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Sherlock Holmes - Neue Fälle 26: Sherlock Holmes und der gefallene Kamerad

von Thomas Tippner (Autor:in)
154 Seiten

Zusammenfassung

Zurück in der Baker Street, nach einem Besuch auf dem Land, bringt Watson eine merkwürdige Geschichte über einen alten Armeekameraden mit, der seit Tagen spurlos verschwunden ist. Nur dessen Schwester und ein alter Knecht führen den Hof. Irgendetwas stimmt nicht. Was haben die seltsamen Zeichen zu bedeuten, die Watson an der Scheune entdeckt hat? Wer sind die Beobachter, die immer wieder um den Hof herumschleichen? Holmes ist besorgt, nachdem Watson ihm die Geschichte erzählt hat. Er spürt, dass auf dem Hof alle in tödlicher Gefahr schweben. Die Printausgabe umfasst 154 Buchseiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis




Sherlock Holmes und der gefallene Kamerad


Die Einschläge der Artillerie ließen die Erde erzittern. Immer wieder nahm ich den Kopf zwischen die Schultern, während um uns herum die Kanonenkugeln einschlugen, Schmutz und Dreck aufwirbelten und einen glauben ließen, das letzte Stündlein hätte einem geschlagen.

Obwohl ich am ganzen Leib zitterte und ich mich immer wieder selbst dazu überreden musste, meiner Aufgabe gewissenhaft und treu nachzukommen, fiel es mir von Minute zu Minute schwerer.

Auch wenn ich das Kampfgetümmel kaum übersehen konnte, so waren es doch die Gerüchte, die uns entgegenwehten, wie Papierschnipsel, die vom Wind getragen wurden, die uns beunruhigten. So hieß es, dass die afghanischen irregulären Truppen – Stammeskrieger – unsere rechte äußerste Flanke angegriffen hätten.

„Sie werden unter großen Verlusten zurückgeschlagen“, erzählte mir einer, während jemand anderes meinte: „Sie rollen genau uns auf!“

Ich hingegen, in meiner Funktion als Militärarzt, versuchte mich, denen zu widmen, die von der ersten Frontlinie nach hinten zu uns gebracht wurden, um sie zu versorgen. Einem jungen Mann, dem ein Granatsplitter in die Hüfte gedrungen war, lächelte ich aufmunternd zu und sagte ihm: „Alles wird gut. Vertrauen Sie mir.“

Blass, wie der Junge war, nickte er nur, und schloss dann die Augen, ohne auf meine Frage zu antworten: „Wie sieht es denn vorne aus?“

Erst als um die Mittagszeit herum die Schüsse immer näherkamen, die Boten hastig an uns vorbeigaloppierten, und die Befehle der Offiziere und Generäle immer lauter, heiserer und eindringlicher wurden, wurde auch mir bewusst, dass wir unsere Stellung hinter der Schlucht von Mahmudabad kaum noch halten konnten.

Was eigentlich von vorneherein klar gewesen war, denn die Aufklärer und Späher hatten schon länger davon berichtet, dass die Armee von Mohammed Ayub Khan keine zwei Stunden vor uns lagerte. Das Krux an der Sache war, dass wir, zahlenmäßig weit unterlegen waren, uns aber dennoch nicht mehr zurückziehen konnten. Denn hätten wir das getan, hätten wir kampflos unsere Hauptversorgungslinie um Kandahar preisgegeben müssen.

Deshalb waren wir schweren Herzens in diese unsägliche, in einem Desaster endende Schlacht gezogen, in der wir drei zu eins unterlegen waren.

Dennoch keimte in mir kurz Hoffnung auf, als ich einen Offizier sagen hörte: „Die rechte Seite steht.“ Ich dachte, dass wir doch noch einen Sieg davontragen könnten. Meine Hoffnung, so leichtsinnig und naiv sie auch war, bestand darin, dass die zurückgeworfenen Stammeskrieger in der regulären Truppe unseres Gegners so viel Unruhe stifteten, dass diese sich ungeordnet zurückziehen und neu sortieren musste.

Doch nur wenige Minuten nachdem unsere Armee ihren ersten Sieg in dieser Schlacht errungen hatte, nahm das Artilleriefeuer erneut mehr und mehr zu. Der Boden erzitterte unter den heftigen Einschlägen und die Männer begannen ihre Angst nun offen zur Schau zu stellen. Immer wieder schnappte ich unter den Ärzten und den Pflegern Worte wie: „Flucht“, „Rückzug“, oder „Davonmachen“, auf.

Wörter, die mir, wie ich zugeben musste, widerstrebten. Deshalb sagte ich zu einem jungen Offizier, namens Camming, der mir direkt unterstellt war: „Flieht man, lässt man nicht nur seinen König im Stich, sondern auch seine Kameraden.“

„Doktor Watson“, entgegnete der rothaarige, blasse Mann und wand sich sichtlich. „Ich will nicht sterben.“

„Das werden wir auch nicht!“

In dem Moment, als ich weitersprechen und Camming ins Gewissen reden wollte, wurden wir abkommandiert, um uns um die Verwundeten am vordersten Front­abschnitt zu kümmern.

„Um dort zu retten, was noch zu retten ist“, sagte mir der Bote, der mir einen Befehl in die Hand drückte, mir viel Glück wünschte und dann davongaloppierte.

Ich schaute Camming an, der nickte und mir dann widerstrebend folgte.

Bis heute kann ich mich an das Schlachtengetümmel kaum noch erinnern. Es schien so, als legte mein Verstand, gnädig wie er war, ein schwarzes Tuch über meine Erinnerungen, um die schrecklichen Bilder vergessen zu machen, die ich dort hatte sehen müssen.

Ich weiß nur noch, dass der dichte Kanonenstaub ebenso über die Ebene wehte, wie der aufgewirbelte Dreck, den die einschlagenden Kugeln verursacht hatten. Immer wieder hörten wir verletzte Männer nach einem Arzt oder nach deren Müttern schreien.

Das pfeifende Geräusch einer auf unsere Linien zufliegenden Kanonenkugel, war wie das Brüllen eines Orkans in meinen Ohren. Man konnte hören, wie die Eisenkugeln die Luft durchschnitten und wie sie auf einen zugeflogen kamen … wie ihr bedrohliches Wirken einen innerlich zu lähmen begann, und wie sie schließlich über einen hinwegsauste, hinter einem explodierte, und die Erde so sehr erbeben ließ, dass man sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Ich erschauderte und arbeitete fieberhaft und mit zitternden Händen an einem verletzten Soldaten, als ich folgende Befehle hörte: „Stellung halten! Nicht zurückweichen. Stellung halten. Feuer!“

Wie oft die Gewehre knallten und Kugeln aus ihren Läufen feuerten, konnte ich gar nicht mehr sagen. Ich wusste nur, dass mich plötzlich etwas von den Beinen riss. Eben noch hatte ich an einer Trage gestanden und mit blutigen Fingern in der Wunde eines Mannes gesteckt, um einen Eisensplitter aus seinem Oberschenkel zu entfernen, dann lag ich plötzlich am Boden und konnte mich vor Verwunderung und Schmerz kaum noch bewegen. Ich stöhnte leise. Der Schmerz war, seltsamerweise, gar nicht das Schlimmste, was mir in diesem Augenblick widerfuhr. Auch wenn er mich ­später immer wieder quälte und mich auf diese Weise an jenen schicksalhaften Tag erinnerte. Es war der plötzliche Druck im Magen, die aufkommende Übelkeit und der qualvolle Gedanke: Du stirbst. Du wirst sterben. Hier und jetzt, die mir bis heute lebhaft in Erinnerung geblieben waren und der sich mir immer dann offenbarte, wenn ich von meinen Alltagssorgen befreit war und in Ruhe nachdenken konnte.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, sich seiner Sterblichkeit so bewusst zu werden.

Ein Gefühl, das sich erst diffus und kaum wahrnehmbar, in meinem Verstand festsetzte, um mich dann stärker und stärker erahnen zu lassen, was es wirklich war.

Es war Angst!

Durch die Eingeweide wühlende, einen in Unruhe bringende, den Verstand lähmende Angst.

Sie ergriff mich und ließ alles um mich herum verlangsamt ablaufen.

Da waren die dichten Schwaden, das Brüllen der Männer, das Vibrieren des Bodens, der heranpreschende Angreifer. Und der unfassbare Moment der Verwunderung, als ich begriff, dass unsere Linien gerade dabei waren, zusammenzubrechen und dass die Afghanen es wirklich geschafft hatten, die als unbesiegbar geltende, am besten ausgebildete und trainierte Armee des britischen Empires, aufzureiben.

In meiner Verwirrung versuchte ich, aufzustehen, allerdings ohne, dass es mir gelang.

Ich wollte hoch, damit ich mich ebenso in Sicherheit bringen konnte, wie die anderen Männer es jetzt taten.

Allein der Gedanke daran, in Gefangenschaft geraten zu können, ließ mich alle noch in mir verbliebenen Kräfte mobilisieren.

In dem Moment, als ich vorwärts kroch und eine Kanonenkugel keine zwanzig Schritte von mir entfernt einschlug und ihren tödlichen Regen über uns alle spie, sah ich, wie sich der junge Camming an die Brust griff, rückwärtsfiel und auf dem Rücken landete. Dann lag er da, mit merkwürdig und fremdartig von seinem Körper abstehenden Gliedmaßen. Das Gesicht zum Himmel gerichtet, den Mund geöffnet, die Augen leer und weit aufgerissen, so als wolle er noch einmal seinen ganzen Frust und Ärger herausschreien, weil er sich von den Worten eines Doktor Watson an der Ehre hatte packen lassen. Und eben jener Doktor Watson war jetzt dafür verantwortlich, dass er von einer auseinandergesprengten Kanonenkugel buchstäblich zerrissen und in den Tod befördert worden war.

Dieser Gedanke war es, der sich bis heute in meinem Kopf festgesetzt hatte, und der mich materte und quälte, wenn ich zur Ruhe kam, und der mich immer wieder fragen ließ: Wäre Camming jetzt noch am Leben, wenn er mir nicht begegnet wäre? Hätte er jetzt Frau und Kinder? Ein Haus, irgendwo?

Ein Leben, das ich ihm genommen hatte?

All das raste mir auch damals durch den Kopf, während sich unsere Truppen – keinerlei Ordnung mehr besitzend – zurückzogen. Nur für einen kurzen Augenblick, sehnte ich mich ernsthaft nach dem Tod. Beinahe so, als könne ich Camming auf diese Weise folgen, ihm tröstend auf die Schulter klopfen und ihm sagen: „Siehst du … jetzt hat es uns beide erwischt. Komm, machen wir das Beste draus.“

Doch so tröstend dieser Gedanke auch war, so sehr entfachte er die Angst in mir, dass ich hier an diesem Ort sterben könnte.

Im fernen Afghanistan, die Heimat so weit entfernt, dass es wehtat, nur an sie zu denken.

Ich wäre in Afghanistan bestimmt gefallen, wäre nicht plötzlich mein Mitstreiter Birmingham auf seinem Rappen bei mir gewesen, seinen Säbel schwingend, durch die Reihen der Angreifer galoppierend. Er kämpfte gleich gegen zwei Mann, schlug sie nieder, und brachte sein Pferd dann neben mir zum Stehen.

Ob er abstieg, weiß ich gar nicht mehr.

Was ich noch weiß, war, dass ich lächelte und glücklich war, meinen Freund und Gefährten noch einmal sehen zu können. Einen Freund, der mir mehr bedeutete, als ich es jemals hätte zugeben wollen, wie mir jetzt bewusst wurde.

Der Trost, der mich durchfuhr, als ich ihn sah, ließ mich für einen kurzen Augenblick vergessen, was für Gedanken ich zuvor gehabt hatte und welche Trauer in mir emporgestiegen war, als mir bewusst wurde, dass ich ernsthaft am Bein verletzt worden war.

Ich war ihm so unfassbar dankbar.

Für alles.

Dafür, dass er mir die schweren Stunden voller Heimweh verkürzte, dass er sich meiner annahm, als ich dachte, in meiner Kompanie und sogar im gesamten Militär, niemals wieder glücklich werden zu können. Und ich schätzte ihn zudem noch als angenehmen Gesprächspartner, der meiner Seele etwas Freiraum gab, wenn ich mich mit ihm über die angenehmen Dinge des Lebens unterhalten konnte.

Er war das Letzte, was ich auf unserem Feldzug sah, und er war das Erste, was ich erblickte, als ich im Lazarett aus meinen Fieberträumen erwachte …



1.


„Es ist eine Freude, Sie zu sehen, Doktor Watson“, begrüßte mich Mrs. Hudson, nachdem ich zaghaft an die Tür geklopft und gefragt hatte: „Ist er da?“

„Seit Tagen hat er das Haus schon nicht mehr verlassen“, klagte meine ehemalige Haushälterin mir ihr Leid, und warf einen besorgten Blick die Treppe hinauf, die zu unserer ehemals gemeinsamen Wohnung führte. „Ich fürchte, er hat mal wieder einen seiner vielen Anfälle von Melancholie.“

„Es ist schon schwer, das bedeutendste Genie des englischen Empires zu sein“, konnte ich mir meinen bissigen Spott nicht verkneifen.

„Er wird sich aber freuen, Sie zu sehen, da bin ich mir sicher. Ich mache Ihnen gleich ein paar Sandwiches, wenn Sie möchten und Tee brühe ich auch noch frisch auf.“

„Sie sind ein Engel Mrs. Hudson! So, wie immer.“

Die alte, resolute Dame, die uns vor so vielen Jahren Räume in der Bakerstreet 221b zur Verfügung gestellt hatte, lächelte mich freundschaftlich an und versprach mir, mit den Stärkungen so schnell wie möglich bei uns zu sein.

In der Zwischenzeit stieg ich die Treppe empor, klopfte kurz an und wurde sofort von einer knarrenden, vom vielen Tabak ganz trocken gewordenen Stimme begrüßt: „Ah, Watson, eine Ehre, Sie mal wieder hier begrüßen zu dürfen. Wie ich sehe, waren Sie auf Reisen. In Sussex, um genau zu sein!“

„Holmes“, meinte ich lachend, während ich den Mantel, den ich getragen hatte, abstreifte und an den davor vorgesehenen Haken hängte. „Wie immer überraschen Sie mich. Aber woher …?“

„Zur Auflösung meiner kleinen Beobachtung kommen wir gleich. Watson. Setzen Sie sich doch.“

„Wenn ich einen Platz finde“, gab ich missmutig von mir, während ich mich in dem unaufgeräumten, von unzähligen Büchern, Folianten und angefangenen und beendeten Experimenten vollgestellten Zimmer umsah.

Unordnung, das wusste ich, hatte Holmes noch nie gekümmert. Immer hatte er etwas nachzulesen, auszuprobieren oder schlicht und ergreifend keine Lust, das von ihm angerichtete Chaos zu beseitigen.

„In Sussex herrschte wohl Disziplin und Ordnung“, ließ Holmes sich nicht nehmen zu sagen, und zog wieder an seiner Pfeife, um den würzigen Geruch des Tabaks dann im Raum zu verteilen. „Wie es sich für ein Landgut gehört, auf dem das Militär das Regime führt.“

„Holmes!“

Mein Freund lächelte wieder.

Er schlug die knöchernen Beine übereinander, während er mich aus seinen zusammengekniffenen Augen weiter musterte und betrachtete. Als ich mich schon unwohl in meiner Haut zu fühlen begann – ich hatte mittlerweile einen Platz auf meinem angestammten Sessel gefunden, nachdem ich die darauf liegenden Bücher und Briefe einfach auf den vor mir stehenden Tisch platziert hatte – meinte er: „Was hat Sie denn in die Vergangenheit getrieben, Watson?“

„Können Sie mir jetzt endlich sagen, wie Sie darauf kommen, dass ich in Sussex gewesen bin und dass ich dort jemanden besucht habe, der beim Militär gedient hat und dass ich mich mit meiner Vergangenheit beschäftigt habe?“

„Es ist ganz einfach“, erklärte Holmes, der sich vorbeugte und seinem scharf geschnittenen Profil dadurch das Aussehen eines sich auf Beute herabstürzenden Adlers verlieh. „Fangen wir mit Sussex an.“ Er lachte, als er meine zusammengekniffenen Augen sah, die einen kritischen Blick auf mein Schuhwerk warfen. „Nein, nein, weder an dem Straßenstaub noch an den Lehmspritzern an ihren Sohlen oder auf dem Leder ist mir gewahr geworden, wo Sie gewesen sind. Es ist viel banaler und einfacher. Ich habe die Zeitung gesehen, die Sie mit sich führen. Es handelt sich dabei um ein Blatt, das man ­überwiegend in West Sussex liest. Daher meine ­Schlussfolgerung, dass Sie in Sussex waren. Außerdem, und das war nun wirklich nicht schwer zu erraten, haben Sie sich mit Ihrer Vergangenheit beschäftigt … das konnte ich ganz klar an Ihren Handschuhen sehen.“

„An meinen Handschuhen?“

„An Ihren Handschuhen, ja.“

Holmes, der sich nun in seinen Sessel zurückfallen ließ, lächelte mir aufmunternd zu, so als wolle er mir die Chance geben, selbst auf die Lösung des Rätsels zu kommen. Ich aber, ganz nach alter Gewohnheit, schlug nur die Beine übereinander, strich die Falten aus meinem Hemd, und schaute auffordernd zu meinem Freund.

Dieser nickte schließlich, als er verstand, dass ich mich von ihm überraschen lassen wollte.

„Na gut“, sagte er daraufhin. „Ihre Handschuhe stammen noch aus ihrer Zeit vom Militär. Handschuhe, die Sie immer nur dann tragen, wenn Sie sich mit alten Kameraden treffen, oder es irgendwo eine Militärparade zu bestaunen gibt. Zurzeit findet aber keine Parade, eine Gedenkfeier oder sonstiges statt, worauf Sie Ihre militärische Aufmerksamkeit lenken könnten. Also nehme ich mal an, dass Sie sich mit Ihrer Vergangenheit beschäftigt haben. Eine Vergangenheit, die Sie wieder nach Afghanistan zurückgebracht hat. Und damit zu einem Freund, der mit Ihnen gemeinsam gedient hat. Mehr steckt nicht dahinter, Watson.“

„Für Sie nicht, nein“, entgegnete ich und schüttelte den Kopf, da Holmes mit allem, was er gesagt hatte, mitten ins Schwarze getroffen hatte.

„Sie machen sich Sorgen um Ihren Freund“, holte er weiter aus. „Schwere Sorgen.“

„Auch das stimmt. Aber woher wissen Sie das? Liegt meine Stirn in Falten oder habe ich mich auffällig ­geräuspert?“

„Weder das eine noch das andere. Sie haben offenkundig Sorgen, weil Ihr Weg Sie geradewegs vom Bahnhof hierher zu mir geführt hat. Sie waren noch gar nicht zu Hause. Denn wären Sie es gewesen, wäre Ihre Kleidung jetzt in einem tadellosen Zustand. Ihre Frau legt immer sehr viel Wert darauf“, erinnerte mich Holmes.

Er konnte es nicht unterlassen, mich mit seinem tadelnden Blick, den ich nur zu gut kannte, zu streifen.

„Nein, Holmes“, sagte ich. „Ich werde nicht zurechtgestutzt oder irgendwelcher Privilegien beschnitten. Ich mag es, dass Mary aus mir einen eleganten und vornehmen Mann macht. Ich sehe gern gut für meine Frau aus.“

„Sie sind wie ein kastrierter Hund, der gern möchte, aber einfach nicht mehr kann“, antwortete Holmes, wedelte mit der Hand durch die Luft und kam dann, ohne dass er meinen Protest zur Kenntnis nahm, auf mein eigentliches Anliegen zurück. „Also, Watson, was ist es, was Sie zu mir treibt? Was ist in Sussex geschehen?“

Gerade als ich sagte: „Es geht um meinen Freund Birmingham“, öffnete Mrs. Hudson die Tür und brachte ein silbern glänzendes Tablett herein, auf dem Gurken-­Sandwiches und Marmeladen-Brote lagen. Dazu servierte sie uns schwarzen Tee. Sie warf Holmes einen tadelnden Blick zu und sagte: „Hier sieht es, gelinde gesagt, sehr wüst aus, Mister Holmes.“

„Ich weiß“, entgegnete dieser knapp und griff nach einem Sandwich.

„Aber Sie gedenken nicht, aufzuräumen?“

„Nicht jetzt“, antwortete er, zeigte mit dem angebissenen Sandwich auf mich und sagte, während er herunterschluckte: „Sie wollten mir doch gerade etwas über Birmingham erzählen.“

„Ja, das wollte ich“, bestätigte ich und wandte mich der Haushälterin zu. „Danke, Mrs. Hudson.“ Dann widmete ich mich wieder meinem Freund. „Emanuel Birmingham kenne ich schon seit mehreren Jahren. Genauer gesagt, seit dem ersten Tag in Afghanistan. Wir lernten uns dort beim Essen kennen. Er machte mir das Leben sehr angenehm, wenn ich das so sagen darf. Er wurde mir ein guter Freund und half mir ebenso über mein Heimweh hinweg, wie über meine Grübelei, ob es richtig war, eine Karriere beim Militär anzustreben.“

„Und diesem Freund geht es jetzt schlecht?“

„Wenn ich das nur wüsste, Holmes.“

„Mehr Details, bitte!“

Ich lächelte. Obwohl ich nicht ernsthaft damit ­gerechnet hatte, dass Holmes sein Verhalten mir ­gegenüber ändern würde, wenn es darum ging, sich die Einzelheiten eines neuen Falles anzuhören, war ich doch ­enttäuscht. Ich hatte von ihm ein wenig mehr Fürsorge und freundschaftliche Nähe erwartet. Die er mir ­allerdings nicht ­entgegenbrachte und mich sogar aufforderte, mein viel zu lange dauerndes Schweigen endlich zu brechen.

„Ich warte“, sagte er ungeduldig.

„Emanuel beantwortet meine Briefe nicht mehr, Holmes. Das hat er immer getan, und zwar augenblicklich. Außerdem schrieb er mich auch immer von sich aus an und fragte nach meinem Wohlbefinden.“

„Er hat vielleicht einfach Besseres zu tun.“

Ich wischte die kalte Bemerkung mit einem aufgesetzten Lächeln beiseite. „Er ist ein sehr treuer Freund.“

„Der jetzt vielleicht Besseres zu tun hat.“

„Das hat er nicht. In seinem letzten Brief schrieb er davon, dass er mich gern einmal in London besuchen kommen würde und dass ich ihm doch einen Termin nennen soll, damit er diesen mit seinen Tätigkeiten abstimmen kann. Und das tat ich.“

„Ah“, meinte Holmes. „Und auf Ihren Vorschlag hin erhielten Sie plötzlich keine Antwort mehr.“

„Richtig.“

„Wie ging es dann weiter? Warum reisten Sie nach ­Sussex?“

„Weil ich auf zwei meiner Briefe gar keine Antwort mehr erhielt und der dritte wurde sogar an mich zurückgeschickt. Kommentarlos. Das machte mich natürlich stutzig und auch skeptisch. Sobald meine Zeit es zuließ, machte ich mich deshalb auf den Weg, den kleinen Hof, den mein Freund bewirtet, zu besuchen.“

„Aber er war nicht anwesend.“

„Nein, das war er nicht“, bekräftigte ich, schüttelte den Kopf, presste die Lippen aufeinander, und ließ mich in meinen Sessel zurückfallen. „Ich fand alles genauso vor, wie ich es beim letzten Mal gesehen hatte. Feinsäuberlich angelegte Felder, auf der Weide stehende Kühe, der Geruch nach Schweinen. Auch zwei seiner Knechte waren anwesend, doch diese begrüßten mich nicht. Sie senkten nur den Blick, gingen stumm an mir vorüber und meinten, als ich sie direkt ansprach, dass ich lieber mit der Herrin des Hauses sprechen solle.“

„Dann hat Emanuel also geheiratet und steht nun, genauso wie Sie, lieber Watson, unter dem Pantoffel einer Ehefrau“, spottete Holmes, der eigentlich genau wissen sollte, dass dies nicht der Fall war. In dem Moment, als ich ihm sagen wollte, dass er doch bitte die Spitzen gegen die Heirat im Allgemeinen und meiner Frau im Speziellen lassen sollte, sagte er: „Ich nehme einmal an, es ist etwas eingetreten, das Sie bis jetzt noch nicht verarbeitet haben. Wer hat Sie denn dort begrüßt? Birminghams Mutter? Sein Vater?“

„Seine Schwester“, antwortete ich. „Die noch dazu ausgesprochen schroff und abweisend zu mir war. So als wäre ich nur irgendein Störenfried, Holmes …“



2.


„Wie ich Ihnen schon zwei Mal gesagt habe, ist mein Bruder nicht anwesend und er kommt auch nicht zurück“, erklärte Lucy Birmingham, mit vor der Brust verschränkten Armen, während sie mich mit ihren hellblauen, funkelnden Augen musterte.

Ich lächelte freundlich, und schaute sie direkt an, als ich sagte: „Sie wissen also nicht, wann Ihr Bruder zurückkommt. Wo ist er denn gerade?“

„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht“, spie sie mir entgegen, lehnte sich mit der Schulter gegen den Türrahmen des Hauses und versperrte mir mit ihrem schlanken, zerbrechlich wirkenden Körper den Eingang. „Ich finde eher, dass Sie reichlich unverschämt sind, Mister Watson.“

„Ich mache mir nur Sorgen um meinen Freund.“

„Er hat aber nie von Ihnen erzählt.“

„Nun lügen Sie“, sagte ich aufgebracht, lächelte aber immer noch. „Wir beide sind uns zuletzt vor gut vier Jahren auf dem Erntefest begegnet. Emanuel war angetrunken, und stellte mich Ihnen mindestens zwei Mal als seinen besten Freund vor.“

„Das mag sein“, erwiderte sie unfreundlich und wies über meine Schulter hinweg zum Ausgang des Hofes. „Einen schönen Tag noch.“

„Miss Birmingham“, versuchte ich, ihr ins Gewissen zu reden. „Sagen Sie mir bitte, wo Emanuel ist. Ich flehe Sie an!“

„Fort, das erklärte ich doch schon.“

„Aber dort am Haken hängt seine Jacke!“, entgegnete ich, und zeigte an ihr vorbei in den Hausflur, dorthin, wo die fein gegerbte Jacke meines Freundes hing. Jene Jacke, von der er mir in seinem letzten Brief an mich erzählte, und freudig meinte, dass er sich endlich mal wieder eine neue Garderobe hatte leisten können.

„Die habe ich hier nur hängen, weil ich damit aufdringliche Männer wie sie abwehren möchte, Mister Watson“, spie sie mir entgegen, und machte einen Schritt aus der Tür hinaus, in den sonnigen, milden Tag hinein, der für mich bereits mit Magenschmerzen und grüblerischen Gedanken begonnen hatte.

Schon am Morgen, als ich mich von Mary verabschiedet hatte und meinen Hut, die Reisetasche und die gekaufte Fahrkarte in der Hand hielt, hatte ich mich gefragt, ob es richtig war, was ich hier tun wollte. Und während des Fußmarsches, von der Bahnstation hinaus zu dem abseits gelegenen Hof meines Freundes, hatte ich mich gefragt, ob ich nicht einfach überreagierte und alles ein wenig zu dramatisch sah.

Doch jetzt, wo ich Lucy vor mir stehen sah, wie sie gegen die Sonne anblinzelte, und ihre innere zornige Erregung offenkundig nur mühsam unterdrücken konnte, wusste ich, dass es richtig war, dass ich hier war.

Und dass etwas ganz und gar nicht stimmte und ich herausfinden wollte und musste, was es genau war.

„Die Männer, die hier zu Besuch kommen“, sagte ich, noch immer darum bemüht, Ruhe und Gelassenheit ­auszustrahlen, „kennen Emanuel doch alle. Sie müssen doch wissen, wo er ist. In einer solch kleinen Gemeinde bleibt schließlich nichts unbemerkt.“

„Sie scheinen sich ja richtig gut auszukennen“, schoss Lucy giftig zurück, und griff nach dem neben der Tür stehenden Eimer, in dem das Hühnerfutter lagerte. Sie streute es, in einer wilden Abfolge von ärgerlichen Handbewegungen, über den Hof und lief dann mitten in den Pulk der gackernden und rufenden Hühner hinein. Dabei trat sie sogar noch eines der armen Tiere, ging daraufhin aber gleich in die Knie.

„Du armes Ding“, rief sie, presste es an sich und streichelte dem Tier liebevoll über den Kopf. „Das wollte ich nicht. Das liegt nur an dem bösen Mann da, der einfach nicht aufhören will, mir unangenehme Fragen zu stellen.“

Während ich sie das sagen hörte, schmunzelte ich in mich hinein, und fragte Miss Birmingham, ob ich ihr vielleicht irgendwie zur Hand gehen konnte. Daraufhin schaute sie mich kopfschüttelnd an und sagte: „Mit Schmeicheleien kommen Sie bei mir ganz bestimmt nicht weiter, Mister Watson. Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen und will auch nicht weiter mit Ihnen sprechen. Mir wäre es recht, wenn Sie jetzt gehen würden.“

„Ich hatte ehrlich gesagt gehofft, eine Nacht hierbleiben zu dürfen.“

„Warum denn das?“, sagte sie und schaute mich erschrocken an.

Das Huhn, das sie eben noch schützend an sich gepresst hatte, hielt sie nun nur noch leicht fest und konnte ­deshalb nicht verhindern, dass das Tier sich befreite und gackernd zu seinen Artgenossen eilte.

Ihr Mund stand offen, während sie deutlich sichtbar um Fassung rang, weil sie offenbar nicht begreifen konnte, um was ich sie da gerade eben gebeten hatte.

Deshalb wiederholte ich meine Bitte und zeigte hinauf zum Himmel, der jetzt zwar noch in einem strahlenden Blau dalag, sich aber in der Ferne bereits mit dunklen Wolken zuzuziehen begann. „Es fährt erst morgen Mittag wieder ein Zug in Richtung London. Und, wenn ich ehrlich sein darf, bei Regen würde ich ungern einen Abend und eine ganze Nacht in dem nur unzureichend ausgebauten Bahnhof verbringen müssen.“

Sie verdrehte die Augen.

„aber der Gasthof …“

„… ist ausgebucht“, fiel ich ihr freundlich lächelnd ins Wort, glücklich darüber, dass ich mich dort vorab schon nach einer Übernachtungsmöglichkeit erkundigt hatte. „Eine Jagdgesellschaft ist dort eingekehrt und der Wirt hatte nicht einmal mehr einen Platz im Stall für mich übrig.“

Sie seufzte. „Ich kann meine Christenpflicht ja Ihretwegen schlecht vernachlässigen.“ Sie hob den Zeigefinger, schaute mich böse an und meinte dann: „Aber nur für eine Nacht, und die Mahlzeiten müssen Sie sich verdienen. Hier“, sie streckte mir den Eimer mit dem Hühnerfutter entgegen. „Die Tiere haben Hunger. Danach brauchen die Schweine neue Heueinleger …“



3.


„Ihnen ist die Jacke im Hausflur also wirklich aufgefallen, Watson? Bravo. Ich freue mich zu sehen, dass Sie langsam anfangen, mehr zu erkennen, als ihre Augen Sie sehen lassen!“

Ein Lob aus Sherlock Holmes Mund war für mich wie das Schulterklopfen meines Vaters als Kind, wenn er sich gefreut hatte, dass ich etwas verstanden und richtig umgesetzt hatte. Ganz auf meiner Welle der Euphorie reitend, nickte ich und sagte nicht ganz ohne Stolz: „Es fiel mir eben auf. Es war verdächtig.“

„Sehr gut“, erwiderte Holmes. „Was gab es noch Verdächtiges zu sehen?“

„Im ersten Augenblick ist mir nichts weiter aufgefallen.“

„Aber?“

„Nun“, erzählte ich weiter, „während ich den Hühnern ihr Futter gab, fiel mir der verschmitzt grinsende, Pfeife rauchende Albert auf. Es war ein alter, geselliger Knecht, der sich an seinen Filzhut tippte, als er sah, wie ich den Eimer beiseitestellte, und mich nach dem Schweinestall umschaute.“

„Er hat Ihnen bestimmt geholfen.“

„Ja, das hat er“, bestätigte ich. „Er gab mir passendere Kleidung, damit meine teure und saubere nicht in den Dreck gezogen wird, wie er es ausdrückte.“

„Halten Sie sich bitte an die Details, Watson. Sie neigen nämlich dazu, schwatzhaft zu werden.“

„Entschuldigen Sie bitte, Holmes“, antwortete ich, räusperte mich und versuchte mich zu konzentrieren, und meinen Erfolg, den ich am letzten Tag erzielt hatte, nicht zu sehr in meinen Worten durchdringen zu lassen. „Ich wollte Sie bestimmt nicht mit unnötigen Informationen ablenken. Albert war, wie schon gesagt, sehr nett und gesellte sich zu mir, um eine Pfeife zu rauchen, nachdem er mir eine Forke in die Hand gedrückt hatte, und mir viel Spaß beim Schweinestall säubern gewünscht hatte.“

„Watson!“

„Ich komme ja schon zum Punkt“, versprach ich ihm. „Er redete über dieses und jenes. Eigentlich über alles. Nur wenn ich auf Emanuel zu sprechen kam, wurde er plötzlich ganz schweigsam.“

„Und das heißt was?“

„Nun ja, ich fragte ihn …



4.


„… wo ist Mister Birmingham denn abgeblieben? Haben Sie eine Ahnung, Albert?“

Schon in dem Moment, als ich meine Frage stellte, wusste ich, dass ich übers Ziel hinausgeschossen war. Der Mann mit dem weißen Bart, dem Filzhut und dem zahnlosen, aber nicht unsympathischen Lächeln, versteifte sich und nahm die Pfeife aus dem Mund. Er klopfte mit dem Pfeifenkopf gegen die Kante des Futtertrogs, und leckte sich anschließend nervös über die Lippen. Er schüttelte den Kopf und tat plötzlich so, als habe er nicht genau verstanden, was ich ihn gefragt habe.

„Wie meinen Sie?“, fragte er und legte den Kopf schief.

„Ich glaube, Sie haben mich ganz gut verstanden. Aber ich wiederhole meine Frage auch gern noch einmal für Sie. Ich wundere mich, dass hier niemand zu wissen scheint, wo Emanuel ist. Wo ist er abgeblieben?“

„Der Herr ist schon lange nicht mehr hier“, sagte er hastig, steckte sich die Pfeife zurück in den Mund und sprach dann nur noch aus dem Mundwinkel zu mir. „Und ich glaube auch nicht, dass er wiederkommen wird.“

„Wo ist er denn hingegangen?“, bohrte ich nach. „Irgendjemand muss doch etwas wissen!“

„Das tut aber keiner.“

Albert löste sich nun von seinem Platz, und nahm die Arme von dem Zaun, und den Fuß von dem Gitter, das den Eingang zum Schweinepferch markierte. „Und wenn ich ehrlich bin, will ich es auch gar nicht wissen. Man soll seine Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken, hat meine Mutter immer gesagt. Und ich finde, dass sie recht damit hat. Sie war nicht nur hübsch, sondern auch sehr klug.“

„Ich hingegen finde, dass man ungeklärten Dingen immer auf den Grund gehen sollte.“

„Auch dazu hat meine schlaue und schöne Mutter einen sehr interessanten Spruch auf Lager gehabt, Mister Watson. Die Neugier ist der Tod der Katze. recht hat sie damit, will ich meinen. Jede Katze bekommt irgendwann einen Tritt oder endet in einem auf Kipp stehenden Fenster.

Sie sollten sich nicht für Dinge interessieren, die Sie nichts angehen. Also, bevor Sie noch in einem sprichwörtlichen Fenster stecken bleiben und ersticken: Lassen Sie diese Fragerei. Wenn nicht um Ihretwegen, dann doch wenigstens zum Andenken meiner selig verstorbenen Mutter. Möge Gott sie behüten und schützen.“

Ich schmunzelte und fragte: „Wo ist denn Ihre gerade noch so gute Laune geblieben? Ich meine, als wir eben über die beiden Knechte Thomas und Theodor sprachen, wirkten sie sehr neugierig und schwatzhaft auf mich. Warum jetzt nicht mehr?“

„Weil Thomas und Theodor nur hinter den Röcken von Penny und Amanda her sind. Die stellen nichts an, was kein Mann anstellen würde, wenn er so hübschen Frauen begegnet. Der Herr aber“, er wedelte mit der Hand durch die Luft, „ist da eine ganz andere Nummer. Und ich will ihn nun mal nicht in Schwierigkeiten bringen.“

„Also wissen Sie doch, wo er ist?“

„Nein!“

Albert schüttelte vehement den Kopf, wedelte mit seiner Pfeife wild in der Luft herum und sagte sichtlich erbost: „Sie drehen mir ja die Worte im Mund herum. Mister Watson, seien Sie mir nicht böse, aber Sie verkennen anscheinend die Lage. Ich war dem Herrn immer sehr nahe. Seit mehr als dreißig Jahren lebe ich schon hier in der Gegend und seit mehr als fünfzehn Jahren kenne ich ihn. Er holte sich bei mir Rat, wenn er nicht wusste, wie er ein Feld bestellen sollte, oder sich um die Kühe kümmern musste. Als er mich fragte, ob ich bei ihm arbeiten wolle, sagte ich sofort ja, weil er wie ein Sohn für mich geworden ist.

Erst der verfluchte Krieg hat ihn verändert. Er wurde an manchen Abenden ganz sonderbar. Die Ärzte nennen das Melancholie oder so ähnlich. Ich sage, er war einfach nur traurig, weil er so viel Leid unter den Menschen gesehen hat und mit dazu beigetragen hat, dass das Leid zu ihnen kam. Trotz allem ist der Herr mir noch immer sehr nahe!“

„Genau deshalb bin ich ja hier“, rief ich, nun endlich eine Trumpfkarte in der Hand, die ich allerdings nur ungern ausspielte. Doch jetzt, wo ich den schwatzhaften Alten so reden hörte, dachte ich mir, dass es besser sei, als die Chance, die sich mir bot, einfach so verstreichen zu lassen. „Mir geht es ebenso. Emanuel rettete mir einst das Leben, müssen Sie wissen.“

„Das weiß ich.“

„.. und deshalb fühle ich mich ihm sehr verpflichtet. Ich will, dass es ihm gut geht und dass er bei bester Gesundheit ist. Deshalb frage ich Sie jetzt noch einmal: Wissen Sie, wo Emanuel ist?“

Albert wand sich sichtlich, im wahrsten Sinne des Wortes, und suchte fieberhaft nach einer Antwort. Dann, als habe er sich entschieden, wie er mir fortan weiter entgegentreten sollte, straffte er sich. Er schob sich den Hut in die Stirn, und die Pfeife vom linken in den rechten Mundwinkel.

„Das ist ein Thema, das wir nicht vertiefen sollten, denn es weckt unangenehme Erinnerungen. Meine Mutter sagte immer: Lieber gar keine Erinnerungen, als schlechte Erinnerungen. Außerdem habe ich jetzt noch dringend einige andere Aufgaben auf dem Hof zu erledigen. Also …“

„Jetzt wollen Sie einfach gehen?“, entfuhr es mir, während ich die Forke zur Seite stellte und auf den einen Schritt zurückweichenden und sich dann auf dem Absatz herumdrehenden Albert zuging. „Das finde absolut unverantwortlich von Ihnen! Meinen Sie denn nicht, dass Sie Ihrem Herrn etwas Treue schuldig sind.“

Im ersten Augenblick dachte ich, Albert auf diese Weise an der Ehre gepackt zu haben, sodass er stehen bleiben und doch reden würde. Doch anstatt meinen Hoffnungen zu entsprechen, schüttelte er nur den Kopf, winkte ab und stampfte, die Hände in die weiten Taschen seines ausgetragenen Mantels stopfend, einfach davon und ließ mich stehen …



5.


„Ich muss zugeben, so langsam beginnt die Sache mich zu interessieren“, meinte Holmes und erhob sich von seinem Platz, um im Zimmer auf und ab zu gehen. „Sagen Sie, Watson, was ist Ihnen denn nun genau auf dem Hof aufgefallen? Gab es irgendwelche Auffälligkeiten?“

„Auffälligkeiten?“

Holmes nickte. „Nicht an den Menschen. Die haben sie mir ja jetzt bereits eindrucksvoll geschildert. Ich meine eher an den Bauten. Sie erinnern sich doch sicherlich, wenn Sie an den Fall in Norwood zurückdenken, dass ich dort nur durch die Abmessung der Außenfassade Jonas Oldacre überführen konnte.“

„Wie könnte ich das jemals vergessen? Ein sehr spektakulärer und brisanter Fall!“

Holmes lächelte, und schien darauf zu warten, dass ich noch etwas hinzufügte. Als er merkte, dass ich dies tunlichst vermied, schnaufte er verschnupft und sagte dann: „Deshalb frage ich. Ich möchte wissen, wie der Hof aufgebaut ist und ob es dort Möglichkeiten gibt, um sich, sagen wir mal … zu verstecken.“

„Ein interessanter Gedanke. Warten Sie, ich zeichne Ihnen in Kürze alles auf.“

„Warum nicht jetzt sofort?“

„Weil ich Ihnen zuvor noch von dem Jungen aus der Käserei erzählen möchte. Wissen Sie, es war reiner Zufall, dass er mich ansprach.“

„Wie meinen Sie das?“

„Sie kennen doch mein Laster des Rauchens …“

„… kein Laster, eine Freude …“

„Ich hatte mir gerade eine Zigarette angesteckt, um mich von der Arbeit zu erholen, als der Junge auf mich zukam. Es war ein kleiner Bursche, nicht größer als meine Hüfte, aber frech bis in die letzte Haarspitze. Er fragte mich ganz unverblümt, ob ich nun der neue Herr des Hofes sei und ob ich dann, wenn ich es denn sei, endlich die Schulden übernehmen könnte, die Mister Birmingham noch bei ihm und seinem Vater offen hätte. Da wurde ich natürlich hellhörig und fragte, was genau er damit meine. Na, dass Mister Birmingham noch Schulden bei uns hat. Seit mehr als sechs Wochen hat er keinen Pence mehr bezahlt, erklärte mir der Junge.“

„Interessant“, murmelte Holmes, die Hand am Kinn, den Blick hinaus aus dem Fenster gerichtet.

„Es wird sogar noch besser.“

„Ich höre!“

„Der Milchjunge beschwerte sich, dass der Zeitungsjunge regelmäßig sein Geld bekomme. Er stehe nur vor der Tür, strecke seine dreckigen Finger aus, und bekäme den offenen Betrag.

Eine Schande, schimpfte der Junge so sehr, dass ich schmunzeln musste, Holmes. Er sagte, dies so überzeugend und echt, dass ich mir ein Lachen verkneifen musste. Ich fragte ihn, warum es denn eine Schande sei und der Junge antwortete: Weil hier offenbar für Papier Geld bezahlt wird, für die Arbeit an der Milch aber nicht. Dabei sei fertiger Käse doch viel wichtiger als blödes, bedrucktes Papier. recht hat er ja damit!“

„Mitnichten, mein Freund, mitnichten. Manchmal ist bedrucktes Papier sehr viel mehr wert, als man es sich vorstellen kann. Hmmm“, machte er dann und murmelte: „Ich habe schon jetzt einiges zum Nachdenken, Watson. Aber sagen Sie mir, gab es noch etwas Auffälliges, was Ihnen widerfahren ist?“

„Außer, dass ich die Schulden bezahlt habe, und Miss Lucy das ganz und gar nicht lustig fand …?“



6.


„Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, Mister Watson?“, fragte Lucy mich schnippisch, presste die Hände in die Hüften und schaute mich mit böse funkelnden Augen an. Ich hob unschuldig die Schultern, lächelte sie an und meinte: „Ich finde nun einmal, das bin ich Emanuel schuldig. Er hat mir in Afghanistan immerhin das Leben gerettet.“

„Sie sind niemandem auch nur irgendetwas schuldig. Sie haben sich weder in meine noch in Emanuels Entscheidungen einzumischen.“

Ich schaute Lucy daraufhin lange und durchdringend an.

Das Donnergrollen, das von den dunklen, am Himmel entlangziehenden Wolken vor sich hergetrieben wurde, ließ mich kurz erschaudern, und an jenen schicksalhaften Tag in Afghanistan zurückdenken, als mir die ­Kanonen- und Gewehrkugeln um die Ohren geflogen sind und unsere vorderste Linie dabei war, sich aufzulösen.

Ich lächelte verkrampft, straffte meinen Körper und fragte: „Emanuels Entscheidungen?“

„Die er bezüglich des Hofes getroffen hatte, bevor er verschwand“, sagte Lucy schmallippig, schaute mich durchdringend an, und seufzte dann, als sie sagte: „Ich will es ja auch nicht, aber eine einmal getroffene Entscheidung darf man nicht zurücknehmen, hat man mir einmal gesagt.“

Ich schmunzelte und entgegnete: „Ärgern Sie sich doch nicht.“

„Wie soll ich mich denn nicht ärgern? Erst kommen Sie unaufgefordert hierher. Dann fragen Sie mich Dinge, die mir ausgesprochen unangenehm sind, und schließlich begleichen Sie auch noch meine Schulden, obwohl ich das gar nicht möchte. Wie würden Sie sich denn bitteschön fühlen, wenn ich so mit Ihnen umgehen würde?“

„Ich wäre äußerst dankbar, dass mir ein Freund zur Seite steht!“

Lucy schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ihr ausgestoßenes verächtlich klingendes: „Ach“, drang mir durch und durch.

Ich wusste instinktiv, dass ich mich bei ihr nicht beliebter machen würde, wenn ich weiter versuchte, freundlich zu ihr zu sein. Deshalb schnippte ich meine aufgerauchte Zigarette im hohen Bogen über den Zaun des Hofes, auf die davor verlaufende Sandstraße und sagte: „Ich folge Ihnen, wohin Sie wollen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957192257
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Detektiv Spannung Sherlock Holmes Krimi Ermittler Historisch

Autor

  • Thomas Tippner (Autor:in)

Am 10.07.1980 in Reinbek geboren, ist Thomas Tippner für mehrere Hörspiellabels wie ›Higscore Music‹, ›Maritim‹, ›Romantruhe Audio‹ oder ›ZYX‹ aktiv. Außerdem veröffentlichte er in der Roman-Serie Professor Zamorra von Bastei den Roman 880 (Der Vampir von Cluanie).
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Titel: Sherlock Holmes - Neue Fälle 26: Sherlock Holmes und der gefallene Kamerad