauen beobachten kann. Mich wunderte, dass sie nicht verheiratet war, doch ihre Tante hatte sie mir ausdrücklich als Miss vorgestellt.

„Coral ist meine Lieblingsnichte, nicht wahr, meine Liebe?“, verriet Mrs Atkins. „Sie ist zum ersten Mal in England. Ich komme jedes Jahr her, seit mein Mann mich 1886 erstmalig hierher mitnahm. Ach, Coral, ist er nicht ein schrecklicher Mann, dein Onkel Gabriel? Wissen Sie, was er sagt?“, fügte sie an und legte den Kopf ein wenig schräg, als sie sich wieder zu mir umdrehte. Ich erwartete beinahe, dass sie mich mit dem Ellbogen in die Rippen stieß, während sie lachte und mit noch breiterem Akzent sprach: „London ist ja nicht schlecht, aber Nebraska ist mir viel, viel lieber.“

Ihre Nichte stimmte in das Gelächter ein, während ich zu einem rücksichtsvollen Schmunzeln ansetzte. „Dann ist Ihr Gatte also nicht mitgekommen?“, fragte ich.

„O nein“, erwiderte sie. „Das macht er schon längst nicht mehr. Aber mich hält das nicht ab. Ich liebe es hier einfach, nicht wahr, meine Liebste?“

Miss Atkins lächelte bestätigend.

Ich befand mich an der Schwelle zu meinem fünfzigsten Lebensjahr. Seit fast zehn Jahren war ich wieder Witwer, nachdem meine geliebte Mary 1893 viel zu früh aus dem Leben geschieden war. Meine Einsamkeit war bereits im Jahr darauf durch Sherlock Holmes‘ Rückkehr von den Toten auf freudige Weise beendet worden. Mir, und auch dem Rest der Welt, war zu der Zeit nicht bekannt gewesen, dass er sich in den drei Jahren nach seinem todbringenden Kampf mit seinem Erzfeind Professor James Moriarty, dem Napoleon des Verbrechens, an den Reichenbach-Fällen in der Schweiz inkognito in Europa und Teilen Asiens aufgehalten hatte. Nach seiner Rückkehr hatte es mir genügt, mit ihm wieder die alten Räumlichkeiten in der 221B Baker Street zu teilen. Der Gedanke, noch einmal zu heiraten, war mir nur äußerst flüchtig in den Sinn gekommen. Es ist Mrs Henrietta Wilmington Atkins, oder Henry, wie sie genannt werden möchte, zu verdanken, dass ich abermals begann, mich mit diesem Gedanken vertraut zu machen.

Während die Kavalleriepferde durch die Arena in der großen Halle stolzierten und die Befehle und die Trompetenklänge von dem hohen eisernen Dach zurückschallten, überschüttete sie mich mit Fragen, was da genau vor sich ging. Mein Wissen über das Militär schien sie zutiefst zu beeindrucken, da sie das Coral gegenüber immer wieder verlauten ließ. Ihre Augen glänzten vor Bewunderung, als ich beiläufig meine Beteiligung am Afghanistan-Feldzug von 1880 erwähnte, von dem sie nie etwas gehört hatten. Auf ihre ängstliche Frage hin musste ich erklären, dass ich auf dem Höhepunkt der Schlacht von Maiwand von der Kugel einer Muskete an der Schulter und während des Rückzugs von einem weiteren Geschoss am Bein getroffen worden war. Mrs Atkins legte mitfühlend eine Hand auf meinen Arm und bestand darauf, dass ich mich anschließend mit ihnen zum Abendessen begab und ihnen alles über dieses schreckliche Maiwand-Massaker erzählte, dem ich glücklicherweise lebend entkommen konnte.

Wir gingen zum Hotel Russell, das gleich gegenüber ihrem gemieteten Haus in der Russell Street lag. Während der Kutschfahrt zurück von Islington fragte mich Mrs Atkins immer wieder nach den Namen der Londoner Sehenswürdigkeiten, die wir passierten. All das geschah ausschließlich zugunsten von Coral. Auch beim Abendessen verhielt es sich nicht anders. Doktor Watson, warum erzählen Sie Coral nicht von …? Darling, bitte den Doktor doch, dir zu erklären … Ich möchte gerne Ihre Meinung wissen, Doktor, damit Coral hört …

„John … Ihr Name ist doch John, nicht wahr? Dies ist Coral, wie Sie wissen. Und mich müssen Sie einfach Henry nennen, als Kurzform für Henrietta.“

Die Kellner hatten die Damen wie gute Bekannte begrüßt, und wenig später standen zwei Flaschen Champagner auf dem Tisch. Offensichtlich waren sie daran gewöhnt, es sich gut gehen zu lassen. Ich war durchaus willens da mitzuhalten, und nach dem Abendessen ging ich nur zu gern mit ihnen über die Straße für einen Schlummertrunk. Das Haus war sehr prachtvoll, und die beiden waren es offensichtlich gewöhnt, in solchen Räumlichkeiten zu leben. Ich empfand die beiden als ein fröhliches, ungezwungenes Paar, das um diese Zeit noch einen Mann zu Gast hat, den sie erst an diesem Abend kennengelernt hatten.

„Nun, Miss Atkins“, sprach ich die junge Frau an, als ihre Tante vorübergehend das Zimmer verlassen hatte. „Wie gefällt es Ihnen hier?“

„Nennen Sie mich doch bitte Coral, John“, erwiderte sie und setzte sich zu mir auf das Sofa. „Ich finde, dass England einfach wundervoll ist. Ich kann verstehen, warum Tante Henry immer wieder herkommt.“

„Vielleicht möchten Sie ja auch wieder herkommen“, schlug ich vor, doch im gleichen Moment wurde mir klar, dass diese Reise vielleicht eine Art letzter Urlaub war, bevor sie in Amerika heiratete und sich häuslich niederließ. Sie trug an ihren zierlichen Fingern zwar keinen Verlobungsring, doch mit den Traditionen des Mittleren Westens war ich nicht so umfassend vertraut.

Wie sie mir erzählte, stammte sie eigentlich gar nicht aus dieser Gegend. Mir war bereits aufgefallen, dass sie fast ohne Akzent sprach, und die leichte Färbung ihrer Stimme war deutlich anders als der Dialekt ihrer Tante.

„Ich bin in Philadelphia, Pennsylvania, geboren und aufgewachsen. Meine Eltern sind vor zwei Jahren bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen.“

„Das tut mir sehr leid“, sagte ich und war gerührt, als sie verstummte und den Kopf einen Moment lang sinken ließ. Sie erholte sich jedoch schnell von ihrer Trauer und sah mich an, wobei sich auf ihren Lippen wieder dieses bezaubernde Lächeln abzeichnete.

„Danke. Onkel Gabe ist der Bruder meines Daddys, auch wenn man das gar nicht glauben möchte. Es heißt, er sei wie ein ungeschliffener Diamant, aber er hat ein Herz aus Gold. Er und Tante Henry haben mich zu sich genommen. Sie sind so lieb und nett und sehr großzügig zu mir …“

„Unsinn!“, rief ihre Tante, die gerade durch die Tür kam. „Sie hat nur bekommen, was sie verdient hat. John, ich habe nachgedacht.“ Mit einer Handbewegung scheuchte sie Coral vom Sofa, um ihren Platz neben mir einzunehmen und mich ohne große Umschweife anzusprechen. „Sie ist die bestgelaunte junge Frau in ganz Omaha, aber wenn es um Pferde geht, kann sie nicht verleugnen, dass der Mittlere Westen nicht ihre Heimat ist. Ich habe gesehen, wie sie zu gähnen beginnt, wenn die hübschen Tiere Kopf an Kopf in Reihe stehen.“

„Ach, Tante“, protestierte Coral lachend.

Doch Henry ignorierte sie. „Wir werden bis zum Ende der Rennsaison in Ihrem Land bleiben. Mein Trainer hat die Klepper für eine ganze Reihe von Veranstaltungen angemeldet. Ich möchte an allen großen Rennen teilnehmen. Dieses arme Kind muss mir entweder die ganze Zeit über nachlaufen oder aber hier im Haus bleiben, wo niemand außer der Dienerschaft anwesend ist.“

„Das ist doch nicht schlimm, Tante“, warf Coral ein. „Wirklich nicht!“

„Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte“, begann ich langsam. „Ich kenne zwei oder drei Familien mit etwa gleich alten Töchtern. Ich bin sicher, sie wären erfreut, Coral unter ihre Fittiche zu nehmen, solange Sie nicht in der Stadt sind.“

„Ich weiß Ihren Vorschlag zu schätzen, John“, sagte Henry und nickte. „Doch so, wie ich mein Mädchen kenne, wird sie lieber allein hier verweilen. Sie braucht im Grunde nur jemanden, der sie ausführt. Sie wissen schon, ins Theater und anderswohin, wo eine junge Frau nicht allein erscheinen kann. Vielleicht ein oder zwei Ausflüge.“

Ich wollte ihr eben versichern, dass meine Freunde genau das tun würden, doch sie kam mir zuvor.

„Wie wäre es mit Ihnen, John?“

„Mit mir, Henry?“

„Wer wäre besser geeignet? Sie sind kein praktizierender Arzt mehr. Sie sind ein Gentleman der Muße, und ich kann einen wahren Gentleman von anderen auf den ersten Blick unterscheiden. Zudem kennen sie sich gut in London aus. Wenn Sie sich die Zeit nehmen könnten, dann würde die Kleine Sie voller Begeisterung überallhin begleiten, wohin Sie sie ausführen wollen. Ist es nicht so, Darling?“

„Ich kann unmöglich Johns Zeit in Anspruch nehmen, Tante.“

„Das geht natürlich auf meine Kosten“, fügte Henry fast beiläufig an.

„Meine werte Dame …“, begann ich, verstummte aber sofort wieder. Meine Invalidenpension und die wenigen Dividendeneinnahmen hätten nicht einmal annähernd die Kosten decken können, doch das Angebot war so verlockend, dass ich es kaum hätte ablehnen können. Henry musste meine Gedanken gelesen haben, da sie mir auf eine gewisse Art zuzwinkerte, die schockierend gewesen wäre, hätte es sich um eine englische Lady gehandelt.

„Machen Sie sich keine Gedanken darüber, was sich gehört. Der gute alte Teddy sitzt jetzt auf dem Thron, die Dinge werden sich ohnehin ändern. Aber Coral ist sowieso nicht der Typ, der eine Anstandsdame zur Seite haben muss. Sie ist ein gutes und braves Mädchen. Auf jedes Großmaul, das versucht, ihr etwas vorzumachen, wartet eine große Überraschung. Sie braucht keine alte Glucke wie mich, die auf sie aufpasst. Also, was sagen Sie, John?“

„Ich sage das, was Coral von mir hören will“, antwortete ich.

„Und ich sage: Ja, bitte!“, rief Coral glücklich.

Das war für mich der Beginn einer freudigen Zeit. Schon morgens beim Erwachen freute ich mich auf den anstehenden Tag. Holmes hatte gerade einen Fall abgeschlossen und wartete auf den nächsten. Also bekämpfte er seine Langeweile, indem er eine seiner Arbeiten über esoterische Forschung weiterführte. Er war zurückgezogen und schweigsam, und er schien mein Kommen und Gehen kaum zur Kenntnis zu nehmen. Fast ohne Ausnahme ging er um zehn Uhr abends schlafen, und seine Angewohnheit, erst spät aufzustehen, ersparte mir, am Frühstückstisch seinem durchdringenden Blick ausgesetzt zu sein.

Die Tage vergingen wie im Flug. Jeden Morgen um elf Uhr fand ich mich am Russell Square ein, von dort begleitete ich Coral in den Royal Park, zum Tower, in den Zoo und in die Museen. Wir besuchten den Crystal Palace, wir fuhren nach Greenwich und Blackheath, wo ich ihr das Feld zeigte, auf dem ich während meiner Zeit als Medizinstudent für den örtlichen Rugby-Club gespielt hatte. Dann sahen wir uns ein Spiel an, das gegen Ende der Rugby-Saison stattfand. Ich bemerkte die Blicke, die einige der Burschen Coral zuwarfen. Es überraschte mich, dass diese Blicke in mir ein solch besitzergreifendes Gefühl weckten.

Wir reisten in Ausflugszügen bis nach Ramsgate, Margate und Brighton, auf einem Vergnügungsdampfer fuhren wir auf der Themse stromauf- und stromabwärts. Während wir unsere Stimmung an die sorglosen Menschenmengen um uns herum anpassten, stimmten wir in die Klänge von Banjo und Mandoline mit ein. Let‘s all be merry, Drinking whisky, wine and sherry, On Coronation Day …

Ich hatte mich ihr gegenüber die ganze Zeit so verhalten, wie ich es einer Tochter gegenüber getan hätte. Natürlich geht ein Mann auch seinen Gedanken nach, und dabei wurde mir der Altersunterschied zwischen uns bewusst. Als Mary Morstan in mein Leben getreten war und Holmes seinen gefeierten Fall beschert hatte, den ich unter dem Titel Das Zeichen der Vier niederschrieb, da war ich sechsunddreißig gewesen, sie war acht Jahre jünger als ich. Wir hatten uns auf den ersten Blick ineinander verliebt, und da wir beide alleinstehend waren, konnten wir heiraten. Für mich war das das zweite Mal. Coral war jetzt in dem Alter, in dem sich Mary damals befunden hatte, während ich vor kurzem das halbe Jahrhundert vollendet hatte. Außerdem konnte ich mir vorstellen, dass sie wohlhabend war. Das war bei mir ganz entschieden nicht der Fall. Die Gedanken, die sich über sie in meinem Geist festgesetzt hatten, konnten daher mit Leichtigkeit, wenn auch mit Bedauern, verworfen werden.

Ihre Tante kehrte von Zeit zu Zeit in das Haus in Bloomsbury zurück, und wir drei waren eine glückliche Gesellschaft. Dennoch bevorzugte Henry es, ihren eigenen Weg zu gehen und Coral und mich uns selbst zu überlassen.

An einem warmen, trägen Nachmittag im Juni nahm ich sie mit, um mit ihr auf dem See des Regent‘s Park zu rudern. Sie saß aufrecht im Heck, den Blick auf mich gerichtet. Sie trug ihren großen, mit Blumen geschmückten Hut, das blass-lila Kleid und passende lange Handschuhe sowie einen Sonnenschirm, dessen Rand mit Fransen verziert war und der die perfekte Ergänzung zu ihrem attraktiven Äußeren bildete. Bewundernde Pfiffe, die von einigen Jungs in einem anderen Boot herüber gellten, brachten sie zum Lächeln. Als sie den jungen Männern kurz zuwinkte und die johlend reagierten, während sie ihre Hüte schwangen, versetzte es mir einen Stich in die Magengegend. Ich beschloss, dass der Zeitpunkt gekommen war, ein ganzer Mann zu sein und steuerte eine der kleinen Inseln an. Als wir das leicht ansteigende Ufer erreichten, das zum Teil unter weit überhängenden Zweigen der Bäume gelegen war, und während die braunen Enten angesichts der Störung ihrer Ruhe in alle Richtungen davonstoben, war ich entschlossen, alles auf eine Karte zu setzen.

„Coral, meine Liebste.“

„Ja, John?“

„Du hast sicherlich darüber nachgedacht, eines Tages zu heiraten.“

Sie hatte den linken Handschuh ausgezogen und hielt ihre Hand ins Wasser. Sie hob sie hoch, um zu sehen, wie das kristallklare Wasser sich an den Fingerspitzen ihrer gespreizten, ringlosen Hand sammelte.

„Ich habe darüber nachgedacht“, antwortete sie und hielt den Blick weiter auf ihre Hand gerichtet.

„Und?“

„Ich glaube, ich bin zuvor noch nie meinem Ehemann begegnet.“

Mein Herz machte einen Satz bis hinauf zum Himmel, während das Blut in meine Wangen schoss und sie zum Glühen brachte. „Ich hoffe, dass es jetzt geschehen ist …“

„Das habe ich auch gehofft, mein liebster John“, erwiderte sie leise.

KAPITEL 3

 

So verlobte ich mich, um ein drittes Mal zu heiraten. In meinem Zustand maßloser Freude verschwendete ich keinen Gedanken daran, welche Folgen dies möglicherweise für die einzigartige Karriere meines Freundes und Mitbewohners Sherlock Holmes, des größten Detektivs der Welt, haben mochte.

Mrs Atkins war zu der Zeit nicht in der Stadt, da sie mit einem Pferderennen befasst war. Coral und ich einigten uns darauf, gemeinsam mit ihr zu sprechen, sobald sie zurückkehrte, um den Segen ihrer Pflegeeltern einzuholen. Das Treffen war für den Morgen des Samstags, 28. Juni, geplant. Ein unglücklicher Zwischenfall verhinderte dies jedoch. Am Nachmittag des Freitags vor diesem Treffen wurde ich von dem berüchtigten amerikanischen Kriminellen Killer Evans angeschossen.

Die Umstände dieser Begebenheit habe ich in meiner Chronik mit dem Titel Die drei Garridebs festgehalten. Es war ein weiterer von diesen Fällen eines habsüchtigen Betrügers, der aus seinem gewohnten Umfeld gelockt wurde, weil ein Krimineller etwas auf dem Grundstück Verstecktes in seinen Besitz bringen wollte. Nur selten ist bei Holmes‘ Ermittlungen einer von uns beiden tatsächlich in Gefahr gewesen. Genauso selten war es erforderlich gewesen, von unseren Fäusten oder gar von Waffen Gebrauch zu machen. Für einen Mann, der sich keinerlei körperlicher Ertüchtigung verschrieben hatte, war Holmes bemerkenswert geschickt in der Anwendung diverser Kampfsportarten, wenn die Situation dies erforderte. Doch weiß ich nur von sehr wenigen Fällen, in denen es überhaupt einmal so weit gekommen war. Seine Waffe war sein Gehirn, jene überragende Steuereinheit für Beobachtungen, Folgerungen und angesammelte Daten, was in Schlussfolgerungen und Voraussagen gipfelte, die seine Freunde mit großer Regelmäßigkeit in Erstaunen versetzten und seine Gegner in Verwirrung stürzten.

Für Killer Evans, unseren Widersacher im Garrideb-Fall, stand allerdings weit mehr auf dem Spiel. Er hatte in Amerika und England mehrere Menschen ermordet. Nachdem er von Holmes und mir in eine Falle gelockt worden war, täuschte er vor, er würde sich ergeben, doch stattdessen zog er seinen Revolver. Die Verletzung, die ich in der Folge erlitt, war nur von oberflächlicher Natur, ich wurde nicht einmal zu Boden gerissen. Allerdings war es nötig, dass ich mich einige Tage hinlegte und ruhig verhielt. So dauerte es bis zum Dienstag,
1. Juli, ehe ich zum Russell Square gehen konnte, um das verschobene Treffen mit Tante Henry nachzuholen.

Sie überschüttete mich mit Mitgefühl, das aus den Tiefen ihres überquellenden amerikanischen Herzens kam. Sie ging über meinen Protest hinweg, es handele sich nur um einen Streifschuss am Oberschenkel, und bestand darauf, dass ich meine Füße auf einen Hocker hochlegte. Coral selbst brachte ihn zu mir und legte vorsichtig meine Beine darauf.

„Zieh dem armen Mann die Stiefel aus“, wies Henry sie an. „Es wird Ihnen gut tun, wenn Sie die Zehen bewegen können, John.“

Ich war darüber nicht glücklich, weil ich keine Hausschuhe hatte, die ich stattdessen anziehen konnte. „Vielleicht genügt es ja, wenn ich mit offenen Schnürsenkeln hier sitze“, schlug ich vor.

Coral kniete sich nieder, um mir diesen Wunsch zu erfüllen. Sie hatte mir versprochen, ihrer Tante noch nichts zu sagen, sodass wir das gemeinsam machen konnten. Angesichts dieser Absicht war ich umso erstaunter, als Henry sie aus dem Zimmer schickte und zu mir kam, um meine Hand zu nehmen. „Warum fragen Sie sie nicht, John?“

Mein Erstaunen sorgte dafür, dass ich nur stammeln konnte.

Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, damit ich schwieg. „Sie ist die Richtige für Sie, und Sie könnten nicht geeigneter für sie sein. Warum noch warten? Fragen Sie sie geradeheraus.“

Es erschien mir überflüssig, ihr zu sagen, dass ich die Antwort auf diese Frage längst erhalten hatte. So kehrte ich als offiziell verlobter Mann in die 221B Baker Street zurück, und die Art, wie meine Verlobte an diesem wundersamen Nachmittag meine Schnürsenkel neu geschnürt hatte, bevor ich das Haus verließ, war für Sherlock Holmes jener Anlass, nach dem er gesucht hatte, um sein Verhör zu beginnen.

Ich konnte seine Angst verstehen. Er war ein Gewohnheitstier. Er war meine Gesellschaft gewohnt, und nicht zuletzt auch mein unerschütterliches Lob ob seiner Fähigkeiten. Unsere Räumlichkeiten, die auf eine professionelle Weise vollgestellt und vollgestopft waren, Mrs Hudsons unübertreffliche Kochkunst und Fähigkeiten als Haushälterin sowie die ruhige Regelmäßigkeit, mit der unser Leben verlief, passten hervorragend zu seiner ungeselligen Art. Das alles würde aus den Fugen geraten, wenn ich dieses Haus verließ.

Da er mich für verstockt hielt, weil ich ihm nicht sagte, was er herauszufinden suchte, änderte er seine Taktik. Als Erstes warf er sich in seinem Sessel nach hinten und zog wütend an seiner Pfeife, während die schiefergrauen Wolken seines starken Tabaks den Raum allmählich verdunkelten. Ich zündete mir selbst auch eine Pfeife an, jedoch mit einer leichteren Arcadia-Mischung, und zog genüsslich daran, während ich meinen erfreuten Gedanken nachging.

Nach und nach legte sich Holmes‘ Verärgerung. Er hörte auf, seine Pfeife im Abstand von wenigen Minuten immer neu zu entzünden, und schließlich ließ er sie in den Schoß sinken, während seine Augen ins Nichts starrten. Plötzlich sprang er auf und stützte sich auf den Kaminsims, wobei er einen Fuß im Hausschuh auf den Kaminvorsetzer stellte.

Einige Stunden waren inzwischen vergangen, seit ich vom Russell Square zurückkehrte. Der Abend war bereits deutlich fortgeschritten, und draußen wurde es allmählich dunkel. Unsere Lampe wurde entzündet, und das Feuer konnte sich von einem Glimmen zu einer gedämpften Flamme ausweiten. Während Holmes in das Feuer starrte, unterstrich das flackernde Licht seine hageren Züge. Eine Hand hatte er tief in seinem mausgrauen Morgenmantel vergraben. Sein Gesicht ruhte auf dem Arm, den er auf dem Kaminsims ausgestreckt hatte, vorbei an dem Durcheinander aus Pfeifen, Streichhölzern, Fidibussen, Päckchen mit halb aufgebrauchtem Tabak, Linsen, Fotografien, Umschlägen, unbeantworteten Briefen, die von einem Taschenmesser beschwert wurden, und den unzähligen anderen Objekten, für die er als Ablage diente. Mrs Hudson, unsere bewundernswerte Vermieterin und Haushälterin, hatte die strikte Anweisung, dort weder aufzuräumen noch Staub zu wischen.

„Ich bin fest entschlossen“, sagte er.

„In welcher Sache, Holmes?“

„Ich habe beschlossen, in den Ruhestand zu treten.“

„In den Ruhestand, Holmes?“, wiederholte ich. „Sie?“

„Können Sie sich nicht denken, warum?“

„Nein, das kann ich nicht“, erwiderte ich. „Um ehrlich zu sein, glaube ich es Ihnen nicht mal.“

Nachdem ich ihn so viele Jahre lang hatte beobachten können, konnte er mich mit dieser Nummer nicht täuschen. Er war so daran gewöhnt, von seinen Verdächtigen, zu denen er mich nun auch zu rechnen schien, das zu erfahren, was er hören wollte, dass er es nicht ertragen würde, einmal erfolglos zu bleiben. Er würde zu jedem noch so melodramatischen Mittel greifen, um herauszufinden, was er wissen wollte.

Er zog seinen Fuß zurück und ließ seinen Arm sinken, ehe er sich wieder in den Sessel fallen ließ. Mit einer Ausdruckskraft, wie sie Beerbohm Tree nicht hätte übertreffen können, wurde er kurz von Leben erfüllt, um mit dem Schürhaken einige Male hilflos in den Kohlen zu stochern, dann ließ er ihn auf den Rost fallen, während er selbst nach hinten sank.

„Meine Zeit ist aus dem Ruder gelaufen“, erklärte er mit einer hohlen Stimme, die gut zu Marleys Geist gepasst hätte. „Das Leben, Watson, ist an mir vorübergezogen. Es ist höchste Zeit, dass ich aufhöre, mich wie ein Ehrfurcht gebietender Quacksalber in die Angelegenheiten anderer Leute einzumischen.“

„Ihr Quacksalber ist das Salz in der Suppe des medizinischen Berufsstandes, Holmes.“

„O ja. Der gute alte Heiler, der voller Bewunderung von jenen Menschen angesehen wird, die er auf die Welt gebracht hat, deren Zungen er sich von Zeit zu Zeit angesehen hat, ehe er ihnen seine immer gleichen Allheilmittel verschrieb. Der Glaube seiner Patienten an ihn ist das, was sie heilt, nicht die Medizin, die er ihnen gibt. Das Gesetz des Durchschnitts muss ihn aber irgendwann einholen. Je länger er weitermacht, umso größer wird das Risiko, dass er einen tödlichen Fehler begeht.“

„Unsinn! Außerdem sind Sie kein Arzt, weder ein Quacksalber noch sonst einer.“

„Ich habe begonnen, einen ähnlichen Verfall bei meinen Fähigkeiten zu befürchten. Mein ganzer Ruf wird durch einen einzigen Fehler zunichte gemacht werden. Grausig!“ Er stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Sie sind auch früher schon gescheitert“, erinnerte ich ihn.

Er warf mir einen stechenden Blick zu.

„Einmal, vielleicht zweimal“, lenkte ich ein.

Wieder folgte Schweigen, während er mürrisch an seiner Pfeife zog. „Lassen Sie es mich so formulieren“, fuhr er endlich fort. „Sie erinnern sich an diese Reise per Eisenbahn nach Dartmoor, die wir gemeinsam unternahmen? Wir fuhren nach Tavistock und zu den Rennställen von King‘s Pyland.“

„Das war ‘89 oder ‘90“, erinnerte ich mich.

„In Ihrer Niederschrift des Falls, die, wenn ich nicht irre, den Titel Silberstern trug und einige grobe Fehler hinsichtlich der Regeln für Pferderennen enthielt, hielten Sie meine Beobachtung fest, dass sich die Geschwindigkeit unseres Zuges präzise daran errechnen ließ, wie schnell die Telegrafenmasten an uns vorüberzogen, die jeweils sechzig Yards voneinander entfernt standen.“

„Das haben Sie damals behauptet, Holmes.“

„Das ganze Leben, Watson, ist eine Reise. Genauer gesagt: eine Folge von Reisen. Wir werden geboren, wir brechen auf, wir leben und reisen, wir haben Erfolg, wir kommen am Ziel an. Aber irgendwann kommt eine Zeit, da scheint es, als stünden die Telegrafenmasten weiter auseinander. Wir werden langsamer. Die Endstation ist fast schon in Sichtweite …“

„Was für ein rührseliges Geschwätz, Holmes! Sie sind zwei Jahre jünger als ich. Ich rede auch nicht von Telegrafenmasten und Endstationen!“

Er schüttelte ernst den Kopf. „Wir alle müssen dorthin.“

„Gewäsch!“, sagte ich. „Wenn Sie eifersüchtig sind, dann halten Sie doch für sich selbst auch nach einer Frau Ausschau!“

Holmes setzte sich auf und schlug sich triumphierend auf den Schenkel. „Ich hatte es gewusst“, rief er aus. „Ihre gute Laune. Ihre täglichen Spaziergänge in Freizeitkleidung. Ihr Anstimmen, wenn das die korrekte Bezeichnung ist, zu einigen der schwülstigeren romantischen Balladen, während Sie im Badezimmer sind. Das alles konnte nur auf eine einzige Sache hinauslaufen!“

„Holmes, Sie müssen tatsächlich die Inkarnation irgendeines Dämons sein!“, protestierte ich. „Ich kann Ihre Tricks auf eine Meile gegen den Wind riechen, und doch falle ich immer wieder auf sie herein. Na gut. Ich werde heiraten. Nun, da Sie es wissen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern würden.“

Er beugte sich vor und hielt sich an der Armlehne fest. „Erlauben Sie mir, Sie daran zu erinnern, dass es sehr wohl meine Angelegenheit ist. Eine Veränderung in Ihrem häuslichen Arrangement hat auch bei mir eine Veränderung zur Folge. Und nun möchte ich all die grausigen Einzelheiten wissen. Verraten Sie mir die schlimmsten Dinge bitte zuerst!“

Es war sinnlos, sich dagegen zu wehren. Er würde es mir so oder so entlocken. Ich berichtete ihm alles und machte nur dann eine Pause, wenn ich ihn ermahnte, er solle das Stöhnen und Seufzen unterlassen, mit dem er meine Schilderungen untermalte. „Um Himmels willen, Holmes, hören Sie mit diesen Geräuschen auf, die aus dem Grab zu kommen scheinen! Sie sind auch früher schon sehr gut ohne mich zurechtgekommen. Als Ihnen nach der Reichenbach-Episode der Sinn danach stand, haben Sie mich drei Jahre lang im Stich gelassen und mich zudem glauben lassen, Sie seien tot. Sie wissen sehr genau, dass Sie allein zurechtkommen werden.“

Die scharfen Worte brachten ihn zum Verstummen. Holmes saß reglos da und starrte vor sich hin. Als er wieder etwas sagte, klang er wesentlich ernster. „Dann bin ich tatsächlich an meiner Endstation angekommen.“

„Endstation?“

„Der Vorhang ist gefallen, der Schauspieler muss auf sein Stichwort reagieren.“

„Können wir die Eisenbahn und das Theater aus dem Spiel lassen, Holmes, und uns mit der Tatsache befassen, dass mein Leben an einer der wichtigsten Weichen … ich meine: an einem der wichtigsten Wendepunkte angekommen ist?“

„Glauben Sie nicht, es könnte hilfreich sein, einige Tage lang in Ruhe nachzudenken? Wie wäre es zum Beispiel mit Lausanne? Fahrkarten erster Klasse, und alle Spesen werden fürstlich bezahlt?“

„Ich wüsste nicht, was eine Reise in die Schweiz mit meiner Verlobung zu tun haben soll.“

„Rein beruflich, das versichere ich Ihnen. Lady Frances Carfax, die einzige Überlebende aus der Familie des Earl of Rufton, ist auf dem Kontinent verschwunden. Scotland Yard scheint nicht eingreifen zu wollen, daher hat man mich beauftragt, nach ihr zu suchen. Ihr letzter bekannter Aufenthaltsort war Lausanne. Sie wissen, dass ich London unmöglich verlassen kann, wenn sich der alte Abrahams in solcher Todesangst befindet …“

„Der alte Abrahams?“, fragte ich erstaunt. „Ich habe noch nie von ihm gehört.“

Holmes sah mich mit jenem vagen Gesichtsausdruck an, mit dem er Vergesslichkeit vortäuschte. „Und ich dachte, ich hätte ihn Ihnen gegenüber erwähnt. Du meine Güte! Aber da Sie in letzter Zeit so oft aus dem Haus waren, ist es wohl unvermeidlich gewesen, dass mir das eine oder andere durchging. Der arme alte Kerl! Ich wage es nicht, ihn jetzt allein zu lassen. Abgesehen davon ist es prinzipiell besser, wenn ich das Land nicht verlasse. Sie wissen, dass sich Scotland Yard ohne mich direkt einsam fühlt, außerdem löst das in kriminellen Kreisen sofort Begeisterung aus. Ich ersuche Sie flehentlich, mein lieber Watson, diesen kleinen Auftrag in meinem Namen zu erledigen, und wenn es nur der alten Zeit wegen geschieht.“

„Ich werde mit Coral reden müssen“, erwiderte ich, woraufhin er zusammenzuckte und eine Hand über sein Gesicht legte. „Und zuvor sollten Sie mir besser alle Details mitteilen.“

Seine Schilderung hielt uns lange über jenen Zeitpunkt hinaus wach, an dem man normalerweise zu Bett ging. Es war bereits nach elf, als ich unseren Schlummertrunk einschenkte. Gerade hatte ich mich wieder hingesetzt, als jemand an der Tür klopfte. Mrs Hudson spähte ins Zimmer, sie trug Morgenmantel und Papierhaarwickel.

„Tut mir leid, Mister Holmes, aber Sie haben Besuch.“

„Der alte Abrahams persönlich?“ Ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen, auch wenn mir Holmes einen finsteren Blick zuwarf.

„Nein, Doktor Watson. Niemand, der so heißt. Es ist Inspector Lestrade von Scotland Yard.“

Holmes, der mit Missfallen auf die Vorstellung reagiert hatte, um diese Zeit noch irgendeinen erregten Klienten zu empfangen, atmete erleichtert aus. „Lestrade!“, rief er dem Mann zu, der auf dem Treppenabsatz stand. „Kommen Sie rein, mein Bester. Gesellen Sie sich für ein letztes Glas zu uns?“

„Mit Vergnügen, Mister Holmes“, sagte der kleine Kriminalbeamte und trat zur Seite, damit die Vermieterin wieder gehen konnte. „Ich bitte um Entschuldigung, dass ich die Gentlemen um diese Zeit noch störe.“

Ich kannte Inspector Lestrade fast so lange, wie ich mit Holmes bekannt war, und das waren nun immerhin einundzwanzig Jahre. Er hatte zu dem nicht abreißenden Strom von mysteriösen Besuchern in unseren Räumlichkeiten gehört, und er hatte mich in jenen ersten Tagen sehr fasziniert, bis Holmes mir offenbart hatte, welchem besonderen Beruf er nachging. Die fahle Farbe seiner einem Frettchen gleichenden Gesichtszüge war mit zunehmendem Alter noch gelblicher und das glatte Haar schütter und glanzlos geworden. Er war nie über den Posten des Senior Inspector im Criminal Investigation Department hinausgekommen. Holmes führte das auf Lestrades verbissene Ehrlichkeit zurück, die für ihn beruflich ein Handicap war. Die mangelnde Phantasie, die für seine Arbeit kennzeichnend war, hatte ihn daran gehindert, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen.

„Zum Wohl, Gentlemen“, sagte er, nachdem ich ihm ein Glas gegeben hatte. Dann wandte er sich mit ernster Miene an Holmes. „Mister Holmes, wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie Sie in Dartmoor den Hund erschossen haben, dann würde ich auf der Stelle glauben, was man sich in Hampstead über ihn erzählt.“

„Hund? Hampstead? Was um alles in der Welt hat das eine mit dem anderen zu tun?“

Lestrade nickte zustimmend. „Das ist das, was Sie oder ich oder unser Doktor hier fragen würden. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Aber das ist nicht das, was die sich heute Nacht da oben fragen.“

„Wo da oben? In Hampstead? Ist dort irgendetwas geschehen?“

„Es heißt, der Hund von Baskerville sei zurückgekehrt.“

„Was?“

„Er treibt im Heath sein Unwesen, während wir hier sitzen.“

„Völliger Unsinn!“, rief ich aus.

Lestrade wandte sich mir zu und nickte. „Ich weiß, dass es Unsinn ist, Doktor Watson. Sie wissen, dass es absurd ist. Mister Holmes weiß es … Aber versuchen Sie mal, das heute Nacht jemandem zu erzählen, der gleich neben dem Heath lebt, vorausgesetzt, irgendjemand macht die Tür lange genug auf, um Sie anzuhören.“

„Lestrade“, warf Holmes ein. „Wollen Sie sagen, jemand behauptet, er habe heute Abend in Hampstead Heath den Hund von Baskerville gesehen? Oder, um es genauer zu sagen, seinen Geist?“

„Merken Sie sich meine Worte, Mister Holmes. Morgen früh wird es auf jeden Schlosser in Nord-London einen Ansturm geben.“

„Es hat nichts davon in der Zeitung gestanden“, stellte ich fest. „Ein solcher Unsinn würde ganz sicher dort auftauchen.“

„Sie können darauf wetten, dass es in der Fleet Street im Augenblick heiß hergeht, Doktor.“ Er hielt eine Hand ans Ohr. „Was war das? Ruft da nicht der Zeitungsjunge Extrablatt? Nein? Na ja, jetzt noch nicht, aber schon bald.“

„Am heutigen Abend, sagen Sie?“, fragte Holmes.

„Vor ein paar Stunden. Eine seltsame und unheimliche Sache, und eine hässliche dazu. Jedenfalls für den armen Teufel, der im Hampstead Hospital liegt.“

Holmes rutschte unbehaglich auf seinem Platz hin und her. „Welcher arme Teufel? Um Himmels willen, nun nennen Sie schon die Einzelheiten.“

„Ich kam sofort her, um es Ihnen zu berichten, Mister Holmes“, antwortete Lestrade vorwurfsvoll. „Einer der Landstreicher, die im Heath schlafen, wurde von der Bestie angegriffen. Wenn der Streifenpolizist nicht rechtzeitig dort gewesen wäre, dann hätte er es nicht mehr geschafft.“

„Himmel!“, rief ich aus.

„Aber das Merkwürdigste kommt erst noch, Doktor Watson. In der weichen Erde ganz in der Nähe fand man …“

„Nein …!“

„Doch, Doktor. Die Abdrücke eines riesigen Hundes!“

KAPITEL 4

 

Kaum mehr als eine halbe Stunde, nachdem wir von Inspector Lestrade die Neuigkeit gehört hatten, befanden wir uns im Hampstead Heath. Die wallende Fläche von achtzig bis hundertzwanzig Hektar, die sich aus sandiger Erde, drahtigem Gras, Adlerfarn und großen alten Baumbeständen zusammensetzte, erstreckte sich zwischen den Ortschaften Hampstead und Highgate und bildete die Northern Heights von London. Der vier Meilen lange Anstieg von den Ebenen des West Ends machte eine vierrädrige Kutsche und zwei Klepper erforderlich. Lestrade lotste den Polizeikutscher zu einem Bereich nahe den Spaniards Inn & Tea Gardens, die von Charles Dickens als Schauplatz von Mrs Bardells Verhaftung unsterblich gemacht worden war.

Es war inzwischen sehr dunkel und auch recht kühl. Immerhin war es fast Mitternacht. Es regte sich kein noch so schwacher Wind, und das einzige Geräusch war das ferne Treiben in der Metropole, die sich wie ein unruhiger Schläfer zu wälzen schien. Nichts bewegte sich auf oder entlang der Spaniards Road. Das Heath war seit Jahrhunderten das Versteck von Straßenräubern und Wegelagerern gewesen, unter ihnen der Charmeur Claude Duval, Sixteen-String Jack, Robert King und sogar der berüchtigte Dick Turpin, dem man nachsagte, die Schlüssel zu den Spaniards zu besitzen, wodurch ihm ein Fluchtweg durch die Stallungen ermöglicht worden war.

Heute war das Heath ein beliebter Ort für werbende Paare (und auch für andere, deren Treiben man nicht unbedingt als Werben bezeichnen konnte). An schönen Abenden, vor allem an Sonntagen, drängten sich hier Dienstmädchen, Kontoristen, Verkäuferinnen, Näherinnen, Soldaten, Matrosen und jeder andere Typ Mensch, der dankbar für eine kurze Flucht aus ermüdender und monotoner Plackerei war. Sie kamen mit dem Zug, mit der U-Bahn und mit dem Bus, zu Fuß, um die wenige Privatsphäre zu suchen, die ihnen sonst praktisch überall verwehrt blieb. Sie saßen oder lagen auf den lang gestreckten Hängen, um eine Zeit lang dem beißenden Rauch und dem unablässigen Lärm fern zu sein. Dort konnten sie davon träumen, dem grauen, trostlosen Gefängnis ihres Körpers und ihrer Seele zu entkommen, das die Flussebene darunter in Anspruch nahm.

Heute Nacht jedoch war hier niemand zugegen, wenn man von dem uniformierten Constable absah, der nach uns Ausschau gehalten hatte. Seine Laterne leuchtete wie ein gelbes Glasauge vor dem düsteren Dickicht, das die Straße vom Heath trennte. Er war ein schlaksiger junger Mann, der eindeutig Nervosität erkennen ließ. Ganz offensichtlich war er noch nicht lange genug bei der Polizei, um sich die Gelassenheit dieses ganz besonderen Typs zu Eigen zu machen: des Londoner Bobbys.

„Hat sich etwas ereignet?“, fragte Lestrade ihn.

Ich spürte, dass der Mann erleichtert darüber war, nicht länger allein hier zu warten. „Keine Regung und kein Ton, Sir.“

„Kein Heulen mehr?“

„Nein, Sir, dem Himmel sei Dank. Es ist nicht halb so unheimlich wie der Streifengang. Ich bin froh, wenn ich bald wieder richtiges Pflaster unter meinen Stiefeln spüre.“

„Sie gehen dahin, wo Ihre Stiefel hingeschickt werden“, ermahnte ihn Lestrade mit brüskem Tonfall. „Zeigen Sie Mister Sherlock Holmes den Weg.“

„Der örtliche Polizist Roberts ist dort“, sprach Lestrade weiter, während wir uns auf den Weg ins Heath machten. „Allerdings nicht in Uniform. Es gab heute ein kleines Beisammensein der Polizei ein Stück die Straße entlang im Jack Straw‘s Castle. Ein Inspector aus dem Bezirk Nord-London, ein Mann namens Blenkinsop, geht in den Ruhestand. Ich war dort, um Scotland Yard zu vertreten. So bin ich in diesen Fall überhaupt erst hineingeraten. Einige der Landstreicher vom Heath kamen in den Schankraum gestürmt und erzählten von einem Hund.“

„Hatten sie alle diesen Hund gesehen?“, fragte Holmes.

„Schwer zu sagen. Sie kennen diesen Menschenschlag ja. Die erzählen alles, wenn man ihnen einen Drink spendiert.“

„Hatte ihn überhaupt jemand gesehen?“, bohrte Holmes weiter.

„Einige schworen es, andere waren sich nicht sicher. Wir haben keine Zeit mit Fragen vergeudet. Roberts und ich sind sofort hergeeilt.“

„Das Heath wirkt wie ausgestorben“, sagte ich. „Außergewöhnlich!“

„Stimmt, Sir“, warf der junge Constable ein, der uns durch Gebüsch und Dickicht führte. „Normalerweise sind hier ganze Menschenmengen zu finden, Männer wie Frauen. Es ist ein fester Zwischenhalt für alle, die Richtung Norden wandern, und alle, die von oben nach Süden wandern.“

„Können wir davon ausgehen, dass dies das erste Mal ist, das sich dieser so genannte Hund gezeigt hat?“, fragte Holmes ihn, ohne sich die Mühe zu machen, seinen Unglauben zu verbergen.

„Es ist das erste Mal, dass wir davon gehört haben, Sir. Hier sind viele streunende Hunde unterwegs. Manchmal rotten sie sich zusammen und machen Ärger. Die Förster sammeln ein paar von ihnen ein, und dann scheint der Rest zu wissen, dass er sich eine Weile fern halten sollte. Aber von einem solchen Hund ist mir noch nie etwas zu Ohren gekommen. Bah!“, fügte er an, um seinem Ekel Ausdruck zu verleihen.

„Schon gut“, wies Lestrade ihn zurecht. „Leuchten Sie uns nur weiter den Weg.“ Er selbst hatte einige Dramen mit Holmes und mir erlebt, doch niemals etwas, das entsetzlicher war als das eine Ereignis, das sich in einer noch einsameren und weiteren Wildnis abgespielt hatte als diese hier. Keiner von uns würde je vergessen, wie der Hund von Baskerville aus dem Nebel von Dartmoor mit wildem Blick auf uns losgestürmt war.

Meine Beschreibung seines Erscheinungsbildes, als er uns ansprang, war Wort für Wort unauslöschlich in meine Erinnerung eingebrannt, als ich die präzisesten Worte gewählt hatte, um es meinen Lesern zu vermitteln, die bequem und sicher in ihrem Sessel am Kamin saßen.

 

Es war ein Hund, ein riesiger, pechschwarzer Hund, doch nicht von der Art, wie ihn je ein Sterblicher zu Gesicht bekommen hatte. Feuer schoss aus seinem offenen Maul hervor, seine Augen glühten, Schnauze, Nackenhaare und Wamme wurden von züngelnden Flammen umspielt. Kein wahnsinniger Traum eines gestörten Geistes hätte etwas Wilderes, Abscheulicheres, Höllischeres hervorbringen können als diese dunkle Gestalt und die wilde Fratze, die aus einer Nebelwand hervor auf uns zugeschossen kam.

 

Ich selbst hatte einen der Schüsse abgefeuert, die den Hund von Baskerville tot zu unseren Füßen zu Boden hatten sinken lassen. Ich hatte den Kadaver untersucht. Er hatte sich als nichts weiter als ein großer Hund erwiesen, den man so lange hatte hungern lassen, dass er zu einer wilden Bestie wurde, und dessen Schnauze man mit irgendeiner Substanz angemalt hatte, die einen Spektraleffekt bewirkte. Und doch bescherte mir allein die Möglichkeit eine Gänsehaut, etwas Ähnliches könnte irgendwo in der stillen, dunklen Ungewissheit lauern, in die wir jetzt in unheimlichem Schweigen vordrangen, das nur ab und zu davon unterbrochen wurde, dass unter unseren Schritten der eine oder andere trockene Zweig zertreten wurde.

Nachdem wir über festes, drahtiges Gras und zwischen Flecken aus spärlichem Unterholz hindurchgezogen waren, wurden wir vom Schimmer einer anderen Laterne zu unserem Ziel gelotst. Ein junger, aber etwas stämmigerer uniformierter Officer erwartete uns dort, neben ihm stand ein Mann mittleren Alters, der zwar Zivilkleidung trug, dem man aber den Polizisten sofort ansah. Lestrade stellte ihn uns als Sergeant Roberts vor.

„War noch irgendetwas?“, wollte Lestrade wissen.

„Nichts, Inspector. Ich denke …“ Roberts hielt mitten im Satz inne und lauschte. Ein klagender Schrei schien aus Richtung Highgate zu kommen. Er schwoll wehleidig an und ab, so wie der Wind, wenn er durch ein nicht richtig im Rahmen sitzendes Fenster pfiff.

„Da ist es!“, rief der untersetzte Constable aus, der Mann, der offensichtlich als Erster hier eingetroffen war. „Das habe ich zuvor schon mal gehört!“

„Hören Sie!“, befahl Lestrade. Das Geräusch wiederholte sich noch zweimal.

Wir standen minutenlang schweigend da, konnten es aber nicht nochmals vernehmen. Zunächst hatte ich angenommen, es handele sich um einen Vogel der Nacht. Nun war ich sicher, dass dem nicht so war. Allerdings ähnelte es nicht irgendeinem Heulen eines Hundes, das ich je in meinem Leben gehört hatte. Ich konnte mich nicht entscheiden, woran es mich erinnerte. Das ferne Stöhnen, das wir in Dartmoor gehört hatten, war ebenfalls völlig anders gewesen. Das hatte sich als die Todesschreie jener Moorponys erwiesen, die vom großen Grimpener Sumpf in die Tiefe gezogen wurden. Im Hampstead Heath gab es aber weder tiefe Sümpfe noch wilde Ponys.

Lestrade klang gleichermaßen verwundert, als er den Constable fragte: „Sind Sie sicher, dass es das war?“

„Auf jeden Fall, Sir“, erwiderte der. „Nur, dass es zuvor viel näher gewesen war. Ich meine damit, dass es von hier kam, wo wir jetzt stehen. Ich hörte es von der Straße aus.“

„Das klang so, als würde es von den Highgate Ponds kommen“, stellte Sergeant Roberts fest. „Wäre nicht das erste Mal, dass dort jemand ertrinkt.“

„Niemals“, gab Lestrade mit dem überzeugten Tonfall eines Mannes von Scotland Yard zurück. „So hört es sich nicht an, wenn jemand ertrinkt, nicht wahr, Mister Holmes?“

Er bekam keine Antwort. Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass Holmes, der nur sehr wenig gesagt hatte, sich inzwischen ein Stück weit von uns entfernt aufhielt. Er musste dem anderen Constable die Laterne ohne ein Wort aus der Hand genommen haben. Deren Schein richtete er nun dorthin, wo die dicht bewachsenen Äste eines großen alten Baums die Sonne daran gehindert hatten, einen breiten Streifen nackte Erde rund um die knorrigen Wurzeln zu trocknen.

„Dort hat er gelegen“, rief der Constable ihm zu.

„Das sehe ich“, lautete die gedankenverlorene Erwiderung.

Wir gingen hinüber zu Holmes. Die Erde war sandig und feucht, viele Abdrücke waren in ihr hinterlassen worden, doch ich entdeckte vereinzelte Stiefelabdrücke. Und dann machte ich im gelben Schein der Laterne die deutlichen Umrisse der größten Pfotenabdrücke aus, die ich je gesehen hatte.

Die Pfotenabdrücke, die der Hund von Baskerville hinterlassen hatte, waren mir niemals zu Gesicht gekommen. Doch ich war Zeuge dessen geworden, was sie mit dem entflohenen Sträfling Selden gemacht hatten, der der Bestie im Moor in die Fänge geraten war. Was wir nun direkt vor uns sahen, erstaunte und entsetzte mich gleichermaßen. Die Umrisse in dem weichen Lehm schienen eher zu irgendeiner Bestie zu passen als zu einer Hunderasse.

„Sie sind sicher, dass das von einem Hund stammt?“, fragte ich.

„Das hat jedenfalls der arme Teufel gesagt, der angegriffen wurde, Doktor“, antwortete der Inspector.

„Sie waren nicht zeitig genug hier, um ihn mit eigenen Augen zu sehen?“, fragte Holmes den Constable bestimmt.

„Nein, Sir“, antwortete der sofort. Der schwergewichtige junge Officer sah nach dem zuverlässigen Typ aus, dem ein Vorwand für eine Schlägerei durchaus gefallen würde, aber nicht unbedingt mit einem riesigen Hund. „Ich war auf Streife und ging auf der Spaniards Road in östlicher Richtung, da hörte ich einen Mann schreien. Der Alkohol lässt sie manchmal komische Dinge tun, oder sie werden von ihren Kumpanen angestiftet.“

„Ja, ja“, entgegnete Holmes ungeduldig. „Was ist mit dem Heulen des Tiers? Haben Sie das gehört?“

„Ja, Sir. So wie gerade eben, nur viel näher.“

„Was haben Sie gedacht?“

„Einige von ihnen sind auch mit Hunden unterwegs. Ich habe nicht lange überlegt. Ich bin losgegangen, um zu sehen, was sich hier abspielte.“

„Haben Sie Ihre Pfeife benutzt?“

„Zunächst nicht, Sir. Ich war sicher, dass ich einen kleinen Streit ohne Hilfe regeln konnte.“

„Guter Mann!“, warf Lestrade ein. Holmes achtete nicht auf ihn, sondern war weiterhin dem Constable zugewandt.

„Wir können davon ausgehen, dass jeder bis auf das Opfer vom Heath weglief?“

„Eine richtige Panik, Sir. Ich schrie einige Leute an, sie sollten stehen bleiben, ich versuchte sogar, ein oder zwei zu fassen, doch ich konnte sie nicht aufhalten. Ich dachte, sie wären an dem Kampf beteiligt gewesen. Ich wäre ihnen nachgerannt, doch der Kerl schrie immer weiter, und ich fand, dass ich mich erst um ihn kümmern sollte.“

„Völlig richtig“, stimmte Lestrade ihm zu.

Holmes nahm weiterhin keine Notiz von ihm, sondern hatte seine gesamte Aufmerksamkeit auf den Constable gerichtet. „Der Mann lag exakt hier, darf ich annehmen?“

„Stimmt, Sir. Er taumelte umher, als ich eintraf, und dann fiel er zu Boden.“

„Er war allein, als Sie ihn erreichten?“

„Ja, Sir.“

„Das dachte ich mir“, kommentierte Holmes zur Überraschung des jungen Officers. „Lassen Sie mich bitte einen Blick auf die Sohlen Ihrer Stiefel werfen.“

Der Mann hob nacheinander die Füße hoch, während der Sergeant die Laterne hielt, damit Holmes einen Blick auf die Sohlen werfen konnte.

„Danke. Anhand der Spuren Ihrer Stiefel im Lehm erkenne ich, dass Sie hier auf den weichen Untergrund getreten sind. Sie haben gut daran getan, nicht zu viel hin und her zu laufen, wie es oft geschieht. Konnte das Opfer etwas sagen?“

„Ich versuchte nicht, dem Mann eine Aussage abzunehmen, Sir. Er konnte nur sagen, dass er plötzlich aufgewacht war, und da stand dieser gigantische Hund vor ihm, heulte und schnappte nach ihm. Ich habe sofort mit der Pfeife Hilfe herbeigeholt, während ich mich darum kümmerte, dass er nicht zu stark blutete.“

„Das war das erste Mal, dass Sie Ihre Pfeife benutzten?“

„Ja, Sir.“

„Sie kann also nicht den Angreifer vertrieben haben?“

„Der Mann war bereits allein, als ich hier eintraf. Das Ding muss mich gehört haben, wie ich durch das Gebüsch stürmte, und ist dann wohl weggelaufen.“

„Hat der Mann stark geblutet?“

„Nicht so stark, wie ich befürchtet hatte, Sir. Ich vermute, es hätte ihn umgebracht, wenn er nicht die Schulter gedreht hätte, die das meiste abbekam.“

„Äußern Sie nie eine Meinung“, ermahnte Lestrade ihn. „Bleiben Sie immer nur bei den Fakten. Ich kann Ihnen eine Antwort geben, Mister Holmes. Im Krankenhaus sagt man, dass es sich um schwere Kratz- und Fleischwunden an Hals, Brust, Händen und Schultern handelt. Nichts gebrochen, keine Muskeln durchtrennt.“

„Keine Bisswunden?“, wollte ich wissen.

„Nichts, was danach ausgesehen hätte“, antwortete Lestrade.

Holmes sah sich um und leuchtete mit der Laterne mal in diese, mal in jene Richtung. Er wandte sich wieder dem Constable zu: „Hat er verlauten lassen, wo er schlief?“

„Ja, Sir. Als sie ihn in die Ambulanz hoben, bat er mich, ihm sein Bündel zu bringen. Es lag hier, Sir.“

Der junge Officer führte uns an den Rand einer großen Fläche aus hohem Gras und Farn, zwanzig oder mehr Schritte von der Stelle entfernt, an der wir uns eben noch aufgehalten hatten. Es waren deutlich Kuhlen in der Form sanfter, ausgehöhlter Kokons zu sehen, die in diese Rundung gebracht worden waren durch die übernachtenden Landstreicher und andere Wanderer in jener sparsamen Welt, in der das Bett, das ein Mann gemacht hatte, allen Nachfolgenden als Schlafstätte diente.

„Hier ist es, Sir.“ Der Constable richtete den gelben Schein der Laterne nach unten.

Holmes drehte sich um und ließ seinen Blick dem Licht folgen. „Und Sie sind sich sicher, dass dies die Stelle ist?“, fragte er.

„Ja, Sir.“

„Absolut sicher?“, wollte Lestrade mit dienstbeflissenem Tonfall wissen.

„Ich kann mich ganz genau daran erinnern, Sir.“

Schließlich drehte sich Holmes zu Lestrade um. „In diesem Fall“, erklärte er hochmütig, „gibt es für mich hier nichts mehr zu tun. Die Details sind klar genug. Dieser junge Officer hat ganz ausgezeichnet geschildert, was sich zugetragen hat. Alle Beweise sind klar zu erkennen. Außerdem ist es weit nach Mitternacht. Vielleicht sollten wir jetzt in die Stadt zurückkehren, Inspector?“ Dann machte er sich auf den Weg und ging in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Der Lichtschein seiner geborgten Laterne schaukelte bei jedem seiner Schritte hin und her.

„Aber Mister Holmes …“, setzte Lestrade zu einem Protest an. Dann erinnerte er sich daran, in der Anwesenheit niederer Dienstränge seine Würde zu wahren. Er beschränkte sich also darauf, Sergeant Roberts zuzumurmeln, dass dieser als Mann vor Ort so weitermachen solle, wie er es für angemessen hielt.

Lestrade und ich folgten dann Holmes zurück zu unserer Kutsche.

„Ich muss sagen, Mister Holmes“, stieß der Inspector keuchend aus, als wir Holmes eingeholt hatten, „ich hätte erwartet, dass diese Sache Sie herausfordern würde. Nach dem Fall in Baskerville hätte ich gedacht, dass alles, in dem ein Hund vorkommt, für Sie ein Labsal sein würde.“

Der kühle Tonfall, in dem Holmes seine Erwiderung über die Schulter zurückgab, ohne den Kopf zu drehen, war mir für unseren alten Freund von Scotland Yard peinlich. „Ganz im Gegenteil. Ich möchte mich an dieses Erlebnis so wenig erinnern wie Sie selbst. Was Watson angeht, ist das natürlich ein völlig anderes Thema.“

„Ich weiß nicht, worauf Sie damit anspielen, Holmes“, gab ich zurück.

„Ich spiele damit natürlich auf den extravaganten Eindruck an, den Ihre schillernde Darstellung unseres Abenteuers in Dartmoor ganz eindeutig bei leichtgläubigen Menschen bewirkt hat. Ein Mann muss lediglich von einem streunenden Hund angefallen werden, und schon wird das Gerücht verbreitet, nur der Geist oder die Reinkarnation des Hundes von Baskerville kann dafür verantwortlich sein. Für euch Autoren gehört es sich wahrhaftig, gründlicher darüber nachzudenken, welche Konsequenzen eure Launen nach sich ziehen können.“

Nun war es an mir, unter dieser grundlosen Ungerechtigkeit zu leiden. Holmes‘ verächtliche Bemerkung über literarische Launen war so unzutreffend wie unnötig. Ich hatte keine Veranlassung gehabt, irgendetwas zu erfinden. Angesichts der hoch dramatischen Abfolge von Ereignissen an einem so finsteren und bedrohlichen Schauplatz hatte ich lediglich die Fakten zusammentragen müssen. Holmes wusste das. Ich wertete seine Stichelei als ein weiteres Zeichen für seinen Groll über die Neuigkeit, die mich persönlich betraf, in den sich zweifellos Verärgerung darüber mischte, dass er völlig unnötig aus dem Haus geholt worden war und dazu noch zu einer Zeit, zu der er sonst bereits im Bett lag. Ich entschied, dass die beste Reaktion darin bestand, einfach zu schweigen.

Lestrade, der kein gefühlloser Mann war und von Holmes‘ beißender Bemerkung über leichtgläubige Menschen verletzt worden sein musste, sprach ihn gereizt an der Kutsche an: „Da wir auf dem Rückweg das Krankenhaus passieren, dachte ich mir, Sie würden den Mann sehen wollen.“

Holmes seufzte ärgerlich und stieg in die Kutsche.

„Eine gute Idee, Inspector“, sagte ich. „Ich würde mir den Burschen gerne ansehen und vor allem hören, was er zu sagen hat.“

Holmes rümpfte die Nase und nahm schweigend in einer Ecke der Droschke Platz.

Schon bald näherten wir uns schaukelnd Jack Straw‘s Castle, einem von vielen Wirtshäusern in Hampstead, das von allen am höchsten gelegen war. Dort versammelten sich üblicherweise die Massen, um zu sehen, wie in Ketten gelegte Wegelagerer erhängt wurden. Die Fenster des Lokals waren hell erleuchtet, doch davor war alles verlassen und totenstill. Selbst um diese Zeit am frühen Morgen hätte man dort eigentlich wenigstens einige Menschen sehen müssen.

„Ich verstehe, was Sie damit meinen, dass die Leute die Straßen meiden“, sagte ich. „Hier ist so gut wie keine Menschenseele zu sehen.“

„Mister Holmes mag denken, was er will“, erwiderte er spitz, „doch Ihre Geschichte hat eine beträchtliche Wirkung auf die Menschen, Doktor. Das Heath ist nicht unbedingt mit Dartmoor zu vergleichen, doch in der Nacht ist es hier sehr einsam. Es ist durchaus anzunehmen, dass das Gerede über einen riesigen Hund so manchem Todesangst einjagt.“

„Sie meinten, das Gerücht müsste sich inzwischen in ganz Nord-London verbreitet haben“, erinnerte ich ihn. „Glauben Sie wirklich, dass es bereits solche Ausmaße angenommen hat?“

Er nickte mit Nachdruck. „Wie dieser Bobby sagte, gibt es Dutzende von Obdachlosen, die im Heath schlafen. Unter denen verbreiten sich Neuigkeiten wie ein Lauffeuer. Wer als Erster mit einer solchen Geschichte in einem Pub aufkreuzt, kann erwarten, ein oder zwei Pint spendiert zu bekommen. Es ist klar, dass sie sofort losrannten, als sie hörten, was sich zugetragen hatte. Jack Straw‘s war bereits halb leer, als Roberts und ich aufbrachen.“ Er lachte laut. „In ganz Nord-London wird jetzt von regelrechten Hundemeuten erzählt. Mit flammender Schnauze!“

Schon bald hielten wir vor einem kleinen Krankenhaus in der Heath Street. In Anbetracht seines beharrlichen Schweigens hätte es mich nicht überrascht, wenn Holmes sich geweigert hätte, die Kutsche zu verlassen und uns zu begleiten. Doch er kam mit uns, und wenig später standen wir am Bett des Opfers, in einer durch Vorhänge unterteilten Krankenstation, in der er der einzige Patient war.

Man hatte ihm dicke Verbände angelegt, jedoch war er bei Bewusstsein und in der Lage, sich vom Pfleger in eine sitzende Haltung aufhelfen zu lassen. Ich konnte sehen, dass er vom Schock immer noch zitterte. Er sah uns kläglich an. Stirn, Kinn und Hals waren verbunden, auch seine Hand war umwickelt, und unter dem Flanellnachthemd zeichnete sich ein dicker Schulterverband ab.

Er entsprach dem typischen Bild der Landstreicher, die rastlos von einer Stadt zur anderen wanderten und auf der Straße oder in Obdachlosenunterkünften lebten. Sie hielten sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, da ihnen die Hingabe und das Verlangen fehlten, über längere Zeit einer einzigen Beschäftigung nachzugehen. Der Gerechtigkeit halber musste man aber auch sagen, dass für sie nur äußerst wenige langfristige Anstellungen zur Verfügung standen. Sie überbrückten die Zeiten zwischen zwei Jobs mit Betteln, und in vielen Fällen auch mit Stehlen. Sie waren ein Ärgernis für jeden Hausbesitzer, da sie rührselige Geschichten erzählten, um etwas zu bekommen, und dann sofort zu brutalen Forderungen übergingen, wenn ihnen Hilfe verwehrt wurde. Die Polizei drückte meist ein Auge zu, was diese eher geringfügigen Verstöße anging. Ehe sie sie über Nacht in einer Zelle unterbrachten und dann auch noch verpflegen mussten, während sie nur für Lärm und Unruhe sorgten, schickte man sie lieber über die Stadtgrenze in einen anderen Bezirk, wo sich das Spiel wiederholte. Daher zogen sie unablässig hin und her, von Nord nach Süd und zurück. Hampstead Heath war das Fußgängergegenstück zur Crewe oder Clapham Junction. Heute ist ihre Art fast ausgestorben; in der Zeit, über die ich schreibe, waren sie sehr zahlreich.

Nach dem zu urteilen, was von den Gesichtszügen zu sehen war, schien der Mann um die vierzig Jahre alt zu sein, auch wenn Auszehrung und die faltige und vom Wetter gegerbte Haut ihn älter aussehen ließen. Sein ergrautes Haar wuchs allmählich wieder nach, nachdem es in irgendeiner wohltätigen Einrichtung obligatorisch rasiert worden war. Die Tätowierungen oberhalb des Verbands an den Handgelenken waren von militärischer Natur, wodurch mein Mitgefühl für ihn noch verstärkt wurde. Ihn hatte das allzu weit verbreitete Schicksal eines ehemaligen Soldaten oder Matrosen ereilt, der seinem Land gedient hatte und dann ausgemustert worden war, um sich mit einem erbärmlichen Entlassungsgeld in einer Welt zurechtfinden zu müssen, die so völlig anders war als das von Disziplin und Kameradschaft geprägte Leben, das er kennengelernt hatte. Ich hatte selbst die Erfahrung gemacht, allein und unerwünscht zu sein in einer Welt, die sich nicht um mich scherte, während die finanziellen Mittel immer knapper wurden und keine Aussicht auf irgendeine Art von Besserung bestand. Meine zufällige Begegnung mit Sherlock Holmes im Jahre 1881, die durch einen alten Kollegen aus dem Bart‘s Hospital in die Wege geleitet worden war, hatte für mich die Rettung bedeutet. Mit dem neuen Glück vor Augen, das auf mich wartete, konnte ich umso mehr mit dem armen Kerl mitfühlen. Hätte mein Leben eine andere Wendung genommen, würde ich mich vielleicht jetzt an seiner Stelle befinden.

„Also, mein Junge“, sagte Lestrade ernst. „Jetzt erzählen Sie diesen Herren mal, was im Heath passiert ist.“

Der Mann betrachtete den Inspector und mich misstrauisch. Holmes stand ein Stück hinter uns, anscheinend mit der Absicht, sich zurückzuhalten, so als wolle er mit den Geschehnissen nichts zu tun haben.

„Das war der Hund“, erwiderte der Mann schließlich. Er hatte verständlicherweise Schwierigkeiten, sich zu artikulieren, seine Stimme war durch die Verletzungen am Hals schwach und kratzend. Sein Akzent ließ erkennen, dass er aus dem Norden stammte. „Er wollte mir an die Gurgel.“

„Da haben Sie ja Glück, dass Sie noch leben, wie?“, meinte Lestrade lakonisch.

Die zitternden, verbundenen Hände hielt er hoch. „Denke schon, ja.“

„Sie haben gute Arbeit geleistet, um ihn abzuwehren“, sagte ich.

„Hab mit ihm richtig gekämpft.“

„Sie sind nicht zu beneiden, von einem solchen Angriff aus dem Schlaf gerissen zu werden“, hörte ich den anscheinend desinteressierten Holmes zu meiner großen Überraschung sagen. „Sie hatten Pech, dass er sich Sie ausgesucht hatte“, fügte Holmes an. „Und wie es scheint, ist Ihnen niemand zu Hilfe gekommen.“

Ein resigniertes Schulterzucken war die erste Reaktion. „Kann ich ihnen nicht verübeln. Wär ja auch weggerannt, wenn‘s gegangen wär. Dieses Geheul! So schlimm, da gefriert einem das Blut in den Adern.“

„Der Hund hat geheult und Sie dann angegriffen?“, fragte Holmes mit einem Anflug von Mitgefühl.

„Es war schrecklich.“

„Aber er hörte den Bobby kommen und ist weggelaufen?“

„Muss wohl sein, Sir. Sonst wär ich jetzt nicht hier.“

„Allerdings nicht“, stimmte Holmes ihm zu. „Sie hatten das Glück, ihm zu entkommen, aber nun sind Sie ja gut aufgehoben.“

Ich hatte gehofft, er würde ein paar Münzen aus seiner Tasche holen und sie dem Verletzten auf den Beistelltisch legen. Doch das machte er nicht, sondern drehte sich auf dem Absatz um und ging zur Tür, ohne mit Lestrade oder mir ein weiteres Wort zu wechseln. Der Inspector und ich sahen uns kurz an. Wir schienen nichts anderes tun zu können, als ihm zu folgen.

„Jemand von der Wache wird am Morgen herkommen und sich mit Ihnen unterhalten“, erklärte Lestrade dem Mann. „Bis dahin hat Ihre Aussage noch Zeit.“

Er folgte Holmes, während ich noch einen Moment lang stehen blieb.

„Viel Glück“, wünschte ich dem armen Kerl und ehemaligen Soldaten, dann legte ich ihm einen halben Sovereign hin. Er hob eine verbundene Hand, um einen Salut anzudeuten.

„Es muss ein schreckliches Erlebnis sein, so etwas durchzumachen“, ließ ich verlauten, als die Kutsche auf dem Weg zurück zu Scotland Yard einen Schlenker zur Baker Street machte. „Es muss irgendein verwilderter Hund gewesen sein.“

„Der Constable war sich sehr sicher, was das Geheul anging“, erwiderte Lestrade. „Er ist überzeugt, dass es ein Hund war.“

„In dem Fall hatte er wirklich Glück, dass er überlebte, Lestrade. Sie haben nicht gesehen, was der Hund von Baskerville Selden angetan hat, dem entflohenen Häftling. Holmes wird bestätigen, dass er grässlich zugerichtet worden war. Nicht wahr, Holmes?“

Holmes hatte seit dem Verlassen des Krankenhauses nicht mehr gesprochen. Er saß in seiner Ecke des Gefährts zusammengesunken da, den Kopf nach hinten, die Augen geschlossen. Auch jetzt öffnete er sie nicht. „Sagen Sie dem Kutscher, er soll die Peitsche schwingen, Lestrade“, sagte er mit schläfriger Stimme. „Ich mache Sie persönlich dafür verantwortlich, dass ich die halbe Nacht lang für nichts auf meinen Schlaf verzichtet habe.“

KAPITEL 5

 

Wie Lestrade vorhergesagt hatte, waren die Tageszeitungen am folgenden Morgen voll mit Berichten über den Hund von Hampstead, wie man den Vorfall naturgemäß bezeichnete. Die Schilderungen wichen stark voneinander ab. Aus dem einzelnen Hund wurde ein ganzes Rudel, andere berichteten von mehreren Bestien, von denen jede einen eigenen Bereich im Heath hatte, in dem sie ihr Unwesen trieben. Bereit, gegen jeden Widersacher, ob Mensch oder Tier, bis zum Tode zu kämpfen. Die Förster, die sich um das Heath kümmerten und die die Einhaltung von Vorschriften überwachten, wurden als Gefangene in ihren eigenen Cottages bezeichnet. Wer ganz in der Nähe wohnte, wurde dazu angehalten, Türen und Fenster verschlossen zu halten. Verlassen sollte man seine eigenen vier Wände nur, wenn man sich auf belebten Hauptstraßen aufhalten konnte, und unter gar keinen Umständen sollten Haustiere nach draußen gelassen werden. Das hatte prompt Meldungen über das Verschwinden von Haustieren zur Folge, was dem alles verschlingenden Appetit der Hunde zugeschrieben wurde.

Holmes, der beim Frühstück deutlich besserer Laune war, musste laut über die Artikel lachen, vor allem über so genannte Augenzeugen, die gewaltige Bestien mit brennenden Augen und feuriger Wamme gesehen hatten, deren Fell nicht von Kugeln durchdrungen werden konnte.

„Die Verantwortungslosigkeit der Journalisten und die Fähigkeit ihrer Leser, sensationslüsterne Effekthascherei nicht als solche erkennen zu wollen, ergänzen sich gegenseitig wirklich hervorragend“, jubelte er. „Die Öffentlichkeit bekommt die Presse, die sie verdient hat.“

„Es fällt Ihnen leicht zu spotten, Holmes“, warf ich ein. „Ich bin heute aber schon von drei Reportern angesprochen worden, für die ich diese Situation mit der des Hundes von Baskerville vergleichen soll. Ein Verleger hat mich eingeladen, mit einem Fotografen das Heath aufzusuchen, um exklusiv für ihn die Lage einzuschätzen.“

„Bravo, mein werter Freund!“ Er strahlte mich über den Toasthalter hinweg an. „Das Honorar wird Ihre finanziellen Mittel für die Ehe spürbar aufbessern.“

„Ganz im Gegenteil, Holmes.“ Wenigstens einmal war ich in der Lage, ihn zu verwirren. „Sie haben mich gebeten, für Sie morgen nach Lausanne zu reisen. Also habe ich den Verleger an Sie verwiesen. Er war zwar im Zweifel, was Ihre literarischen Fähigkeiten angeht, aber ich schlug ihm vor, Sie könnten einem Reporter Ihre Meinung kundtun, der sie dann niederschreibt. Ich finde, der Titel Der Fluch von Baskerville wäre passend.“

Mein Vorschlag brachte mich in den Genuss, Holmes in seine Kaffeetasse prusten zu sehen.

Meinen Entschluss in Sachen Lausanne hatte ich kurz zuvor gefasst. Das Telefon in der Baker Street war erst vor wenigen Wochen eingerichtet worden. Der Hauptapparat fand sich in Mrs Hudsons Salon im Erdgeschoss gleich an der Wand neben der Tür. Der Apparat war eine Holzkiste mit einer kleinen Kurbel, die auf der einen Seite herausragte, und mit einem abnehmbaren Handstück auf der Oberseite direkt unter der großen Klingel, von der unsere werte Vermieterin sagte, sie lasse sie wie eine Katze aus dem Fell springen, sobald sie losging. Sie nahm alle eingehenden Anrufe an und stellte einige von ihnen durch zu dem tragbaren Gerät in unserem Salon, das neben meinem Stuhl auf einem eigenen Tisch stand. In den meisten Fällen jedoch bat sie den Anrufer aus Angst, die Verbindung könnte unterbrochen werden, zu warten, um dann nach oben zu kommen und zu sehen, ob einer von uns beiden im Haus war. Die meisten Anrufe waren für Holmes bestimmt, der bereits daran zweifelte, ob es wirklich wünschenswert war, über eine Einrichtung zu verfügen, die es jedem so leicht machte, in seine fast schon eifersüchtig gehütete Privatsphäre einzudringen.

In dieser frühen Phase war noch keine förmliche Etikette festgelegt worden, die die Benutzung des Telefons betraf. Während ich nicht im Traum daran gedacht hätte, vor elf Uhr am Morgen persönlich am Russell Square zu erscheinen, wirkte dieses Gerät auf mich verführerisch. Ich wusste, dass Coral und ihre Tante im Umgang mit dem Telefon sehr erfahren waren. Also ließ ich mich mit ihnen verbinden, während ich mit einem Auge die Tür beobachtete, ob Holmes ins Zimmer kam. Coral selbst nahm das Gespräch an und sagte, es sei eine erfreuliche Überraschung und zugleich auch ein Zufall, meine Stimme zu hören. Vor wenigen Momenten erst hatte sie überlegt, ob sie mich anrufen sollte. Allerdings hatte sie befürchtet, sie könnte Mister Holmes in seiner Meditation stören. Ich erwiderte, dass er nicht einmal gefrühstückt und daher mit dem Nachdenken auch noch nicht begonnen hatte. Nach einem umfassenden Austausch von Zärtlichkeiten und wiederholten Versprechen erwähnte ich die Reise, die zu unternehmen er mich gebeten hatte.

„Natürlich werde ich sie nicht antreten“, sagte ich. „Ich verbringe viel lieber jede Minute mit dir.“

„Das ist so lieb von dir, John“, hörte ich ihre liebliche Stimme. „Aber du weißt, dass du schon bald alle Zeit der Welt mit mir verbringen wirst. Deine Verletzung hat dich sicher ein wenig mitgenommen. Warum willst du nicht diese Reise unternehmen?“

Es war offensichtlich, dass ich die Qualitäten meiner zukünftigen Ehefrau noch gar nicht in ihrem vollen Umfang erkannt hatte.

„Das würde dir nichts ausmachen?“

„Es würde dir gut tun. Außerdem reist Tante Henry morgen nach Berkshire, um einige Tage bei entfernt verwandten Cousins zu verbringen. Ich weiß, dass sie auch mich gerne sehen würden. Ich werde ihr sagen, dass ich sie begleite.“

„Ich freue mich schon auf den Tag, wenn ich mit dir zusammen in die Schweiz reisen darf“, sagte ich zärtlich, und unsere Unterhaltung endete nahezu in der gleichen liebevollen Weise, wie sie begonnen hatte.

„Also haben Sie sich herabgelassen, zu fahren“, sagte Holmes und klingelte nach Mrs Hudson.

„Ich könnte den alten Abrahams unmöglich in Gefahr bringen“, antwortete ich.

Als Mrs Hudson mit fragendem Blick und, rein vorsichtshalber, mit einer frischen Kanne Kaffee hereinkam, gab Holmes ihr strikte Anweisung, er sei für niemanden zu sprechen, erst recht nicht für Journalisten. Er war noch umso verärgerter, als keine fünf Minuten, nachdem Mrs Hudson sich zurückgezogen hatte, die Türglocke ging und unsere Vermieterin kurz darauf erneut im Zimmer stand. „Inspector Lestrade für Sie, Mister Holmes“, verkündete sie, ohne sich für ihr Verhalten zu entschuldigen.

„Mrs Hudson, ich sagte doch ausdrücklich …“

„Er sagt, es sei dringend, Sir. Eine Angelegenheit von Scotland Yard.“ Sie trat zur Seite und ließ Lestrade hereinstürmen, der ebenfalls nicht um Verzeihung für diese Störung bat.

„Was denken Sie, Mister Holmes?“, rief der Inspector.

„Was ich denke und was ich ausspreche, ist nicht zwangsläufig ein und dasselbe.“ Holmes warf ihm einen finsteren Blick zu, griff sich eine Zeitung und verschwand dahinter.

„Wie kommt denn das, Sir? Ah, wie ich sehe, haben Sie bereits die Zeitungen des Tages. Sagte ich Ihnen nicht, wie die heutigen Schlagzeilen lauten würden? Es gibt nur eine Sache, die von den Morgenzeitungen nicht mehr berücksichtigt werden konnte.“

„Und was wäre das, Inspector?“, fragte ich.

„Es betrifft den Landstreicher von letzter Nacht, Doktor, obwohl, vielleicht sollte ich sagen, von heute Morgen. Er heißt übrigens Chapman. Ehemaliger Soldat …“

Royal Mallows, hörte ich ein Gemurmel hinter der Zeitung.

Lestrade blinzelte in diese Richtung, dann fuhr er fort. „Er ist verschwunden. Er hat sich aus dem Krankenhaus abgesetzt. Niemand weiß, wann er gegangen ist. Er war ja auch allein auf der kleinen Station, und jeder dachte, er würde schlafen. Ich wusste, dass Mister Holmes sich dafür interessieren würde.“

Die Beredsamkeit von Holmes‘ Schweigen wurde dem Inspector nun bewusst. Er sah mich perplex an.

„Holmes muss sich heute Morgen mit vielen Dingen befassen“, erklärte ich. „Es bleibt nicht aus, dass die halbe Fleet Street seine Meinung zu Ihrem Hund hören will.“

„Aha, das hätte ich mir eigentlich denken können. Haben Sie denn schon eine Theorie entwickelt, Mister Holmes?“

Ein erstickter Ausruf war die einzige Reaktion.

„Ach, ja“, fuhr Lestrade vergnügt fort. „Es ist ja noch nicht viel Zeit verstrichen, und ich habe auch nicht viel Neues zu bieten. Ich will nicht sagen, dass das Verschwinden dieses Chapman irgendetwas zu bedeuten hat, aber es ist schon immer meine Art gewesen, Informationen weiterzugeben, was man von manchen Leuten nicht sagen kann.“

Holmes erwiderte nach wie vor nichts. Ich legte einen Finger auf die Lippen und brachte den Inspector zur Tür. Die Zeitung rutschte kein Stück nach unten, obwohl er längst gegangen war. Kurz darauf nahm ich Hut und Stock und schlich mich aus dem Haus, um den Tag mit meiner frisch Verlobten zu verbringen, von der ich mich schon bald für kurze Zeit würde trennen müssen.

Es war früher Abend, als ich zurückkehrte. Mrs Hudsons Tür am Fuß der Treppe stand einen Spaltbreit offen. So hatte sie hören können, wie ich das Haus betrat, und kam in die Diele geeilt, um mich zu begrüßen. „Mister Holmes hat eine Nachricht für Sie hinterlassen, Doktor. Er sagte, wenn Sie die Zeit erübrigen können, sollten Sie sich nach Marble Arch begeben.“

„Marble Arch?“

„Sie müssen bis um sieben Uhr dort sein, sonst wäre es zu spät.“

Es war bereits gegen sechs. In der Baker Street war der Verkehr so dicht wie stets um diese Tageszeit, doch eine Droschke sollte mich innerhalb einer Viertelstunde dorthin bringen können.

„Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten?“, fragte ich unsere Vermieterin, während ich überlegte, ob es sinnvoll sei, nach oben zu gehen und meinen Revolver zu holen.

„Das kann ich nicht sagen, Sir. Es wurde heute Nachmittag eine Nachricht abgegeben. Als Mister Holmes zurückkam, so ungefähr vor einer Stunde, da las er sie und eilte sofort wieder aus dem Haus.“

Ich beschloss, auf die Waffe zu verzichten. Stattdessen ging ich zurück auf die Straße und erblickte im gleichen Moment eine Droschke, der soeben ein Fahrgast entstieg.

Genau fünfzehn Minuten später hatte ich Marble Arch erreicht. Der Grund für diese Aufforderung war mir unterwegs bewusst geworden. Es war einige Tage her, als ich Holmes einen Zeitungsartikel vorgelesen hatte, in dem es um Straßenarbeiten ging, die im Bereich der Kreuzung Oxford Street, Park Lane und Edgware Road durchgeführt werden sollten, also in unmittelbarer Nähe zu Marble Arch. Ich hatte ihn lediglich aus dem Grund darauf aufmerksam gemacht, dass dies zu außergewöhnlichen Verkehrsstockungen führen würde, doch sein Interesse war weit darüber hinausgegangen.

„Das tödliche Nimmergrün!“, hatte er ausgerufen und mich damit überrascht. „Der dreibeinige Mahr. Der dreifache Baum. Tyburn, Watson! Das ist exakt die Stelle!“

Ich selbst hatte einmal die Inschrift auf der kleinen Bronzetafel gelesen, die nahe dieser Stelle am Geländer des Parks befestigt worden war:

 

TYBURN TREE

Der dreieckige Stein, der neunundsechzig Fuß nördlich dieser Stelle in die Straße eingelassen ist, kennzeichnet die Stelle, an der die als Tyburn Tree bekannten alten Galgen gestanden hatten, die 1759 niedergerissen wurden.

 

Holmes hatte mir den Stein gezeigt. Er hatte unsere Gesundheit, wenn nicht sogar unser Leben aufs Spiel gesetzt, um mich durch den Mahlstrom des Verkehrs zu zerren, damit ich den Stein mit eigenen Augen betrachten konnte.

„Perkin Warbeck, Claude Duval, Jack Sheppard, Jonathan Wild, Earl Ferrers, Dr. Dodd!“, hatte er ausgerufen, während wir von dem Lärm der Räder, Hufe und wütenden Flüche der Kutscher umgeben waren. „Sie alle beendeten ihre Karriere an exakt dieser Stelle.“

„Und Sherlock Holmes und John Watson wäre es fast nicht anders ergangen“, keuchte ich, nachdem wir uns wieder in Sicherheit gebracht hatten.

Sein morbides Interesse an der Geschichte der Höchststrafe schloss natürlich auch die düsteren Annalen von Tyburn mit ein, über die er mich an diesem Abend mit der Hilfe seiner immensen Sammlung von Notizbüchern aufgeklärt hatte. Diese Bücher, für die er bis ins kleinste Detail gehende Inhaltsverzeichnisse anlegte, enthielten Informationen aller Art, aufbewahrt in der Gestalt von Ausschnitten aus Tageszeitungen sowie wissenschaftlichen und populären Zeitschriften, aus Büchern herausgerissene Seiten, Meldungen, die bloße Eintagsfliegen blieben, und Notizen in seiner eigenen Handschrift, sowohl verschlüsselt als auch detailliert ausgeführt. Seine Vorgehensweise bestand zu einem großen Teil darin, jeden neuen Fall unter Berücksichtigung früherer Ereignisse zu betrachten, die Ähnlichkeiten aufwiesen. Er glaubte fest daran, die Kapazität seines Hirns in erster Linie dem Denken und Argumentieren vorzubehalten, nicht dem bloßen Erinnern. „Ein Mann sollte in seinem kleinen Speicher im Kopf all die Dinge aufbewahren, die er wahrscheinlich gebrauchen kann, den Rest kann er in der Rumpelkammer seiner Bibliothek verwahren, wo er immer dann darauf zugreifen kann, wenn es erforderlich ist.“ Die Notizbücher waren seine Rumpelkammer, eine allseits umfassende und einzigartige Gedächtnisstütze.

„Sehen Sie sich das an, Watson“, hatte er gesagt und auf eine gedruckte Abschrift gezeigt. „Diese Kopie des Befehls von Heinrich III. an den Sheriff von Middlesex aus dem Jahre 1220 besagt, dass zwei gute Galgen an der Stelle errichtet werden sollten, an der zuvor die alten Exemplare gestanden hatten. Die waren als die Galgen des Königs bekannt gewesen, weil sie für politische Übeltäter benutzt worden waren.“

„Wieso nicht der Tower?“, hatte ich gefragt.

„Nur für königliche und adlige Verräter. Exekutionen waren mit bestimmten Privilegien verbunden, so wie es immer noch der Fall ist.“

„Aber so weit von der Stadt entfernt? Das muss doch für alle Beteiligten eine sehr lange Reise gewesen sein.“

„Vor allem für das unglückselige Opfer“, erwiderte Holmes. „Das war Teil der Strafe. Je länger der Weg, umso größer die Qual des unausweichlich Bevorstehenden und die Erniedrigung durch den Jubel und die Wurfgeschosse des johlenden Mobs. Diese Prozession dauerte bis zu drei Stunden. Daher stammt auch der Ausdruck westwärts ziehen: Man wird nach Westen zum Tyburn Tree gebracht, man teilt sich den Karren mit dem eigenen Sarg, oder man wird rückwärts hinterher gezerrt, um bei der Ankunft verbrannt, erhängt, verstümmelt, gevierteilt, geköpft …“

„Hören Sie auf, Holmes!“, bat ich ihn inständig. „Himmel, ich kann nicht fassen, dass jemand sich an eine solche Barbarei erinnern will.“

„Es ist das Barbarische, an das erinnert wird“, hatte er ernst geantwortet. „Wir tun gut daran, einen Ort anzuerkennen, an dem so viel Schmach und Leid geherrscht haben. Dennoch …“ Er seufzte. „… sollten öffentliche Hinrichtungen morgen wieder eingeführt werden, so würden Tausende hinzukommen, um ihnen beizuwohnen, wie es vor zwei- oder dreihundert Jahren auch der Fall war. Jene Szenen von Verderbtheit, Trunkenheit und Gewalt, von denen sie begleitet wurden, würden sich sicher wiederholen. Sie können mir glauben, Watson, es gibt beklagenswerte Dinge in der Natur des Menschen, die einfach nur unterdrückt worden sind.“

Jenes gräuliche Thema war es gewesen, das mir in den Sinn zurückkehrte, als ich mich an diesem Abend im Juli wieder auf den Weg zu diesem Ort machte. Als ich Holmes die Meldung vorgelesen hatte, dass man dort die Straße aufreißen würde, hatte er mich an die Bedeutung jenes Ortes erinnert und gespannt angefügt: „Diesmal werden sie bestimmt bis zu den Knochen vorstoßen.“

„Ist es auch ein alter Friedhof? Hat man dort die Opfer irgendeiner Seuche bestattet?“

„Ich würde annehmen, dass man es so ausdrücken kann, wenn Sie viele von denen, die dort ihr Leben verloren, als für die Gesellschaft so bedrohlich wie eine Seuche bezeichnen. Es war Brauch derjenigen, die Verwandte oder Freunde hatten, dass diese unmittelbar nach der Hinrichtung die sterblichen Überreste mitnahmen. Damit konnten sie weitere Schmach verhindern, beispielsweise die, von Studenten seziert zu werden. Sie erinnern sich sicher daran, wie schwierig es sogar zu Ihrer Zeit bei Bart war, in den Besitz vollständig erhaltener Exemplare zu gelangen. Einige Optimisten holten sich sogar Chirurgen, die sofort nach dem Hängen eine Wiederbelebung versuchen sollten, oder eine Auferstehung, wie man es damals nannte.“

„Das ist nicht Ihr Ernst!“

„Henker waren keine Fachleute. Jeder konnte sich dafür melden, er bekam ein paar Pence dafür und dazu die Kleidung des unglücklichen Opfers, ganz zu schweigen von der Hoffnung auf ein Bestechungsgeld, um besonders schlechte Arbeit zu leisten, damit die Wiederbelebungsversuche eine größere Chance auf Erfolg hatten.“

„Und die Behörden ließen sie tatsächlich gewähren?“, hatte ich ungläubig gefragt.

„Sie machten sich nicht immer die Mühe, es zur Kenntnis zu nehmen. Wenn aber ein Henker dabei erwischt wurde, dann war er in ernsthaften Schwierigkeiten. Die Überreste derer, die nicht gerettet oder deren Leichnam nicht von Freunden oder Familie beansprucht werden konnten, wurden einfach in eine Grube unter dem Galgen geworfen. Das war das alte Prinzip, müssen Sie wissen, Verbrecher an Wegkreuzungen zu beerdigen. Während Grabungsarbeiten am Connaught Place kamen einige Knochen vor vierzig oder fünfzig Jahren wieder zum Vorschein. Der größte Teil der Überreste ist aber nie gefunden worden. Ich denke, dass es diesmal so weit sein wird.“

„Sie hören sich an, als wären Sie an ihnen interessiert, Holmes.“

„Sie wissen um meine unwiderstehliche Neugier, Watson. Sterblichkeit ist das größte Rätsel von allen. Es ist mein Lebenswerk gewesen, mich mit Schurken zu beschäftigen. Ich bin dafür verantwortlich, dass einige von ihnen am Galgen endeten. Doch nie, und ich bin glücklich, das sagen zu können, war eine Strafe so furchtbar wie die, die einen bei Tyburn ereilte. Ich habe mich nie an ihrem Schicksal begeistert. Ich habe als Vertreter der Gesellschaft gehandelt, nicht als ihr Ankläger oder Richter. Es gab Zeiten, da habe ich mich im Stillen gefragt, ob es richtig ist, ein Leben auszulöschen, ganz gleich aus welchem Grund.

Des Nachts habe ich mir gelegentlich die Reihen jener Hingerichteten vorgestellt, wie sie schweigend am gegenüberliegenden Ufer stehen, während die Fähre mich langsam zu ihnen bringt. In einem Albtraum habe ich in ihren ausgezehrten Gesichtern nach einem Hinweis gesucht, was ich von ihnen zu erwarten habe. Vergebung? Verständnis? Irgendeine schreckliche Vergeltung? Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor: Erhebe dich, Rächer, aus meinen Knochen. Der Gedanke an Virgil in Marble Arch mag ein klein wenig weit hergeholt sein, doch wenn diese Knochen entdeckt werden, muss ich sie sehen. Sie repräsentieren die sterblichen Relikte jenes Gerichts gequälter Seelen, vor dem sich vielleicht durch meine Verteidigung mein endgültiges Schicksal entscheidet.“

Als Folge aus diesen düsteren Gedanken hatte er einen Brief an einen alten Bekannten geschickt, den leitenden Inspector jener Polizeiwache, die hoch oben in Marble Arch selbst untergebracht ist. Er flehte ihn um den Gefallen an, ihm sofort Mitteilung zu machen, wenn die Überreste von Tyburn ans Tageslicht kamen. Von diesem entgegenkommenden Beamten war an diesem Nachmittag die Benachrichtigung in der 221B Baker Street abgegeben worden.

Ich ging davon aus, dass die Ausgrabungsstätte von einer Menschenmenge umlagert wurde, aber die Straßenarbeiten sorgten für eine derart massive Störung des Verkehrs, dass die Polizeitruppe ausnahmslos jeden weiterwinkte. Auch meine Droschke wurde durchgewunken, doch Holmes‘ gellendes Hallo und sein Anblick sowie der des uniformierten Inspectors, der mit seinen Gesten bedeutete, dass es so in Ordnung war, genügten, um den Officer umzustimmen, der mich nicht hatte aussteigen lassen.

Eine niedrige Plane als Wand und ein Dach verbargen die Ausgrabungen. Hinweisschilder warnten Fußgänger davor, sich der Stätte zu nähern. Holmes und der Inspector standen gleich hinter der Einschließung, die ich durch eine Lücke in der Zeltplane durchschritt. Arbeiter schafften Erde, Pflastersteine, teerbedeckte Holzblöcke und anderes Material für den Straßenbau hin und her. Es roch nach Lehm und Abwässern und nach etwas noch Widerwärtigerem. Ich zog mein Taschentuch hervor, bereit, es mir vor die Nase zu halten.

„Mein lieber Watson!“, begrüßte Holmes mich. Seine Augen glänzten wie die eines kleinen Jungen, der sich ganz besonders über etwas freute. Er machte sich nie die Mühe, diese fast kindliche Freude zu überspielen, wenn sich etwas Neues und Faszinierendes ergeben hatte. „Sie kennen vermutlich noch nicht Inspector Arkwright, der das Büro in Marble Arch leitet?“

Der Officer trat vor, grüßte und reichte mir die Hand. Er war einer von jener großen Truppe Londoner Bobbys, denen man im Westen deutlich seltener begegnete als im Stadtzentrum und im East End.

„Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Doktor.“ Er grinste unter seinem schwarzen Backenbart und nahm meine Hand in einen eisernen Griff.

„Sieht so aus, als wäre Ihr Hund zurückgekommen, um uns Gesellschaft zu leisten.“

Einen Moment lang fragte ich mich, ob es weitere Sichtungen des Tiers gegeben hatte, vielleicht sogar hier im Hyde Park, als ich erkannte, dass es sich nur um eine Höflichkeitsfloskel des Inspectors handelte.

„Ich bin froh, dass Sie meine Nachricht noch erreicht hat“, sagte Holmes. „Ich war mir nicht sicher, wie lange Sie Ihre … ähm … Geschäfte von zu Hause forthalten würden. Da Sie morgen abreisen, ist dies Ihre einzige Chance, zu sehen, was ans Tageslicht gekommen ist.“

„Ich nehme an, Sie sprechen von den Knochen.“

Holmes nickte. „Wir verdanken es Inspector Arkwright, dass wir diesen einzigartigen Blick in die Vergangenheit werfen können. Kommen Sie mit!“ Er machte sich auf den Weg mitten durch die Bauarbeiten.

Der Inspector trat zur Seite, um mich Holmes folgen zu lassen. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich mich, durch dieses große Zelt mit dem niedrigen Dach zu gehen, dessen Standort einer der geschäftigsten und bekanntesten Kreuzungspunkte der Welt war. Der komplette Straßenbelag war entfernt worden und wurde vorbereitet, um neu verlegt zu werden. Dutzende von Männern waren damit beschäftigt, zu hacken, schlagen, schaufeln und hin und her zu eilen, und durch die körperliche Anstrengung in einer so stickigen Enge massiv zu transpirieren.

„Wir mussten wegen der Knochen den Sichtschutz aufstellen“, erklärte der Inspector, der dicht hinter mir war. „Es muss ja nicht sein, dass jeder Schaulustige herkommt. Leider erschwert das den armen Kerlen die Arbeit zusätzlich. Sie bekommen einen extra Aufschlag auf ihren Lohn, damit sie die Nacht durcharbeiten.“

„Mir wurde mitgeteilt, dass es nicht später als sieben Uhr werden dürfte“, sagte ich.

„Das gilt für normale Besucher, Sir. Keine Reporter, keine Fotografen. Natürlich müssen wir einigen Gelehrten und anderen Personen Zutritt gewähren, die ein ehrliches Interesse an diesen Arbeiten haben, so wie Mister Sherlock Holmes und Sie selbst, Sir. Lord Belmont ist zurzeit hier. Er ist bei Doktor Garside, der die Leitung hat. Aber es muss ein Limit gesetzt werden, wer eingelassen wird und wer nicht. Morgen früh wird es noch eine Stunde lang eine letzte Gelegenheit für eine Besichtigung geben, danach werden die Überreste wieder zugeschüttet.“

„Übrigens, Watson“, merkte Holmes an. „Wenn Garside ein wenig mokant erscheint, nehmen Sie keine Notiz davon. Er war recht verärgert, dass der Inspector mich hergebeten hat, ohne zuvor seine Genehmigung einzuholen. Er war noch verärgerter, als ich einräumte, eine Notiz für Sie hinterlassen zu haben.“

Wir gingen weiter zur Ausgrabungsstätte, einem Areal, das gut dreißig mal dreißig Fuß groß war und in dem man deutlich tiefer gegraben hatte als an anderer Stelle. Ein beißender Gestank von frisch verstreutem Kalk drang in meine Nase, obwohl ich mir das Taschentuch davor hielt. Die Atmosphäre war insgesamt alles andere als angenehm. Ich hatte von den Krankheitserregern gelesen, die aus manchen ausgehobenen Gräbern aufstiegen, und von den schrecklichen Infektionen, die auch noch nach vielen Jahren verursacht werden konnten. Hier war eine derartige Gefahr offenbar sehr gering, denn drei Männer, ein ältlicher und zwei jüngere, befanden sich in Hemdsärmeln und ohne Kopfbedeckung in der Grube, in der sie mitten zwischen den Knochen standen. Sie schienen sich durch diese Überreste durchzuarbeiten, ganz so, wie es eine Gruppe Lumpensammler mit der jüngsten Lieferung machte. Das einzige Zugeständnis an die Ausdünstungen waren Taschentücher, die sie sich vor Mund und Nase gebunden hatten.

Die Knochen lagen wirr und zerbrochen dort, wo man die enthaupteten Leichen in der guten alten Zeit von vor zwei Jahrhunderten despektierlich hingeworfen hatte. Die Zeit und das auf ihnen lastende Gewicht hatten sie ineinander verschoben. Von Schädeln und Brustkästen abgesehen, gab es auf den ersten Blick wenig, was die Überreste als menschlichen Ursprungs erkennen ließ. Es war ein schauerliches Spektakel.

„Ah, Mister Holmes! Ist dies der berühmte Doktor Watson?“ Den Gruß hatte der älteste der Männer in der Grube an Holmes gerichtet. Er war so blass und mager, dass er selbst fast nur wie ein Knochengerüst wirkte, auch wenn der Kopf rötlich leuchtete. Er hatte den Atemschutz von seinem Gesicht gezogen und ließ ihn auf dem roten Vollbart ruhen, der ihm bis zur Brust reichte. Ein flammender Backenbart verbarg seine Ohren, auf seinem Kopf sprossen nur vereinzelte Büschel. Das wenige, das man von seinem Gesicht sehen konnte, war ernst und spähend, durchdringende Augen wurden durch eine dicke Brille wie durch eine Lupe vergrößert.

„Doktor Garside vom Britischen Museum“, stellte Holmes ihn mir vor.

„Doktor Watson, Lord Belmont“, erklärte der Gelehrte im Gegenzug und machte eine Verbeugung hin zu einem anderen Mann, der in Gehrock und mit Zylinder am Rand der Grube stand und sich auf einen Stock stützte, um dem Ganzen nachdenklich zuzusehen. Er hatte ein schmales Gesicht mit bitteren, finsteren Zügen. Ich konnte erkennen, dass er überdurchschnittlich groß war und etwa Anfang vierzig zu sein schien. Er trug einen dichten schwarzen Schnauzbart, dessen Enden gezwirbelt waren. Er nickte stumm und verzog keine Miene, während er meine Verbeugung zur Kenntnis nahm.

Dr. Garside lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Ich bin ein treuer Leser Ihrer Werke, Doktor Watson“, sagte er, wenngleich seiner Stimme auch jene Wärme fehlte, die mit einem ehrlich gemeinten Kompliment einherging.

„Ich fühle mich geschmeichelt, das von Ihnen zu hören, Doktor“, entgegnete ich. „Sie sind hier in Ihrer Funktion als Anthropologe?“

Er schüttelte seinen schmalen Kopf. „Als Historiker. Die Geschichte Londons ist mein Fachgebiet. Eines Tages, und da können Sie ganz gewiss sein, wird diese großartige Stadt ein eigenes Museum haben, eines, das nur ihr gewidmet und bei seiner Eröffnung lange Zeit überfällig sein wird. Wenn die Behörden nur einen Bruchteil jener Mittel gewähren würden, die jedes Jahr für nutzlosen Pomp und für Veranstaltungen verschwendet werden, die heute stattfinden und morgen schon wieder vergessen sind, dann hätte unser Volk mehr Grund, aufgeklärten Geistern wie meinem Herrn Lord Belmont dankbar zu sein.“ Er verbeugte sich vor dem Lord, und ich tat es ihm nach, auch wenn der keine Reaktion erkennen ließ. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf die Arbeiter gerichtet, die inmitten der Knochen standen.

Dr. Garside fuhr fort, wobei sein Benehmen so schroff wie sein Erscheinungsbild war. „Seine Lordschaft hat das großzügige Angebot gemacht, jenes großartige Museum ins Leben zu rufen, das mir vorschwebt. Es ist noch nicht öffentlich bekannt gemacht worden, müssen Sie wissen. Daher muss ich Sie bitten, Doktor Watson, nicht darüber zu schreiben.“

„Auf keinen Fall“, versicherte ich und genoss es insgeheim, als ein Journalist mit Einfluss angesehen zu werden.

„Die Hoffnung dabei ist, dass die Geste seiner Lordschaft auf höchster Ebene Unterstützung auslösen wird“, fügte er an, als wolle er mir ein druckfähiges Zitat mit auf den Weg geben, das ich später verwenden sollte. „Aber was darf man schon erwarten bei einem Monarchen, der sich vorrangig mit Pferden und Frauen beschäftigt … Eine wahrhaft schöne Inspiration für den Nationalstolz … Aber das sage ich natürlich völlig unter uns.“

„Wird sich ein Gerichtsmediziner mit diesen sterblichen Überresten beschäftigen?“, fragte ich den Inspector, um von einem potenziell peinlichen Thema abzulenken.

„Nicht nötig, Sir. Sie sind alle hier infolge eines legalen Prozesses. Hier gibt es keine Mysterien aufzudecken.“

„Aber immerhin ein wenig historisches Mysterium, nicht wahr, Doktor?“, fragte Holmes an Garside gerichtet.

Dessen Augen leuchteten verstehend auf. „Oh ja, Mister Holmes, und eine so wunderbare Möglichkeit, um es zu lösen!“

„Mein Freund Watson ist die Verschwiegenheit in Person“, sagte Holmes. „Auch wenn die Folgen mancher seiner Veröffentlichungen unerfreulich sind. Ich beziehe mich damit auf diesen absurden Unsinn von Geisterhunden in Hampstead …“

Inspector Arkwright lachte leise. Der leere Blick des Historikers ließ ihn als eines jener Wesen erkennen, deren Seele nicht dem Sensationsjournalismus zugetan war.

„… wie dem auch sei“, fuhr Holmes fort. „Er ist bekannt für seine Fähigkeit, Details zu bemerken, über die besser nicht berichtet wird.“

„Holmes“, rief ich dazwischen. „Was genau soll das nun bedeuten?“

„Lediglich, mein guter Watson, dass Ihre Gewissenhaftigkeit und Ihr guter Geschmack es Ihnen nicht gestatten würden, in Ihre Erzählungen etwas aufzunehmen, wenn man Sie aus einem guten Grund darum bittet, es besser auszulassen.“

„Ich hoffe, dass ich den Unterschied zwischen dem Interesse der Öffentlichkeit und purer Sensationsmache um ihrer selbst willen erkennen kann.“

„Sehen Sie?“, wandte sich Holmes wieder an Garside. „Auch wenn er, wie Doktor Johnson über Goldsmith sagte, das, was er als Naturgeschichte niederschreiben will, unweigerlich in eine persische Geschichte verwandelt, ist Watson völlig vertrauenswürdig, um von Ihnen den wahren Grund für Ihr Hiersein zu erfahren.“

„Dann kommen Sie bitte zu mir“, bat mich Garside, da er offenbar beruhigt war, dass ich nicht schnurstracks zur Daily Mail gehen wollte. Er streckte eine Hand aus, um mir in die Grube zu helfen. Holmes folgte mir. Der verschlossene Adlige und der Polizist blieben dort stehen, wo sie waren. Ich konnte es ihnen nicht verdenken, während ich mein Taschentuch fester auf mein Gesicht drückte.

Dr. Garside sprach mich mit gedämpfter Stimme und wild gestikulierend an. „Der Galgen selbst war eine dreiseitige Konstruktion, ein gleichschenkliges Dreieck aus Balken, zwölf Fuß über dem Boden, jeder mit genügend Platz, um acht Verurteilte zu hängen. Nach der Hinrichtung ließ man sie so lange hängen, bis Raum für mehr Verurteilte geschaffen werden musste. Verräter wurden dagegen noch lebend wieder abgeschnitten, ausgeweidet und schließlich in fünf Teile zerlegt, den Kopf und vier Viertel. Die Köpfe und andere Teile wurden auf Pfählen aufgesteckt und auf der London Bridge und an anderen Orten zur Schau gestellt, wo sie von vielen Menschen gesehen wurden, damit diese durch den Anblick an ihren Platz unter der Krone erinnert wurden.“

„Wollen Sie sagen, dass auch Frauen auf diese schreckliche Weise behandelt wurden?“, rief ich aus.

„Manchmal sogar Kinder“, antwortete er zu meinem Entsetzen. „Eine gewisse teuflische Neigung überwog im Fall des schwachen Geschlechts. Man verbrannte sie bei lebendigem Leib.“

„Gütiger Himmel!“

„Üblicherweise strangulierte man sie aber, noch bevor die Flammen sie erreichen konnten. Man kann die Überreste der Frauen daran erkennen, dass die Knochen verkohlt sind.“

Ich sah mich um und erkannte, was er meinte. Ein eisiger Hauch schien diesen Ort trotz der Sommerhitze heimzusuchen, die unter dem Zeltdach herrschte. Der Lärm des unablässigen Verkehrs auf den Straßen ringsum verwandelte sich in das Toben eines blutrünstigen Mobs, der die Pariser Guillotine zu einem berüchtigten Emblem der Massenhysterie in einer gar nicht so viele Jahre zurückliegenden Zeit machte. Sogar als Arzt, der Gemetzel in Afghanistan miterlebt hatte, konnte ich nicht ungerührt bleiben angesichts dieser Opfer einer rechtmäßigen Exekution, ganz gleich, welche Verbrechen sie auch begangen haben mochten. Ich hätte mich am liebsten sofort von diesem Ort entfernt, wäre da nicht meine Neugier gewesen, was es mit Holmes‘ Neckerei von einem historischen Geheimnis auf sich hatte, an dem ich teilhaben durfte. „Gibt es hier unten etwas besonders Interessantes zu studieren?“, fragte ich Garside.

„Geschichte, Watson, Geschichte“, murmelte Holmes knapp. Er ging weiter, mitten in die Knochenansammlung, dorthin, wo die beiden jüngeren Männer waren, die sich eingehender mit ihr zu beschäftigen schienen. Der Historiker sah zu Lord Belmont, der von uns noch immer keine Notiz nahm, ehe er zu einer taktvollen Erwiderung ansetzte.

„Natürlich, Doktor. Sie erinnern sich an die Geschichte von Oliver Cromwell und seinen Generälen?“ Er sah, dass ich zögerte, und fuhr fort. „Cromwell starb 1658, wie Sie wissen. Nachdem sein einbalsamierter Leichnam einen Monat lang in Somerset House feierlich aufgebahrt gelegen hatte, bescherte man ihm eine höchst verschwenderische Beisetzung in der Westminster Abbey.“

„Jetzt erinnere ich mich!“, sagte ich und dachte an einen Text, den ich vor langer Zeit gelesen hatte. „Es war eine Passage, in der John Evelyn zitiert, es sei die fröhlichste Beerdigung gewesen, die ich je erlebt habe, denn die Einzigen, die geheult haben, waren die Hunde. Ich muss sagen“, fügte ich an, „dass es kaum überrascht, immerhin war Cromwell ein Störenfried und eine Gefahr für die britische Lebensart.“

Garside reagierte mit dem missbilligenden Blick eines Akademikers, der nicht zu Verallgemeinerungen neigte.

„Tja, ich nehme an, dass einige es so gesehen haben. Als Volk neigten die Engländer noch nie zur Korrektheit.“

„Vor allem nicht, wenn sie uns eingehämmert werden soll“, meinte ich dazu. „Und auch nicht, wenn unsere Kathedralen und Kirchen niedergebrannt, das Eigentum beschlagnahmt, alle Theater geschlossen werden sollen. Ganz zu schweigen davon, dass unsere gekrönten Monarchen hingerichtet wurden.“

„Woran sie auch gescheitert sein mochten“, lenkte Dr. Garside ein. „Ach, du meine Güte! Ich habe mich selbst vergessen! Die Zeit drängt!“

Mit einem Blick, den ich als um Verzeihung bittend einstufte, hinauf zu seinem Herrn, eilte er davon, sofern das in diesem Gewirr aus Knochen überhaupt möglich war.

„Erinnern Sie sich jetzt, Watson?“, fragte Holmes, der aus der entgegengesetzten Richtung zu mir gekommen war.

„Woran, Holmes?“

„Mein Lieber! Ich war immer davon ausgegangen, dass Sie eine zufriedenstellende, wenn nicht sogar bemerkenswerte Ausbildung genossen haben.“

„Was genau wollen Sie mir eigentlich sagen?“

„Eines der wenigen Dinge, denen man nachsagt, dass jedes Schulkind sie weiß, ist die Tatsache, was mit Oliver Cromwell geschah, nachdem 1660 die Monarchie wiederhergestellt worden war.“

„Es tut mir leid, wenn Sie denken, dass es mir an Allgemeinwissen fehlt, Holmes“, entgegnete ich. „Sie selbst haben mich überrascht, als Sie mir erklärten, es interessiere Sie nicht, wie das Sonnensystem funktioniert, weil dieses Wissen für Ihren Beruf keinen praktischen Nutzen hat. Ich für meinen Teil habe bislang ein erfülltes und recht aktives Leben geführt, ohne dass es sich als Nachteil erwiesen hat, nicht zu wissen, was mit Oliver Cromwell geschehen ist. Abgesehen davon, dass er einige Jahre vor der Wiederherstellung der Monarchie starb, was ist denn mit ihm geschehen?“

„Nun“, erwiderte Holmes beiläufig. „Man grub ihn aus und knüpfte ihn auf, hier bei … Tyburn.“

KAPITEL 6

 

Als mich Holmes an Oliver Cromwells posthumes Schicksal erinnerte, fiel mir wieder das in jungen Jahren Erlernte ein. Ich hatte eine Gänsehaut bei der Vorstellung bekommen, mit welch unbarmherziger Rache Charles II. all jene verfolgte, die an der Hinrichtung seines Vaters 1649 beteiligt gewesen waren. Männer und Frauen wurden festgenommen, Geld und Grundbesitz wurden beschlagnahmt, sie wurden verbannt, auf den Richtklotz oder an den Galgen geschickt. Selbst die Zimmerleute, die das Gerüst errichtet hatten, auf dem Charles I. geköpft worden war, wurden verfolgt, um für ihre Tat zu bezahlen. Die grausigste Rache wurde indes an Oliver Cromwell, Henry Ireton, seinem General und einem der Unterzeichner des Todesurteils für Charles I., sowie John Bradshaw vollzogen, der als Präsident des Hohen Gerichtshofs das Todesurteil über den alten König ausgesprochen hatte.

Alle waren in den Jahren seither eines natürlichen Todes gestorben. Im Januar 1661 wurden die Gräber von Cromwell und Ireton in der Westminster Abbey für eine verhöhnende Aufbahrung geöffnet. Die Massen wurden aufgerufen, um an den Toten vorbeizugehen, von denen jeder einen Sixpence bekam, um sie anzuspucken und dann zu spotten. Zwei Tage danach wurden die verhüllten Leichname zum Red Lion Inn nach Holborn gebracht, wo sie mit dem von Bradshaw wiedervereint wurden, den man auf einem Karren von St. Peter‘s in Westminster hin transportiert hatte.

Der makabre letzte Akt spielte sich am 30. Januar ab, dem Jahrestag der Hinrichtung von Charles I. Die drei Toten wurden auf Schlitten nach Tyburn gebracht und in grünen, gewachsten Leichentüchern an je einem der drei Träger des Galgens aufgehängt.

„Himmel!“, erinnerte ich mich. „Sie wurden auch noch geköpft!“

Holmes nickte. „Nach Sonnenuntergang schnitt man die Stricke durch, dann wurden die Köpfe auf dem Dach der Westminster Hall auf Pfähle gesteckt, wo sie für die Dauer von Charles‘ Regentschaft verblieben. Was letztlich mit ihnen geschehen ist, hat man nie klären können.“

Die Erkenntnis, dass wir uns exakt an der Stelle befanden, an der man sie geköpft hatte, half nicht, dass ich mich wohler fühlte. „Sucht Garside danach?“, fragte ich. „Er kann doch sicher nicht glauben, dass er an einem solchen Begräbnisplatz drei Schädel identifizieren kann!“

„Nicht die Schädel, denn die sind fast sicher nicht hier. Von den kopflosen Skeletten jedoch heißt es, dass sie zu den anderen in die Grube unter dem Galgen geworfen wurden.“

„Ist das noch für jemanden wichtig?“

„Für einen Historiker muss es befriedigend sein, wenn er greifbare Beweise für die Dinge findet, über die er nur in Dokumenten hat nachlesen können. Betrachten Sie es einmal von dieser Warte aus, mein lieber Watson: Die Welt hat nur Ihr Wort, dass sich die Ereignisse in Dartmoor um den Hund von Baskerville tatsächlich zugetragen haben. Sie allein wissen von Stapletons verbrecherischem Einsatz des Hundes und davon, dass er selbst vom Grimpener Sumpf verschluckt wurde. Angenommen, Sie hätten die Fakten auf eine nicht so positive Weise präsentiert und wären bei der Schilderung seines Endes nachlässig gewesen. Was dann?“

Ich lächelte. „Die Zeitungen würden nicht nur darüber spekulieren, dass der Geist des Hundes irgendeine Form der Rache anstrebt, sondern sie würden auch behaupten, dass Stapleton dafür verantwortlich ist!“

„Genau. Sehen Sie, welche Verantwortung Sie auf Ihre Schultern gelegt haben? Wäre John H. Watson mit seinem Notizbuch zugegen gewesen, als die kleinen Prinzen im Tower hingerichtet wurden, dann gäbe es keine Diskussion darüber, ob Richard III. schuldig oder unschuldig ist. So wie bei dem Hund wird es immer neue Generationen von Menschen wie Garside geben, denen das Wort des Chronisten nicht genügt.“

„Nun, wenn er bis morgen früh nicht gefunden hat, wonach er sucht, wird er sich mit seinen Zweifeln abfinden müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Behörden Marble Arch in Chaos versinken lassen, nur um etwas über Oliver Cromwell in Erfahrung zu bringen.“

Wir betrachteten das Gewirr aus Rippen, Gliedmaßen und Schädeln. „Nicht, dass es besonders schwierig wäre, Cromwell und seine Gefährten zwischen den anderen auszumachen“, fügte ich beiläufig an.

Holmes drehte sich abrupt zu mir um.

„Wie meinen Sie das, Watson?“

„Wenn es keine Gepflogenheit war, Leichen etliche Jahre nach dem Tod zu köpfen …“

„Soweit ich weiß, war dies der einzige Vorfall dieser Art.“

„… dann werden sich drei der Skelette von allen anderen unterscheiden.“

„Weil sie kopflos sind? Mein lieber Watson, sehen Sie sich um. Wie viele dieser Hingerichteten sind noch in einem Stück erhalten?“

„Aber nur, weil ihre Schädel im Lauf der Zeit vom Rumpf abgefallen sind. Als man diese drei von den Stricken schnitt und auf eine so widerwärtige Weise köpfte, wird der Henker wohl genauso wenig ein Fachmann gewesen sein wie der würdelose Teufel, der sie aufgeknüpft hatte.“

„Wahrscheinlich handelte es sich sogar um ein und denselben Mann.“

„Genau, Holmes. Und zweifellos bediente er sich einer Axt oder eines Schwertes, das gerade griffbereit war. Es ist anzunehmen, dass die Klinge stumpf war, außerdem wird der Mann vermutlich betrunken gewesen sein. Nach dem, was Sie und Garside sagten, feuerte ihn die Menge wohl an, aus dem Ganzen ein besonders grausiges Spektakel zu machen. Dies und die Tatsache, dass die alten Knochen ausgetrocknet waren, dürfte bedeuten, dass sie bei den Hieben zersplitterten, und das sollte an den Skeletten feststellbar sein.“

Eine Spur von Respekt funkelte in Sherlock Holmes‘ Augen auf.

„Mein lieber Freund, ich hatte in der Vergangenheit ein paar Mal die Gelegenheit anzumerken, dass Ihre Grenzen jenseits meiner Vorstellungskraft liegen. Ich kann nur hinzufügen, dass dies auch weiterhin der Fall ist. Kommen Sie mit!“

Seinem eifrigen Beispiel folgend begann ich, in dem Meer aus Knochen zu suchen. Es war eine groteske und Übelkeit erregende Aufgabe, die durch sich zersetzende Reste von Kleidung, zerfallende Ledergürtel, Knöpfe und andere wertlose Relikte erschwert wurde, die die Zeit überdauert hatten. Knochen an sich waren nichts, was mich als Mediziner erschrecken konnte, doch die Menge, die hier zu meinen Füßen lag, ging nahezu über meinen Verstand hinaus. Die kläglichen Überreste ihrer Bekleidung machten mir bewusster, als es den Knochen möglich war, dass es sich hier einst um lebendige Menschen gehandelt hatte. Viele ihrer Vergehen wären in aufgeklärteren Zeiten sicherlich weit weniger drastisch geahndet worden, und manche dieser Opfer waren zweifellos völlig unschuldig gewesen, als man sie hinrichtete. Wir hatten aber keine Zeit für derartige Einzelheiten. Wir arbeiteten mit sich steigernder Eile und warfen Brustkästen und Arm- und Beinknochen zur Seite, um an die darunter liegenden Skelette zu gelangen.

Vom fernen Big Ben schlug es gerade drei Viertel, als ich in einem Anflug von größter Begeisterung einen kopflosen Rumpf freilegte, dessen Schlüssel- und Brustbein zackige Einbuchtungen aufwiesen. Sie waren gesplittert. Auf meinen Ruf hin kam Holmes zu mir und rief auch die anderen hinzu. Inspector Arkwright stieg würdevoll in die Grube hinab.

Dr. Garside und seine beiden Assistenten eilten herüber. „Nicht zu glauben!“, rief der Historiker aus, als ich ihm die Beweise für eine unfachmännisch durchgeführte Enthauptung zeigte. „Wenn die beiden anderen hier in der Nähe liegen, dann könnte das der Beweis für Ihre Mutmaßung sein, Doktor.“

Die jüngeren Männer begannen, ungeduldig die umliegenden Knochen zu begutachten. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine Bewegung über uns, und dann sah ich, dass der bislang wortkarge Lord Belmont zu der Seite der Grube gegangen war, an der ich meine Entdeckung gemacht hatte. Es sah nicht so aus, als wolle er sich zu uns begeben, doch er beugte sich vor, um einen besseren Blick zu bekommen, wobei er sich auf den Oberschenkeln abstützte.

„Beabsichtigen Sie, sie mitzunehmen?“, fragte ich Dr. Garside, während wir zusahen, wie die Assistenten Knochen zur Seite räumten.

Er schüttelte den Kopf. „Man ließ keinen Zweifel daran, dass dies nicht gestattet würde. Es ist nicht das, was das Museum wünscht. Wäre mein eigenes Museum bloß schon im Entstehen begriffen.“

Ein aufgeregter Aufschrei verriet uns, dass der nächste Fund gemacht war.

„Rasch!“, drängte Garside. Er wandte sich dem Inspector zu. „Vielleicht noch eine zusätzliche halbe Stunde? Angesichts dieser Umstände …“

Arkwright schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Sir, meine Befehle sind eindeutig. Damit die Straße über Nacht fertiggestellt werden kann, müssen die Arbeiter auf die gesamte Baustelle zugreifen können.“

„Ich dachte, es soll morgen früh noch eine letzte Besichtigung geben?“, warf ich ein.

„Nur für eine Stunde, Sir. Für ein paar hohe Tiere. Der Innenminister kommt vielleicht vorbei, eventuell auch der Erzbischof. Wenn es ihnen möglich gewesen wäre, heute Abend vorbeizuschauen, dann wäre ohnehin schon alles vorüber. Tatsache ist, dass diese Fläche letztlich wieder bedeckt werden muss.“

„Immer die gleiche Geschichte“, beklagte sich Garside. „Die Geschichte muss sich dem Fortschritt unterordnen. Man sollte eigentlich denken, dass es nach über zweihundert Jahren nicht auf ein paar Stunden ankommt. Ah, da scheint noch etwas zu sein.“

Die Männer hatten achtlos Knochen zur Seite geworfen, um diese letzten Minuten zu nutzen, die ihnen noch verblieben. Ein weiterer verstümmelter Rumpf war entdeckt worden und wurde nun nach oben gezogen.

„Nun, Sir, damit scheinen wir zwei zu haben“, meinte der Inspector tröstend. „Ich nehme nicht an, dass der Dritte so grundlegend anders aussehen wird.“

„Wohl nicht“, murmelte der Historiker, der nun auf den Knochen kniete, um seinen Fund genauer zu betrachten und den Finger über das zerklüftete Schlüsselbein zu streichen. „Es wäre zumindest etwas gewesen, sie alle drei zusammen zu sehen. Ich glaube, die Gelehrten hätten das als einen positiven Beweis angesehen.“

„Wenn ich nicht irre, dürfte Ihnen dieser Wunsch jeden Augenblick erfüllt werden“, sagte Holmes über seine Schulter hinweg.

Sein Tonfall verriet seine eigene Begeisterung. Die Assistenten förderten ein drittes Skelett zutage. Es war gleichfalls kopflos und die oberen Knochen wiesen die gleichen Entstellungen auf.

„Heureka!“, rief Dr. Garside aus. Seine Helfer grinsten mit gewaltiger Freude. Ein schwaches klatschendes Geräusch entpuppte sich als Applaus, den Lord Belmont spendete. Er ging sogar so weit, dass er seinen Hut hob.

Garside sah uns alle strahlend an. „Mein Lord“, erklärte er, „Gentlemen, wir sind die ersten Menschen, die seit mehr als zweihundertvierzig Jahren die Überreste einer der herausragendsten Persönlichkeiten in der britischen Geschichte zu Gesicht bekommen haben! Ich persönlich empfinde dieses Privileg als zutiefst bewegend.“

„Ich bitte um Verzeihung, Sir.“ Es war Inspector Arkwright, der ihn unterbrach. „Aber welcher ist denn eigentlich welcher?“

Garside sah ihn an, dann klimperte er mehrmals mit den Lidern, als müsse er sich erst von einem Ausflug in eine Jahrhunderte entfernte Vergangenheit in die Gegenwart zurückholen.

„Wie gesagt“, entschuldigte sich der Polizist. „Sie sind alle ziemlich ähnlich.“

Ich weiß nicht, ob meine Wahrnehmung von der Freude beeinflusst war, die eine Romanze mit sich bringt. Doch mir schien es einer jener seltenen Tage, an denen ich Sherlock Holmes in seinem eigenen Spiel schlagen konnte. Ich deutete auf das letzte Skelett, das geborgen worden war. Ich spürte, dass alle Blicke auf mir ruhten, während ich vortrat und mich neben diesen Knochen hinkniete, die nur wenige Fuß von den anderen entfernt lagen.

„Dies war Oliver Cromwell“, sagte ich. Etwas war mir aufgefallen, während meine Kollegen durch ihre Beschäftigung mit den kopflosen Skeletten davon keine Notiz genommen hatten. Es sah aus wie ein schmaler Streifen Holz oder Metall. Näher betrachtet, war es eindeutig Letzteres. Ein weiteres Stück dieser Art machte ich ganz in der Nähe aus. Der Unterschied zwischen den beiden war, dass ein Teil leicht gekrümmt war und spitz auslief, während das zweite in einem Heft und Knauf eines Schwertes mündete. Ich hob die beiden Objekte auf und hielt sie dicht an dicht, um sie den anderen zu zeigen. Es handelte sich um die verrosteten Hälften eines altmodischen Kavalleriesäbels. Am Heft war noch ein kleines Stück verschossener Stoff zu erkennen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957192097
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Detektiv Spannung Sherlock Holmes Historisch Krimi Ermittler

Autor

  • Michael Hardwick (Autor:in)

Mollie (1915-2003) und Michael (1924-1991) Hardwick waren ein schreibendes Ehepaar. Die beiden Engländer verfassten allein und miteinander eine ganze Reihe von Büchern. Mollie schrieb historische Liebesromane, Lady-Krimis (Doran Fairweather-Serie!) und viele Romane zu TV-Serien (Das Haus am Eaton Place ...), während Michael vor allem Biografien berühmter Persönlichkeiten verfasste, und dazu waren beide Spezialisten, was SHERLOCK HOLMES betraf.
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Titel: Sherlock Holmes - Neue Fälle 10: Sherlock Holmes und der Hund der Rache