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Sherlock Holmes - Neue Fälle 21: Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler

von Klaus-Peter Walter (Autor:in)
288 Seiten

Zusammenfassung

Sir Arthur Conan Doyle war ein Ausbund an Diskretion. Über prominente Zeitgenossen, die die Wege von Sherlock Holmes kreuzten, verlor er nie ein Wort. Nun konnte endlich wieder eine Handvoll lost cases aufgefunden und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Sie geben Gewissheit, wo bislang lediglich Vermutung war. Sherlock Holmes begegnete in seiner langen Laufbahn nicht nur dem sarkastischen Dramatiker George Bernard Shaw, William Frederick Cody alias Buffalo Bill oder einem gewissen Dr. Karl May aus Dresden in Deutschland, sondern auch Menschen, die wir eigentlich nur dem Bereich literarischer Phantasien zugeordnet hätten, wie etwa dem berühmten Sprachforscher Professor Henry Higgins und seiner Herzensdame Eliza Doolittle, die das Musical My Fair Lady haben unsterblich werden lassen. Dies ist eine erweiterte Buchausgabe der vergriffenen Hardcover-Ausgabe Sherlock Holmes und Old Shatterhand. Die zusätzlichen Erzählungen Das geheime Leben der Nilpferde und Die andere Frau erschienen bislang nur als Hörspiele und liegen hier erstmals in gedruckter Form vor. Als weiterer Bonus die Geschichte Der Orchideenzüchter. Die Printausgabe umfasst 466 Buchseiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis




Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler


Ich muss es leider zugeben: Manchmal brachten geradezu unglaubliche Zufälle meinen Freund Sherlock Holmes auf die Lösung eines Falles, nicht nur seine stupenden Kenntnisse. Letztere bezog er aus seiner exzessiven Lektüre. Er las schlichtweg alles, was ihm in die Finger kam. Egal, ob es von Ornithologie, Orchideenzucht oder der Musik der Bantu-Neger handelte. Ich glaube, er hatte einen sechsten Sinn für die Notwendigkeit einer bestimmten Lektüre. Dieser sechste Sinn schien ihm zu sagen, dass er spezielle Informationen zu einem bestimmten Thema just zu diesem Zeitpunkt und niemals sonst brauchen würde. Gerade las er in einer zweisprachigen Zeitschrift mit dem seltsamen Namen Albania. Ich erinnerte mich vage, dass so ein Land auf dem Balkan hieß.

„Es ist mein Beruf, die abseitigsten Dinge zu wissen“, erklärte er mir auf meine verwunderte Frage hin, was es mit der Zeitschrift auf sich habe. Doch er ließ das Heft voller Neugier sinken, als ich ihm mitteilte, dass ausnahmsweise ich selbst ihm ein Problem unterbreiten wollte.

Wenn ich meine Aufzeichnungen richtig entziffere, war das im Jahre 1900. Mein ehemaliger Studienkollege Hillary Bentingham – nunmehr Sir Hillary – hatte mich völlig überraschend zum Dinner eingeladen. Viele Jahre hatten wir keinerlei Kontakt miteinander gehabt. Bentingham war eine Doppelbegabung, aber obwohl er das absolute Gespür für Formen, Farben und Linien besaß, hatte er sich gegen die Kunst und für die Medizin entschieden und war Nervenarzt geworden. Zu seinen Patienten zählten hohe und höchste Persönlichkeiten. Sogar Prinz Edward, den Enkel unserer Königin, hieß es, soll er behandelt haben. Seinerzeit galt Eddie, wie er genannt wurde, wegen seines bizarren Verhaltens besonders Frauen gegenüber als einer der heißesten Anwärter auf den Titel des wahren Jack the Ripper.

Zunächst ließen wir, Sir Hillary und ich, die alten Zeiten auf- und hochleben. Wir leerten jeder eine Flasche besten Rotweins, und nach dem Dessert blieb es nicht bei einem Cognac. Schließlich aber rückte Bentingham mit seinem Anliegen heraus.

„Du kannst dir sicherlich denken, dass diese Einladung nicht ganz ohne Hintergedanken erfolgte. Schließlich bin ich der Nervenarzt, was?“ Er lachte ein trunkenes, meckerndes Lachen.

„Spuck's aus, alter Junge. Wie kann ich dir helfen?“

„Also, Watson, du bist doch ein Freund von diesem Detektiv, diesem Holmes.“

„Ja, und?“

„Du musst ihn dazu bringen, sich einen meiner Patienten anzusehen.“

„Holmes ist Detektiv. Er bringt Verbrecher zur Strecke. Was in ihren Seelen vorgeht, ist deine Angelegenheit. Schließlich bist du der Seelendoktor, oder?“ Diesmal lachte ich.

„Ja, ja. Ganz der alte Sarkast Watson. Nein! Das Problem ist, dass wir nicht wissen, wer der Patient ist. ­Deshalb nennen wir ihn einfach Max. Mad Max, wenn er nicht zugegen ist. Vielleicht kann dein Freund seine Identität herausfinden. Verstehst du?“

Ich verstand. Und Bentingham begann zu erzählen ...

„Bentingham sagt“, referierte ich am nächsten Tag meinem Freund, „der Mann sei von dem italienischen Frachter Altravolta gerettet worden, der nach Korfu unterwegs gewesen sei. Er habe in einem halb gesunkenen Ruderboot gesessen, auf dem kein Name mehr stand. Es seien keine Ruder an Bord gewesen, keine Nahrung, kein Wasser. Als sich der Frachter genähert habe, habe er weder gewunken noch gerufen, sondern einfach apathisch dagesessen und alles über sich ergehen lassen. Er habe eine Marineuniform getragen, aber keine Papiere bei sich geführt und reagiere weder auf Italienisch, Französisch, Russisch, Deutsch noch auf eine andere bekannte europäische Sprache. Seinen Namen kenne er angeblich nicht. Weil er aber nach einigen kräftigen Mahlzeiten auf einige englischsprachige Seekommandos reagiert habe, habe man ihn auf Korfu britischen Behörden überstellt. Die hätten ihn nach London bringen lassen und schließlich sei er bei Bentingham gelandet. Dort werde er Max genannt. Mad Max. Bentingham habe auch versucht, ihn fotografieren zu lassen, um seine Identität herauszufinden. Darauf habe Max jedoch mit extremem Verhalten reagiert. Er habe versucht, sein Gesicht zu verstecken, sich abgewandt und schließlich den Fotografen bedroht und auf den Fotoapparat eingeschlagen. Aber Bentingham hat eine kleine Porträtzeichnung von ihm angefertigt, aus dem Gedächtnis. Hier, bitte!“

Ich reichte Holmes das Blatt. Es zeigte einen Mann mit großer Nase, lockigem langen Haar und einem verwegenen Vollbart. Holmes starrte die ganze Zeit angelegentlich auf das Blatt, während ich weiter sprach.

„Das Interessante ist, dass das Einzige, auf das Max positiv reagiert, die Musik ist. Als er das Klavier im Speisesaal gesehen habe, habe er sich hingesetzt und ohne zu zögern zu spielen begonnen. Meisterhaft. Wie ein Konzertpianist. Beethoven und solche Sachen. Bentingham bittet Sie, sich den Mann einmal anzusehen.“

„Wunderbar!“, erwiderte Holmes freudig. „Lange habe ich auf eine solche Aufgabe gewartet. Reichen Sie mir doch bitte einige Telegrammformulare herüber. Ich muss vor dem Besuch bei Sir Hillary und seinem Patienten noch einige Vorbereitungen treffen. Darf ich mit Ihrer Begleitung rechnen, Watson?“

Natürlich durfte er!

Am folgenden Tag nahmen wir eine Droschke zu Bentinghams exklusivem Sanatorium im Westen Londons. Holmes hatte seinen Geigenkasten mitgenommen. Den Grund dafür wollte er nicht nennen.

Eine Krankenschwester, die uns am Tor in Empfang nahm, bat uns, einen Moment im Foyer zu warten. So konnten wir die beiden riesigen Frauenstatuen aus Marmor links und rechts der Freitreppe bewundern. Mir als Arzt war natürlich klar, wen sie darstellen sollten. Die eine mit ihrem übervollen Füllhorn war Hygiea, die Göttin der Gesundheit. Von ihr ist der Begriff der Hygiene abgeleitet. Die andere war ihre Gegenspielerin Panacea, die Göttin der Heilkunst.

„Darf ich vorstellen, meine Herren? Meine beiden Frauen, die ich vergöttere, Hygiea und Panacea. Wobei letztere meine Favoritin ist. Schließlich bin ich Psychiater, was?“

Das meckernde Lachen sagte mir, dass Bentingham hinter uns getreten war.

„Chaire, o phile“, grüßte ich ihn wie dereinst auf Altgriechisch, bevor ich die Vorstellung übernahm.

Holmes' Begrüßung fiel sehr förmlich aus. Ganz offenkundig gefiel ihm der Arzt mit seinem üppigen Kinnbart nicht.

„Ich mag Männer mit Kinnbärten ohne Schnauzbart nicht“, pflegte er zu sagen. „Ihnen fehlt meist der Sinn für die rechte Proportion.“ Da war etwas dran!

„Dr. Watson hat mich bereits grob über Ihren Patienten in Kenntnis gesetzt, Sir Hillary. Ich würde mir aber gerne erst einmal die Kleidung ansehen, die er bei seiner Rettung trug.“

„Das ist kein Problem. Ich darf allerdings darauf aufmerksam machen, dass sie gereinigt wurde. Sie war in keinem sehr appetitlichen Zustand. Max – wir nennen unseren Patienten Max – trug sie längere Zeit ununterbrochen, wenn Sie verstehen.“

Bentingham führte uns in sein Arbeitszimmer. Dort war auf einem stummen Diener Maxens Kleidung aufgehängt, eine Marineuniform. Die Hose war weiß, der Uniformrock dunkelblau, einige Messingknöpfe fehlten. Ein weißes Hemd gehörte ebenfalls dazu. An der arg ramponierten Schirmmütze war der Schirm halb abgerissen und mit ­weißer Farbe verschmiert. Das war keine britische Uniform, denn eine solche hätte ich mit Sicherheit erkannt.

Holmes unterzog sämtliche Taschen einer genauen Inspek­tion, obwohl kaum Hoffnung bestand, dass sie nach der Reinigung noch verwertbare Spuren preisgeben würden. Sie waren alle leer.

„Ich bezweifle, dass Ihr Max, wie Sie ihn nennen, Angehöriger einer in- oder ausländischen Marine ist“, befand Holmes schließlich.

„Und welchen Schluss ziehen Sie daraus?“

Bentingham war ungeduldig.

„Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich Max gerne selbst sehen. Nichts führt öfter zu falschen Schlüssen als verfrühte Festlegungen.“

„Wie Sie wünschen, Mr. Holmes. Es ist alles vorbereitet! Wenn Sie mir bitte in den Großen Saal folgen wollen ... Watson!“

Wir folgten Sir Hillary, der uns schnellen Schrittes vorauseilte. Die Schöße seines weißen Arztkittels wehten vor uns her. Der Große Saal war ganz offensichtlich der Speise- und Festsaal der Anstalt. Am hinteren Ende spielte ein Mann in Anstaltskleidung auf einem Flügel. Unser Eintreten schien er nicht einmal wahrzunehmen. Er spielte wie in Trance und war höchstens fünfundzwanzig Jahre alt. Es war tatsächlich der gut aussehende dunkelhaarige Mann von Bentinghams Zeichnung. Die Adlernase, die schwarzen Augen, das lockige Haar und den Bart hatte er genau getroffen.

„Das kann länger dauern“, gab Bentingham zu bedenken.

„Umso besser“, gab Holmes flüsternd zurück. „Je länger ich ihn beobachten kann, desto klarer wird das Bild werden!“

Zunächst spielte Max einige Walzer von Chopin. Zu meiner Verblüffung betrat während des Spiels ein großer, schwerer Mann den Saal, nickte Bentingham zu und nahm so leise, wie es sein enormes Körpergewicht zuließ, Platz: Sir Mycroft Holmes in höchsteigener Person. Der Mann, der manchmal die Regierung war. Was mochte seine erlauchte Anwesenheit bedeuten?

Es dauerte länger als eine Stunde, bis Max mit geschlossenen Augen dem Nachhall des letzten Akkords nachlauschte. Als Bentingham applaudierte, fielen Sir Mycroft, Holmes und ich ein. Max deutete eine knappe Verbeugung an. Nun trat Holmes, der seine Geige ausgepackt hatte, neben den Flügel und prüfte kurz die Stimmung seines Instruments. Dann hob er den Bogen und begann selbst zu spielen.

Max blickte lächelnd zu Holmes auf. Dann nickte er und fing ohne zu zögern an, eine Begleitung zu improvisieren. Holmes spielte eines seiner Lieblingsstücke, das Violinkonzert in g-Moll des Deutschen Max Bruch, der von 1880 bis 1883 die Philharmonic Society in Liverpool geleitet hatte. Es war eine beeindruckende Darbietung, bei der mir manchmal fast die Tränen kamen. Als der letzte Ton und der letzte Akkord verklungen waren, setzte Holmes die Geige ab und schüttelte Max kräftig die Hand.

„Flisni shqip?“, fragte er unvermittelt. „Sprechen Sie Albanisch?“

Damit schien er Max völlig überrumpelt zu haben.

Da! U në foli shqip“, antwortete er spontan, „ja, ich spreche Albanisch!“

Dann aber schlug er sich auf den Mund, schrie und stampfte mit dem Fuß auf.

„Was haben Sie zu ihm gesagt, Sie Unglücksmensch?“, rief Sir Hillary aufspringend aus. Holmes winkte ab zum Zeichen, dass er bleiben solle, wo er war, und sprach einfach weiter.

„Gjergj Frashëri? Da? Gjergj Frashëri? I qetë. Frajer. Frajer! Ich bin ein Freund, George. Seien Sie ganz ruhig. Niemand tut Ihnen etwas. Unë quhem Sherlock Holmes. A ai është Doktor Watson. Edhe frajer! Auch ein Freund, George!“

„Was reden Sie denn da für eine Sprache, Holmes, zum Don...“

„Jetzt warten Sie doch ab, Bentingham, zum Kuckuck“, fuhr Mycroft dazwischen. „Sherlock weiß schon, was er tut!“

Bentingham verstummte sofort, kniff aber böse die Lippen zusammen. Mycroft Holmes schien hier weisungsbefugt zu sein. Den fragenden Blick der Schwester beantwortete Sir Hillary mit einem verärgerten Kopfschütteln.

„Kanun? Besë?“, fragte Holmes weiter. „Der Kanun? Ehrenwort?“ Max begann zu weinen und fiel Holmes um den Hals.

„Da, Kanun, Besë!“

„Ich glaube, wir können die Posse jetzt aufgeben, George!“

Max nickte schluchzend. „Was bleibt mir übrig?“

Sein Englisch war fließend und fast akzentfrei.

„Dann denke ich, sollten wir Sir Hillary, Sir Mycroft und meinen Freund Dr. Watson jetzt aufklären. Glauben Sie mir, hier droht Ihnen keine Gefahr mehr, und wir werden eine Lösung für Ihr Problem finden. Meine Herren, darf ich Ihnen Gjergj Frashëri vorstellen? Oder George, wie ihn alle nannten? Ein Skipetar, ein Albaner. Und einer der jüngsten Musiker, die je das Trinity ­College of Music absolvierten. 1893, nicht wahr? Ich hatte seinerzeit das Vergnügen, ihn bei seinem Abschlusskonzert zu erleben. Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1 b-moll. Hier!“

Er zog einige Blätter aus der Tasche.

„Aus meinem privaten Musiklexikon. Der Programmzettel und eine Besprechung. Der Kritiker überschlug sich damals förmlich vor Begeisterung. Leider kehrte Gjergj Frashëri danach in seine Heimat zurück und schien verstummt zu sein. Erst kürzlich stieß ich in der in Belgien erscheinenden Zeitschrift Albania wieder auf seinen Namen. Welch glücklicher Zufall, dass sich schon so kurz nach meiner Lektüre unsere Wege wieder kreuzen! Anhand von Sir Hillarys kunstfertigem Porträt erkannte ich ihn trotz des Bartes sofort wieder.“

„Genial!“, entfuhr es Bentingham.

„Sir Hillary“, fuhr Holmes fort, „was halten Sie davon, wenn wir uns in Ihre Privaträume zurückzögen? Ich denke, eine weniger offizielle Atmosphäre wäre unserer Sache dienlich.“

Bentingham hatte keine Einwände. Wenig später saßen wir gemütlich in seinem Wohnzimmer vor dem Kaminfeuer bei einem Glas Cognac. Über dem Kamin hing ein Gemälde, das er bereits als Student geschaffen hatte. Es stellte Dostojewskis Helden Rodion Raskolnikow aus dem Roman Verbrechen und Strafe dar. Schon damals war mir beim Anblick von Raskolnikows irren Augen jedes Mal ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen. Ein kleines Meisterwerk, das ebenso Aufschluss über den Charakter von Dostojewskis Helden gab wie über den des Künstlers.

„Also, meine Herren“, begann Holmes, „der Fall ist ganz einfach, wenngleich ich zugeben muss, dass mir Fortuna bei seiner Lösung sehr zur Hilfe kam. Ich habe George gleich wiedererkannt. Was aber war mit ihm geschehen? Seine Uniform gab einen ersten Hinweis. Die unterschiedlichen Farben von Hose und Rock gibt es bei den Offizieren der italienischen und der österreichisch-­ungarischen Marine. Bei den britischen Marineoffizieren sind die Uniformröcke hochgeschlossen, das heißt, man sieht, anders als hier, Hemd und Binder nicht. Also kämen das Reich, Österreich-Ungarn, Italien oder Frankreich in Betracht. Die Schulterstücke des Rocks weisen eher auf die deutsche Kriegsmarine hin. Letztlich sind diese Fragen aber allesamt ohne Belang, denn normalerweise findet sich an jeder Uniform irgendetwas, das deutlich auf die Nationalität des Trägers hinweist. Gerne finden hierfür Wappentiere wie Adler Verwendung oder die Flagge des jeweiligen Landes, etwa in Form einer Dienstkokarde. Die russische Marine beispielsweise setzt ihren Seeoffizieren Doppeladler auf die Schulterstücke. So etwas fehlt in unserem Fall gänzlich. Auf jedem der Schulterstücke befinden sich drei Anker. Demnach hätte die Uniform einem Oberleutnant oder einem Kapitän gehört, je nachdem, mit welchem Rang die Skala der Offiziere im betreffenden Land beginnt. Die acht voluminösen Streifen auf den Ärmeln korrespondieren jedoch nicht mit einem solchen vergleichsweise niederen Offiziersrang. So etwas tragen gemeinhin viel höherrangige Offiziere wie Admiräle. Die Mütze zierte nur ein Anker. Außerdem konnte ich mir die Frage nicht beantworten, wo dieser Mann denn den ihm dienstgradmäßig zustehenden Säbel getragen haben sollte. Für das Portepee haben alle Armeen der Welt erfindungsreich Gürtel oder Schärpen ersonnen. Hier war nichts dergleichen vorgesehen! Ich zog daraus den Schluss, dass es sich um eine Phantasieuniform handeln müsse. Es gibt nur eine plausible Erklärung dafür, George: Sie haben in der Bordkapelle eines Schiffes gespielt!“

„So ist es, Mr. Holmes. Auf der Eudelphi.“

„Bon. Ich erwähnte vorhin einige albanische Worte, unter anderem das Wort Kanun und das Wort Besë. Der Kanun, der gerade erst von dem Franziskanerpater ­Shtjefën Gjeçovi schriftlich niedergelegt wird und zum Teil in der Zeitschrift Albania, wo ich über ihn las, veröffentlicht wurde, ist das mündlich tradierte Gewohnheitsrecht Albaniens. Dort wird noch heute der barbarische Brauch der Blutrache praktiziert. Mit dem Wort Besë gelang es mir, George regelrecht aus der Fassung zu bringen, wofür ich mich vielmals entschuldigen möchte.

Wer als Opfer der Blutrache ausersehen ist, kann dem Kanun zufolge ein Besë aushandeln, eine zeitweilige Aussetzung der Vollstreckung. Ich nehme an, Ihnen als Künstler steht nichts ferner, als irgendjemanden wegen einer Sache, die gar nichts mit Ihnen zu tun hat, umzubringen und sich dann im Gegenzug Ihrerseits selber dafür umbringen zu lassen. Daher nutzten Sie einen ausgehandelten Besë und flohen. Richtig?“

„Genau, Mr. Holmes. Sie haben es erfasst. Nur auf einem Schiff konnte ich mich noch sicher fühlen. Nie aber hätte ich erwartet, dass sie mich an Bord aufspüren würden! Doch dann entdeckte ich meinen Cousin Skender unter den Passagieren. Er wollte mich als Verräter töten. Ich hätte nämlich eigentlich meinen Bruder Zef rächen sollen, der von einem Mitglied der Ahmeti-Sippe erschossen worden war.

Der Rat hatte den Streit, an dessen Anfang sich, wenn man ehrlich war, niemand mehr erinnerte, beilegen wollen, doch ein einziger starrsinniger Greis hatte für die Fortsetzung der Fehde gestimmt. Dieser Wahnsinn wollte kein Ende nehmen und ich will das einfach nicht mehr mitmachen! Meine Berufung ist doch die Musik! Da mir also mein Cousin so dicht auf den Fersen war, blieb mir nur, in der Nacht heimlich ein Rettungsboot zu Wasser zu lassen und mich davontreiben zu lassen. Um meine Spur zu verwischen, kratzte ich unterwegs mit dem Schirm der Mütze den Bootsnamen ab, warf meine Papiere ins Meer und beschloss, mich stumm und wahnsinnig zu stellen. Mein Plan funktionierte, bis mich Sir Hillary fotografieren lassen wollte. Nur mit seiner Zeichenkunst hatte ich nicht gerechnet!“

„Und im Wissen“, ergänzte Holmes, „dass man beim Musizieren leicht jeglichen Panzer um die Seele ablegt, wagte ich einfach ein Duett mit Ihnen. So konnte ich Sie zur Preisgabe Ihrer Muttersprache bewegen. Der Grund für die Anwesenheit meines Bruders ist übrigens der, dass er ein hohes, wenngleich inoffizielles Amt in der Regierung bekleidet, und ich auf die Möglichkeit hoffe, die Interessen des Empires mit denen von George zu verbinden und ihm eine neue Identität zu verschaffen. Was meinst du, Bruder?“

„Das Empire ist nicht zuletzt deshalb das, was es ist, weil es die besten Künstler der Welt sein Eigen nennt. Ich denke, George kann unter einem neuen Namen Ehre für England einlegen. Ich brauche Sie freilich nicht daran zu erinnern, dass alles, was wir am heutigen Nachmittag erlebt und besprochen haben, striktester Geheimhaltung unterliegt. Gentlemen, auf George!“

Das war typisch für Mycroft, der wahrscheinlich am liebsten sogar die Uhrzeit geheim halten würde, wenn man ihn danach fragte.

„Auf George!“, echoten drei Männerstimmen. George hob sein Glas und trank mit.

Natürlich muss ich weiterhin verschweigen, unter welchem Namen er seine musikalische Laufbahn fortsetzte. Ich denke aber, ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass er einer der größten Pianisten wurde, die Großbritannien je hatte, und er wäre es sicherlich geblieben, hätte ihn nicht ein allzu früher Tod ereilt. Nein, er wurde nicht von wahnsinnigen Landsleuten getötet, sondern starb wie so mancher Frühvollendeter unerwartet von uns allen auf dem Höhepunkt seines Könnens, erschöpft von seiner rastlosen künstlerischen Arbeit, eines natürlichen Todes. Leider zerbrach irgendwann die Grammophonplatte, die mir George – den ich weiterhin so nennen will – geschenkt hatte. Wenn ich aber an dieses kleine Abenteuer meines Freundes Sherlock Holmes zurückdenken möchte, brauche ich nur die Zeichnung Bentinghams anzuschauen, die ich behalten durfte. Dann erklingt in meinem geistigen Ohr wieder die wunderbare Musik, die Georges begnadete Hände hervorzubringen verstanden.



Sherlock Holmes und Old Shatterhand


Um mir den kleinen Fall, von dem ich berichten will, wieder ins Gedächtnis zu rufen, muss ich leider meine Aufzeichnungen zur Hand nehmen. Viel lieber würde ich zu meiner Sammlung an Fotografien greifen, doch leider hat mir damals mein Freund Sherlock Holmes in seinem unerforschlichen Ratschluss verboten, welche anzufertigen.

Wir schrieben das Jahr 1903. Ich hatte im Jahr zuvor gerade begeistert die Fotografie als neues Hobby entdeckt und mir eine handliche Bergheil-Balgenkamera mit einem Voigtländer-Anastigmaten aus Deutschland schicken lassen. Für die Entwicklung der unzähligen belichteten Platten, die ich von meinen Streifzügen durch das winterliche London mitbrachte, stellte mir Holmes in seiner unergründlichen Güte seinen Säure zerfressenen Labortisch zur Verfügung und nahm es sogar gelassen hin, stundenlang in grüblerisches Schweigen gehüllt im Dunkeln sitzen zu müssen und dem Rauch nachzublicken, der in dem roten Licht meiner Laborlampe emporstieg.

Anfang März rief der seltsame Fall des Rabbi von Bacharach meinen Freund auf den Kontinent, nach Deutschland. Vielleicht werde ich eines Tages davon berichten. „Er gehört zu den ganz besonderen Fällen in meinen Annalen“, meinte Holmes später.

Nach einer stürmischen Überfahrt bestiegen wir in Hoek van Holland einen Zug, der uns rheinaufwärts nach Mainz bringen sollte. Bis Köln verlief die Reise vergleichsweise eintönig, doch dann öffnete sich das Rheintal, und wir dampften an diesem malerischen, so urdeutschen Strom entlang – leider ohne Halt und viel zu schnell. So nahm ich das Manual meiner Kamera zur Hand, während Holmes sich in einen französischen Roman um zwei Brüder namens Kip vertiefte, den ihm der Verfasser, ein Monsieur Verne, im Jahr zuvor mit einer freundlichen Widmung versehen, geschickt hatte. Als Dankeschön für den kleinen Dienst, den mein Freund ihm einmal erwiesen hatte.

Holmes sollte jedoch nicht viel Gelegenheit zum Lesen haben, denn kurz nach der Abfahrt aus Köln gesellte sich ein kleiner aufdringlicher Herr mit Kneifer zu uns. Er stellte sich als „Dr. Karl May, Reiseschriftsteller aus Dresden“ vor, zurzeit auf der Rückreise von Amerika, wo er den Indianerstamm der Apatschen besucht habe, deren Sprache er fließend beherrsche und die ihn Old Shatterhand nannten. Ich hatte nie von jemandem dieses Namens gehört. Er mochte die Sprache der Apatschen beherrschen, sein Englisch war jedoch fürchterlich! In einem fort erzählte er von angeblichen Abenteuern mit einem edlen Wilden namens Winnitou oder so ähnlich und fragte, ob wir mit einem Lord David Lindsay oder einem Lord Castle­pool bekannt seien, was wir beide Male verneinen mussten. Weil der Mann eine solche Plage war, ließen wir ihn zunächst über unsere Deutschkenntnisse im Unklaren.

Wir hatten Coblenz noch nicht erreicht, da betrat ein Schaffner unser Abteil. Obwohl wir uns Reeman und Albers nannten, schien er genau zu wissen, wer wir in Wirklichkeit waren. Er salutierte militärisch und sprach uns höflich an:

„Mr. Sherlock Holmes?“

Mein Freund nickte nur, sich ergeben in das Schicksal nahezu weltweiter Prominenz fügend. Dr. May riss die Augen auf und brachte sein Erstaunen mit dem seltsamen Laut „Zounds!“ zum Ausdruck. Wo er den wohl aufgeschnappt haben mochte?

Der Schaffner druckste herum.

„I – no English!“

„I translate, I translate“, rief Dr. May ebenso aufgeregt wie grammatisch unbeholfen. „I can Apachi, too!“

„Which will be very useful here among all the red­skins of Germany!“, spottete Holmes. Der Schriftsteller schwieg beleidigt. Dann bat mein Freund, die Unterhaltung auf Deutsch fortführen zu dürfen.

„Ich bin der Sprache Goethes und Kants einigermaßen mächtig.“

Der Schaffner und Dr. May seufzten – aus verschiedenen Gründen – auf, und so kam nach einigem Hin und Her heraus, dass in einem der vorderen Waggons ein Toter mit einem Knife in der Brust saß. Ob Mr. Holmes als berühmter Detektiv nicht vielleicht ...

„Nichts, was ich lieber täte“, antwortete Holmes mit einem Seitenblick auf May. „Wir sollten uns einmal den Tatort ansehen. Watson, das Spiel beginnt, nehmen Sie Ihre Bergheil mit!“

Ich tat wie mir geheißen und folgte Holmes, der wiederum dem Schaffner folgte. Dr. May wollte uns begleiten, doch weil ich die Abteiltür vor seiner Nase zuzog, blieb er notgedrungen zurück.

„Nach der Abfahrt in Köln war der Mann noch am Leben, da habe ich persönlich seine Fahrkarte kontrolliert“, erklärte der Schaffner. „Eine mitreisende Dame aus dem Ausland hat ihn offenbar gefunden. Ich sah sie aus dem Abteil des Ermordeten kommen. Jetzt wartet sie im Nachbarabteil. Hier ist es schon!“

Der Tote war ein Mann mittleren Alters. Seine Augen standen weit offen. Die Todesursache war eindeutig, denn ein Messer steckte mitten in seiner Brust. Der Mord musste sich vor wenigen Minuten ereignet haben, denn das Blut war noch nicht geronnen. Da ich offensichtlich nichts mehr für ihn tun konnte, ging ich zu der Dame, die ihn gefunden haben wollte. Die Dame, die einen wagenradgroßen Hut mit dunklem Schleier trug, stand keineswegs unter Schock.

„Guten Tag, Frau“, begrüßte ich sie in unbeholfenem Deutsch. „Ich Arzt. Dr. Watson!“

„Bonjour, monsieur le docteur“, erwiderte sie. Gott sei Dank beherrsche ich Französisch besser als Deutsch.

Doch dann überschüttete sie mich mit einem wahren Maschinengewehrfeuer aus Worten, von denen ich nur die Hälfte verstand. So viel wurde mir immerhin klar: Der Tote habe ihr bei der Abfahrt angeboten, sich während der Fahrt ihrer anzunehmen, und sie sei dankbar darauf eingegangen. Er habe sich als Weinhändler Eduard von Pauly, Rittmeister der Reserve aus Ingelheim, vorgestellt, und es sei ihr gleich seltsam vorgekommen, wie unvorsichtig er seine prall gefüllte Brieftasche herumgezeigt habe. Er habe in England ein großes Geschäft abgeschlossen, hatte er wohl erzählt, und sei nun auf dem Weg nach Hause. Sie habe sich kurz frisch machen müssen und ihn bei ihrer Rückkehr tot gefunden.

Ich dankte der Dame für ihre Auskünfte, entschuldigte mich und begab mich zu Sherlock Holmes ins Nachbarabteil. Der sprach gerade mit dem Schaffner.

„Der Mörder muss noch im Zug sein. Ziehen Sie bitte die Vorhänge zu, verschließen Sie das Abteil und bitten Sie die Fahrgäste in den Speisewagen.“

„Jawoll!“ Der Schaffner salutierte und ging.

„So, Watson, um das Verfahren abzukürzen, wollen wir uns eines kleinen Bluffs bedienen.“

Dann gab er mir genaue Instruktionen. Ich sollte eine Rede vor den versammelten Mitreisenden halten.

Wenig später hatten sich die etwa siebzig Passagiere im Speisewagen der 1. Klasse eingefunden. Dr. May mit seinem Pincenez stand wichtigtuerisch vorne, die Dame mit dem riesigen Hut und dem Schleier ganz hinten. Da fiel mir ein, dass sie sich gar nicht vorgestellt hatte.

„Geehrte Damen und Herren! Mein Name ist Sherlock Holmes“, stellte mein Freund sich auf Deutsch vor. „Das ist mein Freund und Kollege Dr. Watson. Der Herr Schaffner“ – der Angesprochene salutierte wieder – „der Herr Schaffner hat mich gebeten, den Mordfall zu lösen, der sich in diesem Zug zugetragen hat. Was ich gerne tun werde.“

Zuerst schilderte Sherlock Holmes die Umstände des Mordes – es müsse sich um einen Raubmord handeln, denn die Brieftasche des Opfers sei restlos ausgeräumt worden. Dann wandte er sich der Mordwaffe zu. „Das Springmesser, mit dem Rittmeister von Pauly aus dem Leben befördert wurde, stammt aus Italien. In die Klinge ist der Wunsch eingraviert: ‚Che la mia ferita sia mortale‛. Der hier anwesende polyglotte Dr. May wird sicherlich die Bedeutung der Ingravur bestätigen: ‚Möge meine Wunde tödlich sein‛.“

May errötete, sagte aber nichts.

Holmes fuhr fort: „Wir suchen also einen Italiener, denn es dürfte ausgeschlossen sein, dass eine Waffe dieser Art, wie sie die Mano negra und andere Geheimorganisationen benutzen, in die Hände eines ausländischen Reisenden gelangt ist. Der Herr Schaffner wird Sie nachher um Ihre Papiere bitten, damit wir sie auf eventuelle Hinweise durchsehen können. In Coblenz wird dann die Polizei zusteigen. Zunächst aber wird mein Freund ihnen noch einige neue wissenschaftliche Erkenntnisse mitteilen, die in diesem Fall von Relevanz sind. Wenn Sie mich bitte für einige Minuten entschuldigen wollen. Bitte schön, lieber Doktor!“

Damit verließ er den Speisewagen. Der Zug fuhr immer weiter den Rhein hinauf, auf Coblenz zu. Wie wollte mein Freund bis zu unserer dortigen Ankunft den Fall zu einem Abschluss gebracht haben? Ich verneigte mich kurz und begann.

„Jawoll, gutt!“, sagte ich und merkte, dass ich schon den bellenden Tonfall des Schaffners angenommen hatte. Ich fühlte mich unwohl in meiner Rolle als Conférencier.

„Sie wissen, Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Fotografie, zum Beispiel!“ Ich hielt meine Kamera hoch.

„Und Sie wissen, Damen und Herren, dass Letztes, was sieht Sterbender, auf Auge bleibt erhalten. Wie in Spiegel. Kann man dann fotografieren. Entwickeln, vergrößern und – Bild zeigt Mörder. So einfach! Mein Freund Sherlock Holmes auf diese Weise – viele Mörder gefangen! Werden auch Mörder von Rittmeister fangen!“, versprach ich.

Da kam es zu einem Tumult. Die Dame in Hut und Schleier stieß zwei Passagiere beiseite und schob sich durch die Abteiltür. Ich betätigte wie mit Holmes verabredet die Notbremse. Mit kreischenden Bremsen verlangsamte der Zug seine Fahrt. Die Fahrgäste mussten sich festhalten, wo immer sie etwas zum Festhalten fanden. Dann stand der Zug mit einem scharfen Ruck still.

Von draußen drang Holmes' scharfe Stimme an mein Ohr. „Fermarsi! – Stehen bleiben!“

Dann ertönte ein Schuss. Alles stürzte an die Fenster. Ich sah, dass wir mitten in den Weinbergen hielten. Weit und breit war keine menschliche Ansiedlung zu sehen. Gleich darauf stieß Holmes, meinen Revolver in Händen, die Dame mit Hut und Schleier und mit nach hinten gefesselten Händen zur Türe herein. Die Passagiere wichen zurück.

„Keine Sorge, meine Herrschaften“, beruhigte Holmes die Anwesenden, „die Fahrt wird gleich weitergehen. Ich habe lediglich einen Warnschuss in die Luft abgefeuert. Die Dame wollte sich mit gerafften Röcken auf offener Strecke davonmachen. Aber wollen Sie nicht ablegen, Signora?“

Mit einem Ruck riss Holmes der Dame den Hut, den Schleier und das falsche Haar herunter. Zum Vorschein kam – ein Mann.

„Darf ich die Vorstellung übernehmen? Das ist Silvio Perlusconi, der berühmte italienische Anarchist. Er sorgt dafür, dass die Kriegskasse seiner Gesinnungsgenossen immer gut gefüllt ist. Mir sind gleich einige kleine Blutspritzer auf dem schwarzen Kleid aufgefallen. Ich frage mich nur, warum er sein Messer hat stecken lassen. Hörte wohl den Schaffner kommen und spielte die erschrockene Entdeckerin der Leiche! Nun gut! Schaffner, sperren Sie den Mann bis Coblenz bitte auf dem Abtritt ein! Andiamo! Aber nun möchten Sie noch etwas sagen, Doktor Watson!“

„Jawoll, gutt“, begann ich wieder bellend. „Meine Herrschaften, das Sache mit Fotografieren von Auge des Toten nur Trick von Sherlock Holmes war, um Mörder zu fangen. In Auge nichts. Kein Bild. Kein Spiegel. Signore Perlusconi nicht hat gewusst, aber geglaubt. Danke sehr, jawoll!“

Beifall brandete auf, die Menschen lachten erleichtert und begannen durcheinander zu reden. Im selben Moment setzte auch der Zug seine Fahrt wieder fort. Sherlock Holmes ergänzte noch etwas in seinem eleganten Deutsch: „Meine sehr verehrten Herrschaften, bitte noch einen Moment! Ich möchte den Eindruck vermeiden, ich würde mich mit fremden Federn schmücken wollen. Daher möchte ich betonen, dass der kleine Bluff, den mein lieber Freund und Kollege Dr. Watson Ihnen gerade zu erklären versuchte, keineswegs auf einem meiner eigenen Einfälle beruht. Vielmehr stammt er – ‚man sollte im Zug immer etwas Sensationelles zu lesen haben‛, sagt der unvergleichliche Oscar Wilde – aus dem Roman Le frères Kip, Die Gebrüder Kip, der vergangenes Jahr bei Monsieur Hetzel in Paris erschien – ein Buch, das ich Ihrer Aufmerksamkeit wärmstens empfehle. Es stammt von niemand anderem als dem hoch geschätzten Jules Verne, dessen Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren Sie sicherlich noch in bester Erinnerung haben. Ehre, wem Ehre gebührt! Danke verbindlichst!“

Weil die Ehre tatsächlich demjenigen zuteilwerden sollte, dem sie gebührte, begann ich, mein Magnesiumlicht auszupacken, um den denkwürdigen Augenblick auf eine Glasplatte zu bannen.

„Aber, aber“, protestierte Holmes, während er noch einige begeisterte Fahrgäste abzuwehren versuchte. „Sie werden doch nicht etwa die Ergebnisse dieses meiner Geistesgaben absolut unwürdigen Zwischenfalles fotografisch festhalten wollen? Nein, nein, darüber sollten wir lieber den Mantel des Vergessens breiten! Wir werden jetzt nach Mainz weiterfahren und von dort nach Bingen, um uns mit dem Fall des Rabbi zu beschäftigen. Er weist einige interessante Aspekte auf, die meiner detektivischen Begabung eher angemessen scheinen.“

Resigniert wollte ich meine Ausrüstung wieder zusammenpacken.

„Jawoll, Herr“, knurrte ich enttäuscht auf Deutsch. „Gutt!“

„Bitte schön, Herr Doktor Watson“, meldete sich da Dr. May. Durch seinen Kneifer blinzelte er kurzsichtig zu mir empor.

„Ob Sie wohl die Güte hätten, mich einmal mit dem großen Detektiv zu fotografieren? Und darf ich mir ­erlauben, Ihnen dies hier zur Deckung Ihrer Unkosten zu überreichen?“

Er streckte mir einen Geldschein und eine Visitenkarte hin, auf der Villa Shatterhand als Adresse angegeben war.

„Hüten Sie sich, Watson!“, schaltete sich da Holmes ein. „Der Mann muss ein Betrüger sein. Wir waren selbst schon einmal in den Staaten – nicht wahr, Watson? Und wenn man dort – außer dem Gebrauch von kultiviertem, vernünftigem Englisch – etwas verliert, dann ist es die insulare Blässe. Sie, verehrter Dr. May, sind bleich wie der Tod und haben mitnichten vor kurzem reitend und schießend den Wilden Westen bereist. Außerdem versicherte mir der Schaffner, dass Ihr karges Gepäck keineswegs das eines Überseereisenden sein könne. Und wer auch nur einmal im Leben geboxt hat, erkennt sofort, dass Ihre zarten Hände für den ‚Jagdhieb‛ dieses angeblichen Old Shatterhand ungeeignet sind. Apropos Hände! Sie haben sich vor nicht allzu langer Zeit von Ihrer Gattin getrennt, wie mir die Einkerbung an Ihrem Ringfinger beweist, wo Ihr Ehering saß, und ich vermute, dass Sie Ihre Abenteuer nirgendwo anders denn auf dem Papier erlebt haben. Die tief eingezogenen Tintenspuren an Ihren Fingerspitzen lassen keinen anderen Schluss zu. Ich sehe Ihrem erschrockenen Gesichtsausdruck an, dass ich Recht habe. Wenn Sie uns bitte entschuldigen würden!“

„Jawoll, Herr, entschuldigen Sie!“, rief ich May grimmig zu und wandte mich ab. Old Shatterhand sah uns schweigend nach, bis wir in unserem Abteil verschwunden waren.



Sherlock Holmes und das geheime Leben der Nilpferde


Es war ein Weihnachtsabend, wie er weihnachtlicher nicht hätte sein können. Draußen fiel Schnee, es war kalt, aber dank des Kaminfeuers war es in unserem Wohnzimmer warm und gemütlich. Die Empfindungen, die man in der Kindheit an diesem Tag hegte, dieses Gefühl der Geborgenheit und die Gewissheit einer sorglosen Zukunft schienen mit einem Mal für kurze Zeit zurückgekehrt. Behaglicher hätte es kaum sein können!

Nachdem wir unserer lieben Mrs Hudson ein kleines Geschenk überreicht hatten, hatten wir sie der Gesellschaft ihrer Schwester überlassen und uns in unser Wohnzimmer zurückgezogen, wo ich meinem Freund ein seltenes Buch in spanischer Sprache über Pfeilgifte der Amazonas-­Indianer überreichte, welches mir ein befreundeter Buchantiquar besorgt hatte. Holmes revanchierte sich mit einem Kistchen kubanischer Zigarren einer sündteuren Sorte, die in London zu erwerben außerhalb der Möglichkeiten eines normalen Sterblichen liegt. Er schwieg sich über die Herkunft der Kostbarkeit aus, aber ich konnte sicher sein, dass ihm entweder sein Bruder bei der Beschaffung behilflich gewesen war oder dass es sich um das Geschenk eines zufriedenen Klienten aus erlauchten Kreisen handelte, welches er großherzig an mich weitergab. Ich drang nicht weiter in ihn, sondern lauschte, mir den Rauch einer der edlen Zigarren im Munde zergehen lassend, dem anderen Geschenk, das er mir machte: dem traditionellen ­Weihnachtskonzert auf seiner wunderbaren Stradivari. Er hörte erst auf, als ich den Stummel meiner ersten Zigarre im Aschenbecher ausgedrückt hatte. Ein Duft sondergleichen hing über unserem mit einem Mistelzweig geschmückten Wohnzimmer, als der letzte Ton verklang. Das war das Zeichen für unsere Vermieterin, den Punsch zu servieren, den herzustellen sie trotz des Besuches ihrer ebenfalls verwitweten Schwester sich nicht hatte nehmen lassen. Die beiden hatten sicher wieder in der Küche gesessen und über das Lüftungsrohr Holmes' Spiel gelauscht.

„Frohe Weihnachten nochmals, meine Herren. Und Sie, haben wie immer wundervoll gespielt, Mr. Holmes. Ich habe mir erlaubt, die Wohnungstür offen zu lassen, damit uns kein Ton entgeht. Meine Schwester sagt auch immer, welch großer Künstler an unserem Mr. Holmes verloren gegangen sei! Entschuldigen Sie, das hat sie so gesagt. Und jetzt lassen Sie sich ihren Punsch schmecken. Wohl bekomm's! Wenn Sie mich entschuldigen wollen ...“

Holmes lächelte nachsichtig. Er war so aufgeräumter Stimmung, so dass ich es riskieren konnte, ihn endlich nach seinen Ermittlungen im Internat Lewerbridge in Devon zu fragen, wo er im Vormonat undercover als Musiklehrer gewirkt hatte. „Ich möchte doch meine Berichte vervollständigen, Holmes“, bat ich.

„Das sollen Sie, guter Watson, das sollen Sie! Holen Sie sich ein paar Blatt Papier, ich werde der Reihe nach berichten.“

„Ich hätte nicht zu hoffen gewagt, Holmes ... Warten Sie! Wo ist denn schon wieder mein Federhalter?“


*


Und so entstand dieser Bericht über einen Fall, der in seiner Einzigartigkeit eine Sonderstellung in den Annalen von Sherlock Holmes' Kriminalakten einnimmt, denn mein Freund hatte nicht nur auf meine Begleitung und Unterstützung verzichten, sondern sogar in die Rolle eines Musiklehrers schlüpfen müssen. Das war insofern für ihn ein Leichtes gewesen, denn er hätte jederzeit als Solo-­Violinist in jedem beliebigen Orchester reüssieren können. Aus mir dagegen würde wahrscheinlich selbst mit viel Bemühen nicht einmal ein brauchbarer Leierkastenmann werden.

An einem bitterkalten Novembernachmittag vor jenem Weihnachtsfest, an dem sich Sherlock Holmes so ungewohnt mitteilsam zeigte, saßen wir – genau wie heute – im Wohnzimmer. Auch damals brannte das Kaminfeuer, wir rauchten und tranken Tee mit Rum. Zu Weihnachten, so stand zu erwarten, würde sicherlich Schnee liegen.

„Ich lebe davon“, erklärte mir Holmes, an unser Gespräch anknüpfend, „bei Tag und bei Nacht unerkannt durch die Straßen Londons streifen und meiner Tätigkeit nachgehen zu können. Wenn jeder wüsste, wie ich aussehe, müsste ich mir einen neuen Beruf suchen.“

„Da fällt mir spontan der Beruf des Musikers ein. Mrs. Hudson würde jedes Ihrer Konzerte besuchen!“

„Musiker vielleicht, jedoch keinesfalls Lehrer. Das Lehrerdasein war nichts für mich und ist nichts für mich. Obwohl – die Erfahrung, vor einer Schulklasse zu stehen, würde ich nur ungern missen! Dennoch ziehe ich es vor, wenn ein gewisser räumlicher Abstand zwischen mir und dem Publikum im Zuschauerraum liegt.“

„Verzeihen Sie die Zwischenfrage, mein Freund! Sind Sie eigentlich je auf eine öffentliche Schule gegangen? Sie haben nie etwas darüber erzählt.“

„Wenige Monate lang, um ehrlich zu sein. Sonst wurde ich ausschließlich von Privatlehrern unterrichtet. Ich bin auch keineswegs traurig darüber, nie Mitschüler gehabt zu haben, denn ich bin von Natur aus nicht geneigt, mich anderen Menschen anzuschließen. Es ist fast, als stünde eine undurchdringliche gläserne Wand zwischen mir und dem Rest der Menschheit.“

„... hinter der Sie sich aber wie ein Fisch im Wasser sicher und schnell, vor allem aber unbemerkt bewegen können!“

„Richtig, Watson. Das kann ich zweifellos. Stellen Sie sich mich in dem Jesuiten-Internat vor, dessen Ausbildung Sie durchlitten haben! Ich vermute, ich hätte mich bereits in jungen Jahren durch den Mord an einer Lehrperson ins Gefängnis oder an den Galgen gebracht.“

„Na-na-na! Ich habe es ja auch überlebt, ohne jemanden zu massakrieren!“

„Aber Sie haben sich dann erst einmal gründlich vom katholischen Glauben gelöst. Wie unser gemeinsamer Freund Conan Doyle.“

„Nun ja, wie auch immer! Aber Sie haben völlig recht: Ich konnte Sie mir nie als Eleven in einem Internat vorstellen.“

„Der Gedanke daran kommt der Aussicht gleich, fürderhin in der Hölle logieren zu müssen! Aber wo wir gerade bei Hölle sind ...“

Er hielt mir ein Telegramm hin.

„Das kam heute früh.“

„Mein Gott!“, entfuhr es mir, als ich den Namen des Absenders las. Es handelte sich um Mycroft Holmes, den älteren Bruder meines Freundes. Sir Mycroft – er war längst für seine Verdienste geadelt worden – bekleidete ein nicht näher definiertes, aber sehr hohes und sehr geheimes Amt in Whitehall, das ihn noch über den jeweiligen amtierenden Premierminister stellte. Die Premierminister kamen und gingen, er aber blieb und hatte, so erzählt man sich, jederzeit das Ohr Ihrer Majestät Königin Victoria. Noch nie soll sie, so erzählt man sich weiter, sich einem seiner Ratschläge verschlossen gezeigt haben.

Was man aber sicher wusste, war, dass man auf den Straßen Londons eher eines leibhaftigen Brontosauriers ansichtig geworden wäre als Sir Mycroft, denn er verließ so gut wie nie die Stille der heiligen Hallen des Diogenes Clubs, wo das Sprechen – vermutlich bei sofortigem Vollzug der Todesstrafe – strengstens verboten war. Wenn Sir Mycroft einmal eine Ausnahme von diesem geradezu metaphysischen Gesetz machte, musste etwas ganz und gar Außergewöhnliches passiert sein!

„Komme 18 Nullnull in peinlicher Angelegenheit. Bringe Gast mit. Geh nicht aus.“ Unterschrieben waren die knappen Zeilen mit „M“, seinem Namenskürzel.

„Puuh“, machte ich. „Das klingt nach einer Haupt- und Staatsaktion. Ob es sich wieder um verschwundene Geheimpapiere handelt? Oder Spione aus dem Deutschen Reich? Droht womöglich ein neuer Krieg auf dem Kontinent?“

„Nichts dergleichen“, replizierte Holmes. „Dann hätte Mycroft sich ganz anders ausgedrückt und nicht von einer bloßen Peinlichkeit gesprochen. Es handelt sich wohl eher um eine delikate Angelegenheit, in die irgendeine Persönlichkeit aus der Umgebung Ihrer Majestät verwickelt ist. Denken Sie eher an so etwas wie die Affäre, die Sie unter dem Titel Skandal in Böhmen veröffentlicht haben.“

Ich schaute auf die Uhr auf dem Kaminsims. Es war eine Minute vor sechs.

Als die Uhr zu schlagen begann, ertönte die Haus­glocke. Ich hatte gerade noch Zeit, meine Zigarre im Aschenbecher auszudrücken.

„Ah, das muss Mycroft sein. Niemand ist pünktlicher als er!“

Gespannt lauschten wir dem Poltern der sich nähernden Schritte von Sherlocks schwergewichtigem Bruder auf der Treppe. Als sie verstummt waren, klopfte Mrs Hudson, die Mäntel unserer Besucher im Arm, an die Tür.

„Immer herein!“, rief mein Freund.

In der sich öffnenden Tür erschien die massige Gestalt von Sir Mycroft, der seinen Zylinder beim Eintreten abnahm und, diesen noch in der Hand haltend, ohne unsere Aufforderung einem zweiten Herrn einen Platz im Besuchersessel anwies. Einige vereinzelte Schneeflocken fielen von der Kopfbedeckung auf den Teppich und schmolzen sofort dahin.

Der zweite Herr, der ohne Hut gekommen war, war ein vornehmer schlanker Mann von vielleicht vierzig Jahren. Seine weißen Haare besaßen noch die Fülle der Jugend, sein Teint war dunkel, weil er sich offensichtlich oft in sonnigeren Gefilden als England aufhielt, und er trug einen dunklen Dreiteiler mit Nadelstreifenmuster aus einem edlen Stoff, wie ihn bevorzugt Schneider in südeuropäischen Ländern verarbeiten. Die Augen in seinem bartlosen, jugendlich glatten Gesicht waren neugierig und offen wie die Augen eines Kindes. Staunend blickte er sich, während er Platz nahm, in unserem Wohnzimmer um. Offenbar hatte er eine derartige Unordnung wie bei uns noch nie oder wenigstens schon lange nicht mehr gesehen. Kaum hatte er jedoch die Tabak geschwängerte Luft in unserem Wohnzimmer eingeatmet, begann er leicht zu hüsteln. Rasch hielt er sich ein Taschentuch vor den Mund, das er ebenso rasch wieder wegsteckte, nachdem sich der kurze Anfall gelegt hatte.

„Verzeihung!“, murmelte der fremde Herr leise. Wir taten so, als hätten wir nichts bemerkt.

Offenbar hatte er Probleme mit den Bronchien – angesichts der Londoner Luft nichts Ungewöhnliches. Wir stellten uns kurz vor und ließen uns wieder in die Kissen unserer Sitzgelegenheiten sinken. Der Sessel unter Mycrofts gewaltigem Gewicht stöhnte gequält auf.

„Ich will es kurz machen“, begann Mycroft ohne Vorrede, „denn meine Zeit ist knapp bemessen. Darf ich Euch Sir Peter Clapp-Rothe vorstellen?“

„Den Maler Ihrer Majestät?“, entfuhr es mir. „Der so wunderbar die königlichen Möpse ... pardon ... die royale Kynologie ... auf die Leinwand zu bannen versteht?“

Mycroft verzog ob meiner versehentlichen Despektierlichkeit keine Miene.

„Eben der.“

Tatsächlich verstand niemand die Persönlichkeiten der Hunde unserer geliebten Königin so getreulich einzufangen wie Sir Peter. Ihre Majestät liebte seine Bilder und hatte ihn trotz seiner jungen Jahre in den Adelsstand erhoben. Offenbar hatte Mycroft beschlossen, die ganze Zeit über für ihn zu sprechen, denn Sir Peter sagte lange Zeit überhaupt nichts. Schließlich fiel das sogar Mycroft auf.

„Vielleicht sollte Sir Peter selber berichten“, unterbrach er sich. „Bitte, Sir Peter!“

Nachdem ihm solchermaßen huldvoll das Wort erteilt worden war, hub der Angesprochene mühsam zu sprechen an.

„Ja, Mr. Holmes, Doktor Watson ... In der Tat porträtiere ich üblicherweise Hunde und Pferde von hohem Stand, sozusagen ... Aber darum geht es hier und heute nicht. Vielmehr handelt es sich um meinen jüngeren Bruder Ellis Morton. Genauer gesagt meinen Halbbruder. Er kam vor kurzem ums Leben, als er aus einem Fenster seines Internats über einen kleinen Dachvorsprung in den Hof stürzte. Der Direktor teilte mir mit, es sei ein Unfall gewesen. Angeblich habe er einen durchs Fenster geflogenen Tennisball aus der Regenrinne holen wollen. Ich bin zutiefst bestürzt.“

„Unser tief empfundenes Beileid, Sir Peter!“ Holmes kam direkt zur Sache. „Gibt es denn Anlass, hier die Dienste eines beratenden Detektivs in Anspruch zu ­nehmen?“

„Ich fürchte, ja! Ellis war nicht der Junge, der wegen eines Balles aus einem Fenster im vierten Stock klettern würde. Er war viel zu ... vorsichtig. Außerdem war der Raum, in dem sich das tragische Ereignis zutrug, mehr eine Dach- und Rumpelkammer, ganz und gar nicht geeignet, um darin mit einem Tennisball zu spielen. Das Ganze ist so ... widersprüchlich. Nichts passt ineinander. Ich fürchte, man hat mich falsch unterrichtet. Um nicht zu sagen, dreist belogen.“

„Dann erzählen Sie doch einfach der Reihe nach. Fangen Sie ganz vorne an. Seien Sie sich unserer ungeteilten Aufmerksamkeit sicher.“

„Danke! Ja, wo ist ganz vorne? Ah ja! Ellis ... Ellis entstammte der zweiten Ehe meines Vaters. Vater leitete früher eine Bank und wurde dann Diplomat. Sir Lawrence Clapp-Rothe. Vielleicht haben Sie von ihm gehört. 1875 wurde er nach Ägypten geschickt, das damals nach seinem Staatsbankrott unter eine internationale Finanzaufsicht unter britischer Führung gestellt wurde. Dort blieb er viele Jahre. Es war sozusagen seine prägende Zeit.

Meine Mutter – die erste Frau meines Vaters – starb, als ich dreizehn war. An einer heimtückischen Krankheit, wenn Sie verstehen. Sie wurde nicht einmal so alt, wie ich es heute bin. Keine vierzig Jahre alt. Vater war bei ihrem Tod schon ... fast sechzig Jahre alt. Einige Jahre nach seiner Verwitwung – er lebte schon im Ruhestand – ging er eine weitere Ehe ein, dieses Mal mit einer noch jüngeren Frau. Sie war damals ein- oder zweiundzwanzig Jahre alt. Geneviève. Eine Pariser Opernsängerin. ­Geneviève ­d'Angoulême. Das war ihr Künstlername und ist es bis heute. Sie nannte sich nach ihrer Geburtsstadt. Meine Stiefmutter.“

„War Ihre Frau Mutter ebenfalls Ausländerin?“

„Ja! Mein Teint, ich weiß. Ich werde oft darauf angesprochen. Mutter war eine koptische Christin, trat aber vor der Hochzeit zur anglikanischen Kirche über. Schließlich stand Vater im diplomatischen Dienst. Wie auch immer! Gene... meine Stiefmutter verhalf mir alsbald zu einem Halbbruder. Ellis Morton. Ellis war zweiundzwanzig Jahre jünger als ich. Kurz vor seiner Geburt nahm ich mein Kunststudium auf und begab mich auf Reisen. Europa, Ägypten ... Sie verstehen. Ich habe ihn, als er ein Kleinkind war, höchstens drei- oder viermal gesehen.“

„Lebt Ihr Herr Vater noch?“

„Er weilt leider nicht mehr unter uns. Eine junge Frau wie Geneviève hat große Bedürfnisse nach ... nach Nähe. Sie können sich vorstellen, dass dies bald zu viel war für das Herz eines alten Herrn. Ellis Morton war vier oder fünf Jahre alt, als Vater starb. Er starb den süßen Tod, wie die Franzosen sagen, wenn Sie verstehen. Wie Monsieur Faure, der französische Staatspräsident.“

„Félix Faure?“, fragte ich. Der Name war mir im Zusammenhang mit der Affaire Dreyfus noch gut in Erinnerung. An ihn hatte Émile Zola seine berühmte Anklageschrift J'accuse gerichtet.

„Eben der, Doktor. Allerdings starb Vater nicht in den Armen seiner Mätresse, sondern wie es sich gehört in denen seiner angetrauten Ehefrau. Geneviève, wie gesagt. Sie war natürlich untröstlich. Als Ellis alt genug war, eine Schule zu besuchen, schickte sie Ellis ins Harlowe ­College nach Lewerbridge. Er sprach besser Französisch als Englisch, denn sie hatte sich mit ihm nur in ihrer Muttersprache verständigt, und sie wollte, dass dies so bliebe. Geneviève verabscheute das Englische. Sie fand es ... prosaisch. Ohne Poesie und Klang. Nun ja! Jedenfalls ist Lewerbridge berühmt für seinen Unterricht in französischer Sprache. Ellis' Englisch war das eines Fuhrknechts, denn das Englisch der Dienstboten war das einzige Beispiel unserer Muttersprache, das er kannte.“

„Und damit beginnt das Problem“, warf Mycroft ungeduldig ein.

„Ja ... äh, genau, das Problem.“

Mühsam versuchte Clapp-Rothe, den Faden seiner Rede wiederzufinden.

„Nachdem ... nachdem sie Ellis also in Lewerbridge untergebracht hatte, verließ sie uns. Sie ging einfach fort. Nahm das Wanderleben wieder auf, das sie vor ihrer Ehe geführt hatte. Von heute auf morgen. Ich wurde Ellis' Vormund, muss aber leider zugeben, dass ich dieser Aufgabe erbärmlich schlecht nachkam. Ellis fühlte sich in Lewerbridge vom ersten Tag an nicht wohl. Wenn er in den Ferien nach Hause kam, bat er mich unter Tränen, ihn nicht wieder zurückzuschicken.“

„Sie haben es aber doch getan?“, argwöhnte Holmes.

„Natürlich! Was hätte ich denn tun sollen? Seine schulischen Leistungen waren nicht so schlecht, dass man die Schule hätte wechseln müssen. Sein Leben verlief ohne Skandale. Er ist ... er war ein cleverer Bursche. Aber er litt leider seit seiner Kindheit an Stimmspaltenkrämpfen und konnte deshalb mit seinen Kameraden körperlich nie mithalten. Sie wissen ja, welch unverhältnismäßig bedeutende Rolle dem Sport in britischen Schulen zugemessen wird ...“

Ich nickte verständnisinnig, denn auch ich hatte mich, allerdings mehr infolge meines Körpergewichts, im Sportunterricht immer sehr gequält. Beim Laufen war ich immer als Letzter ins Ziel gekommen, schwitzend, schwer atmend und mit vor Anstrengung hochrotem Kopf. Und beim Fußballspielen wurde ich immer beiseite geschubst, vors Schienbein getreten oder so heftig angerempelt, dass ich hinstürzte. Holmes, der Asket und Sportler, lächelte nur spöttisch. Sir Peter fuhr fort.

„Der Sport war wahrscheinlich das Problem. Seine körperliche Schwäche stempelte ihn zum Außenseiter. Andererseits wäre er auch schwerlich in meinem Künstlerhaushalt froh geworden. Die Modelle, wenn sie verstehen, die da ein und aus gingen, und ich rang lange Zeit mit meiner Kunst. Um meine Kunst. Versuchte meine Handschrift, meinen Stil zu finden. Experimentierte mit der ­Photographie. Probierte neue Wege und verwarf sie wieder. Immer wieder von vorn. Wie beim Cricket. Und als ich dann meine Stellung bei Hofe errungen hatte, blieb mir erst recht keine Zeit, mich um einen heranwachsenden Jungen zu kümmern.“

„Und Ellis hat nie genauer erklärt, was ihn so verschreckte?“

„Anfangs sagte er, die Schüler seien alle gemein zu ihm und die Lehrer ebenfalls. Und dass er wegen seiner Krankheit beim Sport gehandicapt sei. Er war sensibel. Genau wie ich als Kind. Aber welcher Junge offenbart sich schon einem Erwachsenen, den er kaum kennt? Ich war einfach ein fremder Onkel für ihn, den er bestenfalls einmal im Jahr zur Weihnachtsfeier traf und der ihn dann zum Stillsitzen zwang, um ihn zu porträtieren. Irgendwann, versuchte ich ihn zu trösten, würde man sich an alles gewöhnen. Ich sei ebenfalls in einem Internat aufgewachsen, denn mein Vater glaubte mir den Aufenthalt im Orient, fern von britischer Bildung, nicht zumuten zu können. Im Internat sei es mir ganz genauso ergangen, aber schließlich hätte ich mich mit dem Leben dort angefreundet. ‚Sei tapfer‛, mahnte ich immer, und er nickte dann. Oft unter Tränen. Heute weiß ich, dass ich vielleicht gründlicher hätte nachforschen sollen. Jetzt ist es zu spät!“

Als er einen Moment lang in nachdenkliches Schweigen verfiel, wagte ich eine Zwischenfrage.

„Und warum, wenn ich fragen darf, befasst sich nun, bei allem Respekt, Sir Mycroft mit dieser Angelegenheit?“

„Weil ... weil wir uns aus dem Diogenes Club kennen. Ich hatte die Ehre, ihren Herrn Bruder zu porträtieren, nachdem er zum Präsidenten des Clubs gewählt worden war. Alle Präsidenten hängen in Öl in der Hall. Vielleicht haben Sie das Bild geseh...“

Mycroft unterbrach ihn.

„Als ich vom Tod des jungen Clapp-Rothe hörte, war mir klar, dass das zu einem Skandal führen könnte, den sich der Hofmaler Ihrer Majestät keinesfalls leisten kann. Es würde mich die Stellung kosten. Ihre Majestät ist auf dem Gebiet der Moralität sehr ... eigen. Noch ist nichts bekannt geworden, aber die Schule verweigert jede Auskunft. Sogar mir! Man denke!“

„Ja ...“ Der Maler fand den Faden seiner Rede ungewöhnlich rasch wieder.

„Ich habe den Tennisball, der Ellis angeblich das Leben kostete, selbst in der Dachrinne liegen sehen. Wahrscheinlich liegt er heute noch dort. Aber Ellis war nicht der Typ, wegen eines Balls todesmutig aus einem Fenster im vierten Stock zu klettern. Viel eher hätte er ihn mit einem Besenstiel oder etwas Ähnlichem in den Hof befördert. Er wusste sich zu helfen. Er war in ­gewisser Weise ein praktischer Mensch. Praktischer als ich. Man händigte mir seine Habseligkeiten aus, und das war es dann. Aber ich hätte gerne Gewissheit darüber, was wirklich passiert ist! Schon wegen Vater und ... meiner... wegen Geneviève.“

„Meinen Sie, jemand könnte seinem Absturz nachgeholfen haben?“

„Ich weiß es nicht. Der Direktor beziehungsweise der stellvertretende Direktor, mit dem ich sprach, reagierte so brüsk und unfreundlich. Als hätte er etwas zu verbergen ... Sie, Mr. Holmes ...“

„Wir werden sehen! Aber wie ...“

„Was aber bisher noch nicht zur Sprache kam“, mischte sich Mycroft ein, „es handelt sich hier bereits um den dritten, sagen wir mysteriösen Todesfall an dieser Schule innerhalb von zwei Jahren. Zuerst stürzte der Naturkundelehrer, ein Däne namens Anders Erikson, bei nächtlichen astronomischen Beobachtungen vom Dach, und letzten Sommer ertrank ein Schüler unter ungeklärten Umständen im See. Er hieß Georges Besymyannoi. Franzose russischer Herkunft. Angeblich sei er aus einem Ruderboot gefallen und untergegangen, weil er nicht schwimmen konnte. Wer das glaubt ...! In einem sportverrückten britischen Internat! Natürlich hat die Schule kein Interesse an öffentlicher Aufmerksamkeit, was vielleicht die ... erwähnte Brüskheit des stellvertretenden Direktors erklärt.“

Holmes war nicht befriedigt.

„Das ist mir schon klar! Aber wie stellst du dir meinen Anteil an der Aufklärung der Angelegenheit vor, Bruder?“

„Dafür habe ich schon einen Plan ausgearbeitet, Bruder.“

„Es kam bereits andeutungsweise zur Sprache, dass das Harlowe-College in Lewerbridge anders als Eton oder Cambridge nur bedingt eine Hochburg der Britannität ist. Vielmehr weist es eine betont frankophile Ausrichtung auf. Französisch, die Sprache der Diplomatie, ist dort, Sir Peter erwähnte das beiläufig, anstelle von Englisch die Unterrichtssprache. Und zwar deshalb, weil die Schüler fast ausnahmslos Diplomatenkinder sind. Sprösslinge hochgestellter Persönlichkeiten aus dem Ausland. Wir können in eine solche Schule nicht einfach einen Beamten wie ... wie Inspektor Lestrade schicken, bloß weil innerhalb von kurzer Zeit drei Menschen unter etwas fragwürdigen Umständen gestorben sind. Jemand wie Lestrade würde sich aufführen wie ein Elefant in der Porzellanwarenabteilung von ­Harrods. Ein ungeschicktes Wort, und wir hätten einen Rattenschwanz von diplomatischen Verwicklungen am Hals. Das zwingt uns zu einem eher konspirativen Vorgehen.“

Wie eine Dampflokomotive schnaufend, fuhr Mycroft fort.

„Zufällig weiß ich, dass der Musiklehrer von Lewerbridge, Color Sergeant a. D. Philipp Collins, am nächsten Montag infolge eines Malaria-Schubs gezwungen sein wird, sich vier Wochen in einem Sanatorium auf dem Kontinent, in der Schweiz, zu erholen.“

Mycroft zog mit dem rechten Zeigefinger ein wenig das rechte untere Augenlid herunter, um anzudeuten, dass er hier bereits ein wenig Schicksal gespielt hatte.

„Mr. Collins zog sich diese lästige Krankheit im Dienste der Armee Ihrer Majestät als Trompeter in Indien zu. Du, Sherlock, wirst ihn während seines Genesungsurlaubs vertreten. Würdig vertreten, wie ich hoffe. Und die Augen offenhalten! Außerdem sprichst du so fließend Französisch, dass du unter den Lehrkräften nicht negativ auffallen wirst.“

Erst erblasste Holmes, dann lief er rot an.

„Ich soll auf meine alten Tage unterrichten?“, polterte er los. „Junge Leute? Niemals!“

„Bruder! Du wirst dich doch nicht etwa deinen patriotischen Aufgaben entziehen wollen? Auf niemanden aus dem Umfeld unserer geliebten Königin darf auch nur der Schatten eines Makels fallen. Ihre Majestät schätzt die Bilder von Sir Peter über alles!“

„Sie schätzt angeblich auch Jane Eyre von Charlotte Brontë“, knurrte Holmes. „Bei allem Respekt, ein unsäglicher Schinken!“

„Sagen Sie das nicht, Holmes“, entgegnete ich. „Ich habe das Buch mit großem Interesse und noch größerem Vergnügen gelesen!“

„Literarische Kritik wird nicht zu den Aufgaben in diesem Fall gehören“, unterbrach Mycroft barsch unser Geplänkel. „Ich sagte Musiklehrer! Also, was ist?“

„Habe ich eine Wahl?“

„Ich sehe, du verstehst! Also, am Montag, wie gesagt, wird Mr. Collins in die Schweiz reisen ... müssen und sich dort bis zum Beginn des neuen Jahres aufhalten. Es ist dafür gesorgt, dass er vor seiner Abreise den Namen des talentierten Geigers und renommierten Musikwissenschaftlers Mr. Søren Sigerson aus Norwegen nennen wird. Zufällig halte sich Mr. Sigerson gerade in England auf und sei abkömmlich. Du, Bruder, wirst die Stelle antreten, unterrichten und nebenbei herausfinden, welcher Teufel an dieser Lehranstalt los ist. In Worten: Wie und warum Ellis Morton Clapp-Rothe wirklich starb.“

„Manchmal wünschte ich mir, ich wäre ein Einzelkind gewesen!“

„Das habe ich mir auch schon oft gewünscht. Du warst der anstrengendste Bruder, den man sich vorstellen kann. Also: Nächste Woche! Wir haben nicht mehr viel Zeit. Erstens wird Mr. Collins in vier Wochen aus der Schweiz zurückkehren, und außerdem hat der November bereits begonnen. Vor Weihnachten wird der Unterricht enden und die Schüler und teilweise die Lehrer werden sich in alle Winde zerstreuen und im neuen Jahr möglicherweise gar nicht mehr zurückkehren. Die Angelegenheit muss also unbedingt vorher bereinigt werden. In diesem Sinne! Doktor! Sir Peter!“

Demonstrativ sah er auf seine Uhr und verließ uns grußlos. Sir Peter wollte sich ebenfalls erheben.

„Wenn Sie keine Fragen mehr ...“

Holmes' Geste zwang ihn, sitzen zu bleiben.

„Doch, Sir Peter. Die habe ich. Behalten Sie bitte Platz!“

„Ja, wenn ...“

Er richtete sich auf und blieb kerzengerade, wie ein Schüler vor der Prüfung, sitzen. Offenbar fühlte er sich ohne den Schutz seines mächtigen Begleiters völlig hilflos. Unten fiel die Haustür ins Schloss.

„Woraus bestanden denn die Habseligkeiten Ihres Halbbruders, die man Ihnen aushändigte?“

„Was so ein Junge eben besitzt. Schulbücher. Musik­noten... Er beherrschte sehr gut die klassische Gitarre. Besaß das absolute Gehör, doch sein zeichnerisches Talent übertraf das musikalische bei weitem. Das Talent des Künstlertums scheint ein wenig in der Familie zu liegen ... Ein paar Abenteuerromane, Zeichnungen, Malutensilien, Kleider ... Briefe, die er von seiner Mutter erhalten hatte ... Ein Inhalator für sein Asthma-Mittel. Solche Dinge. Nichts Bedeutendes ...“

„Ich würde mir das alles gerne einmal ansehen.“

„Dann kommen Sie doch morgen Nachmittag zu mir. Passt Ihnen fünf Uhr? Vielleicht darf ich Sie dann auch durch mein Atelier führen? Es wäre mir eine Ehre und ein Vergnügen!“

Er zog aus der Jackentasche eine Visitenkarte und überreichte sie Holmes, der nach einem flüchtigen Blick darauf die Audienz beendete.

„Bis morgen also, Sir Peter!“

„Bis Morgen, Mr. Holmes. Doktor Watson!“

Erleichtert verließ uns der Maler.

„Ich verspreche mir nicht viel von dem Besuch, Watson. Wenn es im Nachlass des Jungen einen Hinweis auf ein ... nennen wir es Fremdverschulden gegeben hätte, hätte die Schule ihn sicher verschwinden lassen.“

„Eben. Es sind zwar Lehrer, aber sie sind wahrscheinlich doch nicht blöde!“

„Bezähmen Sie doch endlich einmal Ihren pathologischen Schulhass, Watson! England ist, was es ist, auch wegen der Erziehung in seinen Schulen! Wie auch immer! Ich bin überzeugt, des Rätsels Lösung findet sich in Lewerbridge, nicht im Hause von Sir Peter.“


*


Am folgenden Nachmittag ließen wir uns von einer Droschke ins Westend zum Haus von Sir Peter bringen. Er bewohnte eine weiß verputzte Villa im noblen Regency-­Stil. Hier ließ es sich sicherlich trefflich leben – und meinem Eindruck nach auch trefflich malen, denn Bäume, die das Sonnenlicht von den hohen Fenstern hätten fernhalten können, gab es nur in einer weitläufigen Parkanlage weit hinter dem Haus.

Tatsächlich empfing uns Sir Peter in einem Wohnzimmer, das trotz des trüben Novemberwetters hell und einladend erschien. Es war auffallend gut gelüftet – kein Wunder, denn offenbar waren Sir Peters Bronchien ebenso empfindlich wie die seines verstorbenen Bruders. Nach den üblichen Präliminarien traten wir näher. An der Seitenwand, gegenüber der Fensterfront, stand ein prall gefüllter Bücherschrank, vom dem ein riesiger gebleichter Tierschädel auf uns herabgrinste.

„Verwunderlich“, begann Sherlock Holmes, „dieses Nilpferd. Wo Sie doch nicht zur Jagd gehen!“

„Wie können Sie das wissen, Mr. Holmes?“

„Hören Sie? Diese Stille ringsum! Kein einziger Hund gab Laut, als wir kamen. Jeder Jäger verfügt über mindestens einen Hund. Sie nicht. Außerdem hängen nirgendwo eine Waffe, geschweige denn irgendwelche Trophäen. Gehörne. Felle. Schirmständer aus Elefanten- oder Nilpferdfüßen. Diese Dinge. Haushalte von jagdbegeisterten Menschen sehen einfach ganz anders aus.“

„Ah so. Ja, den Nilpferdschädel erwarb ich tatsächlich bei einem Stamm von Wilden in Afrika. Sie hatten ganze Berge davon. Der Häuptling verlangte nicht mehr als den Gegenwert von etwa zehn Pfund. Ursprünglich hatte er das Zehnfache gefordert, doch ich konnte ihn herunterhandeln. Nilpferde sind faszinierende Tiere! Ich habe Dutzende von Blättern mit Studien von ihnen angefertigt. Hier!“

Er wies auf eine gerahmte Zeichnung an der Wand. „Aus der Serie ‚Tod eines Nilpferdes‛. Ich hatte beobachtet, wie eines der Nilpferde aus einer Herde verendete. Wussten Sie, dass Nilpferde tote Artgenossen regelrecht betrauern? Jedes Mitglied der Herde leckt den verstorbenen Artgenossen auf das Gründlichste ab und bezeugt ihm so seine Ehrerbietung. So als wollten sie ihn von allem irdischen Schmutz befreien. Selbst Krokodile respektieren das und greifen während der Zeremonie nicht an. Und erst wenn alle Abschied genommen haben, trotten die Tiere traurig davon und überlassen den Kadaver seinem Schicksal. Den Krokodilen und den Aasgeiern, die sich dann erst auf die Mahlzeit stürzen und darum streiten. Hochinteressant!“

„Das wusste ich tatsächlich nicht“, gestand Holmes. Längst war sein Blick von dem Nilpferdschädel zu dem Kolossalgemälde über dem Kamin gewandert. Es sollte offenbar Kleopatra kurz vor ihrem Freitod darstellen. Sie hielt eine Schlange in der Hand, die sich gerade anschickte, die Nil-Königin in ihre dezent entblößte Brust zu beißen.

„Kleopatra ...“ stellte Sir Peter die Dame vor. „Seit meinen Reisen zum Nil ... beschäftigt sie mich immer wieder. Eine faszinierende Frau ...“

„Zweifellos“, stimmte Holmes, sich zu uns umdrehend, zu.

An der Wand gegenüber dem Kamin, über einem halbrunden kleinen Tisch, hingen in symmetrischer ovaler Anordnung neun gerahmte Kohlezeichnungen. Holmes trat näher und beugte sich weit vor, um sie in Augenschein zu nehmen.

„Ellis“, erläuterte Sir Peter. „Ich habe ihn jedes Weihnachtsfest, wenn er sein Elternhaus besuchte, porträtiert.“

„Ah ja!“, meinte Holmes, scheinbar abwesend. Acht der neun Zeichnungen zeigten einen hübschen, langhaarigen Jungen, der sich von Bild zu Bild in einen geradezu schönen jungen Mann mit kurzen Haaren und tieftraurigen Augen verwandelte. Die neunte Zeichnung stellte offenbar Geneviève dar. Ich vermochte nur eine entfernte Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrem Sohn zu erkennen. Eine andere Ähnlichkeit war viel augenfälliger, doch bevor ich mich dazu äußern konnte, unterbrach uns ein Hüsteln von Sir Peter. Dieser wies auf einen halbrunden Tisch hinter dem Sofa.

„Hier sind Ellis' Hinterlassenschaften.“

„Danke! Wollen mal sehen!“

Das erste, was Holmes zur Hand nahm, war eine Bruyère-Pfeife, die offensichtlich eine gewisse Zeit in Gebrauch gewesen war.

„Ein Geschenk von mir zum dreizehnten Geburtstag. A man who has a pipe is ripe, sagt man doch. Er hatte sie sich gewünscht. Seine Klassenkameraden hätten alle schon lange welche, und ich wollte nicht, dass er sich ausgeschlossen fühlte. Mit Menthol versetzter Tabak verschaffte ihm zudem etwas Erleichterung beim Atmen. Die Stimmbandkrämpfe, wenn Sie verstehen.“

Holmes roch lange am Kopf der Pfeife.

„Das ist kein Menthol“, murmelte er. Dann überflog er einige private Briefe, die in einer verschnörkelten Frauenschrift geschrieben waren. Sie begannen meist mit den Worten „ma chèr Morton“, schienen also von seiner Mutter zu stammen. Auch die Bücher unterzog er einer genauen Untersuchung. Besonderes Augenmerk richtete er auf ein bräunliches Büchlein von Wiley and Putnam's Library of American Books mit dem Titel Tales von Edgar A. Poe, das 1845 in New York und London erschienen war und in den USA laut Aufdruck fünfzig Cents gekostet hatte.

„Sein Lieblingsbuch“, erklärte Sir Peter. „Ich habe es ihm von einer Reise in die USA zu den Indianern mitgebracht. Er hatte es immer in der Tasche.“

Holmes blätterte dieses Buch wie alle anderen Bücher sorgfältig durch, um sich zu überzeugen, dass zwischen den Seiten oder in den Umschlägen keine Zettel versteckt waren. Er fand nichts dergleichen. Dann schüttelte er eine Schneekugel mit einem Automobil darin, das durch eine winterliche Landschaft fuhr.

„Ein Geschenk ... von ... von seiner Mutter ...“, erläuterte Sir Peter.

„Und seine Morphin-Tropfen.“

„Wegen der Stimmspaltenkrämpfe, ich weiß.“

Holmes zog den Korken aus dem braunen Fläschchen, roch am Inhalt und verkorkte sie kommentarlos wieder. Von einem ebenfalls braunen Glas ohne Etikett schraubte er den Blechdeckel ab, schaute hinein und roch daran. Dann entnahm er seiner Tasche einen Briefumschlag und schüttete etwas von dem roten Pulver hinein, das sich im Glas befand.

„Was ist das?“, fragte ich.

„Hexahydrat vermutlich. Aber ich muss das erst prüfen.“

Er holte seine Lupe hervor und besah sich vergeblich die Seiten des Poe-Bandes auf das Genaueste.

„Hier ist nichts!“

Auch das Blatt mit der Kohleskizze eines jungen Mannes zeigte nichts als die Kohleskizze.

„Ist das einer seiner Mitschüler?“, wollte Holmes wissen.

„Das ist der ertrunkene Schüler“, antwortete unser Gastgeber. „Besymyannoi. Aber ich kannte ihn nicht persönlich.“

„Würden Sie mir dieses kleine Werk leihweise überlassen?“

„Aber ich bitte Sie, Mr. Holmes! Wenn es etwas in diesem Hause im Überfluss gibt, dann sind es Zeichnungen. Nehmen Sie doch um Himmels willen nicht diese. Ellis' Daumenabdruck verunziert sie ja geradezu. Er hatte Zeichenkohle an den Händen, als er das Blatt anfasste. Suchen Sie sich doch eine bessere aus. Ich will Ihnen gerne ...“

„Nein, nein“, unterbrach ihn Holmes. „Ich danke Ihnen sehr, aber gerade diese Zeichnung ist für mich sehr wertvoll. Handelt es sich tatsächlich um den Daumenabdruck Ihres Bruders?“

Sir Peter warf einen neuerlichen Blick auf die Zeichnung. „Natürlich! Sehen Sie hier, diese Stelle in der ­Handfläche, am Daumenballen? Ein Muttermal. Sehr charakteristisch. Der Abdruck stammt damit eindeutig von ihm.“

Holmes brummelte einen kurzen Dank.

„Wo hält sich die Mutter denn derzeit auf?“, wollte er dann wissen.

„Auf Reisen. Ich glaube, derzeit gastiert sie in den USA. Ihre Briefe ... jeder kommt aus einem anderen Land ... Ich hoffe, die Nachricht vom Tod ihres Sohnes erreicht sie über ihre Eltern. Ihnen haben wir geschrieben.“

„Ist sie das?“ Holmes deutete mit einer Bewegung seines Kinns auf die Kleopatra über dem Kamin. Sir Peter reagierte nervös.

„Nein! Äh ...! Das ist ein anderes Model. Es geht hier ausschließlich um Kleopatra, nicht mehr um Genev-, also um Ellis' Mutter.“

„Noch eine weitere Frage, Sir Peter! Gab es in Ihrer Familie, genauer gesagt, in der väterlichen Linie, Künstler?“

„Nein, Mr. Holmes. Alles Juristen, Pfarrer, Offiziere. Unmusikalisch wie die Waldesel, bar jeglichen Humors, und alle verstanden so viel von Malerei wie, bei allem Respekt für diese Tiere, wie ein Nilpferd vom Walzertanzen.“

„Die künstlerische Ader kam also ausschließlich über die mütterlichen Linien in die Familie? Über Ihre Frau Mama respektive über Geneviève? Sozusagen ein Import aus dem Ausland?“

„Wenn Sie es so ausdrücken wollen, ja. Sowohl meine Mutter als auch meine Stiefmutter waren das genaue Gegenteil der männlichen Mitglieder der Familie Clapp-Rothe. Warmherzig, musisch. Meine Mutter war eine vorzügliche Pianistin, ist aber nie öffentlich aufgetreten. Geneviève stand – und steht jetzt wieder – viel auf der Bühne. Warum fragen Sie?“

„Nur um das Bild abzurunden, Sir Peter. Nichts weiter. Die Pfeife möchte ich gerne mitnehmen, zur Untersuchung.“

„Wie Sie wünschen, Mr. Holmes.“

„Und noch eine Frage: Spielte Ellis Tennis? Ich sehe keinen Schläger in seinen Hinterlassenschaften, und angeblich soll er doch auf der Suche nach einem Tennisball abgestürzt sein.“

„Aus den schon genannten Gründen musste er körperliche Anstrengungen beim Sport vermeiden. Nein, er spielte nicht Tennis.“

„Ich danke Ihnen!“


*


„Ist Ihnen aufgefallen, Watson“, fragte mich Holmes auf dem Heimweg, „wie sich Sir Peter immer wand, wie er sich unterbrach und mit einem neuen Wort ansetzte, wenn die Rede auf Ellis oder seine Mutter kam?“ Er imitierte Sir Peter. Genev... meine Stiefmutter.“

„Ihm ist die ganze Geschichte unangenehm. Sie ist dazu angetan, seinen Ruf zu ruinieren. Und außerdem hat diese Französin mit ihrem O la la! seinen Vater das Leben gekostet.“

„Guter Watson! Ich will Sir Peter nichts unterstellen. Aber man stelle sich doch einmal vor, eine junge Französin, ein alter Engländer und ein junger, attraktiver Stiefsohn ... mit unbestreitbarem künstlerischem Talent.“

„Holmes! Ich bitte Sie! Sir Peter war damals fünfzehn oder sechzehn Jahre alt!“

„Eben darum! Und Sir Edward über sechzig. Need I say more?“

Ich schüttelte den Kopf. Holmes wechselte unvermittelt das Thema.

„Ich fürchte, wir werden uns auch mit Kryptographie beschäftigen müssen.“

„Mit Kryptographie? Wieso?“

„Haben Sie nicht gesehen? Der Poe-Band enthält die Erzählung Der Gold-Käfer. Kryptographie!“

Ich tat so, als hätte ich verstanden. Der Gold-Käfer, das wusste ich noch, handelte vom Versteck eines Schatzes, zu dem ein goldener Skarabäus den Schlüssel liefert. Mir war noch dunkel erinnerlich, dass es in der Erzählung eine Schatzkarte gab, welche durch die Wärme des Feuers sichtbar gemacht werden konnte. Ich sagte das Holmes.

„Richtig, Watson. Hexahydrat – und ich bin überzeugt, es handelt sich bei dem roten Pulver um nichts anderes – ist Wasser gelöstes Cobaltchlorid. Wenn man mit einer solchen Lösung schreibt, ist auf dem Papier fast nichts zu erkennen. Erst wenn man die Schrift über einer Kerze oder an einem Ofen erwärmt, kann man sie lesen. Beim Abkühlen verschwindet sie wieder.“

„Allerhand!“ Mehr sagte ich nicht. Wahrscheinlich, dachte ich, habe ich wieder einmal alles Wesentliche übersehen! Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Dann fiel mir etwas ein.

„Warum haben Sie eigentlich Ellis' Pfeife mitgenommen?“

„Seil sie einen seltsamen Geruch verströmte. Etwas anderes als Tabak und Menthol. Ich habe auch schon einen konkreten Verdacht. Wäre es zu viel verlangt, wenn ich Sie um eine Ampulle Physostigmin bäte?“

„Physostigmin? Das Zeug, das aus der Kalabarbohne isoliert wird? Die bei dem Stamm der Efik für Gottesurteile benutzt wird? In unserer Kronkolonie Nigeria? Wer stirbt, ist schuldig? Wir Mediziner verwenden Physostigmin als Antidot bei Atropin-Vergiftungen. Selbst verwendet habe ich es noch nie. Natürlich kann ich Ihnen das Mittel besorgen, aber Sie gestatten, wenn ich frage, was zum Teufel Sie vorhaben? Physostigmin hat gefährliche Nebenwirkungen. Schließlich ist es ein Gift. Wenn man es injiziert, kann es zum Herzstillstand führen. Nehmen Sie wenigstens eins von meinen Stethoskopen mit! Zur Überwachung der Herzfrequenz! Moment mal! Glauben Sie, dass da jemand mit Atropin vergiftet wurde?“

„Bekanntlich glaube ich nie etwas, sondern prüfe lediglich Arbeitshypothesen. Gleichwohl sollte man nicht ungewappnet in die Schlacht ziehen, wenn man gegnerischerseits den Einsatz bestimmter Waffen befürchten muss! Ich habe an Ellis' Pfeife einen schwachen Hauch von etwas bemerkt, das Atropin sein könnte. Mehr kann ich Ihnen im Moment noch nicht sagen. Ich bin schließlich kein Hellseher!“

Natürlich besorgte ich das Mittel, gab aber meinem Freund aus der Sicht des Arztes ausführliche Instruktionen.

„Wenn Sie zu viel spritzen, haben Sie einen Menschen umgebracht, Holmes. Soll ich nicht doch lieber mitkommen?“

„Guter Watson! Ich weiß ja nicht einmal genau, was passieren wird! Und was glauben Sie, wird man im Internat über einen Musiklehrer sagen, der mit ärztlichem Beistand anreist?

‚Entschuldigen Sie, Herr Direktor, aber ich fürchte, hier könnte es zu einer Atropin-Vergiftung kommen. Deshalb habe ich meinen Freund Doktor Watson mitgebracht!‛

‚Ach‛, wird der Direktor sagen, ‚Doktor Watson? Dann müssen Sie Sherlock Holmes sein!‛

Finden Sie nicht, dass das meine Mission unmöglich machen würde?“

„Ich könnte ja wie Sie einen Decknamen verwenden ... Na ja, vergessen Sie's. Ich sehe schon, Sie setzen wie immer Ihren Kopf durch. Aber mir scheint Ihr leibhaftiges Erscheinen in Lewerbridge tatsächlich dringend geboten!“

„Sieh an. Wieso das?“

„Na, das liegt doch auf der Hand, Holmes. Ein Junge, der sich wegen seiner angegriffenen Gesundheit jeglicher sportlicher Betätigung enthalten muss, stürzt bei dem Versuch zu Tode, ausgerechnet einen verlorenen Tennisball zu bergen. Da stimmt doch etwas nicht. Das würde sogar Lestrade auffallen!“

Holmes nickte nur versonnen, klopfte mir geistesabwesend, aber anerkennend auf die Schulter und wandte sich den Vorbereitungen auf seine geheime Mission zu. Er las mehrere Kapitel von Pietro Maria Caneparis Standardwerk über Geheimtinten De atramentis cuiusque generis und führte einige chemische Versuche durch. Sie bestätigten seinen Verdacht, dass es sich bei dem roten Pulver um Hexahydrat handelte. Er löste das giftige Mittel in Wasser auf, schrieb damit unsichtbar auf ein Blatt Papier und machte durch Erwärmen des Blattes dunkelblaue Buchstaben sichtbar. Als sie beim Erkalten wieder verschwanden, wiederholte er den Vorgang. Diesmal aber fixierte er die Schrift, indem er ein anderes Mittel darüberpinselte. Außerdem wies er in Ellis' Pfeife Rückstände eines Alkaloids nach.

„Möglicherweise wirklich Atropin. Vielleicht hat man es ihm in den Tabak gemischt. Wegen des Menthols wird er die Beimengung nicht bemerkt haben. Er könnte dann so verwirrt gewesen sein, dass er vom Dach fiel. Oder dass er sich leicht vom Dach stoßen ließ, ohne sich wehren zu können. Aber das ist bis jetzt bloße Spekulation. Kein Richter der Welt würde nur wegen dieses dünnen Indiciums die Genehmigung zu einer Exhumierung von Ellis' Leichnam geben. Wir stehen erst am Anfang! Ach ja, Watson! Und besorgen Sie bitte bei Mr. Brown eine Brieftaube. In einem Käfig!“

„Warum so umständlich, Holmes? Sie können doch auch ein Telegramm schicken!“

„Erfüllen Sie doch bitte einfach meine Bitte, ­Watson! Ich habe schon meine Gründe, eine Brieftaube ­mitzunehmen. Das Internat hat kein Telegrafenbüro in erreichbarer Nähe.“

„Meinetwegen. Aber ...“

„Kein Aber, Watson. Es könnte wichtig sein! Natürlich werde ich versuchen zu telegrafieren, wenn ich Ihre Hilfe brauche. Oder Sie auf irgendeine andere Weise benachrichtigen.“

Ich versprach, ihm auch diesen Wunsch zu erfüllen und durfte im Gegenzug dafür seinem Geigenspiel zuhören. Er übte wieder die amerikanische Ragtime-Musik, die er inkognito als Geiger im Cowboy-Orchester Buffalo Bills auf der Suche nach dem Mörder eines Pinkerton-Agenten erlernt hatte.

„Ah, Mr. Sigerson, Sie wollen die jungen Herren vornehmlich unterhalten?“, spottete ich, noch immer etwas verstimmt.

„Na, sagen wir, ich will zunächst einmal ihre Aufmerksamkeit fesseln. Danach können wir getrost zum klassischen Repertoire übergehen!“

Er beendete die Cowboy-Musik mit einer schrägen Kadenz, nach der er nahtlos zu Beethovens Ode an die Freude überging. Hoffentlich, dachte ich, will er mir ­diesen Übergang nicht auch noch erklären! Er schien meine Gedanken gelesen zu haben, denn in den folgenden zehn Minuten redete er ohne Punkt und Komma – oder, um im Bilde zu bleiben, ohne eine einzige Fermate – über auf- oder abwärtsgerichtete Terzsprünge, authentische Schlüsse, Halbschlüsse und das Verbot paralleler Quinten, bis ich, nichts mehr verstehend, um den coup de grâce bat. Statt des Gnadenschusses reichte mir Holmes die Flasche mit Brandy ...


*


Schließlich musste er zu seiner neuen Arbeitsstelle in Englands Westen aufbrechen. Er packte zu meiner nicht geringen Überraschung ein Kletterseil sowie einige der exotischen Waffen, die er aus Asien mitgebracht hatte, in seinen schweinsledernen Koffer und stellte ihn im Wohnzimmer neben dem Taubenkäfig ab. Nachdem er in seinem Schlafzimmer sein Inverness-Cape angezogen hatte, kam er zurück und reichte mir die Hand zum Abschied. „Sie hören von mir“, versprach er. Dann setzte er seine Deerstalker-Mütze auf, nahm sein Gepäck und ging. Was sich danach ereignete, schilderte er mir mit seinen eigenen Worten.


*


Ich hatte Direktor Pembroke telegrafisch meine Ankunft angekündigt. Eine Kutsche holte mich vom Bahnhof ab.

„Ich bin Maldoon, Mr. Sigerson“, stellte sich der Kutscher vor. „Bootsmann a.D. Und jetzt in Harlowe wieder so 'ne Art Bootsmann.“

Maldoon führte mich zum Schreiber des Direktors, aber dieser nicht zu Mr. Pembroke persönlich, sondern zu dessen deutschem Stellvertreter. Er ist nicht nur ein Kraut, er heißt auch so. Johann Wolfgang von Krauth. Chemielehrer übrigens. Ein blonder Hüne und genau der üble Bursche, den seine permanent heruntergezogenen Mundwinkel und die kalten blauen Augen hinter dem dicken Glas seines Zwickers erwarten ließen. Englisch sprach er ebenso wie Französisch so, dass es fast einem Bellen glich. Auch seine einführenden Worte klangen wie eine militärische Befehlsausgabe.

„Unsere Anstalt legt größten Wert auf Charaktererziehung“, erklärte er, „und die Erziehung zum Gemeinschaftsgeist und Ritterlichkeit, zu Respekt vor Autorität und zu einem tief verinnerlichten christlichen Glauben. Es ist uns ganz besonders wichtig, die jungen Herren zu vollgültigen Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft zu formen. Aus diesem Grunde unternehmen wir alles, um krankhaften Individualismus und schädliches Einzelgängertum auszumerzen. Eine wichtige Rolle hierbei spielt der Sport, der die jungen Herren dazu erzieht, ihre eigenen Interessen zurückzustellen und dem Team zu dienen, denn die Nachwelt vergisst Männer, die nur dem eigenen Nutzen dienen, und rühmt die Helden, welche auf eigenes Glück verzichten.“

Na, da war ich ja genau in der richtigen Anstalt gelandet! Ich gab Laute von mir, die er, wenn er wollte, als Zustimmung verstehen konnte. Ihm schien meine Meinung aber letztlich egal zu sein, denn er fuhr unbeirrt fort.

„Dabei sollen keine schwächlichen Intellektuellen heran­gezüchtet werden. Unsere Anstalt verabscheut eine rein intellektuelle Erziehung, denn Wissen allein verdirbt die Jugend. Tatkraft und Entschlossenheit ist es, was diese große Zeit dem Mann abfordert! Das Schwache muss weggehämmert werden. Nur so kann das Neue entstehen und wachsen.“

Nach diesem, wie soll ich sagen, Glaubensbekenntnis, setzte er mich mit einer Knappheit, die an Unhöflichkeit grenzte, darüber in Kenntnis, dass Direktor Pembroke Junggeselle sei und dass darum er, von Krauth, traditionsgemäß das Überraschungsessen für den Neuzugang auszurichten pflegte, obwohl ich nur eine temporäre Vertretung und kein regulärer Lehrer sei.

„Sie werden sicherlich heute Abend nichts vorhaben, Sigerson. Ich würde mich freuen, Sie bei mir zu Hause begrüßen zu dürfen. Das Essen wird Nete Erikson zubereiten und servieren, unsere Internatskrankenschwester und Hausdame in Personalunion. Sie stammt aus Dänemark, ist also fast eine Landsfrau von Ihnen, Sigerson. Ihr Mann Anders war Lehrer bei uns. Naturkunde. Starb leider voriges Jahr.“

„Ist Lewerbridge ein so ungesundes Pflaster?“, wollte ich wissen.

Von Krauth reagierte unwirsch.

„Es besteht kein Anlass zur Sorge! Er stürzte bei ­nächtlichen astronomischen Beobachtungen vom Dach, wenn Sie es genau wissen wollen. Wir vermuten, er schlief vor Übermüdung ein und fiel hinunter. Niemand war dabei.“

„Nun“, antwortete ich, „ich nutze die Nacht allerhöchstens zum Komponieren. Das ist gesünder.“

Von Krauth ging nicht weiter darauf ein.

„Wie auch immer! Morgen werden Sie Direktor Pembroke kennenlernen. Haus Nummer 17. Dort wohne ich. Seien Sie pünktlich!“

Natürlich nahm ich dankend die Einladung an und gab meiner Freude über die bevorstehende Gelegenheit zum Ausdruck, den Direktor persönlich kennenzulernen. Bevor er sich wieder verabschiedete, machte mich von Krauth während eines kurzen Rundganges mit den wichtigsten Örtlichkeiten der Schule vertraut.

„Ich muss wieder zum Unterricht. Maldoon wird Ihnen Ihre Unterkunft zeigen.“

Lewerbridge in Devon ist wie viele andere englische Internate in einem düsteren alten Herrensitz untergebracht, einem veritablen Spukschloss. Sie müssen sich einen verwinkelten Bau aus dem achtzehnten Jahrhundert vorstellen, dem immer wieder neue Flügel hinzugefügt wurden. Etwa sechzig Knaben leben darin, die jüngeren in Mehrbettzimmern, die Älteren in Zimmern für zwei oder drei Bewohner. Die Schüler bilden sechs Klassen, die Lerngruppen genannt werden. Manchmal lernen ältere und jüngere Schüler auch gemeinsam in einer Lerngruppe. Externe Schüler, die etwa nur zum Unterricht in die Schule kämen, gibt es nicht. Der Unterricht wird in Räumen erteilt, die stets einem Lehrer zugeteilt sind, damit der seine Utensilien nicht herumtragen muss, was bei Fächern wie Chemie, Physik oder Musik unpraktisch wäre. Die Schüler kommen also zum Lehrer, nicht umgekehrt.

In Lewerbridge unterrichten zwölf Lehrer, meist Franzosen oder Belgier, da Französisch, wie Mycroft ­berichtete, die Unterrichtssprache ist. Abgesehen von Angestellten wie den Schuldienern sind nur Mr. Pembroke und Rektor Gayheart Engländer. Die Prüfungen werden von Beamten von der Londoner Schulbehörde abgenommen. Während die Schüler unter der Aufsicht von mehreren Pedellen im Haupthaus wohnen, sind die Lehrer separat, in mehreren kleinen Bungalows, untergebracht. Trotzdem verbringen sie die meiste Zeit des Tages mit den Schülern gemeinsam, sei es im Unterricht in den Lerngruppen, beim Sport oder in der Freizeit, beim Musizieren zum Beispiel.

Maldoon führte mich auch über den Hof, in den Ellis zu Tode gestürzt war. Niemand, der aus der Gaube auf dem Dach auf das Pflaster vier Stockwerke darunter stürzte, hatte die Chance, den Aufprall zu überleben. Es lag noch kein Schnee, so dass ich sehen konnte, wo man das Pflaster gründlich vom Blut gereinigt hatte. An dieser Stelle fehlten Gras und Unkraut zwischen den Pflastersteinen, und die Farbe der Steine war viel heller als in der Umgebung. Außerdem zeigte er mir das Türmchen, auf dem sich der Naturkundelehrer sein Observatorium eingerichtet hatte. Es war ein Türmchen ohne Dach, mit einem Kranz von Zinnen als Abschluss.

Ich wusste nicht, ob es mir gelingen würde, die Plattform dort oben in luftiger Höhe unbeobachtet in Augenschein zu nehmen, doch ich hegte sofort meine Zweifel, dass jemand, der dort oben einschlief, von selbst zwischen den Zinnen hindurch in die Tiefe stürzen konnte.

Mir wies Maldoon mit der Nummer 29 einen der kleineren Pavillons zu, die wegen ihrer weniger ­bevorzugten Lage offenbar alleinstehenden Lehrern vorbehalten waren. Mein Bungalow bestand aus einem Wohnzimmer, einer kleinen Küche und einem Flur mit einer Treppe, die ins Obergeschoss mit einem Schlafzimmer und einem Bad führte. Im Wohnzimmer stand ein großer, abgenutzter Schreibtisch. Nachdem ich meinen Koffer ausgepackt hatte, machte ich noch einen kleinen Spaziergang. Bald war es Zeit, sich für den Abend umzuziehen. Pünktlich fand ich mich in von Krauths Wohnung ein.

„Oh, Sie haben Ihre Geige dabei?“, knurrte er. „Wollen Sie uns etwa vorspielen? Da wird sich vor allem Nete sicherlich freuen!“ Er nahm mir den Violinkasten ab und lehnte ihn ziemlich unvorsichtig einfach an die Garderobe. Falls Nete sich über mein Spiel freute – er würde sich sicherlich nicht freuen.

Krauth führte mich in ein Esszimmer, das ihm gleichzeitig als Bibliothek diente. Der Menge seiner Bücher nach zu schließen, war er ein sehr belesener Mann. Schon beim Eintreten, bei einem unauffälligen schweifenden Blick über die Buchrücken, erkannte ich, dass er sicherlich nicht ganz aus freien Stücken hier bei uns in England lebte. Offenkundig zog er gleich seinem Heilsbringer Karl Marx ein Leben auf den Britischen Inseln der gefährdeten Existenz unter den Sozialistengesetzen im Deutschen Reich vor. Die gerahmten Photographien von Lasalle, Marx und Proudhon zwischen den beiden Schränken und der gut sichtbar in Griffhöhe platzierte erste Band der Originalausgabe von Marxens Das Kapital aus dem Jahr 1867, mit seinem charakteristischen gelblichen Umschlag, sprachen eine sehr beredte Sprache über die Überzeugungen, welche in diesem Haus gepflegt wurden.

Mr. Pembroke und ein Mann, dessen Kleidung ihn als Geistlichen auswies, waren bereits anwesend und erhoben sich bei meinem Eintreten. Pembroke drückte erst meine Hand, dann sein Bedauern aus, mich am Morgen nicht persönlich empfangen zu haben. Sein Händedruck war schlaff und feucht, ganz anders als bei seinem deutschen Stellvertreter. Der Geistliche war natürlich Anglikaner, ein riesiger ungeschlachter Kerl mit haarigen Händen und einer Stirnglatze, die seinen bebrillten Schädel mit dem Paar wulstiger roter Lippen noch riesiger wirken ließ.

„Das ist Rektor Gayheart“, stellte Pembroke vor, „Religion.“

Der ergriff stumm meine Hand und drückte sie, als wollte er alles Flüssige aus ihr herausquetschen. Dabei verströmte er einen penetranten Geruch nach Lavendelseife. Ich revanchierte mich mit einem noch festeren Händedruck. Gayheart zuckte leicht zurück und ließ sofort los.

Ich wagte einen schnellen Blick auf seine Hand. Ihre Haut war dünn, ausgebleicht und offenbar schmerz­empfindlich. Einen Moment lang hinterließen meine Finger tiefe Dellen darin. Eindeutig litt der Mann schon lange unter einem Waschzwang. Offenbar gab es irgendwo im Leben dieses Geistlichen eine seelische Schieflage. Nun, ich würde den Grund dafür bald herausfinden!

Irgendwo im Hause bellte ein Hund. Kurz darauf erschien unsere Gastgeberin. Ich hatte ein stilles, kleines Hausmütterchen mit Schwesternhäubchen, ­schlimmstenfalls sogar eine Art weiblichen Dragoner mit Oberlippenbart erwartet, doch herein trat eine hochgewachsene, schlanke und ausgesprochen gut aussehende Frau von skandinavischem Typus, die mich mit traurigen Augen ansah. Ich erkannte sie sofort. Sie werden nicht glauben, wer es war!


*


„Sie werden mich sicherlich nicht um Unklaren lassen!“

„Nun, es war Kleopatra!“

„Doch nicht etwa die, die bei Sir Peter über dem Kamin hängt?“

„Eben die! Oder genauer gesagt, die blonde Version davon.“

„Erstaunlich!“

„Nicht wahr?“


*


Bestimmt, dachte ich, hat sie unter den Herren hier einen schweren Stand.

„Das ist Nete Erikson“, stellte von Krauth sie knapp vor. „Dänin“, setzte er hinzu, so als wäre ihre Herkunft ein Makel, den es zu entschuldigen gälte.

„Ihr verstorbener Mann Anders war unser Naturkundelehrer. Da wir nicht nur ihre Talente als Krankenschwester, sondern auch ihre organisatorischen Talente zu würdigen wissen, machten wir ihr ein Angebot, unsere Hausdame zu werden, was sie kaum ablehnen konnte.“

„Nete!“, wandte er sich an sie, „Søren Sigerson. Musik.“

Ich ließ mir natürlich nicht anmerken, dass ich sie erkannt hatte. Zur Begrüßung sprach sie mich auf Dänisch an, wobei sie mich natürlich den Gepflogenheiten ihrer Heimat folgend duzte.

„Er du også dansker?“ Ich verneinte und stellte mich als naturalisierten Norweger vor.

Jeg kommer fra Norge, men jammen egentlik engelskman.“

„Englænder“, korrigierte sie mich. Ich hatte statt des dänischen Ausdrucks mir das vertrautere norwegische Wort verwendet. „Hvor er det ærgerligt! Schade!“

Ohne Umschweife fuhr ihr von Krauth in die Parade.

„Ich muss vorausschicken, Sigerson, hier auf ­Lewerbridge pflegen wir zur Förderung des Zusammenhaltes einer guten alten französischen Tradition. Das heißt, Neuankömmlinge, aber auch Absolventen und die Neuzugänge im Kollegium müssen sich harmlosen gemeinschaftsförderlichen Ritualen unterziehen. Keine Angst, Sigerson, Sie müssen keine Flasche Wodka leeren und dann auf dem Dachfirst balancieren oder so etwas. Das nicht! Nein, nein! Aber einer kleinen Feuertaufe müssen Sie sich als Neuling schon unterziehen. Sind Sie bereit?“

„Was immer Sie wünschen, Rektor!“

„Da Ihre Heimat Norwegen und Schweden eine Union bilden, wird Nete Ihnen zu Ehren ein Gericht servieren, mit dessen Vorbereitung sie schon im vergangenen Sommer begonnen hat. Ihnen ist Surströmming sicherlich ein Begriff?“

Natürlich war es das! Sie müssen wissen, Watson, es handelt sich um eine abscheuliche Spezialität aus Nordschweden, und zwar um Ostseehering, der mehrere Monate in Salzlake eingelegt und zur Gärung gebracht wird. Geruch und Geschmack sind so beschaffen, dass selbst ein Verhungernder aus einer anderen Weltgegend als Schweden sich wohl eher freudig dem Hungertod ausliefern würde, als davon zu kosten. Die Schweden dagegen lieben dieses, äh, Gericht, weil es den Vorwand liefert, den sauren Geschmack mit Gallonen von Aquavit hinunterzuspülen.

Vor jeden Platz stellte Nete eine Flasche davon hin, aber sie brachte Gott sei Dank auch einen Krug Milch. Meine Antwort, in die ich alle Begeisterung hineinlegte, derer ich fähig war, überzeugte von Krauth.

„Sie servieren das Surströmming hoffentlich mit Dünnbrot, wie es sich gehört?“

„An Ihren Worten erkenne ich den Connaisseur!“

„Ich darf Sie dann bitten, Platz zu nehmen, meine Herren“, forderte von Krauth mit einer einladenden Geste auf. Als wir uns gesetzt hatten, ergriff Rektor Gayheart mit selbstgewissem Ton das Wort.

„Wir sprechen ein Gebet.“

Das war keine Aufforderung, das war ein Befehl – und dem Hausherren gegenüber eine grobe Unhöflichkeit, denn niemand anderem als diesem steht es zu, das Tischgebet zu sprechen oder es sein zu lassen. Die Anwesenden falteten gehorsam die Hände und senkten die Köpfe. Als mich Gayheart scharf ansah, tat ich es ihnen notgedrungen nach.

„Herr, unser Gott, wir danken dir für Speis' und Trank, die du uns am heutigen Abend wieder in reichem Maße bescheren wirst. Aber lehre uns auch Gehorsam und Demut gegenüber deinem Wort! Wer seinen Acker bebaut, der wird haben Brot in Fülle; wer aber nichtigen Dingen nachgeht, ist ein Tor. Dem Menschen wird vergolten nach den Taten seiner Hände, doch der Mund des Toren ruft nach Schlägen. Die Gottlosen werden gestürzt und nicht mehr sein; aber das Haus der Gerechten wird bleiben stehen. Amen!“

„Amen!“, echoten alle einschließlich meiner selbst. Nichts lag mir ferner, als durch Desinteresse an religiösen Bräuchen aufzufallen. Ich hatte die Warnung, die in ­Rektor Gayhearts Worten lag, verstanden.

„Bedienen Sie sich, meine Herren!“, forderte Nete auf. „Ich esse keinen Fisch. Ich bin Vegetarianer“, erklärte sie auf meinen fragenden Blick in nicht ganz korrektem Englisch.

„Es heißt Vegetarier, Nete. Ve-ge-ta-rier. Vergiss das nicht!“

„Vegetarier. Natürlich. Entschuldige ... Janik.“

Bei dem Wort Janik – der dänischen Koseform von Johannes – verfinsterte sich von Krauths Gesicht. Diesmal sagte er jedoch nichts.

Welch eine seltsame Runde ist hier zusammengekommen!, dachte ich. Der Hausherr – ein offenkundiger Sozialist. Und ein Tyrann, der Untergebene ständig korrigierte und zurechtwies. Der eine Gast – ein rabiater Prediger. Und der Schuldirektor – allem Anschein nach ein Mann, der wenig zu sagen hatte oder wenig sagen wollte, denn er beteiligte sich kaum am Gespräch, was ganz und gar nicht der Bedeutung seines Amtes entsprach.

Noch hier daheim in der Baker Street hatte ich mir einen ausführlichen Lebenslauf zusammengestellt, die einzelnen Stationen auf Zettel geschrieben und auswendig gelernt. So konnte ich sicher sein, nichts zu verwechseln oder mich in Widersprüche zu verwickeln.

Als erstes zückte Gayheart ein Taschenmesser, um das Lacksiegel seiner Aquavitflasche zu öffnen. Das Messer war ein französisches Laguiole-Messer mit Wacholder-Griffschalen.

„La toa mòrt la mea vida“ stand auf der Klinge.

„Dein Tod ist mein Leben“, übersetzte ich. „Okzitanisch?“

„Donnerwetter, Sigerson, ja!“, freute sich Gayheart. „Habe ich mir aus dem Languedoc mitgebracht. Es begleitet mich überall hin. Ich sehe, Sie kennen sich aus!“

„Nicht überall, Rektor, nicht überall!“

Dann wurde das übelriechende Mahl eröffnet. Ich gebe zu, dass ich an die Grenzen meines schauspielerischen Talents und meines Fassungsvermögens für alkoholische Getränke gehen musste, um das Zeug im Magen zu behalten, beschränkte mich aber vor allem auf kalte Milch, die die Säure neutralisiert.

Während des Essens unterzogen mich von Krauth und Gayheart einem regelrechten Verhör. Aus ihren Fragen sprachen Misstrauen, ja Übelwollen, das immer aggressiver wurde, je mehr Aquavit die beiden getrunken ­hatten. Allerdings schienen sie viel zu vertragen, denn ihre Sprache wurde keineswegs verschwommen, sondern blieb klar.

Ich trank mehr Milch als Alkohol, tat aber so, als hätte der Aquavit meine Zunge gelöst. Um meinen Status als harmloser, weltfremder Musiker zu festigen, hielt ich einen längeren, scheinbar beschwipsten Vortrag über das Moment des Heldischen in der Musik, vor allem bei Richard Wagner. Wenigstens führte die Konzentration auf diesen Deutschen dazu, dass von Krauth mit nicht ernsthaft widersprach, obwohl er gegen Wagners reaktionäre Weltsicht gravierende Vorbehalte hegte. Gayheart dagegen meinte, missionierend auf mich einwirken zu müssen.

„Es scheint Ihnen am rechten Glauben zu mangeln, Sigerson“, argwöhnte er.

„Wie dieses?“, antwortete ich. „Möglicherweise vermag ich meinen Glauben nicht mit so kenntnisreichen Worten zum Ausdruck zu bringen wie Sie, Rektor Gayheart. Aber wenn ich auf meiner Geige zum Beispiel jene Kantate spiele, die im Verzeichnis der Werke Bachs die Nummer einundzwanzig trägt, so bin ich sicher, dass diese Musik gen Himmel steigt und das Herz des Herrn und seiner himmlischen Heerscharen rührt. Weniges vermag das menschliche Leid in diesem Jammertal erhabener zu Gottes Thron emporzutragen als Bachs Musik.“ Dagegen konnte selbst ein Eiferer wie Gayheart wenig einwenden. Wie gerufen kehrte Nete zurück, um mit dem Abräumen zu beginnen.

„Nete, dein Hund!“, knurrte von Krauth.

Nete klatschte in die Hände. „Wolly“, rief sie. Gehorsam verließ mich der Collie und trottete zu seinem Frauchen. Bevor Wolly das Zimmer verließ, wandte er mir noch einmal seine großen dunklen Augen zu. Offenbar hatte er trotz der Kürze unserer Begegnung mit mir Freundschaft geschlossen. Nete schloss die Tür hinter ihm.

„War alles gut?“

„Wunderbar, Nete!“, erwiderte ich. „Ich möchte bei dieser Gelegenheit mein Glas auf dein Wohl erheben, weil du uns am heutigen Abend so wunderbar verwöhnt hast. Auf dich, Nete!“

„Auf Nete“, echote Mr. Pembroke. „Unsere bezaubernde Nete!“ Statt in den Toast einzustimmen, blickte von Krauth Nete böse an.

„Nete wird gestatten, dass ich von jetzt an die Musik für mich sprechen lasse!“ Ich holte meine Geige, überprüfte kurz die Stimmung und spielte den 1. Satz aus der Violinsonate Nummer eins in g-Moll Opus acht des dänischen Komponisten Emilius Hartmann.

Ich weiß nicht, ob Nete das Stück kannte oder ob die Musik ihr weibliches Gemüt affizierte, jedenfalls lauschte sie mit gefalteten Händen meinem Spiel, wobei sie vergeblich versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. Als ich geendet hatte, klatschte sie begeistert in die Hände. Vidunderlig, Søren! Wunderbar!“, rief sie. „Welcher Ausdruck! Spiel doch noch mehr. Bitte!“

Ich verneigte mich, aber bevor ich der Bitte nachkommen konnte, fuhr von Krauth dazwischen.

„Wir danken Mr. Sigerson für diesen wundervollen Vortrag, aber ich fürchte, wir dürfen seinen guten Willen nicht überstrapazieren. Ein andermal vielleicht mehr!“

Ich hatte ebenso verstanden wie Nete, die nicht auf einer Zugabe beharrte, dankte noch einmal für den wunderbaren Abend, packte meine Geige ein und brach auf. Nete begleitete mich zur Tür.

„Danke nochmals, Søren“, flüsterte sie kaum hörbar, mir einen zarten Kuss auf die Wange hauchend. „Komm gut nach Hause“, fuhr sie, viel lauter, fort. „Gute Nacht!“

Ich erwiderte den Gruß etwas förmlicher und machte mich auf den kurzen Heimweg.

Bevor ich am nächsten Tag meine Unterrichtstätigkeit aufnahm, sah ich mich in der Bibliothek um. Sie war gut mit Nachschlagewerken wie dem Larousse oder der Encyclopedia Britannica ausgestattet. Auch naturkundliche Lehrbücher aller Fachrichtungen – Chemie, Physik und so weiter – fanden sich zu meiner Befriedigung. Im Larousse las ich gleich etwas über Solanacées nach, die Nachtschattengewächse. Ein Schüler sah mir dabei zu, sagte aber nichts und verließ grußlos den Raum.

Ich erhielt keinen Stundenplan, sondern setzte mich ins Musikzimmer, in das mich Maldoon führte, und wartete auf die Schüler. Resümierend kann ich sagen, dass die Stimmung unter ihnen höchst aggressiv war. Mehr als einer hatte bis auf die Nagelbetten abgenagte Fingernägel. Offenbar war die Stimmung in dieser Schule nicht die beste.

Die erste Schülergruppe, die zu mir kam, bestand aus älteren Schülern, von denen mir einer sofort auffiel. Er hieß Andrew und war der Sohn des Eisenbahn-Magnaten Esbury-Bailey. Ein eingebildeter Kerl, ständig umgeben von einer Korona aus jüngeren Schülern, die ihm aufs Wort folgen. Seine Sportart war ganz eindeutig das Florettfechten – ohne Maske und Handschuhe, denn er hatte verschiedene Schmisse im Gesicht und an den Händen. Seine Körperkraft übertraf die Kraft seines Geistes um ein Vielfaches.

Nachdem ich mich der Musik-Lerngruppe als neuer Vertretungslehrer im Fach Musik vorgestellt hatte, ging Andrew sofort zum Angriff über. Er schien so etwas zu sein wie der heimliche König des Internats. Auf jeden Fall zeigte sein Auftreten, welch ungute, aggressive Atmosphäre in diesen Mauern herrschte.

„Bei allem Respekt, Mr. Sigerson, Sie wären nicht der erste Musiklehrer, der uns schnell wieder verlässt.“

„Soll das eine Drohung sein, Esbury-Bailey?“

„Ich sag's nur, wie es ist.“

„Danke sehr vielmals“, gab ich zurück. Ich hatte mir diese und ähnliche Wendungen angewöhnt, um ein wenig schrulliger und harmloser zu wirken, als ich hoffentlich in Wirklichkeit bin. Dann fragte ich Andrew unter dem Vorwand, mich über den Stand der musikalischen Ausbildung im Allgemeinen und seine Musikalität im Besonderen ins Bild setzen zu wollen, welches Instrument er denn ­beherrsche.

„Geige“, knurrte er.

„Geige was?“, knurrte ich zurück. Er verstand sofort.

„Geige, Sir!“ Ich ahnte, dass dies der Beginn einer tiefen Feindschaft würde sein können, und bat ihn, seine Geige zu nehmen und gut zuzuhören. Dann spielte ich die einfache polnische Volksweise Spi, ojtec, spi – Schlaf, Vater, schlaf, und bat ihn, sie nachzuspielen. Andrew erwies sich als unmusikalischer als ein frisch gefällter Baumstamm. Er fand kaum einen richtigen Ton, und sein Spiel glich eher einem Gesäge. Auch im zweiten Anlauf wurde es nicht besser. Als einige Mitschüler zu lachen wagten, warf er ihnen einen kurzen, bösen Blick zu. Sie verstummten sofort.

Nicht minder auffällig war der kleine Pepe Tolino. Ein reizender Junge, schwarzhaarig, großäugig und augenscheinlich sehr klug. Und hochmusikalisch. Er spielte ebenfalls Geige, und ich sah schon im ersten Moment seinem Gesicht an, er würde das Problem viel besser lösen können als Andrew. Tatsächlich hatte er nicht nur die ganze Melodie im Kopf behalten, sondern konnte sie auch fehlerfrei wiedergeben. Und nicht nur das! Als er sie korrekt durchgespielt hatte, wiederholte er sie noch einmal, aber so, wie sie Johann Sebastian Bach gespielt hätte. Seine Mitschüler waren hörbar begeistert. Lediglich Andrew sagte nichts.

Ich ließ mich auf das Spiel ein und spielte Spi, ojtec, spi ebenfalls noch einmal, nur dieses Mal im Stile von Wolfgang Amadeus Mozart. Pepe strahlte, und ich trug im gleich eine Eins ein.

Die anderen Schüler lagen zwischen den beiden Extre­men, einige wenige näher bei Pepe, die meisten eher in der Nähe von Andrew. Ich beschloss, ein Streichquintett zu gründen, und die vier Auserwählten – der fünfte Mann wollte ich selber sein – waren auch sofort begeistert. Selbstverständlich gehörte Andrew nicht zu den Vieren.

Ohne anzuklopfen, betrat Gayheart den Musiksaal. Die Musik der Schüler verstummte mit einem Schlag.

„Bernstein, mitkommen!“, blökte Gayheart grußlos in den Raum.

Der Schüler Bernstein erbleichte.

„Wird's bald?“

„Darf ich fragen, Rektor Gayheart, was das ...“, begann ich.

„Dürfen Sie nicht, Sigerson. Es ist intern! Bernstein!“

Bernstein legte seine Geige und seinen Bogen auf seinen Stuhl, ging nach vorn und blieb vor Gayheart stehen.

„Bitte, Sir!“, murmelte er.

Statt einer Antwort packte Gayheart ihn im Genick und zog ihn in den Flur. Bevor er sich umwenden konnte, hob ich meinen Geigenbogen und stemmte ihn quer vor Gayheart in den Türrahmen.

„Ich will jetzt wissen, was hier vorgeht!“

„Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig, Sigerson. Geben Sie den Weg frei, sonst ...“

„Sonst?“

Er blickte mich hasserfüllt an. Ich versuchte es mit einem Warnschuss.

„Dann erklären Sie mir doch bitteschön einmal, warum Sie Ihre Fingernägel derart abnagen. Gerade von einem Geistlichen sollte man Gelassenheit und Gottvertrauen erwarten. Unter welchem schrecklichen Druck stehen Sie?“

Seine Gesichtsfarbe wechselte ins Karmesinrote. Statt einer Antwort schlug er mit einer ausholenden Bewegung des freien Arms meinen Geigenbogen beiseite.

„Es ist intern! Merken Sie sich das!“

Er zerrte Bernstein weg und warf die Tür hinter sich zu. Ich verzichtete auf weitere Maßnahmen. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, klopften meine Schüler mit den Knöcheln an ihre Stühle begeisterten Beifall. Es gelang mir aber nicht, ihnen zu entlocken, was passiert war. Immerhin konnte ich mir aus vielen gemurmelten Worten und Halbsätzen zusammenreimen, dass Bernstein in der Schulkapelle von Gayheart und von Krauth bestraft werden würde.

Auf meine Frage, was er denn verbrochen habe, erhielt ich nur die kryptische Antwort, die Bestrafung brauche keinen Anlass.

In der nächsten Musikstunde fehlte Bernstein. „Er ist krank“, beschieden mir seine Mitschüler.

„Was fehlt ihm denn?“, wollte ich wissen. Betretenes Schweigen und Schulterzucken war die Antwort.

„Er kann nicht laufen“, rief einer der Schüler.

„Und wo finde ich Bernstein jetzt?“

„In Nummer fünfundzwanzig. Das ist eine Sechsbettkammer. Wir jüngeren Schüler wohnen in Sechsbettkammern. Zweibettzimmer kriegen nur die Großen.“

Ich beschloss, nach dem Unterricht Bernstein einen Krankenbesuch abzustatten. Als ich vor dem Abendessen in die Nummer fünfundzwanzig kam, fand ich keinen Bernstein mehr vor.

„Er musste Lewerbridge verlassen“, verriet mir sein Stubenkamerad. „Er hat etwas gestohlen.“

„Was denn?“

„Rektor Gayheart hat eine goldene Uhr bei ihm gefunden, die ihm nicht gehörte. Aber ich glaube das nicht. Sie sagen Rektor Gayheart aber nicht, dass ich das gesagt habe, Mr. Sigerson? Bitte!“

„Versprochen!“

„Sonst wirft mich der liebe Gott auch noch vom Dach. Wie Ellis.“

„Der liebe Gott hat Ellis vom Dach geworfen? Warum denn das?“

„Rektor Gayheart hat das gesagt. Weil Ellis sich nicht demütig gezeigt hat. Aber Sie verraten doch niemandem, dass ich das erzählt habe?“

„Ich habe es doch schon versprochen. Hier! Hand drauf!“

„Danke, Mr. Sigerson!“

Gegen diesen Akt der Willkür, in dem vermutlich auch Judophobie eine Rolle spielte, konnte ich momentan nichts unternehmen.

Da Musikunterricht nicht unbedingt zu den Hauptfächern zählte, blieb mir viel Zeit für nachmittägliche Spaziergänge durch die kahle, winterliche Landschaft, über die noch kein Schnee seine schützende Decke gebreitet hatte. Obwohl die Temperatur fast den Gefrierpunkt erreichte, trieben die Schüler fleißig Sport. Sie machten Dauerläufe, übten sich im Ballspiel oder spielten trotz der Kälte Tennis oder fochten in Hemd, Weste und ­hochgekrempelten Ärmeln Florett. Bei letzterem gab ein Sportlehrer die Anweisungen. Er nickte mir lediglich zu, als ich kurz stehenblieb, um mich von dem hohen Stand des Trainings zu überzeugen.

Als ich entdeckte, dass den Lehrern und Schülern auch Velocipede zur Verfügung standen, lieh ich mir eines aus und machte, vom Wetter unbeeindruckt, Ausflüge per Fahrrad in die nähere und weitere Umgebung. So würde ich auch besser erkennen, ob mich jemand beobachtete oder verfolgte. Ich war aber sicher, dass viele junge Augenpaare mehr oder minder diskret meine Wege verfolgten.

Ich klapperte natürlich die Gasthäuser in der Nähe ab. So diskret wie ich konnte, forschte ich nach dem Naturkundelehrer Anders Erikson, der vom Dach gefallen war, als er in den Mond guckte, und nach dem Schüler Georges Besymyannoi, der im zurückliegenden Sommer ertrunken sein sollte.

In einer üblen Spelunke kam ich mit einem alten Säufer ins Gespräch, der anders als viele andere Bewohner der Gegend nicht in verstocktes Schweigen verfiel, wenn ihn ein Fremder ansprach. Er stellte sich als Herbert Gale vor. „An Ale for Gale“, verlangte er, und es kostete mich nicht mehr als dieses Ale, um seine Zunge zu lösen.

„Sie wissen es nicht, Fremder!“

„Was weiß ich denn nicht?“

„Das Fremde hier vom Dach fallen! Wie dieser Anders. Ein feiner Mann. Übrigens auch so ein Finne wie du.“

„Norweger.“

„Sag' ich doch.“

„Er hatte herausgefunden, was die Lehrer alles so treiben. Schlimme Sachen! Ganz schlimme!“

„Was treiben sie denn?“

Er machte eine obszöne Geste, kam aber nicht mehr dazu, sie näher zu erläutern, denn einige schon stark angetrunkene Männer betraten den Schankraum. Sie nahmen mich gar nicht zur Kenntnis, sondern umringten Gale.

„Gib einen aus, Herb!“, riefen sie.

„Oder zwei!“

„Sonst erzählst du dem Fremden noch all den Scheiß von Männern, die vom Dach fallen. Vielleicht waren es nur weiße Mäuse!“

Gales Antwort war im allgemeinen Gelächter nicht mehr zu verstehen. Weil an eine Fortsetzung des Gesprächs nicht mehr zu denken war, trat ich den Rückzug an. Vielleicht würde ich auf Herb zurückkommen, wenn seine trinkfesten Kumpel nicht in der Nähe waren. So setzte ich meine Erkundungsgänge und Erkundungsfahrten fort.

Es war mir schon bei meiner Ankunft aufgefallen, wie wenig gepflegt die Außenanlagen des Internats waren. Natürlich gab es Gärten neben den Lehrerhäusern, aber die schienen mir stark vernachlässigt, und entlang der Zäune, Mauern und Wege wuchs das Unkraut. Besonders eine Sorte fiel mir ins Auge. Sie hatte gezackte, zum Teil haarige Blätter. Ich hielt sie für Nachtschattengewächse. Allerdings fehlten die Samenkapseln, die für diese hochgiftige Pflanzengattung typisch sind. Als ob sie jemand abgeerntet hätte. Da meine botanischen Kenntnisse so ausgeprägt nicht waren, riss ich einige Blätter ab und steckte sie in die Tasche, um in einer stillen Stunde in der Bibliothek eine Bestimmung vorzunehmen.

Als ich sicher sein konnte, dass die Schüler sich auf dem Sportplatz befanden, begab ich mich in der Hoffnung, unbeobachtet zu sein, in den Raum mit der Gaube, von dem aus Ellis Morton in den Hof gestürzt war. Es war eine Art Rumpelkammer, in der die Schüler ihre Koffer und andere Habseligkeiten aufbewahren durften. Da sich der Sportplatz auf der anderen Seite des Gebäudes befand, wähnte ich mich unbeobachtet, schob mit etwas Mühe das Fenster hoch, das sich verblüffend leicht bewegen ließ, und warf einen Blick nach draußen. In der Regenrinne, die mehrere Meter vor dem Fenster verlief, lag noch der kleine lederne Tennisball, wegen dem Ellis angeblich sein Leben riskiert und verloren haben sollte. Den würde ich mir zu gegebener Zeit holen, beschloss ich. Doch dazu musste es erst Nacht werden.

Das Holz des Fensters war gut gewachst, so dass es sich nahezu lautlos auf- und abschieben ließ. Ganz offenkundig hatte es jemand präpariert. Anderenfalls wäre das Öffnen und Schließen in allen Zimmern und Stuben zu hören gewesen. Ein Blick auf die Dachfläche vor dem Fenster verriet mir auch, zu welchem Zweck. Zwischen einem Blech und den Ziegeln gab es dort eine Kuhle. Sie war im Gegensatz zu ihrer unmittelbaren Umgebung frei von Moos und Ablagerungen. Hier musste etwas gelegen haben. Vermutlich der Ball, der jetzt in der Regenrinne lag.

Im Raum neben dem Fenster verlief, etwa ein Inch von der Wand entfernt, ein mit grauer Farbe ­gestrichenes ­Bleirohr, wohl eine Wasserleitung. Genau in Höhe des Fensters, aber auf der dem Fenster entgegengesetzten Seite, war die Farbe völlig abgerieben und das Rohr eingedellt. Zweifellos hatte hier jemand ein Seil befestigt und versucht, sich aus dem Fenster abzuseilen. Am Boden lag noch ein handbreites Stück Seil. Seine Enden waren glatt abgeschnitten. Ich steckte meinen Fund ein, schloss das Fenster und ging.

Endlich wurde es Nacht. Im kalten Licht des Vollmondes glitzerte der Reif auf den Dachziegeln. Gott sei Dank lag kein Schnee! Natürlich wäre es gefährlich gewesen, mit normalen Schuhen auf das Dach zu klettern, aber ich habe Ihnen ja schon einmal erzählt, dass ich während meiner Abwesenheit nach der unseligen Reichenbach-­Geschichte bei japanischen Schattenkämpfern, den Ninjas, das eine oder andere lernen durfte.

Habe ich den Ausdruck ‚Ashikô‛ erwähnt? Nein? Das sind Krallen, die man zum Klettern über die Füße oder Schuhe zieht. Ninjas können damit und mit entsprechenden Handkrallen, Shuko genannt, wie Eidechsen und völlig lautlos senkrechte Mauern hinaufklettern. Nun, ich kann das leider nicht, aber ich wusste, meine geringe Übung würde reichen, um eine Rutschpartie über das Dach hinab in den Hof zu verhindern. Leise öffnete ich das Fenster und atmete die winterlich kalte Luft ein. Über das Dach strich ein Wind. Obwohl es unbequem sein würde, beschloss ich, mein Cape nicht auszuziehen, sondern anzubehalten. Ich musste lächeln, denn ich stellte mir vor, wie Sie, teurer Freund, beschreiben würden, wie sich Sherlock Holmes mit flatterndem Cape, einer riesigen Fledermaus gleich, aus dem Fenster schwingt. Ihre Beschreibung ginge dieses Mal durchaus nicht weit an der Wirklichkeit vorbei. Ich muss ein groteskes Bild abgegeben haben!

Nun, bevor ich mich auf den Weg zur Regenrinne begab, hakte ich noch einen Kletterhaken mit einem Seil daran am Fensterbrett fest. So konnte ich mich festhalten und würde das Gleichgewicht nicht verlieren. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, drang ich die sechs Meter – mehr waren es nicht – zur Dachrinne vor, bückte mich, ergriff den Ball und steckte ihn in die Tasche meines Capes. Gerade wollte ich mich auf den Rückweg begeben, da bemerkte ich ein Rucken am Seil. Ich blickte auf und sah im Mondlicht zwei behandschuhte Hände, die sich aus dem Dachfenster streckten. Die eine Hand hielt das Seil, die andere versuchte, es mit einem Messer durchzuschneiden. Das dazugehörige Gesicht blieb im Dunkeln. Wenn das Messer scharf genug wäre, würde ich in zwei oder drei Sekunden tot im Hof liegen, denn ich hätte schon ein echter Ninja sein müssen, um rechtzeitig vor der Durchtrennung des Seils das Fenster wieder erreicht zu haben.


*


„Jetzt hätten Sie meinen Webley gebraucht!“

„Und mit einem Schuss das ganze Internat aufgeweckt. Watson, ich bitte Sie!“

„Was haben Sie denn dann getan? Wieso sitzen Sie noch so unversehrt vor mir? Mein Gott, machen Sie es doch nicht so spannend!“


*


Wiederum halfen mir die Ninjas! Sie verfügen über Wurfgeschosse für den lautlosen Kampf, so genannte Shuriken. Ich hatte mir einen vierzackigen Wurfstern eingesteckt. Für alle Fälle, denn Messerwerfen ist eine unsichere Angelegenheit und erfordert jahrelanges Üben. Nur ein kleiner Patzer und man verfehlt sein Ziel. Ein vierzackiger Wurfstern trifft nahezu immer. Bevor also mein unsichtbarer Gegner das Seil durchschneiden konnte, warf ich meinen Wurfstern aufs Geratewohl ins Fenster. Getreu dem Shakespeare-Wort „Wer auf schlüpfrig glattem Boden will stehen, hat keine Skrupel, das Gemeinste als Stütze zu ergreifen“. Ich hörte einen unterdrückten Schrei und das Messer auf die Dachziegel fallen. Bevor es an mir vorbeischlidderte, konnte ich es gerade noch ergreifen. Bis ich das Fenster wieder erreicht hatte, war die Dachkammer leer. Meinen Wurfstern fand ich nicht, und es war auch zu dunkel, um danach zu suchen. Zunächst kehrte ich aber einmal zu meiner Unterkunft zurück, um das Messer und den Ball zu untersuchen.

Die Gravur „Dein Tod ist mein Leben“ auf der Klinge verriet mir, wer der Besitzer war. Der Ball war ein gewöhnlicher Tennisball. Er sah aus, als hätte er lange Zeit im Freien gelegen, denn das Leder war hart und rissig geworden. An einer Stelle jedoch war eine Naht aufgetrennt. Etwas steckte darin.


*


„Lassen Sie sich doch nicht jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen. Was war es?“

„Ein Schlüssel mit einer Messingkapsel vorne dran. Solche Schlüssel gehörten nicht zu gewöhnlichen Türen, sondern zu Tresoren“, erläuterte Holmes.


*


Morgen früh vor dem Unterricht musste ich mit Maldoon sprechen!

„Wo haben Sie denn den her?“, fragte er. „Der gehört doch zu dem alten Safe oben in der Rumpelkammer. Ein deutsches Fabrikat. Wir mussten ihn damals dorthin schaffen. War eine Schweinearbeit, das Ding ist tonnenschwer. Das war noch unter Mr. Pembrokes Amtsvorgänger Mr. Willis. Der hatte seinen Schlüsselbund verloren. Mit dem Safeschlüssel dran. Es gab nur einen, und einen Safe, der nicht aufgeht, na ja ...“

Ich ließ mir von Maldoon erklären, wo sich der Safe jetzt befand, verpflichtete ihn zum Schweigen, bat ihn, meinen Schüler auszurichten, ich käme zehn Minuten später und ging den Safe öffnen. Vorne auf der Tresortür prangte, von einem Adler und mehreren Greifen bewacht, ein rot-weißes Wappen mit drei goldenen Kronen und elf schwarzen Flammen auf weißem Grund – das Wappen der deutschen Stadt Köln am Rhein. „Geldschrank-Fabrik Franz Reuther“ stand da. Mein Schlüssel passte, die Tür ließ sich ohne Geräusch öffnen. Der Tresor war leer bis auf ein Buch im Großfolio-Format und einige kleinformatige Zeichnungen. Ich steckte beides rasch in meine Aktentasche, schloss ab und ging wieder.

Als ich meinen Unterricht beginnen wollte, erfuhr ich, dass sich Rektor Gayheart wegen Unpässlichkeit krankgemeldet habe. Nun, dachte ich, ich kann warten. Nach dem Unterricht begann ich, zu Hause meinen Fund zu inspizieren.

Aus dem Buch – es war sinnigerweise eine Halbleder-Ausgabe von Stevensons Schatzinsel – war vielleicht die Hälfte der Seiten herausgeschnitten. An ihrer Stelle lag ein kleiner Skizzenblock mit scheinbar leeren Blättern sowie, in der Mitte gefaltet, einzelne Blätter mit Kohlezeichnungen von größerem Format. Die Bilder waren nicht signiert, aber der Urheber konnte nur Ellis sein. Dafür sprach auch, dass auf dem ersten Blatt der Hippopotamus-Schädel aus Sir Peters Wohnzimmer, dargestellt mit einer verblüffenden dramatischen Schattenwirkung, prangte.

Als ich die weißen Blätter schräg gegen das Licht hielt, sah ich, dass sie mit einer unsichtbaren ­Flüssigkeit bemalt worden waren. Sie erinnern sich sicher – auf eine Geheimtinte hatte ich schon während des Besuches bei Sir Peter geschlossen. Ich entzündete eine Kerze und machte mich daran, Blatt für Blatt anzuschauen. Wenn eine Zeichnung sichtbar geworden war, pinselte ich Blutzuckerlösung darüber, damit es nicht wieder verschwinden konnte.

Es handelte sich um eine Art Bildergeschichte, die Ellis in etwas fehlerhaftem Deutsch mit Das geheimen Leben der Nilpferde überschrieben hatte. Vermutlich kannte er die rabiaten Kindergeschichten aus dem Struwwelpeter Junior von Dr. Heinrich Hoffmann oder die manchmal nicht minder rabiaten Bildergeschichten mit Versen, die der rauschebärtige Deutsche Wilhelm Busch über zwei Lausbuben geschrieben hat, die Erwachsenen viele böse Streiche spielen und am Ende, in Brotkruste eingebacken, in einer Mühle zermahlen und von Enten oder Hühnern aufgefressen werden.

Mein Bruder wollte sich einmal über mein Interesse an der Bienenzucht lustig machen und schenkte mir die englische Übersetzung eines anderen Buches von Busch. Es trägt den merkwürdigen Titel Schnurrdiburr oder die Bienen. Irgendwo muss ich sie noch haben. Buzz a buss, or the bees heißt sie, glaube ich. Es ist durchaus möglich, dass ein weltläufiger junger Mann wie Ellis Morten diese Geschichten einmal in die Hand bekommen und nicht mehr vergessen hat.

Auffallend ist, dass Ellis' sämtliche Figuren Nilpferde sind, die wie wir Menschen aufrecht gehen, Hände zum Greifen haben und Kleidung tragen. Mit Ellis ist wirklich ein großer Künstler viel zu früh dahingegangen, denn es war ihm gelungen, jeder der tierischen Gestalten das Aussehen von Lehrern oder Mitschülern zu verleihen.

Ich musste laut lachen, als ich die Karikaturen von Rektor Gayheart mit seinen wulstigen Lippen, von Krauth mit seinen kalten Knopfaugen und Pembroke mit seinen ­schütteren Haaren und dem unsicheren Blick wiedererkannte. Maldoon und Nete hatten ebenfalls eine sofort wieder erkennbare Nilpferdgestalt angenommen. Hinzu kamen Dutzende verschiedener kleiner Nilpferde, bei denen es sich ganz offensichtlich um Schüler von Lewerbridge handeln musste, denn sie trugen Schulbücher unterm Arm, gingen verschiedenen Sportarten nach oder wurden in Posen oder Tätigkeiten festgehalten, die für die jeweilige Person typisch sein mochten. Was sie taten beziehungsweise was ihnen angetan wurde, war jedoch alles andere als lustig.

Auf einigen Blättern waren auch Bilsenkrautblätter zu sehen und Nilpferdkinder, die auf fliegenden Besen ritten. Wie Sie wissen, ist Bilsenkraut ein Halluzinogen, das die Illusion des Fliegenkönnens weckt. Daher wird das Bilsenkraut auch Hexenkraut genannt, weil Frauen nach seinem Genuss glaubten, durch den Schornstein reiten zu können. Aber das ist eine andere Geschichte.

Offenbar wollte Ellis mit diesen Bildern andeuten, dass der Bilsenkraut-Konsum unter seinen Mitschülern durchaus verbreitet war. Ein besonderes Kapitel war überschrieben mit à bas la bizutage. Nieder mit der bizutage.


*


„Kennen Sie die bizutage?“, fragte Holmes.

„Ich vermute, es ist etwas Ähnliches wie das berüchtigte hazing in den USA. Ich habe als Junge davon gehört. Die Freshmen, also die Studienanfänger, werden zu ­allerlei ­ekligen, ehrenrührigen oder schreckenerregenden Handlungen gezwungen. Zum Beispiel müssen sie Cocktails trinken, deren Hauptbestandteil gewisse Körperflüssigkeiten sind, oder zur Mittagszeit ohne Kleider ein Bad in einem öffentlichen Brunnen nehmen oder in einer Leichenkammer voller Toter übernachten. Widerlich! Auch in den deutschen Burschenschaften sollen solche Sachen als Aufnahmerituale vorkommen.“

„Genau. Ich zum Beispiel musste Surströmming essen. Die bizutage ist eine speziell an französischen Schulen – oder in Lewerbridge – gepflegte Grausamkeit. Wer sich einer solchen Aufgabe verweigert oder an ihr scheitert, rückt in der Schul- oder Universitätshierarchie ganz nach hinten. Und die old boys sorgen dafür, dass das später bei der Suche nach einer geeigneten Stellung nicht vergessen wird. Die bizutage entscheidet also mit über das berufliche Wohl und Wehe des Abgängers.“

„Leider gibt es das auch an britischen Schulen.“

„Leider! Und auf fast allen Seiten über die bizutage ist von Krauth zu sehen mit einem wohlgefälligen Grinsen in seinem unsympathischen Gesicht, wenn er einen Eleven mit seinem Gürtel oder einer Art Ochsenziemer verprügelte. Und dann ist da noch ein kleines Nilpferd, das hebt über einem am Boden liegenden anderen kleinen Nilpferd, auf dessen Armen und Beinen wiederum weitere kleine Nilpferde stehen, wie ein Hund am Baum das Bein. Sie können es sich nachher selbst ansehen. Wieder einmal konnte ich mich glücklich schätzen, dass ich nie eine öffentliche Schule besucht habe. Es hätte mich unweigerlich zum Henker geführt. Das ist aber noch nicht alles.“

„Was denn noch? Schlimmer kann es ja kaum werden!“

„Doch, Watson, doch! Es gibt ein weiteres umfängliches Kapitel, überschrieben In nomine domini, filii et spirtus sancti. Darauf war das Nilpferd Gayheart, wie es Schüler à tergo ... nun, in der Bibel findet sich dafür der Ausdruck Sodomie, wenn sie verstehen, was ich meine. Auf einem der Bilder wurde Nilpferd Gayheart sogar ein Ausspruch in den Mund gelegt. ‚So gehe denn ein in die Freude des Herrn‛, stößt er darauf mit zurückgeworfenem Kopf hervor.“

„Sie sehen mich total entsetzt. Das ist ja abscheulich. Das habe ich selbst bei den Jesuiten nicht erlebt.“

„Genauso geschockt war auch ich. Ich beschloss, diesem wüsten Treiben sofort ein Ende zu bereiten. Doch zunächst sollte es nicht dazu kommen. Nachdem ich die Bilder auf dem Skizzenblock sichtbar gemacht hatte, schloss ich sie in meiner Schreibtischschublade ein. Die anderen Blätter schob ich einer Eingebung folgend zwischen die Notenhefte, die ich mitgebracht hatte.“

„Was war denn auf diesen Blättern dargestellt?“

„Davon später!“


*


Erst einmal machte ich meine Alarmanlage scharf. Ich hatte von zu Hause – der Baker Street – einen kleinen Zinnbecher mit abgesägtem Boden und ein Tütchen mit winzigen eisernen Kügelchen mitgebracht. Nun stellte ich den Zinnbecher auf ein Blatt Papier und füllte die Kügelchen hinein. Dann zog ich vorsichtig das Papier wieder darunter hervor. Wenn jetzt jemand den Becher wegnahm, würden sich die Kügelchen im gesamten Zimmer verteilen. Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, sie restlos alle aufzusammeln und in den Becher zurückzugeben. Besonders wenn die Zeit drängt.

Dann machte ich mich auf den Weg zu Gayheart, doch es öffnete mir niemand. Nirgendwo im Haus brannte Licht. Sein belgischer Nachbar Monsieur Hoydonckx verwickelte mich jedoch leider in ein längeres kollegiales Gespräch, dem ich mich, wollte ich meine Tarnung aufrechterhalten, nicht so schnell entziehen konnte. Zu allem Überfluss bat er mich zu sich herein, um mir sein Edison-Grammophon vorzuführen und ein Glas Oude Genever mit mir zu trinken.

Leider bevorzugte er Marschmusik. Außerdem nötigte er mir noch ein Glas französischen Rotweines auf, das mir zugegebenermaßen sehr mundete. Erst nach über einer Stunde konnte ich mich mit Hinweis auf meinen morgigen Unterricht endlich verabschieden, ohne ihn zu kränken.

Als ich in mein Wohnzimmer zurückkehrte, zeigte meine stille Alarmanlage an, dass ich ungebetenen Besuch gehabt hatte. Ich zog meinen Hufeisenmagneten aus der Tasche hervor und fuhr damit über den Tisch und den Boden darunter. Im Nu hingen zwei Dutzend Eisenkugeln am Magneten. Dachte ich es doch! Außerdem bemerkte ich das Fehlen meiner Brieftaube. Ihr Käfig war leer, aber die Käfigtür geschlossen. Im Raum war sie nicht mehr.

Zwei Dinge waren mir klar: Jemand schien mich beo­bachtet zu haben und wollte mich der Möglichkeit berauben, mich jemandem mitzuteilen. Deshalb schenkte er der Brieftaube die Freiheit. Oder wollte er mir mitteilen: Pass auf, Schnüffler, ich habe dich durchschaut? Und dann entdeckte ich, dass das Buch fort war. Dabei war die Schublade abgeschlossen. Offenbar besaß jemand einen Nachschlüssel! Wenigstens lagen die Nete betreffenden Blätter noch zwischen den Noten.

Ja, Watson, die Sache entwickelte sich ganz anders weiter, als sie begonnen hatte. Ich könnte sogar sagen, sie entglitt mir regelrecht. Mit solch einem hohen Maß an krimineller Energie in einer Schule hatte ich nicht gerechnet. Noch einmal ging ich zu Gayheart, wiederum vergeblich. Vorsichtshalber schaute ich auch einmal bei von Krauth vorbei, doch auch der war nicht zu Hause. Jedenfalls brannte kein Licht und er öffnete auf mein Läuten nicht.

Im Schulgebäude, zu dem ich einen Schlüssel besaß, fand ich sie auch nicht. Ich war der Verzweiflung nahe. Womöglich fände Gayheart durch meine Nachlässigkeit Zeit, Ellis' Bilderbuch zu vernichten. Wie sehr fehlte mir jetzt die Brieftaube, um Verstärkung zu holen!

Ich hatte mich schon aufs Bett gelegt, um eine Stunde zu schlafen, als die Hausglocke erklang. Ein Hund bellte. Ich warf meinen Morgenmantel über und ging zur Tür. Die Winterkälte umfing mich, der Raureif glitzerte im Mondlicht. Vor dem Haus stand Nete mit ihrer ­Hundedame, die ganz aufgeregt war. Nete hatte ein Tuch umgeworfen.

„Schnell, Søren, du musst mir helfen! Ich glaube ... ich glaube, Gayheart hat sich etwas angetan.“

„Ich komme!“

Ich holte noch meine Tasche, dann folgte ich ihr.

„Er kam vorhin zu mir. Er war ziemlich verletzt. In seiner Wange steckte so ein Metallstern. Der Zacken davon war zwischen Ober- und Unterkiefer in die Mundhöhle gedrungen. Ich kündigte ihm an, auf drei ziehen wir ihn heraus und zählte bis zwei. Dann zog ich. Es blutete schlimm und wollte gar nicht mehr aufhören. Eigentlich, meinte ich, müsse die Wunde ein Arzt behandeln, aber er wollte das nicht. Während ich noch Mull zurechtschnitt, versuchte er, ein Buch im Ofen zu verbrennen. Die Schatzinsel. Ich wollte wissen, was das war, aber er sagte, das ginge mich nichts an.

In meinem Haus geht mich aber alles an, was sich darin ereignet.

Ich öffnete den Ofen, um herauszuholen, was er hineingeworfen hatte, doch er versuchte, mir den Weg zu vertreten. Ich stach kurzerhand mit der Nadel, mit der ich seine Wunde nähen wollte, zu. Als er mich packte, verteidigte mich Wolly. Sie biss ihn ins Bein. Ich hatte sie noch nie so wütend gesehen. Gayheart schrie wie am Spieß.

‚Aus, Wolly‛, rief ich und ‚Ab!‛ Endlich ließ sie von Gayheart ab. Ich holte erst das Buch aus dem Ofen, das noch kaum angesengt war, weil das Feuer im Ofen schon ganz heruntergebrannt war. Dann ohrfeigte ich Gayheart, so fest ich konnte, nähte die Wunde in der Wange, verband die Bisswunde und sagte ihm, er solle sich nie wieder hier blicken lassen. Dann humpelte er davon.“

„Das war sehr gut, Nete!“

„Ja! Aber mir war nicht wohl bei der Sache. Ich überlegte schon, ob ich dich holen sollte, war mir aber nicht sicher. Deshalb schaute ich erst einmal Die Schatzinsel an. Warum wollte er das Buch verbrennen?, fragte ich mich. Beim Aufschlagen traute ich meinen Augen kaum. Ich erkannte sofort, dass das Zeichnungen von Ellis waren. Über Gayheart und von Krauth. Diese Schweine! Trotzdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, denn schließlich hatte meine Wolly ihn gebissen. Ich nahm meine Petroleumlampe mit, ging zu ihm und leuchtete in sein Wohnzimmer. Jetzt liegt er am Boden und rührt sich nicht mehr. Dann beschloss ich, dich zu holen. Ich ahnte, du bist kein Lehrer, sondern wahrscheinlich ein Strisser ... so eine Art Polizist.“

Sie hatte ihre brennende Petroleumlampe unter dem Wohnzimmerfenster stehen lassen. Wolly saß daneben und passte auf. Sie hatte nichts dagegen, dass ich die Lampe ihres Frauchens hochhob und den Reflektor ins Zimmer richtete. Tatsächlich! Gayheart lag am Boden. In seiner Atemnot hatte er sein Hemd aufgerissen und im Fallen einen kleinen Tisch umgeworfen.

„Wir müssen ihm helfen! Die Tür ist zu!“

„Ich habe keinen Schlüssel.“

„Das macht nichts“, entgegnete ich und ging zurück zur Haustür.

Ich riss mehrmals am Klingelzug und wartete einige Sekunden. Der Nachbar Monsieur Hoydonckx sollte nicht sagen können, ich wäre einfach mit Nete in ein fremdes Haus eingedrungen.

„Leuchte mir mal!“

Nachdem ich mein Mäppchen mit den Sperrhaken aus meiner Tasche hervorgezogen hatte, drehte ich Netes Lampe so, dass ich das Schloss sehen konnte, und wusste, welchen Sperrhaken ich auswählen musste. Mit einem leisen Knacken öffnete sich die Tür schon beim ersten Versuch.

„Du bist wirklich kein Musiklehrer“, stellte Nete fest. „Ich meine, ich bin eine Frau, aber ich bin nicht blöd. Musiklehrer kriegen doch eine Tür nicht so einfach auf. Bist du ein ... Geheimagent?“

„Fast“, beschied ich knapp.

Dann standen wir vor Gayheart. Er lebte noch, atmete aber schwer und rasselnd. Seine rechte Wange war mit groben Stichen genäht und mit Jod desinfiziert worden. Sein rechtes Hosenbein war aufgeschnitten, das Bein verbunden. Blut war durch den Verband gedrungen.

Neben Gayheart auf dem Boden lag ein Fläschchen. Ich hob es auf, um daran zu riechen.

„Er hat Bilsenkraut genommen, hoffentlich nicht mehr als fünfzig Milligramm. Die wirken mit absoluter Sicherheit tödlich. Atemlähmung. Wir müssen ihm eine Spritze geben. Rasch!“

Gehorsam begann sie, seinen Arm abzubinden. Ich holte aus der Tasche die Phiole, die Sie mir gegeben ­hatten, Watson, zog den Inhalt auf die Spritze und verabreichte ihm eine Injektion. Im Nu wurde der Atem ruhiger und gleichmäßiger. Nete las das Etikett des Fläschchens.

„Phy-so-stig-min. Kenn' ich nicht. Bist Du auch Arzt? Oder was jetzt?“

Mein Inkognito war wohl obsolet geworden.

„Ich bin beratender Detektiv aus London. Mein Name ist Sherlock Holmes. Ich soll herausfinden, wie und warum Ellis Morton Clapp-Rothe ums Leben kam. Das Physostigmin hat mir mein Kollege und Freund Watson gegeben, weil Ellis' Pfeife nach Alkaloiden roch. Ich befürchtete, dass wir das Mittel brauchen würden. Du musst jetzt Gayhearts Herz überwachen. Hier hast Du Watsons Stethoskop. Hoffen wir das Beste!“

Sie nickte, setzte es auf Gayhearts affenartig behaarte Brust und begann, die Herztöne abzuhören. Was sie hörte, schien sie zufriedenzustellen. Wolly beobachtete alles ganz genau, so als wüsste sie, was da vor sich ging. Ich hielt den Zeitpunkt für gekommen, Nete zu überrumpeln.

„Woher kennst du eigentlich Sir Peter Clapp-Rothe?“

Sie hätte nicht erstaunter dreinschauen können, wenn plötzlich unsere Queen Victoria vor ihr gestanden hätte, schien aber alles abstreiten zu wollen. Schnell setzte ich ein Wort nach.

„Kleopatra!“

„Das ... das weißt du auch schon?“, fragte sie erstaunt.

„Sir Peter ist mein Auftraggeber. Unter anderem. Also! Woher kennst du ihn?“

„Direktor Pembroke machte uns miteinander bekannt, als Peter wegen einer Gedenkfeier für Ellis hier war. Ich hatte mich wegen seiner Stimmbandkrämpfe ja oft um ihn kümmern müssen. Er war so oft krank. Peter hat mich zu sich eingeladen. Und er erinnerte mich so an Ellis. Als er mich ansah und mich ... also da war es fast so, als ...“

„Als ob er Ellis wäre, nicht wahr? Du und Ellis, ihr ...?“

„Ja, Sherlock Holmes, wir. Woher weißt du das?“

„Er hat auch das verewigt. Ich werde dir seine Bilder zurückgeben, denn sie gehen nur ihn und dich etwas an.“

„Ich danke dir!“

Ich muss jetzt nicht ausführlich schildern, wie wir Gayheart auf sein Sofa legten. Dabei fiel mir auf, dass seine Hosenbeine einen Aufschlag besaßen. Schnell zog ich meinen Magneten aus der Tasche und fuhr damit durch die Aufschläge. Prompt hafteten vier oder fünf Kügelchen am Magneten.

„Aha!“, stellte ich fest. „Er ist also der Einbrecher!“

Während wir gemeinsam an Gayhearts Lager wachten, kraulte ich Wolly und erklärte Nete die Zusammenhänge aus meiner Sicht: Sie ergänzte einiges aus ihrer Sicht und schüttete mir nebenbei ihr Herz aus.

„Anders unterrichtete Naturkunde, aber das weißt du ja schon. Obwohl er ein Mann war, war er eine richtige Kräuterhexe. Er kannte alle Pflanzen und ihre Wirkung. Aus dem Bilsenkraut destillierte er ein krampflösendes Mittel, das er bei einem epileptischen Schüler mit Erfolg einsetzte. Es sprach sich unter den Schülern allerdings schnell herum, dass man damit einen ganz schönen Rausch bekommen konnte, ganz ohne Alkohol. Sie sammelten sämtliches Bilsenkraut, das sie finden konnten. Es gab ja genug. Bald entdeckte Anders, dass Janik es zu Rauschgift verarbeitete. Und dass Gayheart sich damit die Schüler gefügig machte, die er ... also mit denen er ...“

„Ich verstehe. Die er missbrauchen wollte.“

„Genau. Als Anders drohte, zur Polizei zu gehen, fiel er bei astronomischen Beobachtungen in der Nacht von seinem Turm. Niemand will gesehen haben, wie es passierte. Eigentlich kann da niemand herunterfallen, es sei denn, er kletterte über die Zinnen. Aber ich wette, es war entweder Gayheart oder Janik. Gayheart ist stärker, Janik gewalttätiger. Aber ich kann es nicht beweisen.

Also nahm ich Pembrokes Angebot an, ­Krankenschwester zu bleiben und obendrein die Hausdame zu werden. Seitdem sorge ich dafür, dass die Wäsche der Schüler gewaschen wird und so was alles. Außerdem kann ich hier wohnen und Anders' Grab pflegen. Ich tat, als wäre ich völlig ahnungslos und hoffte, dass eines Tages der Tag der Rache kommen würde. Ich glaube, das ist heute!“

„Und Ellis?“, fragte ich.

„Ellis war mein Sorgenkind. Er war so sensibel. Und so schwach. Es gibt Jungen, die sind nicht für das Leben im Internat gemacht. Er war so einer. Oft kam er zu mir, wenn die Not allzu groß wurde und ihm den Atem nahm. Ich mischte ihm auch ein paar Tropfen Bilsenkraut-­Extrakt in seinen Tabak. Es entspannte ihn wirklich. Seine Krämpfe ließen nach. Aber er tat auch mir gut. Er war so ... so ­feinfühlig und so behutsam. Besonders nach Anders' Tod. Und so ist es irgendwann passiert. Aber Janik ...“

„Was ist mit von Krauth?“

„Der stellt mir seit Anders' Tod nach. Und hatte wohl mitbekommen, dass zwischen mir und Ellis ... ein besonders herzliches Verhältnis bestand. Vielleicht wussten oder ahnten Janik und Gayheart – oder einer von beiden – auch etwas von Ellis' Nilpferd-Geschichten. Wie die Schüler einander quälten oder wie einige Lehrer furchtbare Sachen mit ihnen machten. Ellis hat Lewerbridge so gehasst! Und diese ganzen schrecklichen französischen Rituale! Es gibt da so ein Wort, ich habe es vergessen.“

„Bizutage?“

„Ja, genau.“

„Ich schaue mich einmal kurz um. Bleib bitte hier bei Gayheart.“

Auf dem Schreibtisch lag ein Briefumschlag mit der Aufschrift „Nach meinem Tod zu öffnen“, den ich nicht anrührte. In der Küche standen einige Phiolen ohne Aufschrift, bei deren Inhalt es sich dem Geruch nach um ein Gebräu aus Bilsenkraut handelt. Die interessanteste Entdeckung aber machte ich im ersten Stock im Schlafzimmer Gayhearts, genauer gesagt, vor dem Fenster. Da hing an einem Haken eine Keksdose aus Blech. Eine an ihrem Boden befestigte dünne Schnur verschwand in der Morgen­dämmerung.

„Da drüben wohnt doch von Krauth, Nete, nicht wahr?“, rief ich nach unten.

„Ja, warum?“, rief sie nach oben zurück.

„Da, schau her!“ Im nächsten Augenblick stand sie mit dem Hund neben mir.

„Was ist das?“

„Ein Büchsentelefon. Das bauen sich kleine Jungs, um sich über größere Entfernungen zu verständigen. Pass auf!“

Da mein richtiger Name in Kürze ohnehin allgemein bekannt sein würde, zog ich kräftig an der dünnen Schnur, an deren anderen Ende es metallen schepperte. Zu meinem Erstaunen ging ein Fenster, das ich nicht sehen konnte, auf. Offenbar war von Krauth nach Hause zurückgekehrt! Ich war an einem Punkt angekommen, wo ich nicht mehr auf meine sorgfältige Vorbereitung zurückgreifen konnte, sondern improvisieren musste. Dabei kam mir zustatten, dass ein Büchsentelefon zwar Worte, aber nur unzureichend die individuelle Stimme eines Menschen überträgt. Hoffentlich wusste von Krauth noch nicht Bescheid! Rasch hielt ich mir die Büchse ans Ohr.

„Was willst du, zum Teufel?“ Er klang sehr ungnädig.

„Es ist aus!“, flüsterte ich die Büchse. „Er weiß alles!“

„Wer?“

„Sigerson natürlich! Er ist gar kein Musiklehrer, sondern ein Geheimagent oder so etwas. Er hat mich mit so einem Wurfdings verletzt, als ich ihn vom Dach werfen wollte wie den kleinen Clapp-Rothe, und er weiß, dass ich bei ihm eingebrochen habe. Ich habe bei ihm neue Zeichnungen von diesem kleinen Miststück Clapp-Rothe gefunden. Wir sind beide gut getroffen, in voller Aktion. Alles, was recht ist! Ich wollte sie verbrennen, aber Nete ging dazwischen. Ihre Töle hat mich gebissen, und das mit dem kleinen Besymyannoi weiß Sigerson auch. Außerdem hat er Schüler zum Reden gebracht. Nix mehr omertà. Ich wollt's dir nur sagen! Dich kriegen sie nämlich als Nächsten! Ich mach' jetzt Schluss. Ich kann nicht mehr! Finito!“

Damit hängte ich die Büchse wieder an den Haken und schloss das Fenster. Mal sehen, welche Wirkung meine kleine Improvisation zeitigen würde! Nun hieß es abwarten.

Nete und ich verbrachten die wenigen Stunden bis zum Tagesanbruch an Gayhearts Krankenlager. Er würde, da war ich mir sicher, so schnell nicht von hinnen gehen. Nete verdanke ich die noch fehlenden Puzzlestücke zur Abrundung des Gesamtbildes.

„Janik, also von Krauth, liebte es, drakonische Strafen über die Schüler zu verhängen. Besonders wenn er einen Schüler erwischte, der ihm ‚seinen Namen gab‛, wie er das nannte. Sie nannten ihn nämlich hinter seinem Rücken auf Deutsch Unkraut. Die Prügel hat er dann persönlich verabreicht. Mit einem Stück Leder aus Nilpferdhaut. Er hat das bei irgendeinem deutschen Reiseschriftsteller gelesen.“

„Karl May. Die Nilpferdpeitsche des Hadschi Halef Omar.“

„Genau! Von der hat er immer gesprochen. Du bist gut!“

„Es ist mein Beruf, solche Sachen zu wissen.“

„Wahrscheinlich wollte er mich auch nur zum Auspeitschen. Er ist zwar ein Feigling, aber er kann anderen Menschen seinen Willen aufzwingen. Ich wette, Janik hat Gayheart aufgehetzt, Ellis umzubringen.“

„Die beiden waren Komplizen. Ellis wollte aus der Dachrinne einen Schlüssel zu dem Safe holen, wo er seine Zeichnungen versteckte.“

„Und nun?“

„Sollten wir uns etwas stärken.“

Gayheart war eingeschlafen. Sein Atem ging gleichmäßig und ruhig. Nete bereitete uns aus seinen Vorräten ein Frühstück. Dann verließen wir das Haus – sie, um Wolly in den Zwinger zu sperren und um nach dem Arzt schicken zu lassen – ich, um mich bei mir zu Hause zu rasieren. Bevor wir uns trennten, äußerte sie noch eine Bitte.

„Sag niemandem etwas von mir und Clapp-Rothe. Es ist auch so schon schwer genug!“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957192202
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Detektiv Kriminal Romane Krimi London Ermittler Historisch

Autor

  • Klaus-Peter Walter (Autor:in)

Klaus-Peter Walter wurde am 18. April 1955 in Michelstadt im Odenwald geboren. Er studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Philosophie in Mainz und promovierte 1983. Seitdem ist er als freier Publizist tätig. Er schreibt unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt und den SWR. Der Sherlock-Holmes-Liebhaber verfasste bereits einige Krimi-Kurzgeschichten.
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Titel: Sherlock Holmes - Neue Fälle 21: Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler