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Sherlock Holmes - Neue Fälle 09: Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall

von Gary Lovisi (Autor:in)
224 Seiten

Zusammenfassung

Als Sherlock Holmes Doktor Watson tot in der gemeinsamen Wohnung findet, wird er von der Londoner Polizei festgenommen. Man verdächtigt ihn, den Mord an seinem besten Freund begangen zu haben. Eine lückelose Indizienkette spricht dafür, und sogar Mrs Hudson ist von der Schuld des Meisterdetektivs überzeugt. Die Printausgabe umfasst 224 Buchseiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Gary Lovisi, (Jahrgang 1952), orientiert sich an Vorbildern wie Philip K. Dick, Conan Doyle, Edgar Rice Burroughs, H. P. Lovecraft, J. R. R. Tolkien, James Ellroy, Robert E. Howard und Andrew Vacchs. Seine besondere Vorliebe gilt Sherlock Holmes.

Geprägt wurde er von seiner Heimat Brooklyn, was besonders in seinen Hard­boiled-Kriminal-Romanen zum Ausdruck kommt.

© 2015 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Aus dem Amerikanischen von Andreas Schiffmann

Lektorat: Dr. Richard Werner

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-95719-208-0

Ein Brief an den Leser

 

Viele von Watsons leidgeprüften Bekannten wissen, dass es der gute Doktor nicht lassen konnte, zu Stift und Papier zu greifen, um die, wie er glaubte, besonders denkwürdigen Fälle in meiner Laufbahn als Kriminalberater und Detektiv für die Nachwelt aufzuschreiben.

Obwohl ich mich über seine Anstrengungen als Literat lustig machte und ihm vorwarf, sich der Sensationsgier der Boulevardpresse anzudienen, zumal er in seiner Erzählweise so manches Mal zu dick auftrug, muss ich gestehen, dass er sich in seinen kleinen Geschichten aufrichtig darum bemühte, Licht auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten zu werfen, die er mir zumaß, und angemessen dokumentierte, wie erfolgreich ich Verbrechen aufdeckte, die die offiziellen Behörden ratlos machten.

Früher deutete Watson an, es falle ihm schwer, den bereits abgehandelten Fällen weitere Berichte folgen zu lassen. Um die Wahrheit zu sagen, bestand meistens auch kaum ein Anlass, die alten Geschichten wieder aufzurollen beziehungsweise das gegenwärtige Befinden der einzelnen Beteiligten zu erörtern. Dies galt lange Zeit, bis jetzt. Ich glaube, was Sie gleich lesen werden, verleiht dem ursprünglichen Fall, mit dem Watson und ich im Herbst 1902 konfrontiert waren, eine weitere Dimension. Er liegt der Geschichte zugrunde, die ich im vergangenen Jahr veröffentlichen ließ. Sie erschien in der Zeitschrift The Strand unter dem Titel Der illustre Klient.

In dieser neuen Erzählung gibt es ein Wiedersehen mit den Protagonisten des Originalfalls zu einem späteren Zeitpunkt. Die meisten der 1902 maßgeblichen Personen treten erneut auf, wobei ihr Leben und Handeln, das tödliche Konsequenzen hatte, drei Jahre später nachgezeichnet wird. Im Übrigen zog dieser Fall auch für Watson und mich schlimme Folgen nach sich. Wir sahen uns in eine teuflische Intrige verstrickt, mit der man sowohl meinem lieben Freund, dem Doktor, als auch meiner Karriere beziehungsweise meinem eigenen Leben ein Ende bereiten wollte, und zwar ein für alle Mal.

Jetzt im Alter, da ich mich zur Ruhe gesetzt habe, greife ich also schweren Herzens zur Feder, um einen meiner Fälle zu rekapitulieren. Diesmal spare ich mir jegliche Lobhudelei im Vorfeld und komme gleich auf meine Arbeit zu sprechen, bei der ich mir mehrere schwerwiegende Fehler erlaubte. Watson heftete sich ständig an meinen Rock, um die Umstände meines Schaffens schriftlich festzuhalten, was ich nun in seinem Gedenken weiterführe. Derweil ich mich häufig in Sticheleien erging, von wegen mein treuer Gefährte habe meine Talente und Abenteuer allzu blumig beschrieben, gebe ich gerne zu, dass er im Hinblick auf einen Schlüsselaspekt stets goldrichtig lag. Es ist viel einfacher, die hehren Bemühungen eines Chronisten zu kritisieren, als selbst etwas zu verfassen. Wie wacker ich mich dabei schlage, mögen Sie, werter Leser, hinterher entscheiden.

 

Sherlock Holmes

The Downs

Sussex, England, 1926

Kapitel 1
Kitty und Porky

 

Die Straße war düster, die Atmosphäre entsprechend unheimlich. Die schmalen Wege und Seitengassen glichen wie gewohnt einem undurchdringlichen Netz, in dem Gesindel seinem abgründigen Gewerbe frönte und leichte Damen auf beschwerliche Weise Geld verdienten.

Hier stolzierte Shinwell Porky Johnson, ein grober, rotgesichtiger Klotz, der vor lauter Sünde ausgezehrt zu sein schien, furchtlos umher, denn dieser Teil Londons, diese Straßen gehörten ihm, wohingegen Bürger, die sich etwas auf ihre Klasse und Kultur einbildeten, kaum wahrnahmen, dass diese Gegend überhaupt existierte. Johnson gehörte zu den außerordentlich abgefeimten Bewohnern dieser Gegend, doch wer genau genug hinsah, dem vermittelten die aufgeweckten dunklen Augen, dass dieser Mann mitnichten zum intellektuellen Bodensatz gehörte, sondern gerissen und brandgefährlich war. Er besaß den Verstand eines Berufsverbrechers.

An einem heruntergekommenen Gebäude hinter einer Kurve überquerte er die Straße und klopfte laut an eine Haustür, die Nummer 67.

„Porky, bist du es?“, fragte leise eine Frauenstimme von drinnen.

„Das weißt du genau, Schätzchen.“

„Gut. Ich habe nicht verriegelt, komm rein.“

Johnson schüttelte fassungslos und leicht verärgert den Kopf. Ein Dutzend Mal hatte er der naiven Braut gesagt: Halte die Tür verschlossen! Schiebe den Riegel vor! Allerdings pflegte sie einen ähnlichen Starrsinn wie er, falls sie nicht sogar noch verbissener war, so unmöglich dies auch erscheinen mochte. Deshalb wusste er, dass sie sich nicht belehren ließ.

Als er behutsam in das kleine Mietzimmer trat, bot sich ihm der ergötzliche Anblick einer liebreizenden Frau. Sie war von flammender Schönheit, hatte eine schmale Taille und ein markantes Gesicht, das auch nach den Misshandlungen, die sie erlitten hatte, noch jugendlich wirkte. Daran wollte er jetzt, während er sich an all jenen Teilen ihres Körpers weidete, die noch frisch und unversehrt aussahen, überhaupt nicht denken.

„Ich weiß“, begann sie geziert. „Du sagst mir ständig, ich soll absperren.“ Sie sprach mit schriller Stimme und einem Cockney-Akzent. „Ehrlich, das mache ich auch, wenn ich es nicht vergesse, Porky, aber eigentlich ist es nach so langer Zeit nicht mehr wichtig, wie ich finde.“

Johnson lächelte. Er konnte nicht anders, denn hartherziger Rüpel hin oder her, er hatte eine Schwäche für Kitty, und sie wusste das. Deshalb galt er ihr schon lange als vertrauter Komplize und nicht selten auch als Freund. Im Zuge der Machenschaften, in die sie sich seit Jahren gemeinsam verstrickten, hatten sie feste Bande geknüpft. Es war eine Art von Partnerschaft, gleichwohl auf gegenseitigem Respekt begründet, doch insbesondere während der vergangenen drei Jahre hatte Porky festgestellt, dass er immer häufiger als Kittys Fürsprecher und Beschützer agierte. Er liebte sie, obschon er es nie eingestanden hätte, geschweige denn geneigt gewesen wäre, ihr seine Gefühle zu offenbaren. Er verstand sich gewissermaßen als ihr heimlicher Geliebter.

„Ich halte es immer noch für … vernünftig.“

„Vernünftig, meinst du?“ Sie lachte vergnüglich und kehrte ihm die hübsche Seite ihres Körpers zu, deren Anmut ihn verzückte. Die Stellen, an denen schlimme Narben zurückgeblieben waren, sah er nicht. Johnson schätzte sich glücklich, Kitty einen kurzen Augenblick lang so betrachten zu dürfen, wie sie früher war, bevor das Elend seinen Lauf genommen hatte. Sie war eine Augenweide, ein feuerrotes Prachtweib, nach dem sich immer noch jeder Mann umsah.

„Mein Gott, hast du dieses Wort heute neu aufgeschnappt? Vernünftig … Du meine Güte!“ Kitty schaute ihn an und lachte.

Johnson seufzte. Zwar musste es arg kommen, um einen ausgekochten Straßenköter wie ihn aus der Reserve zu locken, aber Kitty wusste genau, wie sie dies konnte. „Ich wollte damit nur sagen …“

„Schon klar, Porky, aber jetzt reicht es wirklich. Er ist verschwunden und wieder zu Hause, krank obendrein, wie mir zu Ohren kam. Hoffentlich stirbt er bald, dann wäre die Welt eine bessere. Drei Jahre ist es nun schon her, also Schwamm drüber. Vergessen wir es, wenn es geht. Ich bemühe mich, aber es ist nicht leicht, sondern ein regelrechter Kampf, jeden Tag aufs Neue. Trotzdem muss ich über alles hinwegkommen. Es wird zu meinem Besten sein.“

„Verstehe, dass du ungern darüber nachdenkst“, erwiderte er zärtlich, weil er sich die Schmerzen, die sie durchgestanden hatte, eindrücklich vorstellen konnte. Insgeheim litt sie sicherlich immer noch darunter, ließ sich tagtäglich die Seele davon zermartern.

„Ich möchte es aus meinem Gedächtnis löschen, verstehst du? Du weißt, was ich durchgemacht habe.“ Zuerst schaute sie weg, doch dann suchte sie seinen Blick erneut und lächelte. „Wie dem auch sei, jetzt bin ich wieder auf freiem Fuß und kann meiner Arbeit nachgehen. Schließlich brauche ich Geld.“

Johnson schüttelte noch einmal den Kopf, diesmal eindeutig erzürnt. Darüber hatten sie bereits ausgiebig diskutiert, doch er war bereit, das Thema abermals durchzukauen, falls er sie dadurch umstimmen konnte. „Kitty, du musst dich nicht mehr in diesem Geschäft herumschlagen. Ich habe doch versprochen, für dich zu sorgen.“ Er klang sanftmütig, soweit es seine barsche Stimme zuließ, und meinte es von ganzem Herzen ernst. Seine Worte berührten die Frau durch eine Warmherzigkeit, die zu fühlen sie eigentlich kaum mehr in der Lage war. So distanziert sie geworden war und weiterhin bleiben wollte, empfand sie mehr für Porky. Sie wusste, er würde ihr treu sein. Als sie ihm wieder zulächelte, fragte er: „Du glaubst mir nicht?“

„Sicher glaube ich dir, aber sieh ein, dass nicht alles so laufen kann, wie du es dir ausmalst.“

Johnson wackelte mit dem Kopf. „Das gefällt mir nicht.“

„Mag sein. Aber was, wenn wir so verfahren, wie es dir vorschwebt? Du klaust weiter und riskierst dein Leben für mich. Irgendwann kommt die Polizei mitten in der Nacht und buchtet dich ein. Schlimmer noch, du könntest gehängt werden. Porky, ich verstehe deinen Groll wirklich. Du behandelst mich wie eine Prinzessin, obwohl ich es gar nicht verdiene. Du gehst auch mit niemand anderem so um, der dir entgegentritt.“

„Sag so etwas nicht!“

„Es ist nichts weniger als die Wahrheit. Ich bin eine Hure, Porky, daraus mache ich keinen Hehl, und zwar nicht erst seit gestern. Ich verdiene gutes Geld, Crowns, Sovereigns, nicht wahr?“

Johnson ließ den Kopf hängen, ihm missfielen diese Worte. Er wollte das Kind nicht beim Namen genannt hören, die Wahrheit darüber, wer und was sie beide waren, wozu sie sich heruntergewirtschaftet hatten. Alles nur wegen eines einzelnen Mannes!

„Mach dir keine Sorgen, Porky“, raunte sie. „Es ist mein Job.“

Was war nur aus ihnen geworden? Kitty arbeitete als Prostituierte, und Porky ließ sich zu Vergehen herab, die er für noch verkommener hielt. Er tat es nur für sie, da er ihr den Rücken freihalten wollte, während sie anschaffte. Die feine Gesellschaft und das Pack, das die Fäden in der Hand hielt, sprachen in diesem Zusammenhang von Vermittlung. So nannte man es jedenfalls in vornehmen Kreisen. Doch die Bezeichnungen, die man in diesem Londoner Bezirk dafür verwendete, waren weit geläufiger. Kuppelei und Zuhälterei.

„Sag, was hat er gemeint?“, fragte Kitty neugierig. Sie hatte sich vor dem Spiegel niedergelassen und machte ihr langes Haar zurecht. Es glänzte und war gewellt, aber sie benutzte Pomade und Klammern dazu, um es auf der Seite zu fixieren, damit die Verletzungen in ihrem Gesicht und am Oberkörper weniger auffielen.

„Er steht auf dich“, antwortete Johnson lapidar.

„Ach was? Sprich weiter.“

„Er will einiges lockermachen, falls er heute Abend zum Zug kommt.“

„Wie viel?“

„Fünf Pfund Sterling in Gold.“

„Du machst Sachen! Fünf?“

„In Sovereigns, also kein Papiergeld“, betonte er in der Erwartung, die Aussicht auf handfeste Goldmünzen zaubere ihr ein Strahlen ins Gesicht, weil sie sich auf diese Weise wieder begehrenswert und nützlich fühlen konnte.

„Na dann …“ Sie machte einen spöttischen Knicks. „Ich bin hingerissen, aber wo ist die Kohle?“

Johnson nickte, steckte eine Hand in die Innentasche seines Jacketts und nahm fünf funkelnde Sovereigns heraus. Das Gold klimperte und schimmerte hypnotisch. „Vorkasse oder kein Spaß heute Abend, so habe ich mich seinem Mittelsmann gegenüber ausgedrückt, und er hat zugestimmt und tatsächlich im Voraus bezahlt. Also habe ich schnell zugegriffen, ehe er es sich anders überlegen konnte. Bitte sehr.“

Er reichte Kitty das Geld, die es dankend annahm und noch eine Weile in beiden Händen wiegte. Sie betrachtete jede Münze einzeln und mit Freuden. Ihr Gesicht leuchtete auf wie das Konterfei von Queen Victoria, die auf den Sovereigns prangte.

„Ich fasse es nicht“, murmelte sie. „Gold! Sieh nur, wie es im Licht schillert!“

„Ja“, sprach Johnson zufrieden und schaute zu, wie Kitty die Stücke einzeln prüfte, indem sie auf das Metall biss, um sich seiner Echtheit zu vergewissern. Es war weich, wie nur Gold sein konnte. „Es geht aufwärts mit uns. Lass es jetzt verschwinden, Schätzchen, und behalte es im Auge. Es gibt Kerle, die hauen arme, redlich arbeitende Mädchen übers Ohr, indem sie nicht zahlen, wenn sie mit ihnen fertig sind. Davon bleiben wir diesmal verschont, Kitty.“

„Danke schön, Porky! Was tät ich bloß ohne dich.“

Er lächelte kurz, bevor er das Unausweichliche ansprach: „Brechen wir auf und bringen es hinter uns, was? Ich begleite dich. Wenn man seriös wirken will, sollte man pünktlich sein.“

„Meine Rede, Porky. Sobald ich meine Arbeit getan habe, genehmigen wir uns ein paar Pints, wenn du Lust dazu hast.“ Nachdem sie sich mit einem Arm bei ihm eingehakt hatte, fuhr sie leiser fort: „Und wer weiß, vielleicht kommst auch du noch auf deine Kosten, später in der Nacht, wenn es vorbei ist.“

„Ach Kitty, meine Liebe“, entgegnete er bedächtig. „Ich komme andauernd auf meine Kosten, seit ich dich kenne.“

Sie lachte mit einem matten Gesichtsausdruck. „Na, jetzt hör aber auf! Manchmal redest du wirklich albernes Zeug, Porky.“

Er schwieg, als sie verstohlen eine Träne wegwischte, die unvermittelt an ihrer Wange herablief.

Kapitel 2
Baker Street, eines Tages im Jahre 1905

 

„Ärmel hochkrempeln, Watson! Wenn ich mich zurzeit über eines nicht beklagen kann, dann ist es mangelnde Arbeit.“

„Das sehe ich“, erwiderte mein Freund, der gute Doktor, dem meine Betriebsamkeit in jüngster Zeit nicht entgangen war.

„Das Verbrechen feiert Hochzeiten in London. Nicht weniger als drei schwierige Fälle beanspruchen gegenwärtig meine Aufmerksamkeit“, gab ich an und schenkte ihm ein verschmitztes Grinsen, indem ich auf einen Stoß Papiere verwies, den kürzlich ein Bote gebracht hatte.

„Dann sind Sie ja in Ihrem Element“, befand Watson, meine gute Laune bemerkend. „Mir geht das Herz auf, wenn ich sehe, wie konzentriert und begeistert Sie wieder sind, nachdem Sie eine Zeit lang müßiggehen mussten.“

„Oh ja, solch träge Tage voller Langeweile, an denen alles stillzustehen scheint, bereiten mir Verdruss oder treiben mich gar zur Verzweiflung. Fürwahr, manchmal bin ich deshalb geneigt, einem ungesunden Lebenswandel zu verfallen und finsteren Depressionen nachzugeben. Allein die Kokainspritze oder eine Opiumpfeife vermögen dann, mich zu besänftigen.“

„Nun denn, es freut mich, dass dies jetzt nicht der Fall ist.“

„Davon kann wirklich keine Rede sein, mein Freund. Die laufenden Ermittlungen lassen mich nachgerade aufblühen.“

„Sehen Sie sich bemüßigt, mich einzuweihen?“

„Vorerst nur oberflächlich“, antwortete ich hastig, wie ich es immer tat, wenn ich eine heiße Spur verfolgte oder wenn aufgrund neuer Indizien, die vorangegangenen Mutmaßungen hinfällig wurden. „Der Tatbestand ist außerordentlich interessant. Am vergangenen Wochenende gab es einen mysteriösen Einbruch in Hempstead, bei dem merkwürdigerweise nichts gestohlen wurde. Ich sage Ihnen ganz offen, dass ich vor einem Rätsel stehe. Irgendetwas Wertvolles muss gestohlen worden sein, ansonsten ergäbe die Tat keinen Sinn.“

„Worum könnte es sich handeln?“

„Diese Frage kann ich leider noch nicht beantworten“, gestand ich erneut mit schalkhaftem Blick, woraufhin Watson enttäuscht seufzte. Ich erkannte, wie es ihn erzürnte, dass ich mir die Einzelheiten aus der Nase ziehen ließ. Doch er kannte meine Methoden und nötigte mich dankenswerterweise nicht zu einer sofortigen Antwort. Ihm war klar, dass er sie erhalten würde, wenn die Zeit reif war.

„Das klingt kompliziert …“

„Warten Sie, bis Sie von den anderen Fällen hören. Zuerst wäre da der Mord an Charlotte Boothe in Kent vor vierzehn Tagen. Sie war eine betuchte Frau, litt jedoch unter Morbus Pick, modern sprach man aktuell von Demenz, weshalb sie zu ihrem eigenen Besten von ihren Angehörigen hinter verschlossenen Türen gehalten wurde. Ihre Zelle hatte nur eine Tür, aber irgendeine Person, wenn ich dies bereits mutmaßen darf, überlistete die Krankenschwester, die nachts sehr gewissenhaft dort wachte, verschaffte sich Zugang und tötete die alte Frau. Dennoch deutet keine einzige Spur darauf hin, dass jemand anderes außer der Schwester, die über jeden Verdacht erhaben ist, den Raum betreten hat.“

„Die Polizei weiß also nicht mehr weiter?“

„Ha! Die Polizei erweist sich wie immer als sehr begriffsstutzig.“

„Demnach können Sie sich endlich wieder ausleben. Sie genießen es, habe ich recht?“

Ich nickte freudestrahlend. „Und wie! Aber das Beste, alter Freund, habe ich bis zum Schluss aufgespart. Die preisgekrönte Bulldogge des jungen Billy Somerset wurde entführt. Pug, so heißt das Tier, könnte verschulden, dass eine der einflussreichsten Familien Englands ihre Peerswürde verliert, falls er nicht bald wieder auftaucht. Ich bin auf dem Sprung zu einem Treffen mit Billy und möchte das Anwesen der Somersets unter die Lupe nehmen. Sie sehen also, Watson, ich habe im Moment eine Menge am Hals, wie man so sagt, und untersuche gleich mehrere Beispiele für das verbrecherische Potenzial unserer Nation.“

„Was hat es eigentlich mit Lestrades Nachricht auf sich?“, wollte Watson wissen.

Ich hatte sie eine Stunde zuvor erhalten und sofort gelesen, bisher aber noch keine Bemerkung dazu abgegeben. „Der Mann hat eine blühende Phantasie.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ständig verzettelt er sich auf die eine oder andere Weise und erwartet, dass ich ihm auf die Sprünge helfe. Diesmal werde ich vermutlich passen.“

„Wie bitte, Holmes?“

Watsons Überraschung war offensichtlich, doch ich hatte damit gerechnet. Es gab mir ein wenig Zeit, bis er eine genaue Erklärung verlangte. „Ich bin einfach zu beschäftigt, um mich mit Lestrade und einem Mord im horizontalen Gewerbe abzugeben.“

„Sind Sie sicher, Holmes?“, hakte der Doktor nach.

Ich tat seine Sorge mit einem nachsichtigen Lachen ab. „Ach, lieber Watson, glauben Sie mir. Obwohl der Sachverhalt zweifellos recht unappetitlicher Natur ist, handelt es sich um einen schnöden Mord, nicht mehr. Für jenen Teil der Stadt ist dies keineswegs ungewöhnlich.“

„Aber immer noch ein Mord, Holmes.“

„Natürlich. Doch in und um London kommt es jeden Tag und jede Nacht zu rund zwanzig Fällen dieser Art. Verlangen Sie von mir, dass ich losziehe und alle im Handumdrehen aufkläre? Werden Lestrade und seine Gehilfen nicht dafür bezahlt?“

Als ich Watson anschaute, stand ihm die Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Ihn so verdrießlich zu sehen, berührte mich unerwartet. Aber so war mein Getreuer eben. Als grundanständiger Mann hätte er die Welt und jeden einzelnen Menschen im Alleingang gerettet, wäre er dazu imstande gewesen. Ich für meinen Teil war im Vergleich etwas realistischer, würde ich sagen. „Ich zeige mich nicht absichtlich kalt oder herzlos, mein Freund, sondern habe praktische Gründe. Leider kann ich mich nicht um jedes Verbrechen und Rätsel in unserer geliebten Stadt und ihrem Umkreis kümmern. Vielmehr muss ich Prioritäten setzen.“

Watson nickte. „Das verstehe ich wohl, aber mir dämmert auch, dass sich Lestrade im Stich gelassen fühlen muss.“

„Gewiss, doch er wird darüber hinwegkommen. Unser Unternehmen fußt auf unverrückbaren Grundsätzen, und es ist schlicht Fakt, dass meine Mittel und Kräfte, Zeit und Wachsamkeit beschränkt sind. Wir können uns nicht jedem Kriminalfall in London widmen. Dieser Mordfall übersteigt Lestrades Handelsvermögen keinesfalls. Er muss sich lediglich konzentrieren.“

„Vermutlich haben Sie recht.“

„Kommen Sie, Watson, wir müssen uns nicht mit solchen Nichtigkeiten aufhalten. Ziehen Sie Mantel und Hut an, wir machen uns unverzüglich auf den Weg zu den Somersets.“

„Jetzt sofort?“

„Jawohl, Watson, jetzt sofort. Von nichts kommt nichts.“ Ich hatte meinen Überzieher bereits genommen und lief die Stufen unseres Hauses in der Baker Street hinunter, als sei mir der Leibhaftige auf den Fersen. Watson heftete sich mit Mantel und Hut in den Händen an meine Fersen. Er musste sich anstrengen, um Schritt zu halten, während er versuchte, beides anzuziehen, bevor wir den Eingangsflur erreichten. Am Fuß der Treppe stießen wir auf unsere Vermieterin Mrs Hudson, die gerade die Haustür geöffnet hatte, um Inspektor Lestrade von Scotland Yard hereinzulassen, der übel gelaunt und sehr erschöpft aussah.

„Ah, Lestrade!“, grüßte ich bemüht freundlich. „Freut mich, Sie zu sehen. Und auf Wiedersehen! Watson und ich sind gerade auf dem Sprung.“

Er baute sich im Türrahmen auf, doch es gelang ihm nicht, mich am Hinausgehen zu hindern.

„Holmes!“, rief er mir nach. „Halt, warten Sie bitte!“

„Tut mir leid, Lestrade“, entschuldigte ich mich kurz angebunden in der Hoffnung, ihn damit abfertigen zu können. Dann richtete ich mich an meinen Begleiter. „Los, Watson, wir haben uns für heute viel vorgenommen.“

Der Inspektor packte meinen Arm und hielt mich vehement zurück. „Ich flehe Sie an, Mister Holmes! Wir brauchen Sie.“

Watson fühlte sich vom Verhalten des Inspektors genauso vor den Kopf gestoßen wie ich. Er wurde sichtlich unruhig, als er den Zorn bemerkte, der wohl kurz in meinen Zügen aufflackerte, weil ich es als beleidigend empfand, auf diese Weise von Lestrade bedrängt zu werden.

Allerdings zügelte ich mich und beschränkte mich darauf, ihn nur argwöhnisch anzustarren. „Bitte, lassen Sie mich los“, verlangte ich in ruhigem, aber entschiedenem Ton von ihm.

„Natürlich, Mister Holmes!“ Der Inspektor löste seinen Griff. „Verzeihen Sie, wenn ich mit der Tür ins Haus gefallen bin.“ Dann fügte er vertraulich hinzu: „Ich möchte Ihre Meinung zu einer sehr ernsten Angelegenheit hören.“

„Dürfen Sie gerne, Lestrade“, beteuerte ich, wenn auch nur ungern, doch ihn plagte offensichtlich ein großes Problem, das ihm über den Kopf gewachsen zu sein schien. Um meinen Worten Gewicht zu verleihen, seufzte ich, bevor ich anbot: „Kommen Sie mit hinauf, dann reden wir in Ruhe darüber.“

„Danke sehr, Mister Holmes.“

Als wir in meine Wohnstube zurückgekehrt waren, legte Watson seine Kleidungsstücke nieder, die anzuziehen er keine Gelegenheit bekommen hatte, und nahm Mantel und Hut des Inspektors entgegen. Dann bedeutete er Lestrade, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Ich machte es mir in meinem angestammten Sessel bequem und harrte der Dinge, die der Inspektor zu erzählen hatte. Unterdessen musterte ich den Mann gründlich. Er war nervös und mit seinem Latein am Ende, so viel stand fest. Irgendetwas musste den armen Kerl völlig aus der Fassung gebracht haben.

„Schießen Sie los, Lestrade!“, rief ich ungeduldig. „Was haben Sie auf dem Herzen? Ohne Zweifel sind neue Beweise aufgetaucht, aber kommen Sie mir bitte nicht mit dem Ripper wie in dem Schreiben, das ich heute von Ihnen erhielt.“

Der Inspektor atmete tief durch. An seiner Miene erkannte ich, dass er aufgekratzt war und sich fürchtete. Er hatte wohl kürzlich etwas erlebt, das ihn verstörte, und wusste nun nicht, wo er anfangen sollte, um es mir zu erklären. Mein Interesse war geweckt, und ich beugte mich im Sessel nach vorn. Ich bin mir sicher, der gute Watson hätte mich in einer seiner Erzählungen für die Massenzeitschriften mit einem erregten Bluthund verglichen, der Beute witterte, darüber alles andere vergaß und loshetzen wollte, sobald er die Fährte aufgenommen hatte. So abwegig wäre eine solche Beschreibung vielleicht auch gar nicht gewesen.

„Hier, nehmen Sie einen Schluck.“ Watson bot dem Inspektor ein Gläschen Brandy an.

„Danke, Doktor.“ Lestrade hielt viel von Abstinenz und schwor dem Alkohol zumindest im Dienst ab, doch jetzt setzte er an und trank die bernsteinfarbene Flüssigkeit in einem Zug.

Watson fragte sich bestimmt, was in aller Welt passiert war, dass der mit allen Wassern gewaschene Polizist so aus der Fassung geriet.

Schließlich zuckte Lestrade mit dem Kopf, als erwache er aus einer Trance. „Ich weiß, Sie beide“, begann der Inspektor unbeholfen, derweil er zwischen uns hin und her schaute, „glauben an den Teufel, denn Sie haben ihn walten sehen. Nun, auch ich kann von mir behaupten, ihn zu kennen. Ich habe die nackte, brutale Boshaftigkeit in dieser Form erst einmal erlebt, und jetzt sitze ich so tief in der Klemme, dass ich alleine nicht mehr hinausfinde. Ich brauche Ihre Hilfe.“

„Wir werden Ihnen, so gut wir können, unter die Arme greifen“, meinte Watson großmütig.

Ich warf meinem Freund einen unwirschen Blick zu, doch er bemerkte zu spät, dass mir seine vorschnelle Antwort missfiel. „Fahren Sie fort, Lestrade!“, verlangte ich barsch. „Die Fakten, bitte! Und beschränken Sie sich auf das Wesentliche.“

Der Inspektor begann mit einem lang gezogenen Seufzer. „Eine junge Lady ist grausam ermordet worden, eine Straßendirne eigentlich, aber das ist völlig unerheblich. Schwerer fällt ins Gewicht, dass ich mir keinen Reim darauf machen kann. Die Tat war extrem abscheulich; die Frau wurde aufgeschnitten und ausgeweidet, Mister Holmes.“

Der Anblick muss furchtbar gewesen sein, Lestrade sah erschüttert aus. Dem herbstlich frischen Wetter zum Trotz, das schon die ganze Woche in London herrschte, war sein Gesicht schweißgebadet.

„Sie haben einen Blutfleck am Ärmel, Inspektor“, warf Watson behutsam ein.

„Und wenn schon, Doktor. Das ist nichts im Vergleich zum Ausmaß der Grausamkeit.“

Meinen Augen entging keine Einzelheit von Lestrades Gebaren, aber ich blieb schweigsam und reglos wie die Statue, mit der mich der gute Doktor häufig verglich. Gerieten meine Fälle an einen solchen Punkt, erging er sich in seinen Geschichten in blumigen Beschreibungen, wonach ich starren Blickes dagesessen hätte, als sähe ich in die Tiefen von Zeit und Raum, wie er es nannte, und sei dem Hier und Jetzt entrückt. So weit der Wortlaut, aber das alles war Unsinn, sage ich Ihnen. Mein Gefährte formulierte nicht selten zu dramatisch, wenn er sich auf meine angeblich unmenschlichen Fähigkeiten bezog, wo ich eigentlich nur in Gedanken vertieft war. In solchen Augenblicken mochte ich manchmal so wirken. Jetzt äußerte ich noch kein Wort, sondern gab acht, wie sich der Inspektor verhielt und bewegte; dadurch erfuhr ich alles, was ich wissen musste. Die Lage schien tatsächlich ernst.

„Lestrade, wir müssen mehr erfahren!“, griff Watson den Faden wieder auf.

„Es war einfach grässlich“, erwiderte der Inspektor. „Mehrere meiner Männer haben sich am Tatort übergeben, das sagt alles.“ Er bemühte sich sichtlich, nicht von seinen Emotionen überwältigt zu werden. „So etwas habe ich noch nie gesehen, wobei ich darauf hinweisen darf, dass ich 1888 … es ist lange her, ich weiß … am Ripper-Fall mitgearbeitet habe. Als junger Polizist habe ich einen Eindruck davon erhalten, was Saucy Jack den Frauen angetan hat, mit denen er gespielt hat. Dieses Gemetzel trägt die gleiche Handschrift. Ich fürchte, Mister Holmes, Jack the Ripper ist zurück!“

„Gott steh uns bei!“, japste Watson unverhohlen bestürzt.

„Besinnen Sie sich!“, brauste ich auf und schüttelte heftig den Kopf, weil ich nicht mit dem Inspektor übereinkam. Der alte Verbrecherjäger verlor mal wieder seinen gesunden Menschenverstand. Er warf mir einen befangenen Blick zu und zeigte sich überrascht darüber, dass ich zu widersprechen geneigt war.

„Lestrade, Lestrade“, wiederholte ich spitz und wackelte weiter mit dem Kopf, wie um ein ungezogenes Kind zu schelten. „Es mit dieser Einstellung anzupacken, ist grundfalsch.“

Obwohl ich meine Pfeife in einer Hand hielt, machte ich keine Anstalten, sie anzuzünden.

Die verdrehten Erwägungen des Inspektors rührten wohl von seinem erhitzten Gemüt her, waren also der Panik geschuldet, zumal ihm noch handfeste Beweise fehlten. Zwar mochte sich ein schrecklicher Mord ereignet haben, doch Jack the Ripper schied für mich als Täter aus. Ich fand Lestrades Vermutungen nicht einmal gehaltvoll genug, um sie beim Schmauchen zu erörtern. Watson indes stöhnte nervös.

„Am besten blenden Sie den Ripper vollständig aus, Lestrade“, beharrte ich. Er musste unbedingt begreifen, dass Vernunft gefragt war, statt irgendwelcher Fantastereien. „Sonst werden Sie in eine Sackgasse geraten und am Ende mit leeren Händen dastehen. Lottermädchen handeln sich ständig Schwierigkeiten ein. Ihr Beruf ist mit Risiken verbunden, traurig, aber wahr. Die Tatsache, dass wir es in diesem Fall mit einem beträchtlichen Ausmaß an Gewalt zu tun haben, ist beklagenswert, aber eigentlich kein Wunder. Wenn Sie lediglich auf den Ripper als Täter beharren, wird es Ihnen übel ergehen. Falls das Gerücht die Runde macht, geraten die Bürger in Aufruhr, und bei Scotland Yard wäre man äußerst ungehalten. Was dies für Ihre Karriere bedeuten könnte, muss ich nicht ausführen. Sehen Sie also bitte von dieser Theorie ab! Nachdem Sie die Faktenlage geklärt haben, können Sie immer noch Hypothesen aufstellen.“

Lestrade blieb stumm sitzen und ließ sich offenbar meinen Rat durch den Kopf gehen. Dann schüttelte er den Kopf. „Sie sind ein weiser Mann, Mister Holmes, und haben in mancher Hinsicht bestimmt recht, aber ich spüre, dass ich in dieser Angelegenheit an meiner Einschätzung festhalten und meinen Gefühlen folgen muss. Sie waren nicht dabei und haben es im Gegensatz zu mir nicht gesehen. Ich sage Ihnen, in meiner Stadt geht das Böse um, und ich habe erfahren, wozu es fähig ist. Ich bleibe dabei, es war Jack the Ripper!“

„Wirklich, Lestrade?“, fragte ich provokativ. „Es ist bestimmt so einfach zu erklären, wie ich sagte, und hängt mit den Gefahren zusammen, die der Beruf der Straßendirne mit sich bringt. Würde es mein Terminkalender erlauben, täte ich nichts lieber, als Ihnen zu helfen, seien Sie sich dessen sicher. Leider nehmen mich gegenwärtig weit komplexere Fälle in Beschlag, die obendrein eine Faszination auf mich ausüben, die genau nach meinem Geschmack ist. Sehen Sie mir also nach, wenn ich Ihnen meine Unterstützung in diesem Mordfall versagen muss.“

„Aber Mister Holmes …“, flehte Lestrade.

Sein Hundeblick wirkte unschicklich, weshalb ich mich für ihn schämte. Er war ein guter Polizist und ein stolzer Mann, also grämte es mich, dass er sich eine solche Blöße gab. Auch den Doktor befremdete es offensichtlich, Lestrade so verzweifelt zu erleben.

„Holmes?“, fragte er zaghaft. „Können Sie dem Inspektor keine ausführlicheren Ratschläge geben? Ein paar Hinweise darauf, in welche Richtung er zuallererst ermitteln soll, sind doch bestimmt nicht zu viel verlangt.“

Ich antwortete zunächst nicht, gab jedoch schließlich seufzend nach. „Also gut, Watson. Wenn ich es Ihnen sage, Lestrade, ist das alles am Ende überhaupt nicht schwierig. Eine Prostituierte wurde getötet, also sollten Sie sich in den entsprechenden Milieus umschauen.“

„Ich weiß, Mister Holmes, aber mir kommt die Sache ernster vor, als ein schlichter Mord an einer Dirne.“

„Jeder Mord ist ernst, aber man zäumt das Pferd im Rahmen der Ermittlungen trotzdem nicht von hinten auf, indem man sich ohne Indizien auf eine Theorie versteift, so verführerisch sie auch anmuten mag. Zuerst sollten Sie Beweise und Fakten sondieren, sonst nichts. Beides gibt den Weg vor, dem Sie daraufhin folgen müssen.“ Nach dieser eigentlich überflüssigen Anweisung schüttelte ich wieder den Kopf. Es war traurig; er hätte es besser wissen müssen, was normalerweise auch der Fall gewesen wäre, aber was er gesehen hatte, verursachte ihm augenscheinlich ein schweres Trauma. Die Tote hatte sein Nervenkostüm arg in Mitleidenschaft gezogen, und seine Reaktion interessierte mich irgendwie schon. Ihn jedoch auf den richtigen Kurs zu geleiten, hatte Vorrang.

„Ihre Schlüsse haben Sie offensichtlich anhand einer äußerst oberflächlichen Beschau des Tatorts gezogen. Dass der Mord sehr blutig war, will ich gar nicht in Abrede stellen, doch er wurde nicht von Jack the Ripper begangen, sondern nur in dessen Stil. Geben Sie Ihren Verdacht auf, er führt zu nichts. Wie gesagt, die Fakten haben Vorrang. Gehen Sie ihnen auf den Grund. Nur so finden Sie die Wahrheit heraus.“

„Ich dachte eigentlich, genau dies getan zu haben, Mister Holmes.“

„Dass Sie nach dem, was Sie gesehen haben, aus der Fassung geraten sind, Inspektor, ist klar ersichtlich. Die schiere Brutalität der Tat hat Sie bis ins Mark erschüttert, das ist deutlich zu erkennen. Trotzdem dürfen Sie sich nicht durch Ihren augenblicklichen Gefühlstaumel beirren lassen. Besinnen Sie sich auf Ihre Kritikfähigkeit!“ Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass diese Worte in den kommenden Tagen auf mich zurückfallen sollten. Ausgerechnet Jack the Ripper wollte er diesen Mord anheften, ohne Indizien und Tatsachen in angemessener Reihenfolge zu prüfen.

„Holmes …?“, hakte Watson vorsichtig nach.

Zugleich sah ich, wie ein Funken Hoffnung in der traurigen Miene des Inspektors aufblitzte.

„Ach, wenn wir schon dabei sind …“ Ich stöhnte noch einmal, sodass die beiden erkennen mussten, wie entnervt ich war. „Soll ich es Ihnen aufschreiben, Lestrade? Nein? Gut, nehmen Sie sich der Verdächtigen in folgender Reihenfolge an. Erstens, den Gatten oder Freund der Frau, falls sie einen hatte. Es könnte natürlich auch mehrere geben. Gut möglich, dass eine solche Suche Ihre gesamte Abteilung vierzehn Tage lang auf Trab halten wird. Zweitens, mögliche Arbeitgeber, in diesem Fall einen Zuhälter, der zugleich auch einer der oben genannten sein könnte. Drittens, Schlepper oder Schläger, die sich in den Etablissements herumtreiben, wo die Ermordete auf Kundenfang ging. Viertens, die Nachbarn. Vielleicht gab es welche, die um ihre Gunst buhlten. Und schließlich fünftens, einen unzufriedenen Freier. Er könnte die letzte Person sein, die sie in ihrem Leben sah.“

Lestrade strahlte. „Ich werde mich sofort an die Arbeit machen!“

„Dies wird Sie und Scotland Yard mehrere Tage in Beschlag nehmen“, meinte ich.

„Also Holmes“, bemerkte Watson lächelnd. „Hut ab! Ich bin glattweg beeindruckt. Sie haben im Handumdrehen einen detaillierten Leitfaden verfasst, der übersichtlicher und logischer nicht sein könnte. Der Inspektor braucht sich bloß daran zu halten, um den Täter geschwind zu fassen und den Fall zu lösen.“

Ich zeigte mich Watson mit einem kurzen Nicken erkenntlich. Der gute Mann mochte noch so oft betont haben, wie ihn meine Kombinationsgabe verblüffte, in Wirklichkeit überraschte mich selbst eines noch mehr, dass weder er noch eine Menge anderer Menschen zu solch naheliegenden Schlussfolgerungen kamen. „Lestrade, wenn Sie sich an die Reihenfolge halten, die ich Ihnen vorgegeben habe, werden Sie dem Täter unter Garantie bald auf die Schliche kommen. Ich will nicht annehmen, dass Sie mich weiterhin für jede Bluttat heranziehen.“ Diese letzte Spitze konnte ich mir nicht verkneifen.

Lestrade schaute verlegen drein. „Sie treffen vermutlich den Nagel auf den Kopf, Mister Holmes. Höchstwahrscheinlich hat in diesem Fall das Metier den Tod nach sich gezogen. Dennoch ist es entsetzlich, was man der armen Frau angetan hat. Aufgeschnitten und ausgenommen, einen solchen Anblick verwindet man nicht ohne Weiteres. Das pure Grauen, Sir! Wie unerhört, wie unnötig mutet es an, dass der Mörder ihr Vitriol ins Gesicht geschüttet hat. Das Verbrechen ist auch so schon abartig genug, doch dies schlägt dem Fass den Boden aus!“

Ich fuhr ruckartig in die Höhe. Hatte ich richtig verstanden? Lestrade musste sich einen strengen Blick gefallen lassen. „Sagten Sie Vitriol?“

„Ja, Vitriol“, bestätigte er. „Dabei handelt es sich, wie man mir erklärte, um Salze der Schwefelsäure.“

Mir wurde eiskalt, als würde mich der Schnitter im Genick packen. Mehrere Augenblicke lang schwieg ich und gab mich finsteren, mäandernden Gedanken hin. Dabei verspürte ich einen zornigen Druck hinter den Augen, während mein Hirn auf Hochtouren arbeitete. Ich entsann mich der Ereignisse, die drei Jahre zurücklagen, derweil mich Watson zutiefst bekümmert beobachtete. Er ahnte wohl, was sich anbahnte. Für den Moment verschlug es mir jedenfalls die Sprache.

„Holmes, was ist mit Ihnen?“, fragte Lestrade vorsichtig.

Ich sann weiter gründlich nach, bevor ich mein Schweigen brach. War es möglich? Oh ja, definitiv. „Watson, wir lassen sofort alles stehen und liegen!“, rief ich finster entschlossen heraus. „Lestrade, ich werde die Ermittlungen in diesem Fall unverzüglich aufnehmen und Ihnen bis zum Ende zur Seite stehen. Sie gehen voran!“

Kapitel 3
Der Tatort

 

Lestrade bestellte für uns einen Wagen, der uns geschwind in ein düsteres, tristes Sündenviertel am Rande von Whitechapel brachte. Armut und Abschaum prägten das Bild, Menschen mit fragwürdigen Ambitionen und vergeblichen Hoffnungen, die zum Leben in von Gin durchtränkter Verzweiflung und Kriminalität verdammt waren. Die heruntergekommenen Häuser glichen Tierhöhlen und beherbergten arme Einwanderer, die Wuchermieten dafür zahlten. In dieser üblen Gegend kamen all jene zusammen, die das Empire vergessen hatte, um ihre Fleischeslust zu befriedigen, billigem Fusel und den dunklen Träumen zu frönen, die der Rausch des Opiums verhieß.

Natürlich kannte ich mich hier bestens aus, weil ich diesen Bezirk schon früher bei zahlreichen Gelegenheiten aufgesucht hatte. Im Zentrum der Londoner Unterwelt fühlte ich mich quasi pudelwohl, ganz im Gegensatz zu meinem armen Freund, der selbst in seiner Funktion als Arzt nie in solch zwielichtige Gefilde gelangt war. Für mich hingegen war die Umgebung anregend, wenn nicht sogar berauschend, was mein gebeutelter Gefährte nicht von sich behaupten konnte. Ich ließ mich dazu hinreißen, den Inspektor auf verschiedene Orte von polizeilichem Interesse hinzuweisen, allesamt zweifelhafte Etablissements, in denen es zu schauderhaften Morden und anderen Untaten gekommen war. Als Watson anmerkte, ich besäße eine einzigartige und wohl auch ungesunde Kenntnis über das Areal mitsamt seinen Bewohnern, konnte ich nur müde lächeln. Logischerweise wusste auch der Inspektor über die meisten Begebenheiten Bescheid, die sich hier ereignet hatten, und so ergingen wir uns alsbald in ausführlichen Beschreibungen von widerwärtigsten Verbrechen und Gewalttaten. Dies dauerte eine ganze Weile, wobei wir einen dicken Katalog schlimmer Handlungen besprachen, von denen der gute Watson nur ungern erfuhr. Erst als unser Wagen stehen blieb, besannen wir uns. Bei den Häusern an unserem Zielort handelte es sich um regelrechte Bruchbuden. Vor einem, Nummer 111, hielt ein stattlicher Londoner Polizist Wache. Wir stiegen aus unserem Gefährt und gingen hin.

„Alles in bester Ordnung, Jenkins“, versicherte der Inspektor dem Konstabler. „Mister Holmes und Doktor Watson möchten den Tatort untersuchen.“

Der Beamte stand steif und achtsam da. „Die Tür blieb wie befohlen fest verschlossen, nachdem Sie gegangen waren.“

„Wie aus dem Lehrbuch“, lobte Lestrade und nickte. „Mister Holmes, Doktor Watson! Folgen Sie mir, bitte. Aber Achtung, falls Sie einen empfindlichen Magen haben.“

Vorsichtig betraten wir den dunklen Verschlag. Der Tatort beschränkte sich auf einen Wohnraum direkt an der Straße, mit einem Bett an der hinteren Wand. Landläufig nannte man so etwas wohl eine Liebeslaube, ein Stundenzimmer für Dienstleistungen geschlechtlicher Natur, die man im Voraus bezahlte. Drinnen herrschte großes Durcheinander, und der Gestank des Todes hing schwer in der Luft. Es wimmelte nur so von Fliegen und roch widerlich nach einer Mischung aus Schweiß sowie menschlichen Exkrementen beziehungsweise dem vielen Blut, das vergossen worden war, wie wir mittlerweile wussten. Allerdings nahm ich noch etwas wahr, den Inbegriff des Bösen oder dessen Odeur, so man einem solchen Abstraktum Gerüche zumessen mochte. Bis zum heutigen Tag erinnere ich mich an die greifbare Gegenwart des Bösen, das Ungeziefer und den intensiven Blutgeruch wie von Kupfer, der den Raum zu durchdringen schien, sodass wir die Verwesung geradezu schmecken konnten. Ich zumindest kenne diese Essenz nun und kann beteuern, dass man sie nie wieder vergisst, sobald man einmal mit ihr in Berührung kam.

Verständlicherweise sträubte sich jede Faser in meinem Körper dagegen, diese Luft einzuatmen. Watson hustete in sein Taschentuch, mit dem er sich Nase und Mund zuhielt.

Der Inspektor riss ein Streichholz an und entzündete damit drei Lampen rings um das Bett. „So und nicht anders haben wir sie gefunden“, beteuerte er.

Auf der Matratze bot sich Watson und mir ein widerliches Bild. Unsagbar grässlich war es, und ich konnte nachvollziehen, wie sich der arme Lestrade gefühlt haben musste, als er darauf gestoßen war. Mit so etwas rechnete man nicht. Schweigend suchte ich das Zimmer ab und fragte mich, über was genau der Inspektor hier gestolpert war. Inzwischen glaubte ich, das Opfer zu kennen. So, wie Watson die Leiche beäugte, schien ihm die Frau ebenfalls vertraut zu sein, wenngleich nicht viel von ihr übrig geblieben war, woran man sie identifizieren konnte.

Vielleicht hing es mit Instinkten zusammen, einer bloßen Ahnung oder scheinbar unbedeutenden Einzelheiten, die mich stutzig machten. Andererseits mochte es nur ihr Haar gewesen sein, ein dichter Schopf mit feuerroten Strähnen. Ich kannte diese Frau tatsächlich. Meine Befürchtungen bestätigten sich.

„Eine riesige Schweinerei!“, brummte der Inspektor.

„Alles hier wurde so inszeniert. Dahinter steckt eine Botschaft.“

„Eine Botschaft? An wen?“

An mich!, dachte ich und untersuchte die Matratze sowie den Raum ringsum minutiös. Um das Blut auf dem Laken, dem Boden und einem Teppichläufer vor dem Bett zu besehen, nahm ich meine Lupe heraus. Dabei wollte ich Hinweise auf die Vorgehensweise des Mörders finden, worüber in der Regel gerade die Richtung Auskunft gab, in der Blut verschmiert war. Keine angenehme Art. Die gesamte Wand war rot bespritzt, hielt jedoch ebenfalls wertvolle Spuren bereit, die ich sicherte, um später darauf zurückzukommen. Zuletzt fasste ich den Leichnam ins Auge, wiewohl ich die Hände bei mir behielt. Vielmehr ging es mir darum, Notiz von den Wundstellen zu nehmen, der Lage der Toten sowie der Beschaffenheit ihrer Entstellungen.

Während ich mich weiter im Zimmer umschaute, trat Konstabler Jenkins ein und bat den Inspektor zu einer kurzen Unterredung an die Tür. Die beiden Männer flüsterten mehrere Minuten miteinander.

Watson sah mir bei der Arbeit zu. „Um Gottes willen, wer ist zu einer solchen Tat fähig?“

Ich gab keine Antwort, sondern fragte zurück: „Mein Freund, was halten Sie von alledem?“

Der Doktor schüttelte betreten den Kopf, dann trat er vor, um die Reste des Oberkörpers der Toten zu besehen. „Sie wurde regelrecht abgeschlachtet. Der Schnitt muss mit einer langen Klinge gemacht worden sein, vermutlich einem Beinmesser oder einem Bajonett, wie man es beim Militär verwendet. Und Holmes … dies geschah, während sie noch lebte! Ihr Gesicht wurde weggeätzt. Um zu erkennen, wer sie war, bleibt kaum genug übrig.“

„Hier war ein Monster am Werk, Watson.“ Mit Lupe und Pinzette entnahm ich weitere Gewebeproben, die ich in ein Reagenzglas steckte, das ich mit einem kleinen Korken verschloss. „Es handelte sich um Vitriol, wie wir gehört haben. Dies geschieht nicht zum ersten Mal, erinnern Sie sich? Ich fürchte, er benutzt es nun als Visitenkarte.“

Er?“, wiederholte der Doktor verwundert.

„Wen meine ich wohl? Es kann nur Baron Adelbert Gruner gewesen sein“, entgegnete ich. „Sie haben den Namen und die damit verbundenen Missetaten doch nicht vergessen?“

„Gott bewahre, Holmes, das habe ich nicht!“

Drei Jahre zuvor hatte Gruner einige Schläger auf mich angesetzt. Daraufhin waren Watson und ich beschuldigt worden, in sein Haus eingebrochen zu sein und ein Tagebuch mit prekärem Inhalt entwendet zu haben. Infolgedessen hatten wir seine Pläne, eine vornehme Lady zu ehelichen, durchkreuzt und ihn, eben unseren illustren Klienten, in seine Schranken verwiesen.

„Trotzdem … glauben Sie wirklich, er war hierfür verantwortlich?“

„Es deutet alles darauf hin“, murmelte ich.

„Sicher, Holmes?“

„Absolut.“

Watson schwieg einen Augenblick, während seine Augen auf der Leiche vor uns ruhten. „Dann ist sie …“

„Genau. Kitty Winter.“

Jetzt schaute er die Tote an, als hätte er sie gerade erst entdeckt. Mit einem Mal, nun, da er ihre Identität kannte, entglitten seine Züge vor Gram. Kannten wir die Opfer der Verbrechen, die wir aufzudecken suchten, war es stets besonders schlimm. „Weiß Lestrade, wer sie ist?“

„Ich glaube nicht, aber er soll es gleich erfahren.“

Watson stand noch neben mir, als ich mich wieder über die Leiche beugte und sie erneut aus allen erdenklichen Winkeln betrachtete. Das Vitriol hatte, mehr noch als drei Jahre zuvor, Kittys Gesichtshaut großflächig aufgelöst und einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Oberkörpers zerfressen, sodass eine Identifikation nahezu unmöglich schien. Sie war nur noch ein zusammengeschmolzenes Etwas, ein Haufen rohes Fleisch.

„Vitriol, Watson.“

Lestrade und Jenkins hatten ihre Unterhaltung beendet. Der Konstabler war auf seinen Posten zurückgekehrt, und der Inspektor kam wieder zu uns. „Wie es scheint, haben Sie recht, Holmes. Jack the Ripper ist wohl nicht der Schuldige. Dass ich mit meiner Einschätzung, es handle sich um eine Art Wiedergänger des Serienmörders, danebenlag, gebe ich mit Erleichterung zu, denn wir haben den wirklichen Killer gefasst. Er befindet sich genau in diesem Moment in der Obhut von Scotland Yard.“

Ich blickte überrascht auf. „Wunderbar, Lestrade! Und wer ist der Mann?“

„Das stellt noch ein Problem dar, denn es ließ sich bislang nicht in Erfahrung bringen. Er verschweigt seinen Namen und spricht generell nicht mit meinen Leuten. Aber vom Aussehen her gehört er wohl zum Pöbel aus dieser Gegend, weshalb meine Mitarbeiter nicht lange brauchen werden, bis sie ihn zuordnen können.“ Lestrade wirkte stolz. „Er ist sicherlich aktenkundig, wie die meisten seines Schlags. Als wir ihn stellten, klebte etwas von dem Blut der Frau an seinen Händen, also besteht kaum ein Zweifel an seiner Schuld. Ein …“

„Darf ich Sie daran erinnern, Inspektor, dass auch Sie Blut, vermutlich ebenfalls von der Toten, auf Ihrem Ärmel hatten?“, warf der Doktor süffisant ein.

„… einfacher Fall, wie Sie schon ahnten“, fuhr Lestrade fort, ohne auf Watsons Bemerkung einzugehen. „Vermutlich war er ihr Liebhaber oder Zuhälter, oder beides zugleich, wie es häufig vorkommt.“

„Konnten Sie das Opfer identifizieren, Lestrade?“, fragte ich.

„Ich werde sie ins Leichenschauhaus bringen lassen und eine genauere Untersuchung anordnen. Danach wissen wir wohl mehr. Die Frau trug natürlich keine Dokumente bei sich, und auch im Zimmer liegt nichts. Ein Mann hat diesen Raum für eine Stunde angemietet, ohne seinen Namen anzugeben, was im Rahmen solch schmutziger Verabredungen den Regelfall darstellt. Allerdings bin ich zuversichtlich, die notwendigen Einzelheiten herauszufinden, sobald der Kerl redet, den wir in der Zentrale festhalten.“

„Also, ich muss Sie beglückwünschen, Lestrade. Sie scheinen wohl alles fest im Griff zu haben. Kein Vergleich mehr zu Ihrer Verfassung heute Vormittag.“

Darauf, dass ich ihm Honig um den Mund schmierte, bildete sich der Inspektor etwas ein, obwohl Zynismus und eine beträchtliche Portion Ironie in meinen Worten mitschwangen.

Watson lächelte mir zu; er wusste Bescheid.

„Ich kann Ihnen die Information geben, die Sie brauchen“, sagte ich zu Lestrade. „Die Tote hieß Kitty Winter und war vor drei Jahren in den Fall Gruner verwickelt. Erinnern Sie sich noch daran? Sie war von ihm hinters Licht geführt und entstellt worden, hatte jedoch Rache genommen und eine Flasche Vitriol in sein Gesicht geworfen, und so wurde auch er für immer gezeichnet. Ihr drohten zwei Jahre Haft. Die Umstände ihrer Tat waren jedoch solcherart, dass sie nicht ihre gesamte Haftstrafe verbüßen musste. Sie ist seit mittlerweile sechs Monaten wieder frei und verdingt sich im East End und hier in Whitechapel.“

Lestrade nickte langsam. „Ja, ich erinnere mich, übrigens auch daran, dass Sie seinerzeit gemeinsam mit dem Doktor des Einbruchs beschuldigt wurden, nicht wahr?“

„Fälschlicherweise, wenn ich Ihr Gedächtnis auch in diesem Punkt auffrischen darf, Inspektor!“ Watson war vorgetreten. „Man konnte uns nichts nachweisen.“

Ich räusperte mich und tat brüskiert. „Ich glaube, der Mann in Ihrer Verwahrung, so es sich tatsächlich um den Täter handelt, wird sich als Gruner erweisen. Der Baron besitzt ein Motiv. Er hat nun seinerseits Vergeltung an Miss Winter geübt.“

„Wir werden sehen … Aber da wäre noch eine Angelegenheit, in der Sie mir helfen könnten.“ Auf einmal wirkte Lestrade wieder zerknirscht. „Es ist so, dass der Festgehaltene zwar, wie gesagt, nicht mit der Sprache herausrückt, uns aber wissen ließ, er unterhalte sich bereitwillig nur mit einem bestimmten Mann. Gemeint sind Sie, Mister Holmes.“

„Was Sie nicht sagen! Dann verlieren wir keine Zeit, Lestrade. Nehmen Sie uns mit. Daran, dass wir diesen Mann anhören, führt kein Weg vorbei.“

Kapitel 4
Scotland Yard

 

Der gute Doktor hatte die Zentrale vom Yard, wie die meisten Einheimischen die Kriminalpolizei zu nennen pflegten, lange Zeit nicht von innen gesehen, genauer gesagt schon seit mehreren Jahren. Das imposante Gebäude mit seiner schroffen Front stand als erhabenes Symbol für die rigorose Exekutive des Empires und war eine Bastion gegen das Verbrechen. Ich kannte es natürlich wie meine Westentasche, ahnte aber zu jener Zeit nicht, dass ich es bald auf eine Weise kennenlernen sollte, wie ich es mir nicht im Traum ausgemalt hätte.

Der Inspektor geleitete Watson und mich ins Foyer und von dort aus hinab ins Untergeschoss zu den Gefängniszellen. Der Lärm und die Gerüche dort waren äußerst unangenehm und die Gänge beängstigend düster, sodass sich wohlbehaltene Bürger wie der arme Watson davon einschüchtern lassen mussten.

„Wie ertragen die Inhaftierten diese bedrückende Atmosphäre?“, fragte Watson. „Vierundzwanzig Stunden am Tag wegen weiß Gott welch verabscheuungswürdiger Verbrechen in engen Verschlägen hinter Eisengittern eingesperrt zu sein, ist arg.“

„Es scheint sie nicht sonderlich zu bekümmern“, antwortete Lestrade. „Die meisten nehmen ihr Los ruhig und nüchtern hin, obgleich ich mir nichts vormache. Jeder Einzelne von ihnen würde jede Gelegenheit nutzen, um zu flüchten.“

„So hinter Schloss und Riegel zu sitzen, muss furchtbar sein.“ Zwar gab sich Watson jetzt den Anschein von Gelassenheit, doch seine Worte klangen traurig.

Auf dem Weg durch die dunklen Gänge versicherte ich ihm: „In den Staatsgefängnissen geht es viel trister zu, glauben Sie mir, alter Freund. Die Bediensteten von Scotland Yard wahren in allem, was sie tun, einen hohen professionellen Standard. Träfe dies bloß auf das gesamte britische Strafvollzugssystem zu!“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957192080
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Detektiv Spannung Sherlock Holmes Krimi Ermittler Thriller

Autor

  • Gary Lovisi (Autor:in)

Gary Lovisi, (Jahrgang 1952), orientiert sich an Vorbildern wie Philip K. Dick, Conan Doyle, Edgar Rice Burroughs, H. P. Lovecraft, J. R. R. Tolkien, James Ellroy, Robert E. Howard und Andrew Vacchs. Seine besondere Vorliebe gilt Sherlock Holmes. Geprägt wurde er von seiner Heimat Brooklyn, was besonders in seinen Hardboiled-Kriminal-Romanen zum Ausdruck kommt.
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Titel: Sherlock Holmes - Neue Fälle 09: Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall