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Sherlock Holmes - Neue Fälle 11: Sherlock Holmes und die indische Kette

von Michael Buttler (Autor:in)
320 Seiten

Zusammenfassung

Sherlock Holmes wird von einem Freund aus alten Tagen, dessen Tochter entführt wurde, um Hilfe gebeten. Der englische Detektiv reist nach Hamburg und gerät in ein Abenteuer, das seinen Ursprung offenbar in einer indischen Legende und in der Cholera-Epidemie von 1892 hat. Achtung: Die Print-Ausgabe unserer Sherlock-Holmes-Reihe ist nur noch exklusiv in unserem Shop erhältlich. Die Printausgabe umfasst 320 Buchseiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Michael Buttler wohnt mit seiner Familie und zwei Katzen im Rhein-Main-Gebiet. Er arbeitet als Bankkaufmann bei einem Kreditinstitut.

Anthologien, an denen der Autor beteiligt war, wurden verschiedentlich für den Deutschen Phantastik-Preis nominiert. Im Jahr 2012 war er mit einer Geschichte in dem Buch vertreten, das den ersten Preis gewann.

Bislang sind zwei historische Kriminalromane erschienen, die beide zur Zeit Johann Wolfgang von Goethes in Weimar spielen, weshalb Buttler sie seine Goethe-Krimis nennt: Die Bestie von Weimar und Der Teufelsvers.

Auf Anfrage steht der Autor gern für Lesungen zur Verfügung.

www.michael-buttler.de

© 2015 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Lektorat: Dr. Richard Werner

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-95719-210-3

Vorrede

 

Hochgeschätzter Leser,

 

niemals zuvor standen mein Freund Sherlock Holmes und ich so viel Elend, Tod und menschlicher Niedertracht gegenüber wie in dem folgenden Abenteuer. Ich habe lange überlegt, ob ich tatsächlich alles so wiedergeben soll, wie wir es erlebt haben. Weil die Geschichtsschreibung jedoch einen Anspruch auf eine unverfälschte Berichterstattung hat, habe ich mich letztendlich dafür entschieden. Immerhin war nicht alles schlecht, was wir bei dem vorliegenden Abenteuer erlebten. Es gab auch den einen oder anderen kleinen Lichtblick.

Aus den Briefen meiner Leser weiß ich, dass viele von Ihnen sich eine lebendigere Darstellung der Ereignisse wünschen, damit sich die Fälle, die ich veröffentlichen lasse, weniger wie ein Bericht, sondern mehr wie ein Roman lesen lassen. Dies habe ich mir zu Herzen genommen – sehr zum Unmut meines Freundes Sherlock Holmes übrigens, der mehr Wert auf den lehrreichen Charakter meiner Notizen legt. Ich konnte ihn jedoch dahingehend überzeugen, dass die Verpackung der Erlebnisse eine wichtige Rolle spielt. Denn nur wer die Aufzeichnungen mit Vergnügen liest, wird auch alles Lehrreiche, das darin enthalten ist, in sich aufnehmen.

Und so habe ich die Erzählform Ihren Bedürfnissen angepasst. Daraus folgt, dass ich nicht alles, was auf den nächsten Seiten steht, selbst erlebt habe. In diesen Passagen habe ich mich an den Erzählungen der beteiligten Personen orientiert. Anderes habe ich aufgrund eigener logischer Schlussfolgerungen niedergeschrieben. Einiges, das gebe ich gern zu, hat auch mein Freund Sherlock Holmes beigetragen.

Sie können also getrost jedes Wort glauben.

Dem aufmerksamen Leser wird auffallen, dass ich den Dialekt, den einige Protagonisten in Wirklichkeit sprechen, der Lesbarkeit halber meistens angepasst habe. Ich hoffe, damit in Ihrem Interesse gehandelt zu haben.

 

Ihr

John H. Watson

Prolog

 

1870 – Golf von Bengalen

 

Die vom Sturm aufgewühlten Wellen warfen die Blue Bird von einer Seite zur anderen. Noch nie zuvor hatte der Erste Offizier in Küstennähe solch ein Unwetter erlebt. Vor wenigen Minuten erst hatten sie es geschafft, die Segel zu reffen. Zu schnell war die Hölle über sie hereingebrochen. Leichtgläubige Menschen hätten an einen Fluch denken mögen, denn trotz aller Aufklärung war die indische Halbinsel immer noch gut für jeden Aberglauben.

Der letzte Matrose kletterte gerade an den Wanten herunter und hatte es fast geschafft, als das Schiff nach unten sackte. Eine nachfolgende Welle verpasste ihnen eine Breitseite und spülte den Seemann fort.

„Mann über Bord!“, rief der Erste Offizier, einem eingebläuten Instinkt folgend, und deutete auf die Stelle, an der es geschehen war.

Sein Signal wurde mehrfach wiederholt. Die wenigen Männer, die noch an Deck waren, begaben sich sofort mit einem Rettungsring zum Unglücksort. Es war ein hilfloses und sinnloses Unterfangen. Die Matrosen mussten sich gegenseitig festhalten, um nicht hinterhergespült zu werden. Mittlerweile war ihr Kamerad unrettbar verloren.

Eine weitere ungeheuerliche Welle brachte die Welt um sie herum ins Schwanken. Dem Ersten Offizier wurden die Beine weggezogen. Er schlug hart auf den Planken auf, versuchte noch, sich im Fallen auf die Seite zu drehen, doch es ging alles viel zu schnell. Mit dem Schädel donnerte er auf das Holz und wurde ohnmächtig.

 

Er fühlte sich wie nach einem Besäufnis. Vorsichtig öffnete er die Augen und starrte auf die Decke seiner Kabine. Das Schiff lag ruhig im Wasser. Wenn dies nicht das Jenseits war, dann hatten sie es geschafft.

„Er ist wieder bei Bewusstsein“, sagte jemand. Es war der Schiffsarzt, den die Reederei ihnen zugestand.

„Ich sage dem Käpt’n Bescheid“, antwortete eine andere Stimme, die der Erste Offizier allerdings nicht zuordnen konnte.

„Ist das Schiff in Sicherheit?“, brachte er mit Mühe heraus und wusste im selben Moment, wie unsinnig seine Frage war.

Die Tür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen, während sich der Arzt über ihn beugte.

Der Erste wollte ihm keinesfalls so kraftlos begegnen. „Es geht schon“, nuschelte er und kämpfte sich in eine sitzende Haltung. Als durch seine Hüfte ein kurzer, stechender Schmerz jagte, sog er geräuschvoll die Luft ein.

Alles in der Offizierskajüte war durcheinandergeworfen. Bücher, Bilder und alle anderen Habseligkeiten lagen in wilder Unordnung kreuz und quer über den Boden verstreut. Der Stuhl hatte ein Bein eingebüßt und lag wie ein erlegtes Tier in einer Ecke des Raums, deshalb hatte der Arzt eine Truhe an das Bett geschoben und nutzte sie als Sitzmöbel.

„Ich sagte Ihnen doch, Sie sollen liegen bleiben.“

„Zum Ausruhen ist später noch Zeit. Ich muss die Schäden und die Ladung inspizieren. Wie viele Männer haben wir verloren?“

„Durch einen glücklichen Zufall nicht einen einzigen.“

„Das kann nicht sein … Ich habe selbst gesehen, wie einer über Bord ging.“

„Der wurde wieder herausgefischt. Sein Zustand ist erstaunlich gut für das, was er durchgemacht hat.“

Der Erste ignorierte den Schmerz und stieg aus dem Bett. Für einen Moment musste er sich an dem Arzt festhalten, weil sich alles um ihn drehte. Mit geschlossenen Augen wartete er ab, bis das Schwindelgefühl verging.

„Sie sollten wirklich auf mich hören“, sagte der Arzt.

„Wo befindet er sich?“

„Der Matrose? Im Zwischendeck.“

Der Erste schaute an sich hinunter. Jemand hatte ihn bis auf die Unterwäsche ausgezogen.

„Geben Sie mir eine Hose und ein frisches Hemd aus der Truhe, auf der Sie sitzen.“

Kopfschüttelnd folgte der Arzt dieser Bitte.

Der Erste Offizier zog sich im Sitzen an. „Kommen Sie mit und helfen Sie mir“, sagte er schließlich. „Sie müssen mich stützen.“

„In Ordnung. Ich bringe Sie zu dem Matrosen und anschließend wieder ins Bett zurück.“

„Oder zur Brücke.“

Der Arzt seufzte. „Oder auch das.“

Die Treppe hinauf an Deck hätte er niemals ohne fremde Hilfe geschafft. Oben angekommen, betrachtete er den Zustand des Schiffes. Auch hier herrschte Unordnung, doch auf den ersten Blick hatte eine ihnen wohlgesonnene Macht ihre schützende Hand über sie gehalten.

„Kommen Sie“, sagte der Arzt nach einer Weile. „Ich habe noch andere Patienten zu versorgen.“

 

„Wie ist dein Name?“, fragte der Erste Offizier die dürre, bleiche Gestalt, die in dicke Decken eingeschlagen in der Hängematte lag und mit den Zähnen klapperte. Mehr war in dem herrschenden Zwielicht nicht zu sehen. Es stank nach Schweiß, Urin und etwas Undefinierbarem.

„Barker … John.“

„Also gut, John Barker, ich freue mich, Sie wieder an Bord zu haben. Sie hatten unverschämtes Glück.“

Der Matrose nickte.

In diesem Moment betrat der Kapitän das Zwischendeck. Wie die anderen musste auch er sich ducken.

„Da sind Sie ja!“, polterte er los. „Man sagte mir, Sie seien wieder auf den Beinen.“

Der Arzt holte Luft, um etwas darauf zu erwidern, doch der Erste kam ihm zuvor.

„Jawohl, Herr Kapitän.“

„Haben Sie schon von dem ungewöhnlichen Fund gehört, den Mister Barker aus dem Meer gefischt hat?“

„Nein.“

„Dann kommen Sie an die frische Luft, damit Sie es sehen können. Ich möchte Sie deshalb auch um etwas bitten.“

Der Erste Offizier nickte und wandte sich wieder dem Matrosen zu. „Ich hoffe, Sie sind bald wieder auf dem Damm.“

„Danke, Sir.“

Als sie die drückende Enge des Zwischendecks verlassen hatten und unter freiem Himmel standen, atmete der Erste auf. Der Kapitän fischte etwas aus seiner Jackentasche und hielt den Gegenstand, offensichtlich eine Halskette aus Metall, vor sich hin. Sie hatte eine blassgelbe Farbe. Der Erste Offizier nahm die Kette entgegen und untersuchte mit den Fingern die rechteckigen Platten, die mit groben Gliedern zusammengehalten wurden. Das Material war uneben, und als er genauer hinschaute, konnte er ganz schwach ein Muster erkennen. Es mochte eine Szene aus dem Leben darstellen oder nur die Abbildung von etwas, entweder einem Tier oder einem Menschen. Mehr war nicht auszumachen.

„Gold?“, fragte er.

Der Kapitän nickte.

„Und Mister Barker hat das mit an Bord gebracht?“

„Sie hing in seinen Kleidern, hatte sich dort verfangen und …“

„Verzeihen Sie, Sir.“

Beide schauten überrascht zur Seite. Der Erste Steuermann hatte sich unbemerkt zu ihnen gesellt.

„Was ist, Mister Briggs?“, fragte er grantig. Er wusste, der Kapitän mochte es ganz und gar nicht, wenn man sich an ihn heranschlich.

„Es ist wegen dem da …“, antwortete Briggs und deutete auf die Kette.

„Ja?“

Der Steuermann druckste herum und wusste offenbar nicht, wie er das, was er sagen wollte, loswerden konnte.

„Die Männer und ich … na ja, wir alle eben, wir haben uns gedacht, wo das herkommt, da könnte doch noch mehr sein.“

„Ihr wollt allen Ernstes auf Schatzsuche gehen?“, blaffte der Kapitän ihn an.

„Der Sturm hat uns vor Mahabalipuram erwischt. Sie kennen doch sicher die Legende, Käpt’n.“

Der Kapitän schnaufte verächtlich. „Sie meinen dieses Ammenmärchen von den Sieben Pagoden?“

Auch der Erste Offizier kannte die Geschichte. Vor tausend Jahren lag dort die Hauptstadt irgendwelcher Könige. Seitdem hatten Abenteurer immer wieder nach Schätzen gesucht, die dort zu finden sein sollten.

„Aber die Kette! Sie ist der Beweis!“, rief Briggs. „Es gibt den Schatz, und der Sturm hat ihn zutage befördert. Wo sollte die Kette sonst hergekommen sein?“

„Sie gehen jetzt augenblicklich zurück an Ihre Arbeit, Mister Briggs. Und sagen Sie den Männern, dass es keine Schatzsuche geben wird. Sobald wir wieder zu Hause sind, werden wir als wahrhafte Patrioten dieses gute Stück dem British Museum vermachen. Das Einzige, was Sie und die anderen also erreichen würden, wären noch mehr Exponate für bleiche Forscher in stickigen, mit Chemikalien vollgepackten Räumen. Es lohnt sich also nicht, die Zeit mit einer sinnlosen Schatzsuche zu vergeuden.“

Briggs schien mit jedem Wort ein wenig kleiner zu werden und trollte sich schließlich wie ein geprügelter Hund.

„Nehmen Sie diese Kette in Ihre Obhut“, sagte der Kapitän, wandte sich um und ging zur Brücke.

Der Erste Offizier betrachtete die Kette noch einen Augenblick, dann ließ er sie in seine Tasche gleiten. Es war ein unauffälliges, doch sicher wertvolles Stück. Bis sie ihren Heimathafen erreichten, würde er sich den Schmuck genauer ansehen.

 

 

London, im Sommer 1894

 

„Doktor Watson! Gott sei Dank sind Sie wieder da!“ Mrs Hudson hatte vor Aufregung rote Flecken im Gesicht.

„Beruhigen Sie sich doch“, sprach ich auf sie ein und führte sie in ihr eigenes Haus. Vor der Treppe zu den oberen Räumen blieben wir stehen. „Was ist denn los?“

„Er ist weg!“, stieß sie hervor.

„Wer – Holmes?“

„Ja. Und er hat nichts gesagt.“

Ich spürte, wie sich mein Puls beruhigte. Ich hatte bis jetzt gar nicht bemerkt, dass er sich beschleunigt hatte.

„Aber, liebe Misses Hudson, warum regen Sie sich da so auf? Wie oft war Mister Holmes schon verschwunden? Immer ist er als Herr der Lage wieder aufgetaucht, als wäre nichts geschehen. Und meistens löste er nebenbei einen Fall, von dem wir noch nicht einmal wussten, dass es einer werden würde.“

„Ach, Doktor Watson, das dauerte doch meistens nicht länger als zwei oder drei Tage. Nun bleibt er schon eine ganze Woche aus.“

Das war in der Tat ungewöhnlich.

„Hat Holmes denn keine Nachricht hinterlassen?“

„Aber nein. Nicht einmal eine kurze Notiz.“

Das konnte ich nicht glauben. Wenn Holmes so lange fortblieb, dann hatte er mit Sicherheit einen Hinweis hinterlassen.

„Ich gehe nach oben“, sagte ich und ließ Mrs Hudson stehen. „Wir werden ihn schon finden. Sie kennen ihn doch. Ihm kann nichts und niemand etwas anhaben.“

„Wenn ich Sie nicht hätte“, stammelte die gute Hauswirtin und setzte sich sichtlich erschöpft auf die zweite Stufe.

Drei Wochen war ich unterwegs gewesen – eine lange Zeit, wenn man mit Sherlock Holmes befreundet war, denn in der Baker Street Nummer 221b konnte während der eigenen Abwesenheit eine Menge passieren. Die Tür zur oberen Wohnung war nicht abgeschlossen. Es roch ein wenig muffig darin. Mrs Hudson hatte von meinem Freund die strikte Anweisung, während seiner Abwesenheit nichts zu verändern, und so hatte sie die Fenster geschlossen gehalten.

Das Erste, was mir auffiel, war die ungewöhnliche Unordnung auf dem Tisch bei der Sitzgruppe. Ein Stapel Briefe lag kreuz und quer verteilt, dazu ein deutschsprachiger Zeitungsausschnitt (ich konnte das Wort Hamburg lesen) mit einem großen Bild, auf dem ein Mann zu erkennen war, der in aufrechter Pose und mit verschränkten Armen vor einem großen Haus stand. Den Namen Henry Jasper konnte ich genauso entziffern wie das Datum der Ausgabe: 13. April 1880.

Es war nicht meine Art, fremde Briefe zu lesen. So etwas tat man nicht, auch nicht, wenn Holmes sie so offen liegen ließ. Er wusste, ich würde niemals darin stöbern, selbst wenn es mich noch so sehr in den Fingern juckte wie in diesem Moment. Falls Holmes einen Hinweis hinterlassen hatte, wo man ihn antreffen konnte, so war er sicher nicht hier zu finden. Die Briefe waren ausnahmslos neueren Datums, nicht älter als drei Jahre. Offensichtlich hatte Holmes einen Brieffreund; als Absender erkannte ich ebenfalls einen gewissen H. Jasper.

Einmal mehr verfluchte ich, dass Holmes nicht dazu in der Lage war, einen Hinweis klar und deutlich und für jeden verständlich auf ein Blatt Papier zu schreiben. Immer mussten es diese Geheimniskrämereien sein. Brachten mich die Briefe weiter? Ich hatte keine Ahnung, wusste nicht einmal, ob Holmes überhaupt gefunden werden wollte. Eine Indiskretion erlaubte ich mir dann aber doch, indem ich in Holmes’ Schrank nachschaute, der in seinem Schlafzimmer stand. Es fehlte ein Gutteil seiner Anzüge. Das lange Ausbleiben meines Freundes war also eine von vornherein geplante Aktion gewesen. Hatte er es so eilig gehabt, dass nicht einmal Zeit war, Mrs Hudson einen Zettel hinzulegen?

„Doktor Watson!“

Die Stimme unserer Vermieterin riss mich aus meinen Gedanken. Ich lief in den Wohnraum und hörte Schritte auf der Treppe.

„Doktor Watson!“, wiederholte sie ihren Ruf, stieß die Tür heftig auf, was sonst gar nicht ihre Art war, und wedelte mit einem Umschlag in der Hand. „Das ist soeben für Sie abgegeben worden.“

Nun verstand ich ihre Aufregung. Es konnte sich nur um die ersehnte Nachricht von Sherlock Holmes handeln. Ich nahm den Umschlag entgegen und riss ihn auf, ohne Zeit für die Suche nach einem Absender zu vergeuden. Darin befand sich eine Fahrkarte, die auf meinen Namen ausgestellt war. Das betreffende Schiff würde sich morgen früh um acht Uhr dreißig auf die Reise nach Hamburg machen, mit mir oder ohne mich.

„Was ist das?“, fragte Mrs Hudson. „Endlich eine Nachricht von Mister Holmes?“

Ich lächelte, auch wenn es mich einige Anstrengung kostete. Holmes hatte gewusst, dass ich heute zurückkommen und mich mein erster Weg zu ihm führen würde. Die genaue Stunde war ihm nicht bekannt gewesen, und so hatte er dafür gesorgt, dass ich erst am darauffolgenden Morgen abreiste.

„Ja. Unser Freund weilt zurzeit in Hamburg“, sagte ich, die Fahrkarte in den Händen drehend. Natürlich befand sich weder auf dem Umschlag noch auf der Karte eine Notiz, lediglich die Adresse mit meinem Namen: Doktor John Watson, 221b Baker Street, London.

„Was, um Himmels willen, will Mister Holmes denn in Deutschland?“

„Das, Misses Hudson, werde ich wohl bald herausfinden“, erwiderte ich und schaute auf die Uhr. Es war bereits vier Uhr am Nachmittag. Ich würde noch einiges vorzubereiten haben. „Nun muss ich aber los.“

„Wenn Sie Mister Holmes sehen, dann schimpfen Sie ihn für mich tüchtig aus“, sagte Mrs Hudson. Die roten Flecken auf ihrem Gesicht waren einem grimmigen Ausdruck gewichen. „Er wird mich noch ins Grab bringen.“

„Uns alle, Misses Hudson … uns alle.“

Ich ging zur Tür und stockte. Plötzlich wusste ich, weshalb die Briefe auf dem Tisch lagen. Dass Holmes immer diese Spielchen mit mir spielen musste! Ich wartete nur darauf, dass es irgendwann einmal schiefging. Hoffentlich würde dann nicht ein Menschenleben dranhängen. Es würde meinem Freund recht geschehen, wenn ich ihn einmal nicht aus einer prekären Situation retten könnte, die weniger spektakulär als vielmehr pikant wäre. Einmal rettete ich ihn, als er in Unterwäsche einem Mob Tänzerinnen aus einem Nachtclub zu entkommen versuchte. Was wäre geschehen, wenn ich nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen wäre? Seufzend legte ich den Gedanken an jene Begebenheit zur Seite. Es würde Jahre dauern, bis ich von diesem Fall berichten durfte, weil alle beteiligten Personen noch lebten und mächtig genug waren, um mich wegen Verleumdung vor den Richter zu bringen.

Ich nahm zwei Stufen auf einmal, riss einen Zettel von einem Notizblock und schrieb mir die Adresse von Holmes’ Brieffreund auf. Nun war ich gerüstet, wenn man einmal davon absah, dass ich nach meiner langen Reise kaum frische Kleidung hatte. Doch mein Freund brauchte mich offenbar, und ich würde ihn nicht im Stich lassen.

Kapitel 1

 

Zielstrebig humpelte der grauhaarige, vollbärtige Mann zur frühen Abendstunde durch die Straßen. Mit seiner blassen Haut und seinem gebeugten Gang wirkte er verbraucht und harmlos. Die Pfeife in seinem Mund war kalt. Die Kleidung, die er trug, musste einmal eine Farbe besessen haben. Nun jedoch war sie ausgebleicht und mindestens zwei Nummern zu groß, geradeso, als habe er sie über eine Spende der Heilsarmee erstanden. Hatten die Passanten anfangs noch einen Bogen um seine Gestalt gemacht, so wurde der alte Mann, je näher er dem Hafen kam, kaum noch wahrgenommen.

Der heiße Augusttag hatte in Hamburg Spuren hinterlassen. Die warme, in den Straßen gestaute Luft vermischte sich zum Hafen hin mit dem Gestank der ärmeren Viertel und erschwerte das Atmen. Das war nichts für empfindliche Nasen, doch dem Alten, der unbeirrt weiter seinen Weg entlanghumpelte, schien das nichts auszumachen.

Er kam in einen Stadtteil, der von engen Gassen und verwinkelten Höfen beherrscht wurde. Die Leute hier waren so ähnlich angezogen wie er selbst. Sie hatten meistens keine Schuhe an und nicht wenige starrten vor Dreck und stanken nach Schweiß und Unrat. Kinder hetzten johlend zwischen den Erwachsenen umher. Hier brauchten sie keine Angst davor zu haben, von einem Fuhrwerk oder einer Droschke an- oder gar überfahren zu werden. Beides würde in diese Gassen nicht hineinpassen.

Das Geschrei mehrerer Babys drang durch die geöffneten Fenster, während alte Gesichter aus gegerbter Haut scheinbar teilnahmslos auf die Straße starrten. Hin und wieder zog sich ein Fleet durch das Viertel, an dem Frauen ihre Wäsche auswrangen, Kinder badeten und Männer nach der anstrengenden Arbeit im Hafen saßen, sich unterhielten und ab und zu mit der hohlen Hand einen Schluck Wasser für sich schöpften.

Direkt am Hafen war die Gegend etwas sauberer. Aus dem ersten Stock eines Hauses hörte man die Unterhaltungen von Männern mit teils fröhlicher, teils aufgebrachter Laune. Eine steile Außentreppe aus Holz, deren Geländer an einigen Stellen notdürftig geflickt war, führte nach oben. Als Betrunkener war man gut beraten, sich eher an der Hauswand abzustützen als an dem fragilen Gebilde aus Pfosten und Brettern.

Der Alte arbeitete sich trotz seiner Behinderung Stufe für Stufe hinauf und verharrte dann mehrere Sekunden lang schwer atmend in der Tür, die ebenso wie die Fenster weit offen stand, um die stickige, heiße Luft im Inneren des Gastraums mit einem ständigen Durchzug zu verbessern. Es gelang nicht. Hier oben, direkt unter dem Dach, herrschte eine wahre Gluthitze.

Die Wirtschaft bestand aus einem langen Gang mit einer Anrichte in der Mitte, vor der ein mächtiger glatzköpfiger Kerl stand. In der einen Hand hielt er eine Flasche, während er mit der anderen gestikulierte.

„Du kriegst nichts mehr. Zuerst bezahlst du deine Schulden, dann gibt es wieder was.“

Sein Gegenüber war ein schmächtiger Bursche mittleren Alters. Er sah abgerissener aus als die meisten anderen, die der Neuankömmling in der letzten halbe Stunde zu Gesicht bekommen hatte. Seine Haare und sein Bart wuchsen wild und ungehemmt und waren wahrscheinlich seit Jahren nicht mehr ordentlich gepflegt worden.

„Bitte, Herbert, nur einen kleinen Schluck … von deinem Billigen. Ich zahle es bestimmt zurück.“

„Mach dich weg, Kuddel! Ich will dich heute nicht mehr sehen.“

Der Abgewiesene ließ ein paar deftige Beleidigungen vom Stapel. Die anderen sieben Männer, die an dem einzigen Tisch saßen oder an die Wand angelehnt standen, lachten und grölten. So wurde der Alte nicht beachtet, bis er bei den beiden Streithähnen stand und dem Wirt eine Münze zuwarf, die dieser in einem Reflex auffing.

„Reicht das für eine Flasche von deinem guten Korn?“, fragte der Mann in akzentfreiem Hochdeutsch.

Erst jetzt musterte der Wirt den bärtigen Fremden und bedeutete Kuddel mit einer Handbewegung, die Klappe zu halten.

„Was bist du denn für einer?“

„Ich bin jemand, der durstig ist und Gesellschaft sucht.“ Bei den letzten Worten sah er Kuddel in die Augen.

„Siehst du, Herbert, das ist ein anständiger Mensch“, meinte Kuddel, der offensichtlich sofort verstanden hatte. „Nun rück schon die Flasche und zwei Gläser raus.“

Der Wirt betrachtete noch einmal eingehend das Geldstück. Er schien sich erst jetzt bewusst zu werden, dass der Fremde mindestens den doppelten Preis zahlte, und wandte sich zu seiner Anrichte. Kurz darauf reichte er dem Alten Flasche und Gläser. Kuddel war schnell und grapschte sofort danach.

„Komm, wir setzen uns auf die Treppe. Dort sind die Luft und die Gesellschaft besser“, meinte Kuddel und wurde prompt von den anderen Gästen, die das mitbekommen hatten, als Torfkopp und Dibberbüdel beschimpft.

Kuddel und der Alte setzten sich auf halber Höhe der Treppe auf die Stufen. Der Fremde hielt die Gläser hoch, Kuddel schenkte ein. Sie stießen an und tranken. Kuddel schenkte gleich wieder nach und kippte sich den zweiten und auch den dritten Schluck hinter die Binde.

„So, nun sag, was du von mir willst. Und nur damit du’s gleich weißt: Krumme Sachen sind mit mir nicht drin.“

Der Fremde lächelte und war sichtlich erfreut über den scheinbar wachen Geist, der in dem Trunkenbold steckte.

„Du siehst mir aus wie einer, der ganz genau weiß, was hier im Hafen abläuft.“

„Da hast du verdammt noch eins recht. Ich lebe seit meiner Geburt im Hafen, habe alles schon erlebt.“ Er lachte meckernd. „Ja, fünfzig Jahre sollten genügen, um sich hier ein bisschen auszukennen.“

„Ich denke, als Tagelöhner hast du schon viele Dinge gesehen, hattest Einblick in Ecken und Winkel, die nicht viele kennen. Stimmt das?“

„Jaja, so ist es.“

„Du hast keine Familie und keine Unterkunft, und deshalb musst du genau wissen, wo man ungestört sein kann, ohne dass man im Schlaf überrascht und ausgeraubt wird.“

Kuddel sah den Alten misstrauisch an. „Woher weißt du das alles?“

„Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass dich ein Eheweib so herumlaufen ließe … selbst in dieser Gegend. Außerdem würde sie dir gelegentlich die Haare und den Bart schneiden.“

„Ja, das ist wohl wahr.“

„Das Messer in deiner Hosentasche zeigt, du bist ein vorsichtiger Mensch.“

„Muss man sein in dieser Gegend, das kannst du mir glauben.“

„Und du bist bekannt wie ein bunter Hund, nicht wahr?“

Kuddel lächelte verlegen. „Wäre seltsam, wenn es anders wäre. Schließlich bin ich schon ein paar Jahre mehr hier im Hafengelände unterwegs als die meisten anderen.“

„Aber du hast keinen Besitz. Warum also solltest du dich des Nachts in dunklen Ecken verbergen und mit einem Messer herumlaufen?“

Kuddel setzte zu einer Antwort an, doch der Fremde sprach weiter.

„Weil du viel weißt. Vielleicht sogar mehr, als so mancher es für nötig erachtet.“

Kuddel lachte wieder, dann verstummte er abrupt und spannte seine Muskeln. Seine Hand wanderte langsam zu der Tasche mit dem Messer. „Woher willst du das wissen? Und was willst du von mir?“

„Alles ist so offensichtlich und liegt wie in einem offenen Buch vor mir. Man muss nur eins und eins zusammenzählen können“, meinte der Fremde und deutete mit dem Kinn zum Messer. „Sei versichert, das ist nicht nötig. Ich bin auf der Suche nach einer alten Jolle. Sie ist rot und hat ein Segel, das ehemals weiß war. Sie ist bestimmt schon zwanzig Jahre alt und trägt den Namen Elbkreuzer. Oder trug ihn, denn jemand hat versucht, die Buchstaben mit einer minderwertigen Farbe zu überstreichen.“

„Natürlich kenn ich die Elbkreuzer. Ist ein ziemlich hochtrabender Name für diese löchrige Nussschale.“

„Hast du eine Ahnung, wo ich das Boot finden kann?“

Kuddel rümpfte die Nase und setzte die Flasche direkt an den Mund. Inzwischen schien ihm klar geworden zu sein, dass der Korn die Bezahlung für seine Auskunft war, also beanspruchte er den Rest des Inhalts für sich.

„Hab sie schon lange nicht mehr gesehen. Gehörte mal einem alten Bekannten von mir, der hat damit immer kleinere Aufträge erledigt … Essbares zu den Arbeitern am Hafen bringen oder mal jemanden über die Fleete schippern.“

„Wie heißt dieser Bekannte?“

„Smutje nannten ihn alle. Ist bestimmt schon acht oder zehn Jahre tot.“

„Und danach?“

„Jetzt steht die Jolle in einem alten Schuppen. Ab und zu leiht sich einer mal das Ding aus. Gehört ja niemandem mehr. Und jeder bringt es brav wieder zurück. Ist wie ein Gemeinschaftseigentum.“

„Wo steht der Schuppen?“

„Nicht weit von hier.“

„Bring mich hin.“

„Hör mal!“, rief eine raue Stimme von unten. „Nun ist es aber genug mit der Fragerei.“

Der Alte und Kuddel wandten sich um und schauten hinunter auf sechs kräftige Kerle und eine schmächtigere Gestalt, die sich trotz der Hitze von Kopf bis Fuß in eine Decke gehüllt hatte, sodass man von ihr fast nichts sehen konnte.

„Komm runter!“

Kuddel stand auf.

„Nicht du. Der andere.“

Der Angesprochene erhob sich und humpelte langsam die Stufen hinab. Unten angekommen, umringten ihn die Burschen sofort. Nur der Schmale hielt sich zurück.

„Darf ich fragen, was ihr wollt?“, fragte der alte Mann und drehte sich im Kreis, um die Kerle möglichst alle zu beobachten. Ein Blick nach oben verriet ihm, dass Kuddel inzwischen das Weite gesucht hatte. Er musste sehr schnell gerannt sein, denn seine Gestalt kam soeben hinter dem Haus hervor und lief in eine andere Straße. Also hatte die Gastwirtschaft einen weiteren Ausgang.

Einer der Burschen trat nach vorn und wollte ihn packen, doch der Alte versetzte ihm einen gezielten Hieb auf den Solarplexus, sodass der Angreifer bewusstlos zusammensackte. Dann nahm er sein Halstuch ab und wickelte es in Sekundenschnelle um seine rechte Hand. Ein zweiter Kerl kam auf ihn zu; er war derjenige mit der größten Körpermasse und offensichtlich gewohnt, seine Gegner mit wildem Geschrei und fuchtelnden Armen umzurennen.

Der Lärm hatte die Gäste der Wirtschaft im oberen Stock und ein paar Leute auf der anderen Straßenseite hervorgelockt. Irgendjemand wollte Wetten abschließen, doch darauf reagierte keiner. Die Machtverhältnisse waren einfach zu deutlich.

Plötzlich bewegte sich der Alte im Gegensatz zu seinem bisherigen Gebaren flink und geschmeidig. Er unterlief seinen Gegner und rammte ihm wie jemand, der sich im Boxen auskannte, die Faust dorthin, wo im Allgemeinen die Niere zu sitzen pflegt. Als der Kerl vor Schmerzen schreiend und mit dem Gesicht voran auf dem Boden landete, gingen auch die restlichen vier Schläger auf ihr Opfer los.

 

Er erwachte, weil sein Kopf immer wieder gegen etwas Hartes stieß. Dunkelheit umgab ihn. Der falsche Bart kratzte an seinem Hals, Schweiß lief ihm über das Gesicht, verschmierte die Schminke und trieb sie in seine Augen. Er war offenbar mit einem langen Seil gefesselt worden. Die Arme lagen eng an den Körper gepresst, die Beine waren ebenfalls verschnürt; lediglich seine Hände konnte er ein wenig bewegen. Der Knebel in seinem Mund war mit einem Strick befestigt, und der Knoten befand sich an seinem Hinterkopf.

Panik drohte ihm beinahe den Verstand zu rauben, als ihm bewusst wurde, dass er sich in einer Kiste, vielleicht sogar in einem Sarg befand und offensichtlich getragen wurde. Er spürte, wie seine Nasenflügel bebten, und sein Atem ging so schnell, als hätte er gerade einen Zehn-Meilen-Lauf hinter sich gebracht. Bevor jedoch die Angst Oberhand gewinnen konnte, schaltete sich sein Verstand ein wie elektrisches Licht nach Betätigung eines Schalters. Hunger und Durst schob er in den Hintergrund; diese Bedürfnisse waren nur hinderlich und lenkten ihn ab. Er musste seine geistige Kraft beisammenhalten.

Sechs Schläger waren letztendlich für ihn doch zu viel gewesen. Er hatte bei einem der Angreifer noch einen harten Treffer landen können, hatte das Knacken, als eine der Rippen brach, deutlich gehört und gleichzeitig gespürt, wie der Knochen unter seiner Faust nachgab. Dann jedoch hatten ihn zwei seiner Gegner links und rechts gepackt und festgehalten, während ihm der letzte eine Reihe von brutalen Schlägen in den Bauch verpasst hatte. Eine Gegenwehr war nicht mehr möglich gewesen – und damit endeten seine Erinnerungen.

Das Atmen fiel ihm schwer. An jenen Stellen, die am heftigsten schmerzten, vermutete er blaue Flecke, möglicherweise auch eine Rippenverletzung. Das dumpfe Stampfen in seinem Kopf und an der rechten Schläfe ließ darüber hinaus den Schluss zu, dass ihn der entscheidende Treffer ebendort getroffen hatte. Seine Armbeuge fühlte sich taub an und auch seine Zunge war dick und ungewöhnlich schwer. Dazu kam das dumpfe Gefühl, mindestens einen ganzen Tag verschlafen zu haben.

Die Sache schien klar: Man hatte ihm ein Narkotikum verabreicht und ihn damit stillgelegt. Und nun schaffte man ihn irgendwohin. Doch warum hatten ihn diese Leute nicht einfach an Ort und Stelle getötet und ins Hafenbecken geworfen? Die Tatsache, dass er in dieser Kiste lag, zeigte, dass man ihn zwar loswerden, sich dabei aber nicht die Finger schmutzig machen wollte. Wer immer das Sagen hatte, war kein Waisenknabe, aber auch kein kaltblütiger Mörder. Das war eine wertvolle Information.

Er konzentrierte sich, um seinen Atem zu beruhigen, und horchte in die Dunkelheit hinein. Ganz klar drang das Klappern von Pferdehufen an sein Ohr. Die schaukelnde Bewegung war regelmäßig, also wurde er mit einem Wagen über Straßenpflaster gekarrt. Was konnte er tun? Die Aussicht, sich selbst zu befreien, war gering, und er vermochte weder durch Rufen noch durch Klopfen auf sich aufmerksam zu machen.

Mit den Fingern tastete er das raue Holz ab. Die Bretter waren nicht gehobelt, es handelte sich also um eine Kiste, nicht um einen Sarg. Da, richtig! Er konnte den Fingernagel in eine Rille stecken. Offenbar hatten sie sich keine große Mühe für ihn gegeben und die Bretter nur notdürftig zusammengezimmert, weil eine sorgfältigere Arbeit aus Sicht dieses zwielichtigen Gesindels wohl nicht notwendig erschien.

Durch ein paar Bewegungen konnte er sein rechtes Handgelenk, über dem sich das Seil straffte, leidlich befreien und die Hand in die Hosentasche schieben. Er bekam zu fassen, was er als seine letzte und einzige Rettung ansah – und die Aussicht darauf war dürftig genug. Doch er musste warten, bis sie stehen blieben.

Er musste sicher sein, dass man ihn finden konnte.

Kapitel 2

 

Hamburg begrüßte mich mit noch heißerem Wetter als London. Ich lockerte meinen Kragen und fragte mich, was mich hier wohl erwarten mochte. Eine ganze Weile fuhr unser Schiff die Elbe hoch, und so erhielt ich einen kleinen Eindruck von Deutschlands Norden: flache Landschaft, reich an Kühen und Schafen.

Weil alles sehr schnell und unvorbereitet gegangen war, musste ich schließlich in einer Wechselstube meine geliebten Pfund Sterling in deutsche Mark und Pfennige umtauschen, damit ich den hiesigen Preisen gerecht werden konnte. Vielleicht hätte auch ein Kutscher meine Heimatwährung entgegengenommen, mich dabei möglicherweise aber übervorteilt.

Während der Überfahrt hatte mich die Sorge darüber, dass ich vielleicht die Briefe doch hätte lesen sollen, beinahe wahnsinnig gemacht, aber nun war es zu spät, hier noch etwas zu korrigieren. Ja, manchmal hatte ich es wahrhaftig nicht leicht mit meinem Sherlock Holmes.

 

Nachdem ich von Bord gegangen war, fand ich einen Kutscher, der die Adresse kannte, zu der ich wollte. Er setzte mich vor einem großen Haus in der Nähe der Alster ab. Das Gebäude hatte einen nahezu quadratischen Grundriss, ein hohes Erdgeschoss und drei weitere Stockwerke. Man konnte es zu drei Seiten umlaufen. An den beiden hinteren Ecken erhoben sich über das flache Dach hinaus kleine Türme, die in angedeuteten mittelalterlichen Wehrgängen endeten. Dieses Haus wäre mit seiner Bauweise in meiner Heimat außerhalb Londons nicht aufgefallen. Es wäre im Besitz irgendeines Landadels gewesen und hätte sich perfekt in die Cotswold Hills eingefügt. Doch hier, in einer deutschen Stadt, wirkte es einfach nur protzig, trotz der Nähe zum Alstersee, wo noch weitere pompöse Gebäude standen. Sollte ich mich in der Adresse nicht geirrt haben, so hatte Sherlock Holmes einen sehr vermögenden Brieffreund.

Das Haus verfügte über eine elektrische Klingel. Ich musste nicht lange warten, bis sich eine junge Frau an der Tür blicken ließ. Sie trug ein Häubchen auf dem Kopf und eine Schürze um den Leib. Ich musste kein Meisterdetektiv sein, um in ihr eine Bedienstete des Hausherrn zu erkennen. Sie schien jedoch ein gutes Gespür für Menschen zu haben, denn sie fragte mich in englischer Sprache: „Sie wünschen?“

Ich zog meinen Hut. „Mein Name ist Doktor John Watson. Ich möchte zu Mister Jasper und zu seinem Gast, Mister Sherlock Holmes.“

„Sind Sie avisiert?“

„Ich werde erwartet.“

Offenbar machte ich Eindruck genug bei ihr, sodass sie mich einließ und in das Vestibül führte. Die Wände waren mit dunklem Holz vertäfelt. In künstlichen Mauernischen standen prächtige Vasen, womöglich antik. Sie waren mit Lotosblüten, Bambus, chinesischen Schriftzeichen und Szenen dieser fremden fernöstlichen Kultur bemalt. Von der Decke hing ein vielarmiger Kronleuchter, der mir eine Spur zu überdimensioniert schien. Der dicke Teppich brachte mich fast zum Stolpern. Es machte beinahe schon Mühe, den Fuß für den nächsten Schritt aus dem dichten Gewebe wieder herauszuziehen, und im ersten Moment erschrak ich darüber. Man muss sich wohl zumindest ein Mal durch eines unserer englischen Moore bewegt haben, um dies zu verstehen.

Rechts von uns befand sich eine Treppe. Ich konnte einen Blick zum Flur erhaschen, von dem einige Türen abgingen. Ab dem nächsten Stockwerk führte ein Rundgang zu den einzelnen Zimmern. Nach oben hin war der Blick frei bis zum Dach, und darüber konnte man bis zum Himmel hinaufsehen. So eine gewagte Konstruktion hatte ich bei einem Wohnhaus bisher noch nicht bewundern können. In Gedanken zollte ich dem Architekten meinen Respekt.

Das Dienstmädchen führte mich in die erste Etage und dort direkt in einen Salon, der sich über dem Vestibül befand und dessen Wände von großformatigen Gemälden dominiert wurden.

„Bitte, setzen Sie sich“, sagte die junge Frau und deutete auf eine Sitzgruppe, die aus mehreren Sesseln und einem Sofa bestand. „Ich werde Mister Jasper darüber benachrichtigen, dass Sie hier sind.“

Ich nickte nur und wandte mich interessiert den Bildern zu. Sie waren prächtig und farbenfroh, zeigten fremdländische Szenen, diesmal allerdings nicht aus China, sondern hauptsächlich aus Indien. Ich sah eine Witwenverbrennung, die durch heranstürmende englische Truppen vereitelt wurde, eine Tempelanlage mit sieben Pagoden, eine Tigerjagd und weitere tier- und blütenreiche Szenen aus dem Dschungel. Wahrscheinlich hatte Henry Jasper eine Vergangenheit auf dem asiatischen Subkontinent. Ich dachte daran, womit ich wohl bei einer entsprechenden Begeisterung in meinem Salon aufzuwarten hätte: öde Landstriche einer afghanischen Hochebene, primitive Dörfer in der Steppe, Berghöhlen. All das wäre nicht dazu angetan, einen gesellschaftlichen Raum wie diesen zu schmücken.

„Doktor Watson!“, rief eine männliche Stimme in meinem Rücken. „Gott sei Dank, dass Sie da sind! Er ist weg.“

Ich stutzte. Den gleichen Satz hatte ich erst vor ein paar Tagen von Mrs Hudson gehört. Langsam drehte ich mich um und erblickte einen stattlichen Herrn in einem dunklen Anzug. Er mochte die fünfzig knapp überschritten haben. Seine Haut war sonnengebräunt, die grauschwarzen Haare waren streng nach hinten gekämmt. Seine kräftigen Hände konnten ordentlich zupacken, das spürte ich bereits an seinem Händedruck. Seine blauen Augen blickten mich offen und besorgt an.

„Ich nehme an, ich habe das Vergnügen mit Mister Jasper“, sagte ich.

„Ja. Entschuldigen Sie, doch ich bin in großer Sorge um unseren gemeinsamen Freund Sherlock Holmes.“

Wollte das denn kein Ende nehmen? Ich war neugierig darauf, zu erfahren, was geschehen war, doch es hatte bereits zu häufig unbegründet Anlass zur Sorge gegeben. So verfiel ich erst einmal nicht in Panik, registrierte allerdings etwas befremdet, dass mir weder ein Sitzplatz noch ein Brandy angeboten wurde.

„Was ist denn geschehen?“, fragte ich.

„Er war einfach weg. Noch vor dem Dinner unterhielten wir uns in meiner Bibliothek, dann bat er mich, ihn zu entschuldigen. Zum Essen erschien er nicht. Seit diesem Zeitpunkt ist er verschwunden.“

„Soso“, sagte ich und überlegte. Da heute der Lunch und allenfalls der Fünf-Uhr-Tee gereicht worden waren, musste sich das Beschriebene gestern zugetragen haben. Dabei wurde mir bewusst, dass ich außer einem nicht sehr üppigen Frühstück noch nichts gegessen hatte.

„Also ist er noch keine vierundzwanzig Stunden weg. Das ist gar nichts, mein lieber Mister Jasper. Alles unter drei Tagen ist nicht von Bedeutung.“

„Sie irren, Doktor Watson. Es sind schon fast zwei volle Tage vergangen.“ Wie um sicherzugehen, schaute er auf die Uhr. Es war kurz vor sechs am Abend.

Auch zwei Tage ungeklärter Abwesenheit waren bei meinem Freund noch keine Besonderheit, aber nach dieser Information gesellte sich zu meinem Hungergefühl dann doch eine gewisse Unruhe. „Weshalb könnte er denn weggegangen sein?“

„Es hängt vermutlich mit meiner Tochter zusammen“, sagte Jasper.

„Mit Ihrer Tochter? Ist sie denn auch weg?“

„Ja“, kam es kleinlaut über die Lippen des Hausherrn.

Ich unterdrückte ein Schmunzeln. Der Gedanke, Holmes könnte mit der Tochter seines Brieffreundes durchgebrannt sein, war zwar amüsant, aber in keiner Weise realistisch.

„Alice ist … entführt worden.“

Ein überraschtes „Ach?“ war alles, was ich in diesem Moment herausbrachte. Ohne auf das Angebot zum Hinsetzen zu warten, ließ ich mich nun in einen der Sessel fallen und bat mein Gegenüber: „Erzählen Sie mir mehr. Von Anfang an … und lassen Sie nichts aus.“

Henry Jasper nahm mir gegenüber Platz und sackte in seinem Sessel förmlich zusammen. Es schien, als würde ihn das Möbelstück verschlucken. Die Hand, die er an die Stirn gepresst hielt, während er redete, verdeckte die obere Hälfte seines Gesichtes, und so schaute ich also auf seinen Mund.

„Alice …“, hauchte er, verzog in seiner Verbitterung die Lippen und machte eine Pause.

Ich konnte ihm die Erinnerung an seine augenscheinlich vertrackte Situation nicht ersparen. Immerhin musste ich wissen, was los war.

„Alice“, wiederholte Jasper. „Sie ist alles, was ich noch habe, müssen Sie wissen.“

Ich nickte und wurde mir erst bewusst, dass er das nicht sehen konnte, als er bereits weitersprach.

„Vor zehn Tagen kam sie nicht von einem Spaziergang zurück. Dabei wollte sie nur für ihre Freundin und sich Limonade kaufen.“

„Die Mädchen trennten sich?“

„Ja. Fräulein Bluhm verlor meine Tochter aus den Augen. Der Andrang an dem Stand war sehr groß.“ Er zuckte mit den Schultern. „Die Hitze, wissen Sie?“

Ich konnte es mir vorstellen. Auch heute war das Wetter unangenehm heiß.

„Wie alt ist Ihre Tochter?“

„Neunzehn.“

„Was ist sie für ein Mensch?“

Jasper nahm die Hand von seinem Gesicht und schaute mich durchdringend an. „Sie fragen nach ihrem Charakter? Er ist tadellos. Alice kommt ganz nach ihrer Mutter, wofür ich sehr dankbar bin. Sie ist eine bescheidene junge Frau, zeigt kaum jemals Temperamentausbrüche. Sie spielt Klavier und hat sogar einige kleinere Stücke komponiert. Sie ist das bravste Kind der Welt.“

Das ist wohl die Meinung der meisten Väter, dachte ich. Wahrscheinlich trug Alice Jasper in der Vorstellung ihres Vaters ein oder zwei Heiligenscheine mehr als in Wirklichkeit.

„Am liebsten geht sie in den Zoologischen Garten am Dammtor“, fuhr er fort. „Dort ist es auch passiert.“

„Was können Sie mir über Fräulein Bluhm sagen?“

„Fräulein Bluhm … Lore … Dieses Mädchen ist aus mir unverständlichen Gründen Alices beste und einzige Freundin. Sie stammt aus weniger begüterten Verhältnissen als wir … na ja, ist ja keine Schande“, ergänzte Henry Jasper gönnerhaft.

Mir gab diese Bemerkung einen kleinen Stich, denn auch meine persönlichen Verhältnisse waren nicht gerade als üppig zu bezeichnen.

„Außer ihrer Vorliebe für den Zoo haben die beiden keine Gemeinsamkeiten, die ich erkennen kann. Soweit ich weiß, soll Fräulein Bluhm demnächst als Kindermädchen fortgehen.“

„Wie hat der Entführer mit Ihnen Kontakt aufgenommen?“

„Noch bevor Alices Fehlen überhaupt bemerkt wurde, erhielt ich einen Brief. Ich saß gerade in meinem Büro, als er abgegeben wurde.“

„Von wem?“

„Das hat mich unser gemeinsamer Freund bereits gefragt. Ich weiß es nicht, und Thea, unser Hausmädchen, erinnert sich nur an einen Jungen, der als Bote fungierte. Der Bursche war angeblich so schnell wieder fort, wie er gekommen war.“

„Darf ich den Brief sehen?“

„Oh, Sie dürfen gern einen Blick in alle Briefe werfen.“

„In alle? Es gibt mehrere?“

„Oh ja.“

War Jaspers Stimmung durch die Erzählung wieder etwas aufgelebt, so sackte sie nun spürbar auf einen neuerlichen Tiefpunkt hinab. Er griff in die Innentasche seiner Jacke und zog vier Umschläge hervor, die er mir reichte.

„War es jedes Mal derselbe Bote, der sie brachte?“

„Ja.“

„In welcher Reihenfolge sind die Briefe angekommen?“

„Der erste liegt obenauf.“

Ich runzelte die Stirn. Der Brief war in gebrochenem Englisch verfasst, als wollte der Entführer Rücksicht auf die Herkunft der Jaspers nehmen. In krakeligen Buchstaben stand da: Geben 10.000 Mark für Leben Tochter. Am Donnerstag um sechs in der Früh. Werfen Geld gut eingepackt auf Jolle rote Farbe von Holzbrücke bei Hopfenmarkt. Kein Polizei

Ich hielt den Brief hoch und fragte: „Sind Sie den Anweisungen gefolgt?“

„Selbstverständlich.“

„Was haben Sie von der Jolle gesehen?“

Jasper zuckte mit den Schultern. „Sie war rot, hatte ein schmutziges, ehemals weißes Segel. Der Mast war umgelegt. Am Ruder saß eine dunkel gekleidete Gestalt.“

„Hat die Gestalt nach oben geschaut?“

„Nichts hat sie gemacht, gar nichts. Für einen Moment war ich unsicher, ob ich die richtige Jolle erwischt hatte. Aber jeder andere hätte verwundert nach oben gesehen, als ich das Geld hineinwarf, also musste es die richtige sein.“

Ich nickte. „Ganz recht.“

Der zweite Brief war schon etwas unverschämter: Gut gewesen. Nochmal 10.000 Mark. Morgen. Selbe Zeit, selber Ort. Geht um Leben von Tochter!

„Dieser Brief erreichte mich am selben Tag zur Mittagszeit.“

„Es war kein Problem für Sie, diese Summen so schnell bereit zu haben?“

Henry Jasper zuckte mit den Schultern, was von „Nein“ bis „Das geht Sie nichts an“ alles heißen konnte.

Die anderen beiden Briefe waren im Hinblick auf den Inhalt und das Aussehen ähnlich. Da hatte jemand eine scheinbar unerschöpfliche Quelle ausgemacht und versuchte auszuloten, wie weit er gehen konnte.

„Und wann kam Mister Holmes hinzu?“, fragte ich.

„Ich telegrafierte ihm gleich nach dem ersten Brief. Leider war er nicht sofort abkömmlich. Natürlich erwähnte ich die Entführung nicht in meinem Telegramm, sondern bat ihn nur eindringlich zu kommen. Wer weiß schon, welche Burschen auf dem Amt arbeiten und Informationen weitertragen, obwohl sie es nicht dürfen.“

Ich nickte und konnte seine Bedenken durchaus nachvollziehen. Immerhin schien er allein aufgrund seines Reichtums in dieser Stadt eine bedeutende Persönlichkeit zu sein.

„Deshalb schrieb ich einen Brief, in dem ich ihm meine Lage auseinandersetzte. Rechtzeitig vor der nächsten Geldforderung traf er ein und übernahm es selbst, das Bündel von der Brücke zu werfen.“

„Wann genau war das?“

„Am Tag, an dem er verschwand. Und nun ist schon wieder ein Brief eingegangen. Diesmal werden einhunderttausend gefordert.“

„Der Entführer hat gelernt, dass es Ihnen offensichtlich keine Probleme bereitet, in kurzer Zeit viel Geld aufzutreiben.“

„Ach, wenn doch nur meiner Alice nichts geschieht!“

Es gefiel mir gar nicht, dass der oder die Entführer den Freund meines Freundes derart in der Mangel hatten. Allein wenn ich das Haus betrachtete, so war zu erwarten, dass Henry Jasper sich noch um einige hunderttausend Mark auspressen ließ.

„Was sollen wir nur tun?“, fragte er.

Auch wenn Holmes der Meisterdetektiv war, so hatte ich immerhin so manchen seiner Fälle gemeinsam mit ihm bestritten. Es sollte mir also etwas einfallen. Allein, je mehr ich darüber nachdachte, desto hilfloser fühlte ich mich.

„Ich nehme an, Mister Holmes hat ein Zimmer bei Ihnen?“

„Ja. Und ich werde selbstverständlich auch für Sie eines vorbereiten lassen.“

Ich neigte dankend den Kopf. „Das ist sehr freundlich. Würden Sie mir bitte Holmes’ Quartier zeigen? Vielleicht finde ich einen Anhaltspunkt, wo er sich aufhalten könnte.“

Jasper sprang auf. „Eine gute Idee!“, rief er aus, sichtlich erfreut, dass es endlich etwas für ihn zu tun gab, und war schon an der Tür, bevor ich mich noch von meinem Platz erhoben hatte.

Der Hausherr führte mich ein weiteres Stockwerk nach oben, deutete auf eine Tür und erklärte: „Hier ist unser gemeinsamer Freund untergebracht. Sie können gern das Zimmer daneben haben.“

Die Tür war nicht verschlossen, und ich konnte ungehindert eintreten. Ich staunte. Wenn mein Zimmer ähnlich eingerichtet war, dann würde ich mich in den nächsten Tagen sicherlich sehr wohl fühlen.

Das Thema dieses Raums war eindeutig der afrikanische Kontinent. Um das herauszulesen, musste man nicht Sherlock Holmes heißen. Die Möbel waren aus dunklem Holz gefertigt und in ihrer Schlichtheit beeindruckend elegant. Ein Leopardenfell und eine Decke mit Zebrastreifen schmückten die mit Seidentapeten bestückten Wände. Auf der Kommode lagen aus Elfenbein geschnitzte Kunstwerke, Szenen aus der Savanne British-Ostafrikas. Ein großes Bild über dem Bett zeigte das Leben in einem Negerkral.

Nachdem ich alles ausgiebig bewundert hatte, war ich natürlich schon sehr gespannt auf die Einrichtung in meinem Zimmer. Doch zuallererst galt es, einen Hinweis auf Holmes’ Verbleib zu finden.

Im rechten Winkel zum Fenster stand ein Sekretär. Leider fand sich hier weder eine Nachricht noch ein sonstiger Anhaltspunkt. Alles war ordentlich aufgeräumt. Auch in den Schubladen war nichts anderes als leeres Briefpapier und Umschläge zu finden. Im Kleiderschrank fand ich die Anzüge des Detektivs ordentlich aufgehängt. Es war mir unangenehm, wie ein Einbrecher auf der Suche nach wertvollen Gegenständen alles zu durchwühlen, doch schließlich wollte ich nichts anderes, als meinem Freund helfen.

Ich war gerade dabei, die Schranktür wieder zu schließen, als ich innehielt und mich bückte. Auf dem Boden stand eine kleine Kiste, die Holmes gehörte und mir wohlbekannt war. Ja, ich hatte richtig gesehen – am Verschluss waren Rückstände von Puder und ein Fingerabdruck zu erkennen. Da Holmes mit seinen Ermittlungsutensilien üblicherweise besonders sorgfältig umging, musste diese Verschmutzung relativ neu sein.

Ich hob die Kiste aus dem Schrank und stellte sie auf den Sekretär.

„Haben Sie etwas gefunden, Doktor Watson?“

„Ich denke schon“, erwiderte ich. „Und ich glaube, der Meisterdetektiv wäre stolz auf mich, dass ich dieses Indiz nicht übersehen habe.“

„Worum handelt es sich?“

„In dieser Kiste bewahrt Holmes seine Schminksachen auf.“

„Seine … was? Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, unser gemeinsamer Freund malt sich heimlich weibisch an und betrachtet sich danach im Spiegel?“

„Nicht ganz. Er malt sich an und geht sogar aus. Allerdings schminkt er sich nicht weibisch … zumindest meistens nicht. Es ist Teil seiner Verkleidungen. Wie ein Schauspieler im Theater wandelt er so unerkannt im wirklichen Leben herum und geht auf die Jagd nach Verbrechern. Und genau das macht er seit fast zwei Tagen, wie mir scheint.“

„Ohne jemandem Bescheid zu sagen? Er begibt sich doch in große Gefahr.“

„Oh ja, so etwas macht er ständig. Ich könnte mir denken, er ist im Hafenviertel unterwegs, auf der Suche nach der Jolle des Entführers.“

„Das Hafenviertel ist groß. Wir werden ihn nie finden.“

„Dann können wir nur hoffen, dass er von selbst wiederkommt …“

Kapitel 3

 

Wir hatten mittlerweile das Dinner hinter uns gebracht, und genau das war die richtige Umschreibung. Von der ausgezeichneten Kräutersuppe hatte ich nur drei Löffel genommen, lediglich ein schmales Stück Fleisch und eine Blumenkohlrose schmückten meinen Teller. Trotz meines Hungers verging mir mit jeder Minute, die ich meinen Freund vermisste, immer mehr der Appetit. Auch London hatte ein Hafenviertel und an einigen Stellen war es ziemlich berüchtigt. Mehr als einmal hatte sich Holmes dort herumgetrieben, nachts, allein und ohne meine Rückendeckung, doch ich hatte ihn immer wohlbehalten zurückbekommen. Mit den Hamburger Gegebenheiten allerdings war der Detektiv nicht vertraut – und ich noch weniger. Ich kannte nicht einmal einschlägige Spelunken, in denen ich mich unter einem Decknamen nach ihm hätte erkundigen können, wie es in meiner Heimatstadt möglich gewesen wäre.

Nun saß ich mit dem Hausherrn in der Bibliothek, in der einen Hand ein Glas Brandy, in der anderen eine frisch importierte Zigarre, wie mir Jasper versicherte. Uns hätte es gut gehen können, doch die Sorge um unseren gemeinsamen Freund belastete uns beide sehr. Jasper stand ein ums andere Mal auf, schritt unruhig im Zimmer umher und schaute immer wieder aus dem Fenster, das zur Straße hinausging.

Plötzlich klingelte es. Wir zuckten beide zusammen, doch während ich noch nach dem Grund für dieses Geräusch suchte, sprang Jasper bereits zur Tür und ins Treppenhaus.

„Wer ist es?“, schrie er. „Mach doch endlich die Tür auf, Thea! … Thea?“

Seine Stimme wurde leiser, während er die Treppe hinunterlief. Ich selbst blieb oben auf der Galerie stehen, als das Hausmädchen endlich öffnete. Henry Jasper sprang wie ein junger Hecht die letzten Stufen hinab und befand sich augenblicklich ebenfalls bei der Tür.

„Wer sind Sie?“, schrie er, griff nach draußen und zerrte den Besucher förmlich ins Haus. „Wo habt ihr Alice hingebracht? Wehe euch, wenn ihr auch nur ein Haar gekrümmt wurde.“

„Mister Jasper!“, rief ich von oben. „Hören Sie auf!“

Überraschenderweise gehorchte er sofort und schleuderte den Fremden gegen die Vertäfelung. Thea hatte sich fest gegen die mittlerweile wieder geschlossene Tür gepresst und starrte ihren Vorgesetzten mit großen Augen an.

Der Besucher blieb geduckt stehen, bis Henry Jasper wieder auf ihn zuging, ihn am Arm packte und hinter sich zur Treppe zog. „Sie kommen mit!“, sagte er bestimmt.

Als sie oben angekommen waren, hatte ich erstmals Gelegenheit, mir den Mann genauer anzuschauen. Ich versuchte dies auf die gleiche Art, wie es Sherlock Holmes getan hätte, auch wenn meinem Freund sicherlich mehr Einzelheiten aufgefallen wären als mir.

Die ärmliche Kleidung des Fremden wies auf einen Menschen niederen Standes hin. Er war hager, aber nicht dürr, also aß er nicht regelmäßig. Zudem erledigte er offensichtlich körperlich anstrengende Arbeit. Ein Teil seiner Zähne fehlte, und ein widerlicher Geruch nach Schweiß und Brackwasser strömte von ihm aus. Ich glaubte, vor mir einen armen Hafenarbeiter zu sehen, einen Tagelöhner.

„Was halten Sie von dieser Kanaille, Doktor Watson?“

Da ich um die exzellente Verkleidungs- und Schauspielkunst des Meisterdetektivs wusste, mit der er auch mich schon einige Male getäuscht hatte, schaute ich mir den Burschen etwas genauer an. Ich vermisste jedoch die große, gebogene Nase, die mein Freund auch mit einem ganzen Topf voll Theaterschminke nicht hätte verbergen können.

„Hören wir uns zuerst einmal an, was er zu sagen hat“, schlug ich vor. „Danach können wir immer noch über ihn richten.“

Der Hausherr brummte unwillig etwas vor sich hin. Dann schob er den Fremden in den Salon, ließ mich wieder eintreten, schloss die Tür und stellte sich mit verschränkten Armen davor. „Also, was willst du?“, blaffte er den Mann an.

Der Angesprochene kramte eine kleine Visitenkarte aus seiner Hosentasche hervor und hielt sie Henry Jasper hin. „Ich habe das hier gefunden“, erwiderte er.

Im Verlauf der Geschichte habe ich den Dialekt der Hamburger ein wenig besser zu verstehen gelernt, aber an jenem Tag waren diese Worte für mich noch ein unverständliches Kauderwelsch. Ich gebe sie also so weiter, wie sie aufgrund der Logik gefallen sein müssen.

Henry Jasper warf einen kurzen Blick auf die Karte und erbleichte. „Wo hast du die her?“

„Ich habe sie beim Sandtorhafen gefunden. Ich dachte, vielleicht ist das wichtig für Sie.“

Holmes’ Brieffreund hielt es nicht mehr an seinem Platz. Unruhig lief er im Raum auf und ab.

„Ja, ja, es ist wichtig.“

„Wichtig genug für einen kleinen Finderlohn?“

Ich sah das schiefe Grinsen des Hafenarbeiters und die halb geöffnete Hand am ausgestreckten Arm, eine Geste, die wohl auf der ganzen Welt unverwechselbar ist.

Jasper packte den Fremden am Kragen und hob ihn hoch, sodass sich dieser auf die Zehenspitzen stellen musste und vor Schreck die Visitenkarte fallen ließ. Ihre Gesichter waren so nah beieinander, dass nicht einmal eine Ausgabe der Morning Post dazwischengepasst hätte.

„Wer sagt mir, dass du keiner von denen bist?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich habe nichts Unrechtes getan, wollte doch nur helfen.“

Ich hob die Karte mit spitzen Fingern auf und las Henry Jaspers Namen und seine Adresse. Die Rückseite war leer.

„Wo hat er diese Karte gefunden?“, fragte ich auf Englisch, weil ich Deutsch nicht besonders gut beherrschte (und hier untertreibe ich).

„Am Hafen“, presste Jasper hervor.

„Ich schlage vor, wir rufen die Polizei. Anschließend soll er uns dort hinführen.“

„Nein, keine Polizei! Wer weiß, was diese Kerle mit meiner Alice anstellen, wenn auch nur einer der Entführer etwas davon bemerkt.“

„Also gut, dann gehen nur wir drei.“

Jasper ließ den Besucher los, der sofort den Weg zum Ausgang suchte.

„Warte!“, sagte der Hausherr auf Deutsch und packte den Hafenarbeiter am Arm. „Du erhältst eine großzügige Belohnung, wenn du uns zum Fundplatz der Karte führst.“

Ich begab mich auf mein Zimmer und holte meinen alten Armeerevolver.

 

Es wirkte sehr befremdlich, mit einer Droschke zum Hafen zu fahren. Wir kamen an Gegenden vorbei, die schlimmer als die Slums in London schienen. Straßen, die wir kreuzten, waren nicht einmal breit genug, dass drei Männer nebeneinander gehen konnten. Die Häuser, aus Backstein und Holz gebaut, waren alt, aber in Schuss gehalten. Kinder rannten barfuß hintereinander her. Aus einigen Häusern klang das Hämmern handwerklicher Arbeit. Kleine Werkstätten – Schuhmacher, Schreiner und Schmiede – wechselten sich mit reinen Wohnhäusern ab; dazwischen gab es immer wieder eine Wirtschaft. Oft wies ein Schild an der Kellertreppe auf den Eingang hin. Einladend wirkte das auf mich allerdings nicht.

Ich musste an den distinguierten Diogenes Club in der Pall Mall denken, wo ich Holmes’ Bruder Mycroft zum ersten Mal begegnet war. Wie sehr unterschied sich doch das dortige Ambiente von diesen armseligen Kellereingängen! Vielleicht war das, was ich in der heutigen Abendstunde zu sehen bekam, auf eine Stufe mit The Mint in Southwark zu stellen, nur dass hier die Häuser in einem besseren Zustand waren. Die Trostlosigkeit und das Elend der Menschen ähnelten jedoch jenem düsteren Ort im Süden Londons.

Völlig in Gedanken versunken, erschreckte mich die Fratze einer alten Frau, die mit einem Geflecht aus dürren Ästen den Gehsteig fegte. Sie wandte sich unserer Droschke zu und verzog ihr runzeliges Gesicht. Als sie dann auch noch mit ihrem zahnlosen Mund meckernd zu lachen begann und den Rumpf nach hinten beugte, bildete sich eine Gänsehaut auf meinem Rücken. Diese Alte wäre sehr gut in einem unserer Spukschlösser im Schottischen aufgehoben gewesen. Dazu passte es, dass die Sonne mittlerweile sehr tief stand und durch die Häuser verdeckt wurde. Und mit jeder Minute, die verstrich, wurde das Zwielicht dunkler.

Jasper starrte den Hafenarbeiter, dessen Namen wir mittlerweile kannten, beinahe unentwegt fest an, als wollte er ihm mithilfe des bösen Blicks die Wahrheit herauslocken. Ich für meinen Teil glaubte Krischan Claasen. Er erzählte uns, er habe ein paar Leute dabei beobachtet, wie sie eine Kiste, die wie ein Sarg aussah, auf ein Schiff beförderten. Ich hoffte, dass sie sich auf diese Weise nicht der Leiche der jungen Frau entledigen wollten.

„Geht das denn nicht schneller?“, rief Jasper aus dem Fenster nach vorn und fühlte zum vielleicht hundertsten Mal nach seinem Revolver, den er eingesteckt hatte.

Im nächsten Moment hörten wir die Peitsche knallen, und unser Gefährt ratterte mit erhöhter Geschwindigkeit über das Straßenpflaster. Zwei Brücken führten uns über Kanäle, die man hier Fleet nannte. Dann folgten ein Markt und wieder eine Brücke. Jaspers Gesicht nahm einen noch finsteren Ausdruck an.

„Hier habe ich das Geld hinuntergeworfen“, sagte er. „Es ist nicht mehr weit.“

Ich nickte nur. Es dauerte nicht mehr lange, dann hatten wir den ersten Teil des Hafens erreicht. Die Droschke ratterte an den Docks entlang, wo Arbeiter hierhin und dorthin liefen. Obwohl es bereits fast dunkel war, wurde noch gearbeitet, wurden Schiffe beladen und entladen. Dies war ein Anblick, den ich von meinem heimischen London gewohnt war. Es war ein regelrechtes Gewusel aus zahllosen Leibern, von denen manche beim Anblick unseres Gefährtes zur Seite sprangen, sich hinter Kisten und Säcken in Sicherheit brachten und drohend die Fäuste schwangen.

Erneut ging es über eine Brücke und ein diesmal größeres Stück Wasser. Jasper hatte wohl bemerkt, dass ich den Kopf reckte, um möglichst viel von den Dampf- und Segelschiffen zu erspähen, die im Hafen majestätisch vor Anker lagen. Zwischendurch glitzerten die trüben Lichter der Stadt.

„Das ist der Binnenhafen“, erklärte er.

Wieder nickte ich, als wüsste ich nun bestens Bescheid.

Wir überquerten eine letzte Brücke, dann rasten wir auf ein beeindruckendes Schauspiel zu. Hausgroße Arme reckten sich nach oben. Irgendwo trat Dampf aus. Einer der Arme neigte sich vornüber wie ein Riese, der sich anschickte, eine Grille im Gras zu betrachten.

„Welche Richtung?“, fragte Jasper.

„Rechts“, antwortete Krischan Claasen. Seine Stimme klang brüchig.

Trotz der beginnenden Finsternis konnte ich im Wageninnern erkennen, wie blass sein Gesicht war. Im Gegensatz zu mir, der ich bereits so einige Rennen im Wettlauf mit der Zeit in Begleitung meines Freundes Sherlock Holmes zu bestreiten hatte, war er so rasante Fahrten wahrscheinlich nicht gewohnt.

Jasper gab den Richtungsbefehl durch die Klappe am vorderen oberen Ende der Kabine an den Droschkenkutscher weiter. Nur Augenblicke später rauschten wir in einem Höllentempo um die Ecke, dass ich fürchtete, der Wagen könnte umkippen. Ich bin mir gewiss, für einen kurzen Moment standen die rechten Räder einen Zoll breit in der Luft.

Eisenbahnwaggons und die herrlich anzusehenden Dampfkräne versperrten uns teilweise den Blick auf die Schiffe. Zur anderen Seite hin befanden sich Schuppen, in denen sich wahrscheinlich riesige Ladungen aus Kisten und Fässern stapelten.

„Wo genau?“

„Das nächste Schiff, gleich dort vorn.“

Jasper gab die Anweisung, die Droschke anzuhalten. Dies geschah so ruckartig, dass ich fast von meinem Sitz gerutscht wäre. Das Pferd wieherte, dann hörte ich das unruhige Klappern seiner Hufe. Ich ahnte nun, was ich die Fahrt über versäumt hatte. Jasper öffnete den Verschlag und packte Krischan Claasen am Hemd, um ihn mit sich hinauszuziehen.

„Warten Sie!“, rief ich. „Wir können nicht so einfach Knall auf Fall drauflosstürzen.“

Aber offensichtlich konnten wir das doch. Meine Worte verhallten unbeachtet, und bevor ich einzuschreiten vermochte, waren die beiden bereits draußen. Ich sprang hinterher und fühlte in meiner Tasche den beruhigenden Griff meines Revolvers.

„Welches Schiff?“, fragte Henry Jasper kurz angebunden. Er war vor Aufregung bereits jetzt außer Puste.

Ich musste aufpassen, dass mir Alices Vater nicht umkippte. Also packte ich ihn mit beiden Händen freundschaftlich, aber bestimmt an der Schulter. Sein Kopf fuhr zu mir herum.

„Langsam, Mister Jasper“, sprach ich in ruhigem Ton. „Wenn wir es überstürzen, ist alles verloren. Wenn wir aber Ruhe bewahren und überlegt handeln, dann besteht gute Hoffnung auf einen wünschenswerten Ausgang unserer Mission.“

„Sie haben recht, Doktor Watson. Gut, dass Sie da sind.“ Seine Haltung entspannte sich. Sein Blick wurde ruhig. „Sie haben die entsprechende Erfahrung, nicht wahr? Wie viele Abenteuer haben Sie mit unserem gemeinsamen Freund erlebt? Wie viele Kriminalfälle haben Sie beide zusammen gelöst?“

„Nun ja, in der Regel war es Sherlock Holmes, der den entscheidenden Einfluss auf den günstigen Ausgang der Ereignisse nahm.“

„Nur keine falsche Bescheidenheit, Doktor Watson. Sherlock hat mir mehr als einmal berichtet, welch unverzichtbare Unterstützung er in Ihnen immer wieder findet.“

Ich spürte, wie meine Haltung aufrechter wurde und mir ohne mein Zutun die Brust schwoll. Hatte Holmes das wirklich gesagt, oder wollte mir Jasper nur Honig ums Maul schmieren? Doch wozu? Ich war ja hier und hilfsbereit. Ich beschloss, nicht weiter darauf einzugehen und mich stattdessen in die nächsten Taten einzubringen.

„Welches Schiff also?“, fragte ich.

Der Hafenarbeiter verstand mich und deutete auf einen mittelgroßen Dampfer, dessen Name spanisch anmutete. Ich erkannte die Flagge, unter der dieses Schiff lief: unten ein roter Balken, oben ungefähr zu zwei Dritteln weiß. Das linke Drittel der oberen Reihe schmückte ein weißer Stern auf blauem Grund. Es bestand kein Zweifel, dies war ein chilenisches Schiff. Falls Sie sich nun fragen sollten, woher ich diese Landesflagge kannte: Ich hatte in den letzten Jahren immer wieder in der Zeitung über Chile gelesen. Vor einigen Jahren hatte es den sogenannten Salpeterkrieg gegeben, dann, vor zwei oder drei Jahren, den Bürgerkrieg. Einmal mehr bewies sich meiner Ansicht nach, dass das unbedingte Studium der Tageszeitung einen Menschen nicht nur für den Augenblick weiterbildete.

„Geben Sie diesem Herrn eine Belohnung“, bat ich Jasper, doch der schüttelte nur den Kopf und entgegnete: „Er bekommt sie erst, wenn wir wissen, dass er die Wahrheit gesagt hat.“

Ich war damit einverstanden, Krischan Claasen offenbar nicht. Er lamentierte so lange, bis mein Begleiter drohte, ihm mit seiner Faust ins Gesicht zu schlagen, sollte er sich nicht fügen.

„Wie gehen wir vor?“, fragte mich Jasper anschließend.

Ich schaute den Kai entlang und antwortete: „Das Schiff ist nicht sehr hoch, aber ich sehe keinen Aufgang. Dort in der Mitte allerdings wäre die Reling erreichbar, wenn wir unbemerkt zwei große Kiste davorstellen könnten.“

Jasper schaute sich intensiv um. Wir befanden uns etwas abseits des übrigen Geschehens hier am Kai, dennoch würde es nicht einfach werden, Kisten vor das Schiff zu schleppen, ohne dabei entdeckt zu werden. Ich schalt mich einen Narren, weil ich so unbekümmert dahergeplappert hatte.

„Kannst du das Ding dort bedienen?“, fragte Jasper den Hafenarbeiter und wies dabei auf einen Kran.

„Ich habe einmal zugesehen.“

„Das ist mehr, als wir darüber wissen. Kannst du den Arm absenken … aber ganz vorsichtig?“

Krischan Claasen zuckte mit den Schultern. „Ich werde es versuchen.“

„Ein Versuch genügt nicht. Es muss klappen. Du bekommst eintausend Mark, wenn du es hinbekommst.“

Der Gesichtsausdruck des Hafenarbeiters veränderte sich schlagartig. Unverhohlen trat seine Gier einen Schritt nach vorn und brachte Glanz in seine Augen. Anstelle einer Antwort kletterte er an dem Aufbau hinauf zum Führerhaus.

„Was haben Sie vor?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort längst kannte.

„Wir müssen irgendwie auf das Schiff gelangen. Sehen Sie einen anderen Weg?“

„Aber die Schiffswache wird uns bemerken.“

„Deshalb müssen wir sie auch überraschen. Kommen Sie mit.“

Jaspers Augen glänzten. Der Tatendrang war in jeder seiner Bewegung zu erkennen. „Ist noch Druck auf dem Kessel?“, rief er zu Krischan Claasen hinauf.

„Ja“, erhielt er zur Antwort. „Dafür wird es reichen.“

„Warte, bis wir oben sind.“ Er wandte mir den Kopf zu und sagte: „Doktor Watson, kommen Sie!“ Dann begann auch er, am Kran emporzuklettern.

Ich blickte mich um. Es war ruhig hier. Weiter stromaufwärts am Hafen, wo gerade ein Schiff beladen wurde, schwenkte der Arm eines anderen Krans zur Seite. Ich legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Spitze. Sie lag schräg über dem Schiff und ragte darüber hinaus. Bis ganz hinauf mussten wir also nicht klettern. Die Stelle, die mir für den Absprung günstig erschien, lag etwa zwölf bis fünfzehn Yards über dem Deck. Falls man dort hinunterfiel, konnte man sich schon einiges brechen. Doch ich war schließlich ein Kriegsveteran, auch wenn ich nicht lange gedient hatte, und außerdem ging es möglicherweise um das Leben einer jungen Frau.

Ich raffte mich zusammen und begann hinter Henry Jasper den Aufstieg. Die Aussicht, seine Tochter retten zu können, gab meinem Begleiter offensichtlich ungeahnte Energie und Fähigkeiten. Ich bezweifelte, dass er ansonsten so behände wie ein Affe an dem Stahlgestänge hinaufgekommen wäre.

Ich selbst ging es etwas langsamer an, denn das Schiff machte mir nicht den Eindruck, als würde es gleich ablegen. Noch während ich auf dem Weg zu dem Punkt war, an dem ich mein Schicksal auf diesem Kran abwarten wollte, gab mein Begleiter dem Hafenarbeiter ein Zeichen. Unvermittelt fuhr der Arm des Krans zur rechten Seite und sackte zwei Fuß hinab.

Der Versuch, die letzten zwei Yards schnell zu überbrücken, führte fast zu meinem Absturz. Ich hatte für eine Sekunde das Gefühl, in der Luft zu schweben und gleich durch das Gestänge zu fallen, als ich unsanft auf den Eisenträger schlug und mir die Schulter prellte. Ich hatte noch die Geistesgegenwart, meinen Kopf zur Seite zu nehmen, sonst hätte ich wahrscheinlich zumindest eine gebrochene Nase zu beklagen gehabt.

Während ich mich nun, schockiert vom jüngsten Ereignis, an den Träger krallte, knarrte die Konstruktion, in der wir steckten, und fuhr ruckweise nach unten. Ich schloss die Augen, da ich befürchten musste, über kurz oder lang mein Dinner über das Schiffsdeck zu verteilen, und betete, dass dieser Irrsinn bald ein Ende haben würde. Als die Bewegungen aufhörten, wagte ich einen vorsichtigen Blick – und schaute direkt in das Gesicht eines Mannes, dessen Wangen und Nase vom regelmäßigen Alkoholgenuss rot leuchteten. Der Bursche staunte mit offenem Mund über den unvermuteten Besuch.

Krischan Claasen hatte es tatsächlich geschafft, uns nicht umzubringen. Wahrscheinlich war die Aussicht auf die versprochene Belohnung ein erfolgreicher Antrieb für ihn gewesen. Während ich mich erst langsam von meinem verkrampften Halt lösen musste, bevor ich mich zu Boden gleiten lassen konnte, überwand Henry Jasper die drei bis vier Fuß mit einem Sprung, packte den Matrosen am Kragen und presste ihn gegen die Reling. Dies schien im Augenblick seine bevorzugte Haltung zu sein.

„Wo ist meine Tochter?“, knurrte er. „Wo habt ihr sie hingebracht?“

Zwei weitere Spießgesellen erschienen auf dem Deck, doch diese beiden waren vorbereitet: Einer hielt eine Eisenstange, der andere rieb sich einfach nur die Fäuste.

Ich zog meinen Revolver aus der Tasche, zielte auf die beiden und rief ihnen in meiner Muttersprache entgegen: „Stehen bleiben!“

Der Mann mit der Eisenstange zuckte. In seinem Blick erkannte ich, dass er an Flucht dachte. Ich spannte den Hahn.

„Ich werde sofort schießen, wenn sich einer von euch bewegt.“

Ob sie meine Worte verstanden, wusste ich nicht, doch meine Geste war offenbar eindeutig genug. Regungslos schauten sie zu, wie mein Begleiter seinem Gegenüber eine Backpfeife nach der anderen verpasste.

„Hören Sie auf, Mister Jasper!“, gebot ich ihm Einhalt. „Wenn Sie Ihrer Tochter helfen wollen, dann müssen Sie Ruhe bewahren. Fragen Sie die drei nach der Kiste.“

Jasper wandte sich um. Sein erstaunter Blick legte die Vermutung nahe, dass er die beiden anderen noch gar nicht bemerkt hatte. Mit Schwung stieß er den Matrosen in ihre Richtung. Der Bursche konnte das Gleichgewicht nicht halten, stolperte und fiel den anderen vor die Füße.

„Vor Kurzem wurde eine Kiste hierhergeschafft“, fragte Jasper auf Deutsch. „Wo ist die jetzt?“

Die Kerle zuckten alle mit den Schultern.

„Vielleicht verstehen sie Englisch“, sagte ich.

Jasper wiederholte seine Frage, doch die Reaktion war die gleiche.

Auch ich hatte mittlerweile die Nase voll. Vor allem wollte ich keinen weiteren Tobsuchtsanfall meines Begleiters riskieren. Mit erhobener Waffe schritt ich vor und zielte auf den Kopf des Kerls mit der Eisenstange. Wir standen nur noch sechs Fuß auseinander.

„Wir wollen sofort diese Kiste sehen. Es geht um Leben und Tod … auch für dich. Wenn du es mir nicht sagst, dann erschieße ich dich und frage deinen Kameraden.“

Ich war über meine eigene Kaltblütigkeit überrascht, doch die Sorge um meinen Freund und um Jaspers Tochter waren Antrieb genug. Möglicherweise hätte ich meine Drohung tatsächlich wahr gemacht.

„Ich habe gebe mein Ehrewoot“, sagte der Kerl mit einem starken Akzent.

Ich machte noch einen Schritt auf ihn zu und kniff ein Auge zusammen, wie um besser zielen zu können, was auf diese kurze Distanz eigentlich lächerlich war – doch es machte sichtlich Eindruck. Ich sah, wie dem Mann plötzlich der Schweiß aus allen Poren austrat.

„Ich zeige! Ich zeige!“, rief er aus.

„Dann los!“, sagte Jasper. „Ihr geht voraus. Aber schön zusammenbleiben. Der Erste, der eine falsche Bewegung macht, bekommt eine Kugel ins Rückgrat.“

Die drei Matrosen führten uns zum Vorderdeck, und einer öffnete die große Ladeluke. An der Seite schlängelte sich eine Eisentreppe hinunter. Der Laderaum war nur halb gefüllt; womit, das war in der Dunkelheit hier unten nicht zu erkennen. Einer der Männer griff nach einer Petroleumlampe, die an einem Haken hing, und entzündete sie. Wir stiegen hinunter und kamen an fest verschnürten Fässern und Säcken vorbei. Das Geruchsensemble war überwältigend. Offenbar hatte das Schiff Gewürze geladen, denn nach Orient duftende Aromen schwebten durch die Luft.

Die Kiste stand in der scheinbar hintersten Ecke zwischen zwei mannshohen Exemplaren der gleichen Gattung. Maschinenfabrik A. B. Bertig & Co, Harburg war jeweils in das Holz eingebrannt. Der Matrose, den ich bedroht hatte, deutete auf die unscheinbare und rudimentär zusammengezimmerte Kiste. Ich wollte ihm die Anweisung geben, sie zu öffnen, doch Jasper sprang schon darauf zu und stieß dabei die Matrosen zur Seite. Zwei von ihnen nutzten die kurze Verwirrung und verschwanden im Dunkel des Laderaums; nur unser Mann mit der Laterne blieb bei uns. Er wusste, er wäre ein zu gutes Ziel. Zur Warnung schoss ich den Flüchtenden zweimal hinterher, zielte aber bewusst so hoch, dass ich keinen der beiden treffen würde. Meine Hoffnung, sie würden zurückkommen, erfüllte sich indes nicht.

Jasper zerrte und riss in der Zwischenzeit mit bloßen Händen an der Kiste, um das erste Brett mitsamt den Nägeln zu entfernen.

„Gibt es irgendwo Werkzeug?“, fragte ich, da knallte es und das erste Brett war gelöst.

„Schnell, die Lampe!“, rief Jasper.

Als ich den Matrosen nach vorn schob, sackte Jasper förmlich auf der Kiste zusammen. Die Enttäuschung war ihm anzumerken. Ich zog ihn beiseite und blickte auf ein blasses, verschwitztes Gesicht, das von der Lampe beleuchtet wurde. Ein falscher Bart hing quer über dem Kinn. Schminke war verlaufen und hatte das Antlitz zu einer unheimlichen Fratze gemacht. Die große Nase meines Freundes Sherlock Holmes warf einen nicht zu verachtenden Schatten auf seine zweite Gesichtshälfte.

Das erste Brett als Hebel benutzend, war es ein Leichtes, die Kiste vollständig zu öffnen. Zuerst befreite ich den Detektiv von dem Knebel, dann sprach ich ihn an.

„Holmes, können Sie mich hören?“

Da ich keine Reaktion erhielt, berührte ich seine Wangen und die Stirn. Sie fühlten sich eisig an.

„Hilf mir, ihn herauszuheben“, sagte ich zu dem Matrosen und packte Holmes’ Oberkörper.

Der Mann bückte sich zögerlich und meinte: „Ich wuuste nich von Maan in Kiste.“

„Jaja, schon gut“, erwiderte ich. „Pack mit an.“

Gemeinsam trugen wir meinen Freund auf den Gang und legten ihn sanft ab. Der Strick, den man um Holmes’ Körper gewickelt hatte, war hinter seinem Rücken fest verzurrt. Während ich den Detektiv vorsichtig anhob und von einer zur anderen Seite drehte, löste der Matrose die Fessel und rollte den Strick zusammen. Anschließend untersuchte ich die Augen, fühlte den Puls und beobachtete die Atmung.

„Er ist schwach!“, rief ich Jasper zu, der sich die ganze Zeit über nicht von der Stelle gerührt hatte. „Wir müssen ihn zu Ihnen nach Hause bringen und pflegen.“

„Wenn Holmes hier ist“, kam die Antwort, „dann ist Alice vielleicht auch auf dem Schiff.“

Das war nicht von der Hand zu weisen. „Habt ihr noch jemanden hier versteckt?“, fragte ich den Matrosen.

Er schüttelte den Kopf.

„Von meinem Freund hier hast du doch angeblich auch nichts gewusst. Warum sollte ich dir glauben?“ Ich richtete meinen Revolver wieder auf ihn. „Also, sag schon: Gibt es noch eine weitere Kiste, die nicht hierhergehört? Oder habt ihr die Frau, die wir suchen, woanders versteckt?“

„Weiß ich nix von ander Person oder Kiste.“

„Lassen Sie mich das machen“, meinte Jasper und richtete seine Waffe auf den Bauch des Burschen. „Weißt du, was es für dich bedeutet, wenn ich jetzt abdrücke?“

Dem Matrosen stockte der Atem. Er war plötzlich steif wie ein Brett.

„Du wirst an der Schussverletzung sterben, aber nicht sofort, sondern ganz langsam. Die Kugel wird deine Darmschlingen zerfetzen, vielleicht auch eine Niere. Dein Blut und dein Darminhalt werden sich vermischen. Du wirst so starke Krämpfe und Schmerzen haben, dass du um den Tod winseln wirst. Es wird lange, sehr lange dauern, bis du endlich krepierst und dein Leiden ein Ende hat.“

Ich wollte einschreiten, doch andererseits konnte ich es einem Vater nicht verdenken, dass er sich solche Sorgen um seine Tochter machte. Also wartete ich gespannt, was nun folgen würde. Drei oder vier Atemzüge lang passierte nichts, dann spannte Jasper den Hahn seines Revolvers. Der Matrose war nur noch ein Fingerzucken von einem unausweichlichen und qualvollen Tod entfernt.

„Ich weiß wo! Ich weiß wo!“, schrie er plötzlich.

„Na also. Sag mir, wo sie ist.“

„Kann nicht erklären. Muss zeigen.“

„Dann führ mich hin.“

„Halt!“

Die Stimme war schwach und klang wie eine Kratzbürste, dennoch strahlte sie genügend Autorität aus, sodass wir uns alle umwandten. Wäre sie nicht von meinem Freund gekommen, so hätte ich sie nicht erkannt.

„Wir vergeuden unsere Zeit. Alice ist nicht hier.“

„Sherlock! Ich bin froh, dich wieder einigermaßen gesund bei uns zu haben“, sagte Jasper. „Doch ich glaube, du bist noch nicht wieder ganz bei dir.“

Sie duzten sich! Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Wir hatten in einigen Jahren eine ganze Anzahl von Abenteuern erlebt, hatten zusammen gehaust, was für jeden von uns nicht immer einfach war, hatten gelegentlich einander aus schwierigen Situationen befreit – und doch blieb die vorsichtige Distanz aufgrund der Form, in der wir uns ansprachen, immer noch gewahrt.

„Ich weiß genau, wovon ich rede“, sagte Holmes und setzte sich ächzend auf. „Alice ist nicht auf diesem Schiff.“

„Du weißt, wenn wir jetzt gehen und sie ist doch hier und das Schiff legt in der Zwischenzeit ab … dann werden wir sie niemals wiederfinden.“

„Bleib ruhig, mein Freund. Es gibt keinen Grund, an meinem Urteil zu zweifeln.“

Plötzlich donnerte ein Schuss durch den Laderaum wie ein böswilliger nordischer Gott. Ich vernahm einen metallischen Laut, dann sackte der Matrose zusammen. In seiner Brust klaffte ein Loch. Die beiden anderen Männer! Wir hatten sie ganz vergessen!

„Schnell, verschwinden wir hier!“, krächzte Holmes und rappelte sich auf, schaffte es aber nur auf alle viere.

Ich half meinem Freund hoch und stützte ihn, während wir versuchten, so schnell wie möglich zur Treppe zu gelangen. Das war der einzige Ausweg. Der Schuss war von der Seite gekommen und als Querschläger in den Matrosen eingedrungen. Die Lampe ließen wir zurück, weil wir mit ihr ein zu gutes Ziel abgegeben hätten. Zuerst stolperten wir eher langsam vorwärts, doch dann gewöhnten sich unsere Augen an die Dunkelheit. Dennoch war es immer noch mehr ein Vorantasten, als dass wir rannten.

Jasper blieb an unserer Seite. Ein Teil der Schiffsladung diente uns als Deckung, doch ab und zu mussten wir an kniffligen Durchgängen vorbei. Immer wieder ertönten Schüsse, zischten Kugeln an uns vorbei in eine Kiste oder ein Fass. Irgendwo hinter uns plätscherte es, weil eine Flüssigkeit austrat.

Die beiden Verfolger schienen zu ahnen, welchen Weg wir eingeschlagen hatten, und beabsichtigten offenbar, uns in die Zange zu nehmen, doch wir hatten Glück. Als sich auf der Treppe jener Matrose zeigte, der uns in Empfang nehmen wollte, konnte man seinen Schemen gut erkennen, weil er oben eine Lampe abgestellt hatte. Was für ein fataler Fehler! Jasper reagierte schnell und kaltblütig. Er musste kaum zielen und feuerte sein frisch geladenes Magazin leer. Der Matrose fiel augenblicklich zu Boden.

Bald hatten wir die Treppe erreicht. Hinter uns blieb es ruhig. Der Letzte im Bunde musste mitbekommen haben, was mit seinem Kollegen passiert war, denn er war wohl ebenso von Jaspers Schießkünsten beeindruckt wie ich und verhielt sich still.

Als wir die Treppe hinaufliefen, fiel noch ein einzelner Schuss, doch dieser richtete glücklicherweise nichts aus. Wir kamen an dem erschossenen Matrosen vorbei, und ich sah, dass mindestens drei Kugeln in Kopf, Hals und Brust tödlich getroffen hatten.

Mit dem Fuß kickte ich die Lampe über den schmalen Absatz. Das Glas zersprang. Es wurde wieder dunkel.

Holmes und ich stiegen als Erste durch die Luke. Entweder war niemand mehr auf dem Schiff oder der Rest der Besatzung schlief einen ordentlichen Rausch aus. Der Krach, den wir allein mit dem Kran veranstaltet hatten, war sicherlich nicht zu überhören gewesen. Dennoch war niemand zu sehen. Jasper folgte uns nach und gab uns Feuerschutz nach hinten.

Beim Klettern über den Kranausleger half ich meinem Freund, und auch hier hielt uns Jasper den Rücken frei. Glücklicherweise verzichtete unser Verbündeter an Land darauf, den Arm des Krans zu bewegen. Holmes und ich wären ansonsten sicherlich hinuntergefallen. So aber erreichten wir wohlbehalten die andere Seite.

Krischan Claasen stand mit dem Droschkenkutscher zusammen und rauchte. Einer der beiden hatte einen Flachmann herbeigezaubert.

„Geben Sie her!“, sagte ich, schnappte mir die Flasche und übergab sie an meinen Freund. „Nehmen Sie einen kräftigen Schluck, Holmes.“

Der Kutscher nickte anerkennend, als der Detektiv das Zeug aus der Flasche trank, als sei es Wasser, und meinte: „Kommt nicht alle Tage vor, dass ich an so einer Unternehmung teilhaben darf.“

„Reden Sie nicht!“, blaffte Jasper ihn an. „Fahren Sie uns lieber zurück!“

„Mien Geld!“, protestierte Krischan Claasen.

„Das bekommst du noch. Zuerst müssen wir von hier fort.“

„Aver ick will nech mit Se fohren.“

„Können Sie das bitte in Hochdeutsch wiederholen?“, fragte Holmes in ebendieser Sprache, die er, wie mir schien, gut beherrschte.

Krischan Claasen kam der Aufforderung nach.

„Ich nehme an, Sie haben die Karte gefunden, die ich fallen ließ“, sagte Holmes.

„Woher wissen Sie das?“

„Aber bitte! Ist das nicht offensichtlich? Sie müssen mitkommen und mir noch ein paar Fragen beantworten.“

Ich lächelte. Holmes war schon wieder fast der Alte.

Kapitel 4

 

Jaspers Personal wurde aufgescheucht, um unserem Freund Sherlock Holmes ein heißes Bad und ein kräftigendes Mahl zu bereiten. Das Essen bestand aus Resten vom heutigen Abend, und auch ich ließ mir noch einen Teller bringen, denn das Abenteuer hatte reichlich an meinen Kräften gezehrt. Krischan Claasen ging ebenfalls nicht leer aus.

Während wir darauf warteten, dass Holmes endlich der Badewanne entstieg, erwischte ich mich, wie ich ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch trommelte. Der Hausherr tigerte derweil fleißig auf und ab und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Als der Hafenarbeiter sehnsüchtig den Blick vom Essen zu den Zigaretten schweifen ließ, erbarmte ich mich und bot ihm eine von meinen an.

Schließlich hielt sich Holmes irgendwann doch für sauber genug, um sich zu uns zu gesellen. Sein Haar war feucht, er steckte in einem Hausmantel und wirkte beinahe frisch, als hätte er eine ganze Nacht hindurch gut geschlafen. Einmal mehr bewunderte ich ihn für seine ausgezeichnete Konstitution.

„Sherlock!“, rief der Hausherr und stürmte auf ihn zu, doch Holmes setzte sich und füllte geistesabwesend seinen Teller mit Essen.

„Was ist los?“, fragte Jasper.

Holmes blickte auf. „Morgen früh holen wir deine Tochter“, sagte er, nickte und nahm einen großen Schluck verdünnten Wein.

Jasper erstarrte für einen Augenblick, dann wurde er hektisch. „Warum warten wir so lange? Wenn du weißt, wo sie ist, dann sollten wir sie sofort holen.“

„Ich benötige noch einige kleine Hinweise. In Hamburg kenne ich mich schließlich nicht so gut aus wie in London.“

„Du spannst mich auf die Folter, Sherlock!“

„Trink einen Brandy und entspann dich, Henry. Deiner Tochter geht es besser, als du denkst.“

„Woher, zum Teufel, willst du das wissen?“

Ha!, dachte ich zufrieden. Ihr beide mögt euch vielleicht per Du anreden, aber Holmes kennst du offenbar nicht halb so gut wie ich. Wenn mein Freund im Verlauf eines Falles bereits so sicher war wie jetzt, dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis es einen guten Ausgang geben würde.

Holmes wandte sich direkt an Krischan Claasen und sprach ihn auf Deutsch an.

„Wo haben Sie die Karte gefunden, die Sie in dieses Haus führte?“

„Nicht weit vom Schiff, auf dem Sie waren“, antwortete der Hafenarbeiter, sichtlich um eine deutliche Aussprache bemüht.

Holmes stand auf und reichte ihm die Hand. „Ich habe mich noch nicht bei Ihnen für Ihre Hilfe bedankt.“

Krischan Claasen ergriff seine Hand, allerdings sehr verschüchtert.

„Henry, möchtest du meinem Helfer in der Not nicht ein Glas deines vorzüglichen Weinbrandes einschenken?“

Der Hausherr zögerte kurz, dann folgte er Holmes’ Bitte.

„Auf meine Rettung!“, sagte der Detektiv und hielt sein Glas hoch.

Krischan Claasen tat es ihm nach.

„Ich möchte mich gern bei Ihnen erkenntlich zeigen. Ich weiß, Geld kann ein Menschenleben nicht aufwiegen, doch ich weiß mir nicht anders zu helfen.“ Holmes zog seine Brieftasche hervor und hielt kurz darauf demonstrativ ein Bündel Geldscheine in der Hand. „Oder gibt es etwas anderes, das ich für Sie tun kann?“

Die Augen des Retters wurden groß, als er das Geld sah. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

„Eine Investition vielleicht … für ein Geschäft, das Sie ein Leben lang ernährt. Käme da etwas infrage?“

Krischan Claasen wirkte hilflos. Ich konnte in seinem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch und musste ein Lächeln unterdrücken. Er war so nah am Ziel, und nun kam Holmes mit einer anderen Idee, die sich nicht sofort in Alkohol oder Brot umsetzen ließ. Mein Freund spielte Katz und Maus mit seinem Gegenüber.

„Vielleicht lässt sich mit einem Boot oder einer Schute hier im Hafen gutes Geld verdienen.“

Der Hafenarbeiter schüttelte den Kopf.

„So? Warum nicht?“, hakte der Detektiv nach. „Gibt es denn keinen Handwerker, der seine Waren von hier nach dort gebracht haben will? Oder was ist mit der Müllentsorgung?“

„Es gibt da ein Boot, das allen zur Verfügung steht.“

„Allen? Ganz Hamburg?“

„Na ja, in meinem Viertel eben.“

„Wie eine Genossenschaft? Das ist ja interessant. Wo liegt denn dieses Boot?“

„Nicht weit vom Katharinenfleet.“

„Ist das in der Nähe des Schiffes, von dem ich gerettet wurde?“

Krischan Claasen machte eine vage Andeutung mit der Hand.

„Also gut …“ Holmes nahm eine Hälfte des Geldbündels und reichte sie seinem Gegenüber, der nicht lange überlegte und sich das Geld schnappte.

„Morgen früh, Punkt acht Uhr, erwarte ich Sie hier vor dem Haus. Sie bringen uns dann zu dem Boot, anschließend gibt es die andere Hälfte.“ Er winkte mit den Geldscheinen, sodass es leise raschelte. „Einverstanden?“

Der Hafenarbeiter nickte nur.

„Aber warum können wir denn nicht gleich jetzt los, Sherlock?“, rief Jasper aus.

„Mein guter Freund, ich bin völlig am Ende und benötige eine Pause“, erwiderte Holmes, während seine Haltung ihn Lügen strafte.

Unter den gegebenen Umständen wäre das natürlich eine völlig akzeptable Begründung gewesen, doch ich kannte Holmes besser. Er wollte noch ein bisschen darüber nachdenken, was er für die Lösung des Falles hielt. Nur, dazu brauchte er Ruhe.

 

„Kein Auge habe ich zugemacht!“, rief Henry Jasper am nächsten Morgen aus, als Holmes erst zum Frühstück erschien, nachdem ich bereits mein Rührei aufgegessen und die erste Tasse Kaffee getrunken hatte.

„Ich dagegen habe hervorragend geschlafen“, meinte der Detektiv ruhig und setzte sich.

Unser Gastgeber fasste ihn an der Schulter. „Guter Freund, nun sag mir doch endlich, was mit meiner Tochter ist.“

„Sie ist wohlauf, da bin ich ganz sicher.“

„Und wie kommst du darauf?“

„Henry, ich war im Hafenviertel und habe recherchiert. Gleich zu Anfang bin ich dabei auf das Wespennest gestoßen.“

Tja, manchmal, dachte ich, braucht eben auch ein Sherlock Holmes ein bisschen Glück.

„Ich kehrte in eine Hafenkneipe ein“, fuhr mein Freund fort, „und benahm mich dort sehr auffällig. Ich war verkleidet und spielte meine Rolle als Hafenarbeiter gut, möchte ich behaupten, doch normalerweise kennt man sich in diesen Kreisen. Das machte wohl jemanden stutzig. Während ich mich mit einem alten Trunkenbold unterhielt, muss einer der Gäste den Hinterausgang benutzt haben, um jemandem zu berichten, dass ein Fremder gefährliche Fragen stellt.“

„Weshalb hast du dich überhaupt verkleidet?“

„Mein guter Henry, ich wäre doch nie so weit gekommen, wäre ich in meinem Straßenanzug dort aufgekreuzt. Außerdem hätte sich selbst der Trunkenbold nicht mit mir abgegeben. Es dauerte nur wenige Minuten, bis ein Schlägertrupp auftauchte. Das bedeutet, Alice befindet sich nicht weit von dieser Kneipe entfernt.“

Jasper sprang zur Tür und rief: „Dann nichts wie hin!“

Holmes machte eine beschwichtigende Geste. „Warte doch, bitte, bis ich mit dem Frühstück fertig bin. Deiner Tochter droht keinerlei Gefahr.“

„Aber warum?“

„Das versuche ich gerade, dir zu erläutern. Der Anführer dieser Schlägerbande war von oben bis unten in eine Decke gehüllt“, sagte Holmes und tat so, als sei damit alles geklärt.

Auch ich musste zugeben, nichts verstanden zu haben. „Eine Decke, Holmes?“

„Es musste schnell gehen bei diesem Burschen, deshalb hatte er nach dem Erstbesten gegriffen, das er zu fassen bekam. Das bedeutet allerdings auch, er ist nicht der Kopf einer Bande, die regelmäßig durch das Hafenviertel streicht. So jemand würde sich nicht darum scheren, ob man ihn erkennt. Im Gegenteil, er wäre sogar darauf aus, dass jeder genau weiß, wer er ist, um seinen Machtanspruch geltend zu machen.“

„Holmes, Sie spannen uns auf die Folter“, warf ich ein.

„Ja? Und ich dachte, Sie seien an meinen kleinen Weisheiten interessiert.“

„Bitte, Sherlock, ich platze vor Ungeduld.“

„Ich bin fest davon überzeugt, dass es sich bei diesem Mann um den Entführer von Alice handelt, der sich ein paar Verbündete am Hafen gesucht hat, mit denen er zusammenarbeitet. Sie sollen für ihn die Augen offen halten und ihm den einen oder anderen Dienst erweisen. Er bezahlt sie sicherlich von deinem Geld.“

„Ist das alles nicht etwas vage?“, wollte Jasper wissen.

„Er hat sich verstellt. Er trägt saubere Schuhe, die nicht billig waren, passt also nur teilweise zu den Hafenleuten. Und …“ Jetzt hob Holmes den Zeigefinger. „… er kommt nicht von hier. Dazu diese sich wiederholenden Geldforderungen. So geht kein gewerbsmäßiger Verbrecher vor. So handelt nur jemand, der nicht weiß, was er eigentlich tut. Ein Dilettant.“

Es war nicht einfach, bereits am frühen Morgen den verschlungenen Ausführungen des Meisterdetektivs zu folgen. Nach dieser Rede begann Holmes mit seinem Frühstück. Wir anderen ließen das Gesagte sacken und störten unseren Freund nicht beim Essen. Auch der Hausherr verstand offenbar, dass jede weitere Frage eine Verzögerung zur Folge haben würde, und das schien er auf jeden Fall vermeiden zu wollen.

Was an jenem Tag weiter vor sich gegangen war, konnte ich nur zu gut vermuten. Holmes musste den Kampf verloren haben, und was dann geschah, das kam wohl dem Grauen des Lebendig-begraben-Werdens sehr nah. Mein Freund verlor darüber kein Wort, und ich war anständig genug, nicht zu fragen. Henry Jasper indes dachte verständlicherweise nur an seine Tochter und wann er sie endlich wiederhaben würde.

 

Krischan Claasen wartete bereits vor dem Haus; er schien ungeduldig. Holmes begrüßte den Hafenarbeiter mit den Worten: „Gehen wir, guter Freund, und statten wir der Elbkreuzer einen Besuch ab.“

„Sie kennen ihren Namen?“, fragte der Mann erstaunt.

Holmes zuckte nur mit den Schultern.

Wir nahmen eine Droschke, die demselben Weg folgte wie am Abend zuvor. Hinter der Holzbrücke, von der das Erpressergeld in das Boot geworfen worden war, hielten wir an, und ab da ging es zu Fuß weiter.

Mit jedem Schritt, den wir taten, so schien es mir, wurde der Gestank schlimmer. Wir gingen geradeaus in eine schmale Gasse, in der Kinder herumtollten. Ein Mann mit einem Akkordeon stand an einer Hauswand und spielte ein Shanty. Von oben beschwerte sich eine dicke, alte Frau lautstark über den Lärm, den er veranstaltete. Als die Kinder uns bemerkten und sahen, dass wir besser angezogen waren, als es sich für dieses Viertel schickte, rannten sie auf uns zu, zogen an unseren Röcken und schrien und gestikulierten. Ein paar alte Menschen schauten neugierig aus den Fenstern und beobachteten das Spektakel. Hatte Holmes etwa das gemeint, als er sagte, er wäre in seinem Straßenanzug nicht bis zu jener Kneipe gelangt? Jedenfalls schien er vorbereitet zu sein, denn er fischte ein paar Pfennige aus seiner Rocktasche und warf sie von sich weg. Es klimperte lustig, und die junge Meute hatte ein neues Ziel.

Krischan Claasen führte uns in einen Hinterhof. Plötzlich schüttete jemand aus dem zweiten Stock eine Schüssel mit Wasser aus. Wir konnten gerade noch rechtzeitig einen Sprung zur Seite machen, um nicht nass zu werden. Ein Zigarettenstummel flog hinterher, dann klapperte es oben und das Fenster war wieder geschlossen. Gleich darauf betraten wir ein Gebäude, das noch widerlicher stank als die ganze Gegend hier. In den ärmsten Regionen Afghanistans habe ich nicht solche Verhältnisse erlebt. Wir gingen nach hinten. Unter der Treppe erblickte ich ein totes Tier. Trotz der Dunkelheit, die hier herrschte, erkannte ich die steifen Glieder eines Hundes. Mein Gott, wie lange mochte der Kadaver hier schon liegen?

Wir durchquerten eine Wohnung, in der eine alte, dürre Frau saß und mit ihrem zahnlosen Mund an einem Stück trockener Brotrinde lutschte. Sie starrte vor Dreck, genau wie die Zimmer, durch die wir kamen. Die anderen schienen sich nicht daran zu stören, dass wir an fauligen Strohmatratzen vorbeigingen. Schließlich erreichten wir so etwas wie eine schmale Abstellkammer. Ein Boot stand mittendrin und passte gerade so rein. Der Boden ging abschüssig nach hinten. Krischan Claasen arbeitete sich vorwärts, musste dafür aber über das Boot klettern. Am anderen Ende öffnete er eine Doppeltür. Licht flutete herein und ein schmaler Kanal kam zum Vorschein.

Die Beschreibung des Bootes stimmte haargenau. Der Mast war umgelegt, darunter lag das kleine Segel; niemand hatte es zusammengerollt oder gefaltet. Holmes sprang in das Boot und sah sich darin um.

„Was hofft er darin zu finden?“, raunte mir Jasper zu, doch bevor ich antworten konnte, sagte Holmes: „Deine Tochter trinkt gern Tee, nicht wahr?“

„Ja“, kam die Antwort zögerlich.

Holmes hielt sich etwas unter die Nase. „Parfümierten, nehme ich an.“

„Richtig.“

Holmes stieg wieder aus dem Boot. „Das unterstreicht meine Vermutung, dass es ihr gut geht. Welcher Entführer besorgt für sein Opfer parfümierten Tee?“

„Aber wo ist sie?“

Holmes ging zurück und winkte uns, ihm zu folgen.

Wenig später standen vier Männer, von denen drei definitiv nicht hierher gehörten, vor dem zahnlosen Mütterchen, das unbeeindruckt an dem Kanten Brot lutschte. Holmes deutete auf die Tasse. „Jasmin“, sagte er und beugte sich zu der Alten hinunter. „Wo wohnt die Dame, die Ihnen diesen Tee geschenkt hat?“

Die Frau sah ihn nur kurz an, blinzelte zweimal und zeigte gleich darauf wieder Desinteresse. Der Detektiv zog eine Münze hervor und legte sie neben die Tasse. Als die Alte daraufhin dreimal mit dem Fuß auf den Bretterboden stampfte, richtete sich Holmes rasch auf und stürmte zur Tür.

„Schnell!“, rief er.

Wir jagten ihm hinterher. Ich staunte nicht schlecht, als er direkt auf den Hundekadaver zusteuerte und ihn mit dem Fuß zur Seite schob. Jetzt, da das Vieh nicht mehr zur Hälfte im Dunkeln lag, erkannte ich, dass es lediglich ausgestopft war. Dort, wo es gelegen hatte, befand sich eine Luke. Holmes zog das Brett an einem Griff nach oben und sprang durch die Öffnung. Der Gang war niedrig, doch wir stampften wie die Berserker die schmale Steintreppe nach unten und erreichten einen großen Raum, in dem Licht brannte und der wiederum in kleine Gewölbe unterteilt war.

Von weiter vorn hörten wir Geräusche, also nahmen wir unsere Hatz wieder auf und fanden in einer Nische eine junge Frau, die hastig eine Tasche packte. Hinten gab es noch eine Tür, die wahrscheinlich zu einem Nebengebäude führte. Sie wollte abhauen, doch Holmes war bei ihr und hielt sie am Arm fest.

„Alice!“, rief Jasper. In seiner Stimme klangen Überraschung und Erleichterung mit.

Die junge Frau sagte nichts, als ihr Vater auf sie zukam und sie in den Arm nahm. Ihr Widerwille war fast greifbar. Die angeblich Entführte war nichts weiter als eine Ausreißerin.

„Wo ist dein Komplize?“, fragte Holmes.

„Komplize?“, fuhr Jasper auf. „Du meinst den Entführer.“

„Klär du uns darüber auf“, forderte Holmes sie auf.

Die junge Frau schaute zu Boden. „Er ist seit zwei Tagen nicht zurückgekommen“, murmelte sie fast unverständlich.

„Aber warum bist du nicht geflohen?“, fragte Jasper verwirrt.

„Weil sie das gar nicht wollte, nicht wahr?“, antwortete mein Freund an ihrer Stelle.

Alice nickte stumm.

„Aber Kind! Ich habe mir solche Sorgen …“

„Das können wir später klären“, unterbrach ihn Holmes. „Nun müssen wir den Komplizen finden. Wie heißt er?“

„Werner … Lütjens.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957192103
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Detektiv Spannung Sherlock Holmes Krimi Ermittler Historisch

Autor

  • Michael Buttler (Autor:in)

Michael Buttler wohnt mit seiner Familie und zwei Katzen im Rhein-Main-Gebiet. Er arbeitet als Bankkaufmann bei einem Kreditinstitut. Anthologien, an denen der Autor beteiligt war, wurden verschiedentlich für den Deutschen Phantastik-Preis nominiert. Im Jahr 2012 war er mit einer Geschichte in dem Buch vertreten, das den ersten Preis gewann.
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Titel: Sherlock Holmes - Neue Fälle 11: Sherlock Holmes und die indische Kette