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Sherlock Holmes - Neue Fälle 27: Sherlock Holmes und der Bengalische Tiger

von Michael Buttler (Autor:in)
144 Seiten

Zusammenfassung

Vier spannende und geheimnisvolle neue Abenteuer mit Sherlock Holmes und seinem Freund Doktor Watson erwarten den Leser in diesem Buch. Sherlock Holmes und das blaue Kaninchen Sherlock Holmes und die schwarzen Beine der Madame Sherlock Holmes und die falsche Tempeltänzerin Sherlock Holmes und der Bengalische Tiger Die Printausgabe des Buches umfasst 244 Seiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis




Sherlock Holmes und das blaue Kaninchen


Ich sah mein erstes blaues Kaninchen, als ich von einem Besuch der Brauerei in der Park Street in Southwark auf dem Weg nach Hause ging. Ein ehemaliger Kollege vom St. Bartholomew’s Hospital hatte eine kleine Zusammenkunft organisiert. Vor vielen Jahren waren wir ein kleiner, eingeschworener Kreis Jungärzte gewesen, und alle waren wir damals dabei, die Weichen für unser weiteres Leben zu stellen. Ich war der Einzige unter ihnen, der nicht mehr praktizierte. Der Anlass für unser Wiedersehen war die Rückkehr eines unserer Kollegen, eines mittlerweile erfolgreichen Chirurgen, der vor beinahe zehn Jahre ausgewandert war und in San Francisco mit einigen gewagten und erfolgreichen Operationen für Furore gesorgt hatte.

Den Abschluss des heutigen Tages bildete also die Einkehr in die Brauerei, wo wir bei einem Rundgang einiges lernten. Im Anschluss durften wir natürlich auch eine Kostprobe nehmen. Nun, was soll ich sagen, es blieb nicht bei einer. Am frühen Morgen wiesen sie uns die Tür.

Es war spät, es war dunkel, und es war ein kalter Novemberabend. Um einen klaren Kopf zu bekommen, ging ich ein paar Straßen allein und hoffte, an der London Bridge Station ein Hansom Cab zu erwischen, das mich zur Baker Street bringen würde.

Wie erstaunt war ich, als mir an einem Antiquitätengeschäft, an dem ich vorbeikam, ein himmelblaues ­Kaninchen begegnete. Es war in Lebensgröße mit dem Seitenprofil an eine Hauswand gemalt worden. Es glänzte im Schein der Laterne, die sich nur wenige Schritte entfernt befand.

„So viel hast du doch nicht getrunken, Watson“, murmelte ich vor mich hin. Es konnte sich unmöglich um ein Delirium tremens handeln. Zugegeben, ich trank gern einen Brandy oder einen Whisky, doch alles in Maßen und nie mehr als drei Gläser an einem Abend. Dazu mischte ich den Whisky hin und wieder mit Soda auf, woraufhin Holmes sich einmal lakonisch äußerte: „Drei Gläser Whisky bleiben drei Gläser Whisky, gleichgültig, wie viel Wasser Sie hinzugeben.“

Heute war ich über einige Stunden hinweg in der Brauerei nicht über fünf Pint hinausgekommen, war also nicht betrunken und noch in der Lage, aufrecht vor der Wand zu stehen und das blaue Kaninchen anzustarren.

Ich schloss die Augen, zählte langsam bis drei und öffnete sie wieder.

Das Kaninchen war noch da.

Ich trat näher heran und erkannte, dass das Kaninchen im Schein der Laterne glänzte.

„Frische Farbe“, murmelte ich und fuhr mit dem Finger vom Ohransatz bis zu den Hinterläufen. Ich starrte auf den blauen Fleck an meinem Finger, wischte ihn mit einem Taschentuch ab und schaute mich um.

Hier war alles ruhig. In meiner unmittelbaren Nähe waren keine Passanten unterwegs. So blieb ich mit meinen Überlegungen allein. Gab es wirklich Menschen, die einfach etwas mit Farbe an Hauswänden schmierten? Zum Spaß? Sollte das ein weiterer Beweis für die Verrohung unserer Sitten sein? Oder war dieses fragwürdige Kunstwerk vom Besitzer des Hauses selbst angebracht worden? Nun, dann hatte ich die Hauswand verschandelt, denn der Weg, den mein Finger durch die noch nicht ganz trockene Farbe genommen hatte, war deutlich sichtbar. Vielleicht war es dann besser, sich schnell zum nächsten Droschkenplatz zu begeben.

Ich wandte mich um und lief weiter. Darauf wollte ich erst einmal einen Whisky trinken. Und das tat ich besser zu Hause, in der Hoffnung, dort keinem Kaninchen, geschweige denn einem blauen zu begegnen.

Als ich entsprechend spät die Räume in der Baker Street betrat, schlief mein Freund Sherlock Holmes bereits. Ich verzichtete auf mein Getränk, denn ich war ordentlich durchgefroren. Und so ging ich schlafen.



Am nächsten Morgen nahm ich mein Frühstück allein zu mir. Sherlock Holmes war bereits ausgegangen. Mrs Hudson brachte mir frischen Toast und Eier.

Ich bat unsere gute Seele noch, meine Wäsche zum Reinigen zu geben, und schnappte mir die Morgenzeitung, die auf dem Beistelltisch lag und von Holmes offenkundig bereits durchgesehen worden war. Er sortierte die Seiten nach einer ihm genehmen Reihenfolge. Das, was ihm wichtig erschien, lag stets oben. Überrascht stellte ich fest, dass es dieses Mal die Firmenannoncen getroffen hatte. Er hatte die Reklame eines Schreiners mit einem Stift eingekreist.

Hatte Holmes etwa vor, ein neues Möbelstück anfertigen zu lassen? Ich dachte an die vielen Stapel Zeitungen und die anderen Papiere, die in seinem Schlafzimmer auf dem Boden herumlagen, sodass es einem Hindernislauf gleichkam, sein Bett oder seinen Wäscheschrank zu erreichen, und begrüßte daher Holmes’ Vorhaben.

Ich arbeitete mich zu den lokalen Nachrichten durch und fand einen Artikel, der mich an den gestrigen Abend denken ließ.

Es ging dabei und drei Einbrüche, die alle eine ähnliche Handschrift trugen und am Vortag begangen worden waren. Es hatte zwei Antiquitätenhändler und ein Auktions­haus getroffen. Dabei wurden jeweils uralte Exponate entwendet, die allerdings nicht von großem Wert waren. Ein kupferner Kelch, reichlich verbeult, hieß es in dem Artikel, sei eines der Beutestücke gewesen. Bei dem zweiten handelte es sich um eine Hochzeitstruhe, eine sogenannte glory box, die angeblich etwa vierhundert Jahre alt sein sollte. Sie hatte in einem Lagerraum gestanden und darauf gewartet, wieder hergerichtet zu werden. Die Schnitzereien waren angabegemäß kaum noch zu erkennen. Immerhin seien die geschmiedeten Beschläge noch vorhanden, ebenso das Kastenschloss.

Der dritte Einbruch, jener in dem Auktionshaus, galt einem Goldring, auf dem ein himmelblauer Saphir gefasst war. Hierbei handelte es sich zweifelsohne um das wertvollste Stück.

Alle drei Einbrüche wurden in einem engen Zusammenhang gesehen, denn sie wiesen eine absonderliche Gemeinsamkeit auf: Am Ort des Geschehens hinterließen die Täter das Abbild eines blauen Kaninchens.

Ich runzelte die Stirn und las weiter.

,Obgleich bei einem der markanten Zeichen offenbar mit einem Finger einmal durchgewischt worden war, geht Inspektor Gregson von Scotland Yard von ein und derselben Diebesbande aus.‘

Ich überflog noch einmal die Orte des Geschehens und musste feststellen, dass ich den Dieben der glory box beinahe über den Weg gelaufen wäre.

Unten wurde die Haustür geöffnet, und ich hörte die Stimme meines Freundes Holmes gedämpft etwas sagen, das ich nicht verstand. Jemand kam nach oben zu unseren Räumlichkeiten. Ich hörte vorsichtige Schritte auf der Holztreppe.

„Vorsichtig, guter Mann“, hörte ich Holmes sagen. „Stoßen Sie nirgends an, sonst wird Ihnen unsere Vermieterin die Ohren lang ziehen.“

Jemand brummelte eine Antwort.

Ich stand auf und öffnete die Tür zu unserem Salon.

Ein stämmiger Kerl mit einer runden Holzplatte in den Armen, die etwa vier Fuß im Durchmesser maß, schwankte mir auf der schmalen Treppe entgegen. Immer wieder schaute er nach rechts oder nach links, ob er nicht gegen die Tapete oder das Geländer schrammte. Hinter dem Mann erkannte ich die hochgewachsene Gestalt meines Freundes.

„Doktor Watson!“ Er wirkte gut gelaunt. „Es trifft sich hervorragend, dass Sie da sind und uns Einlass gewähren. Dann brauche ich mich nicht an unserem tüchtigen Helfer vorbeizudrängen, um die Tür zu öffnen.“

Der Mann mit der Holzplatte erreichte die letzte Stufe. Ich sprang zur Seite, um ihm Platz zu machen.

„Bitte legen Sie das gute Stück auf den Tisch hinten am Fenster.“

Der Mann trat auf den leer geräumten Tisch zu, auf dem Holmes gelegentlich seine chemischen Experimente durchführte. Erst jetzt bemerkte ich, dass dort aufgeräumt war. Das geschah äußerst selten.

Nun hatte ich einen freien Blick auf meinen Freund und sah die Eisenkette in seinen Händen. Was hatte das nur zu bedeuten?

„Vielen Dank, guter Mann“, sagte Holmes. „Wenn Sie mir nun noch die kleine Kiste nach oben schaffen könnten, dann wäre ich Ihnen sehr verbunden.“

Der Mann nickte und trabte wieder nach unten.

„Was ist denn das, Holmes?“, wollte ich wissen. „Falls Sie an eine neue Tischplatte denken, so muss ich Ihnen sagen, dass sie die falsche Form hat und zu klein ist.“

„Ich werde mich als unredlicher Antiquitätenhändler versuchen“, gab er fröhlich zurück, legte die Kette leise rasselnd neben der Holzplatte ab und rieb sich die Hände, als könne er es kaum erwarten, mit dem, was er vorhatte, loszulegen.

Mittlerweile kam der Mann wieder nach oben. Dieses Mal trug er eine handliche Holzkiste ohne Deckel in den Händen. Ich erhaschte einen Blick auf den Inhalt, konnte aber nicht alles erkennen. Ich vermeinte, ein Stück Leder zu sehen, mindestens zwei Töpfe mit Farbe. Auf jeden Fall aber ragte ein gerollter Bogen festen Papiers heraus. Das sah mir ganz so aus, als wolle sich Holmes einer Bastelarbeit widmen.

Mein Freund drückte seinem Helfer eine Münze in die Hand und sagte: „Herzlichen Dank.“

Der Mann tippte mit einem Finger an seine Stirn und machte sich davon. Ich ging ihm hinterher und schloss die Salontür.

„Sie waren bei einem Schreiner“, sagte ich, um etwas zu sagen.

„Nicht nur, mein guter Watson. Ich werde mich einem besonderen Projekt widmen. Allerdings, das muss ich eingestehen, könnte es zeitweilig etwas laut werden.“

„Ich bin ja einiges gewohnt, Holmes. Es wird mir schon nichts ausmachen.“

Er legte mir eine Hand auf die Schulter. „Ich weiß das zu schätzen.“

Dann ging er zu seinem Arbeitstisch, holte ein Stück Papier heraus, auf das er einiges gekritzelt hatte, und vertiefte sich in seine Notizen.

Ich hatte schon oft erlebt, wie sich Holmes voller Eifer in eine Sache stürzte. Ich fragte mich, ob das mit einem neuen Fall zu tun hatte, hatte aber auch gelernt, dass ich in dieser Phase seiner Konzentration kein Wort aus ihm herausbringen würde. Also ließ ich ihn in Ruhe seiner Tätigkeit nachgehen und machte mich ausgehfertig. Nach dem gestrigen Abend würde mir ein bisschen frische Luft guttun.



Als ich später wiederkam, hörte ich unten an der Haustür bereits einen eigentümlichen Krach: Es knallte und rasselte. Mrs Hudson stand am Fuße der Treppe, die zu unseren Räumlichkeiten nach oben führte. Ihre Arme fuhren immer wieder hinauf und hinab, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie sich die Ohren zuhalten oder ob sie die Hände empört in die Hüften stemmen sollte.

„Was ist denn hier los?“, fragte ich.

Erneut erklang das Geräusch von oben, dann wurde etwas ratternd über den Fußboden geschoben, bis es ein weiteres Mal knallte.

„Gut, dass Sie da sind, Doktor Watson“, meinte unsere Vermieterin. „Vielleicht beruhigt er sich wieder, wenn Sie bei ihm sind. Oder Sie spritzen ihm etwas.“

„Hatte er einen Besucher, der ihn so aufbrachte?“

Knall. Rassel.

„Ach nein, bis vor zehn Minuten war alles ruhig.“

„Ich gehe wohl mal besser nach oben.“

„Tun Sie das, Doktor Watson. Und bitte, sorgen Sie dafür, dass er nicht die ganze Einrichtung auseinandernimmt.“

Nach diesen Worten malte ich mir in den schlimmsten Bildern aus, wie unsere gemeinsame Wohnung wohl aussehen mochte. Ich eilte hinauf und riss die Tür auf.

Holmes stand friedlich über seiner Holzplatte und setzte gerade einen Bohrer an. Er schaute nicht auf, sondern fing sogleich damit an, die Kurbel ein paar Mal zu drehen. Dann zog er den Bohrer heraus und wiederholte die Prozedur an anderer Stelle.

Zufrieden stellte ich fest, dass außer Holmes’ Arbeitstisch kein Möbel anders stand, wie es zu stehen hatte.

„Wie ich sehe, geht es Ihnen gut“, sagte ich laut genug, dass Mrs Hudson es unten hören konnte.

Holmes reagierte nicht, sondern griff nach einem der Lederriemen, die er besorgt hatte, und begann, ihn in eine Vorrichtung einzufädeln, die auf der runden Holzplatte angebracht war. Das Leder wirkte alt und speckig, war an ein paar Stellen brüchig.

Ich schloss die Tür und trat näher.

„Das ist aber ein ganz schön alter Fetzen“, bemerkte ich wie beiläufig.

Ohne aufzusehen, antwortete Holmes: „Nicht wahr? Ich habe es von einem Kutscher. Es ist altes Zaumzeug.“

Holmes schnalzte mit der Zunge, dann schob er seine Hand in die befestigten Lederriemen und hielt die Platte wie einen Schild vor sich.

„Das wird gehen“, murmelte er.

„Gehen Sie auf einen Kreuzzug, Holmes?“, wollte ich wissen und fragte mich, ob ich mir nun doch langsam Sorgen um den Gesundheitszustand meines Freundes machen musste.

Holmes grinste, dann sprach er pathetisch: „Für Recht und Ordnung ziehe ich schon sehr lange in die Schlacht, mein lieber Watson. Das wissen Sie doch.“

Nun legte er die Holzplatte wieder ab, dieses Mal auf die Seite, die er gerade bearbeitet hatte.

Er nahm einen der beiden Farbtöpfe, öffnete ihn und griff nach einem breiten Pinsel. Ich schaute ihm dabei zu, wie er die komplette Seite der Platte mit weißer Farbe bestrich. Dann riss er die Fenster auf.

„Das muss erst einmal trocknen“, sagte er. „Und jetzt habe ich Hunger.“ Dabei rieb er sich die Hände.



Während er sich an dem kalten Braten, den ihm Mrs Hudson heraufgebracht hatte, gütlich tat, fragte ich ihn, was das Ziel seines Tuns sei. Er lachte mich fröhlich an und sagte: „Ich gehe unter die Fälscher.“ Das war alles, was ich zu hören bekam.

Später am Tag nahm Holmes die Arbeit wieder auf.

Während ich in meinem Sessel saß und in diversen Büchern lustlos schmökerte, schielte ich gelegentlich zu Holmes hinüber und sah, wie mein Freund eine ­Schablone auf die Holzplatte legte. Erneut nahm er Pinsel und Farbe zur Hand. Dann pausierte er wieder. Offenbar musste die neue Farbe ebenfalls trocknen.

Am Abend ging ich wieder aus und fragte Holmes, ob er mitkommen wolle. Ich erzählte ihm von einem Laientheater, das gute Kritiken erhalten hatte, und das ich einmal besuchen wollte.

„Doktor Watson!“, rief er begeistert, „Das ist eine hervorragende Idee und rundet das Bild ab.“

„Welches Bild, Holmes?“

„Wohin fahren wir?“

Ich nannte ihm die Adresse.

„Ah, das ist in der Nähe des Grand Surrey Kanals“, bemerkte er. „Den Hansom und die Karten spendiere ich.“

„Das ist aber freundlich von Ihnen.“

Er winkte ab. „Ich rechne das mit den Spesen ab.“

Die Fahrt ging quer durch London und dauerte eine Weile. Da Holmes keine Anstalten machte, mich nach dem Laienstück zu fragen, nahm ich das Gespräch auf.

„Holmes, Ihre Andeutungen machen mich neugierig. Da sind einige Fragen, die mir auf der Seele liegen.“

„Und auf der Zunge, nehme ich an. Ich ahne, welche das sein könnten, Watson. Doch ich muss Sie um ein wenig Geduld bitten. Sie werden alles erfahren, wenn es so weit ist. Wenn ich Ihnen meine Gründe für mein Tun zu früh verrate, dann könnte das einiges verderben.“

„Aber Holmes, ich würde Ihnen doch nie in die Parade fahren.“

„Nicht wissentlich, Watson, und das weiß ich zu schätzen.“

Holmes hatte eine Art an sich, mich neugierig zu machen, die in mir eine gewisse Gereiztheit hervorrief.

„Welches Stück wird gegeben?“

„Es ist eine Variante des Sommernachtstraums.“

„Eine Variante?“

„Eine fortschrittliche, will ich meinen. Alle männlichen Rollen werden in weibliche getauscht und umgekehrt.“

Holmes rieb sich die Hände. „Revolutionär, will ich sagen. Und erschwerte Bedingungen für die Schauspieler, behaupte ich. Eine interessante Möglichkeit, schauspielerisches Talent unter Beweis zu stellen. Sehr gut. Wieder einmal werden Sie mir bei meiner Arbeit vermutlich nicht unwesentlich weiterhelfen.“

Vermutlich nicht unwesentlich? Auch wenn dieses Lob recht eigenartig klang und ich nicht die Spur einer Vermutung hatte, um was es ging und mein vermutlich nicht unwesentlicher Beitrag aus diesem Grund ein Produkt des Zufalls war, konnte ich mir eine gewisse Freude nicht verkneifen.

Der Abend verlief recht kurzweilig. Shakespeares Komödie gewann durch den Rollentausch an Charme und Witz. Besonders hervor tat sich die Schauspielerin, welche die Rolle Pucks spielte. Der Diener beziehungsweise die Dienerin des Elfenkönigs Oberon beziehungsweise der Königin Oberine war flink und bewegte sich geschickt, obgleich es sich bei der Schauspielerin um eine Frau handelte, die aufgrund ihres Auftretens, ihrer ernsten Ausstrahlung, die im Gegensatz zu ihrer Rolle stand, ebenso gut eine stolze Maria Stuart hätte abgeben können.

Das Publikum war begeistert. Ich war begeistert. Holmes war – ich kann es nicht anders sagen – ekstatisch. Noch nie hatte ich ihn für eine Sache so entflammt gesehen wie an diesem Abend. Er lachte, klatschte und sparte nicht an Bravo-Rufen. Hierfür wartete er nicht das Ende einer Szene ab, sondern verlieh seiner Leidenschaft auch während des laufenden Spiels einen so mitreißenden Ausdruck, dass andere Theaterbesucher mit einstimmten. Und so war ich bald von der Inszenierung und von Holmes’ Verhalten eingenommen.

Kaum war der Vorhang am Ende des Stückes gefallen, hielt sich Holmes nicht mit weiteren Bekundungen seiner Begeisterung auf. Er sprang auf, drängte sich wieselflink durch die Reihe und war schon durch eine Seitentür verschwunden, bevor ich wusste, was geschah.

Der Vorhang öffnete sich noch einmal, und die Schauspieler holten sich ihren hochverdienten Lohn ab: das Getöse des Applauses. Also blieb ich an meinem Platz und klatschte, was meine Hände hergaben.

Noch zweimal wiederholte sich das Spektakel, dann wurde das Licht höher gedreht. Die Besucher schlurften murmelnd durch die Reihen nach draußen. Hin und wieder lachte jemand. Ein Spaßvogel ahmte den eselsohrigen Liebhaber, der heute eine eselsohrige Liebhaberin gewesen war, nach, während er darauf wartete, dass er weitergehen konnte. Seiner Begleiterin war dies sichtlich peinlich.

Ich schloss mich der Prozession an und wartete im Foyer auf meinen Freund. Ein leichter Groll kam in mir auf. Wo steckte Holmes nur?

Nachdem ich eine ganze Weile allein in einer Ecke herumgelungert hatte, kam schließlich ein Herr in einer abgetragenen und zu großen Livree auf mich zu und bat mich zu gehen, weil er den Haupteingang abschließen wolle.

„Ich warte noch auf einen Freund“, gab ich zu bedenken. „Ich glaube, er wollte zu den Schauspielern.“

„Dann kommt er heute nicht mehr nach Hause“, sagte mein Gegenüber und zwinkerte mir zu. „Ist ja so ein eigenes Volk, diese Schauspieler, selbst wenn sie am nächsten Tag wieder im Büro sitzen oder in der Fabrik arbeiten.“ Er machte eine weibische, schwingende Geste mit seiner Hand, die ich nicht verstand. Ich musste ratlos auf ihn wirken, denn er klopfte mir schließlich auf die Schulter. „Aber das muss nichts heißen, junger Freund.“ Sein Nicken sollte wohl aufmunternd wirken. Meine Ratlosigkeit nahm dagegen noch zu.

„Wenn er doch noch kommt, dann aus dem Künstlereingang. Ich für meinen Teil mache jetzt Feierabend und gehe nach Hause. Morgen früh stehe ich nämlich schon wieder in der Werkstatt.“

Das verstand ich. Bei einem Laientheater waren auch die Platzanweiser und Kartenabreißer Menschen, die noch einem richtigen Beruf nachgingen. Aus diesem Grund nickte ich und trat nach draußen.

Der andere löschte das Licht, schloss die Tür ab und war schon die Straße hinab gelaufen, bevor ich nach dem Künstlereingang fragen konnte. Also lief ich einmal ums Gebäude und fand eine fadenscheinige Holztür auf der Rückseite. Sie war abgeschlossen. Durch die Risse im Material und durch die nicht schließenden Kanten drang kein Licht. Trotzdem klopfte ich.

Es tat sich nichts.

Und so stand ich auch hier noch eine Weile hilflos herum. Mit jeder Minute, die verstrich, nahm mein Groll gegen Holmes zu. Ich fragte mich, was ihn bewogen haben könnte, mich einfach zu vergessen.

Schließlich war ich es leid, weitere Lebenszeit sinnlos hier zu vergeuden. Ich gab es auf, in der dunklen Gasse auf ihn zu warten und begab mich auf den Heimweg.

In unserer Wohnung angekommen, machte ich zuerst Licht, dann schürte ich das Feuer und legte noch zwei Scheite auf. Es würde kühl werden diese Nacht, und ich wollte keinesfalls ins Bett gehen, bevor Holmes nicht nach Hause kam. Und wenn das bedeutete, dass ich in meinem Sessel einschlief.

Mein eigener Lesestoff war mir mittlerweile ausgegangen, sah man einmal von den Zeitungen ab, die wir regelmäßig hereinbekamen. Doch die würden mir bis zur Morgenausgabe nichts Neues bieten. Also griff ich nach etwas von Holmes’ Stapel. Es war ein Heft. Erst als ich in meinem Sessel Platz genommen hatte, wurde mir bewusst, dass es in Deutsch abgefasst war. Dinglers Polytechnisches Journal hieß das Heft, das von 1892 datierte, also schon vor fünf Jahren erschienen war. Ich wusste, dass mein Freund diese Sprache ganz passabel beherrschte. Ich hatte jedoch größere Schwierigkeiten. Das eine oder andere Wort verstand ich, wenn es ausgesprochen wurde, manches auch, wenn ich es schwarz auf weiß vor mir hatte, mich heute Abend aber darin zu üben, dazu hatte ich keine große Lust. Gleich auf der ersten Seite prangte mir Werbung für eine Maschinenfabrik aus Chemnitz entgegen. Gleichgültig blätterte ich das Heft durch, erkannte kaum etwas, was mich interessierte, studierte eine Weile Zeichnungen von Dampfmaschinen, die wohl bei einer Ausstellung in Frankfurt 1891 vorgestellt worden waren. Schließlich begann ich mich zu langweilen, und ich legte das Heft wieder auf seinen Platz. Nun schlenderte ich zu Holmes’ Arbeitstisch und betrachtete das, was er dort liegen hatte. Das runde Holzstück, das vor nicht langer Zeit neu ausgesehen hatte, befand sich nun in einem bemitleidenswerten Zustand. Es hatte viele Dellen, einige Ecken waren abgeplatzt. Und in der Mitte prangte, ich konnte es kaum glauben, ein blaues Kaninchen, ähnlich dem, das ich in der Nacht zuvor gesehen hatte.

Unten ging die Tür, dann stieg jemand die Treppe hinauf. Ich erkannte die Schritte, begab mich wieder zu meinem Sessel und machte es mir dort bequem.

Holmes trat herein. „Doktor Watson! Gut, dass Sie nicht gewartet haben.“

„Doch, ich habe gewartet, viel zu lange, wie ich meine.“

„Das tut mir leid.“

„Es ist spät. Wo waren Sie?“

„Ich hatte Geschäftliches zu tun, mein lieber Freund.“

Ich erhob mich wieder. „Und ich gehe jetzt zu Bett. Ich bin so müde, ich sehe wieder blaue Kaninchen“, sagte ich halb im Scherz.

„Warten Sie, Watson! Wo haben Sie blaue Kaninchen gesehen? Wo sind Sie entlanggekommen?“

„Nein, Holmes.“ Ich freute mich, ihm ein Schnippchen zu schlagen. „Es war, als ich dort vorn ans Fenster trat. Da sprang mich eines von Ihrem Arbeitstisch aus an. Beinahe zumindest.“

Holmes lachte. „Da haben Sie mich aber drangekriegt.“

Erst jetzt erzählte ich ihm von meiner tatsächlichen Begegnung mit einer dieser Zeichnungen an der Hauswand.

„Hm“, machte Holmes, „mit ein bisschen Glück hätten Sie die Diebe erwischen können.“

„Vielen Dank für Ihr Zutrauen in meine Person, doch es müssen mehrere gewesen sein, wenn ich an die große Kiste denke, also hatte ich wohl eher Glück, dass diese Burschen mich nicht aufmischten. Was haben Sie vor, Holmes? Sie versuchen, diese Diebstähle aufzuklären, nicht wahr?“

„Sie liegen richtig. Und wenn ich Sie brauche, mein lieber Watson, dann werde ich Sie wie immer rechtzeitig davon in Kenntnis setzen und hoffen, dass Sie es ermöglichen können, an meiner Seite zu stehen. Ich kümmere mich jetzt noch ein bisschen um Farbtopf und Pinsel.“

„Sie wollen diesem Ding auf Ihrem Arbeitstisch den Anschein geben, es sei sehr alt, nicht wahr?“

„Bravo, Watson. Wenn Ihre Sinne bei Müdigkeit immer so geschärft sind, dann sollte ich Ihnen hin und wieder den Schlaf entziehen“, meinte Holmes belustigt.

„Aber Sie streichen das Ding, obwohl Sie es schon beschädigt haben. Das ist die falsche Reihenfolge.“

„Nein, Watson. Es ist ein Trick.“

„Oh?“

„Da jeder halbwegs an Antiquitäten interessierte Laie erkennen wird, dass dieses Ding, wie Sie es nennen, nicht alt ist, gebe ich ihm den Anschein, als sei es schlecht restauriert worden.“

Mit diesen Worten legte er sich eine Schürze um und öffnete einen Farbtopf.

Ich seufzte und ging in mein Schlafzimmer. Wenn die Zeit reif war, so würde ich schon erfahren, was in Holmes’ genialem Kopf vor sich ging.



Drei Tage später, die gefälschte Antiquität war am Vortag aus dem Haus geschafft worden, fragte mich Holmes beiläufig: „Mein lieber Watson, möchten Sie mich heute auf eine Auktion begleiten?“

„Gibt es denn interessante Stücke zu sehen?“, fragte ich.

„Die Exponate sind sehr auserlesen. Sie erinnern sich noch an den Todesfall von vor drei Monaten?“

„Sie meinen die Nichte von Sir Archibald, dem berühmten Völkerkundler? Ihr Name ist mir entfallen.“

„Oh, der ist auch nicht von Bedeutung. Das Anwesen erfährt einen Ausverkauf. Der Erlös für die ganze Einrichtung soll an einen Damenstift fallen. Er nennt sich … warten Sie … ach, solche unwichtigen Dinge kann ich mir nicht merken.“

Das war der Augenblick, in dem ich spätestens hell­hörig hätte werden sollen. Holmes vergisst nie etwas, wenn es auch nur am Rande von Bedeutung wäre. Und so hätte ich schlussfolgernd können, dass ihn die eigentliche Auktion auch nicht im Geringsten interessierte, sondern dass er anderes im Sinn hatte, was ihn vollauf beschäftigte.

„Nun, warum nicht?“, antwortete ich unbekümmert. Ich mochte es, alte und außergewöhnliche Exponate zu studieren. Wenn eine Versteigerung dazu geeignet wäre, dann jene, bei der es um die Besitztümer eines Kalibers wie Sir Archibald ging.

Ich überschlug in Gedanken meinen finanziellen Spielraum und war von dem Ergebnis schnell ernüchtert. Es würde wohl beim Studieren bleiben. Möglicherweise ergab sich aber doch die Gelegenheit, ein einzelnes interessantes Buch zu erstehen.

Wir machten uns auf den Weg. Vom Bahnhof King’s Cross aus ging es Richtung Norden. Der Zug war reichlich voll. Wir fanden zwei Sitze in einem Abteil direkt an der Tür, als der Zug schon anfuhr. Das war ungewöhnlich für diese Uhrzeit.

Die Zugfahrt verlief ruhig. Und wenn ich das sage, so meine ich das im wahrsten Sinne des Wortes. Außer den Geräuschen, die der Zug auf seiner Fahrt verursachte, war kein Laut während der gesamten Fahrt zu hören. Nun weiß ich, dass mein Freund Holmes ein großer Schweiger sein kann. Häufig war er dann in Gedanken und rauchte seinen Tabak weg, als ginge es darum, die Ernte eines ganzen Jahres innerhalb kurzer Zeit auszulöschen.

Aber auch die anderen Passagiere sagten kein Wort. Sie starrten aus dem Fenster oder zu Boden, auf ihre Schuhe, als wollten sie jeden Blick auf einen Mitreisenden tunlichst vermeiden.

Sie waren äußerst fein, teilweise sogar festlich, gekleidet. Und saßen wie wir nicht in der ersten Klasse. Das fand ich seltsam, doch ich wollte nicht versuchen, dieses Rätsel zu lösen.

Die Fahrt kam mir länger vor, als sie war.

Als wir unser Ziel fast erreicht hatten, standen beinahe alle Passagiere auf und stiegen mit uns aus. Insgesamt mochten es knapp über fünfzig Leute sein, mit denen wir über den Bahnsteig gingen.

Auch auf dem kleinen Bahnhof fiel mir etwas Ungewöhnliches auf. Hinweisschilder wiesen darauf hin, wie man zu dem Anwesen gelangte, wo die Versteigerung stattfinden würde.

Wenn wertvolle Gegenstände einer betuchten Persönlichkeit vor gediegenem und zahlungskräftigem Publikum unter den Hammer kommen sollten, dann geschah das normalerweise nicht auf diese plakative Art und Weise.

Der Strom der Menschen wandte sich dem angegebenen Weg zu, den auch wir einschlugen.

„Holmes, diese Leute wollen alle zu Sir Archibalds Herrenhaus“, platzte es aus mir heraus.

„Das ist offensichtlich, mein lieber Watson.“

Droschken waren an diesem abgelegenen Bahnhof nicht zu bekommen, und so mussten all die feinen Leute mit ihrer teuren Kleidung den staubigen Weg entlanggehen. Nicht einer schimpfte darüber, was mir sehr seltsam vorkam. Diese Leute waren doch Besseres gewohnt und ließen das – so kannte ich das – bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Umgebung spüren.

„Da vorn, rechter Hand, sehen Sie die Dame mit dem hellgrünen Kleid?“

„Ja, Doktor. Was ist mit ihr?“

„Nun, sowohl Dame als auch Kleid kommen mir bekannt vor.“

„Ist es so?“

„Und ich könnte schwören, dass ich den Kerl, der in unserem Abteil am Fenster saß, schon einmal gesehen habe. Allerdings ohne Bart. Aber diese Augen und die Lachfalten an den Seiten, all das kommt mir bekannt vor.“

„Vielleicht hat der Herr einen Verwandten, mit dem Sie schon einmal zu tun hatten. Und die beiden sehen sich ähnlich.“

Holmes wirkte ausgesprochen vergnügt.

„Ich weiß nicht, Holmes, das ist eine Mutmaßung, die nicht typisch für Sie ist. Immerhin sind Sie jetzt ­gesprächiger. Wenn meine Irrtümer dazu beigetragen haben, dann soll es mir recht sein. Obwohl ich den Hut der Dame, die ganz vorn geht, schon einmal gesehen habe. Die Veilchen und Pfauenfedern waren in genau derselben Weise arrangiert. Nur der Stoff war ein anderer.“

„So, mein lieber Watson“, unterbrach mich Holmes, als sei er meiner Rede überdrüssig und wollte das Thema wechseln, „haben Sie denn vor, einen günstigen Einkauf zu tätigen, wenn sich die Gelegenheit bietet?“

„Sie wird besonders günstig sein müssen, richtig preiswert sozusagen. Und wie steht es mit Ihnen? Immerhin hat es Sie zu dieser Auktion hingezogen.“

„Ich interessiere mich für ein besonderes Exemplar.“

„Ach, wirklich?“

„In der Tat. Der Auktionskatalog wurde vor zwei Tagen veröffentlicht. Man konnte ihn für einen günstigen Preis erstehen.“

„Ich habe ihn gar nicht liegen sehen.“

Holmes zuckte mit den Schultern. „Ein Zufall.“

„Sie hätten ihn mir aber auch mal reichen können. Ich hätte gern einen Blick vorab hineingeworfen.“

„Freuen Sie sich, mein lieber Watson. So werden Sie ein ums andere Mal überrascht. Wie bei einem unbekannten Theaterstück.“

„Nun ja“, brummte ich, „dann wird es wohl ein spannender Nachmittag für mich.“

Eine Droschke fuhr an uns vorüber und wirbelte eine Menge Staub auf. Es war interessant, dass sich niemand der anderen, die seit dem Bahnhof mit uns liefen, beschwerte.

Mein Freund schaute, wer denn darin saß, und lächelte.

„Wo kommt die denn jetzt her?“, fragte ich und dachte daran, dass vor einigen Minuten keine Droschke, nicht einmal ein Bauernkarren, am Bahnhof zu bekommen war.

„Da bin ich mir ganz sicher“, sagte Holmes. Es dauerte einen Augenblick, bis ich erkannte, dass er nicht meine zuletzt gesprochenen Worte, sondern die davor kommentierte.

Wir gingen an einer Ginsterhecke entlang, die uns zu beiden Seiten die Sicht versperrte, folgten einer Kurve, und da stand es, das Herrenhaus Sir Archibalds. Oder besser: das seiner verstorbenen Nichte. Es handelte sich um ein Landhaus, dreigeschossig und mit einem Seitenflügel ausgestattet. Alles wirkte alt und verlebt und doch idyllisch.

„Das ist ein sehr schönes Haus“, sagte ich. „Ein paar kleinere Renovierungsarbeiten, und es strahlt in neuem Glanz.“

„Die alte Dame wohnte die letzten Jahre allein in diesem Anwesen. Dreimal in der Woche kam ein Hausmeister, der notwendige Reparaturen vornahm und den Garten hinter dem Haus pflegte. Beeindruckend, wenn man bedenkt, dass Miss Florence Jones einhundertundzwei Jahre alt wurde.“

„Wirklich? Und sie war nie verheiratet?“

„In der Tat. Sie soll in jungen Jahren eine Zeit lang mit Sir Archibald und dessen Frau in Deutschland gewesen sein. Lady Elysia ist damals gestorben, in Weimar, wenn ich mich nicht irre. Gerüchte besagen, dass sie alle mit Goethe verkehrt haben.“

Das war interessant und ich war umso mehr darauf aus, ein Tagebuch oder ähnliches mit meinen bescheidenen Mitteln zu erstehen.

Wir erreichten den Vorplatz. Es gab keine Prunktreppe zum Eingang, sondern einfach nur eine Tür mit zwei Türflügeln, an der ein Herr stand, der die Gäste begrüßte. Wir traten ein und standen plötzlich vor einem von drei weiteren Herren, die in Livreen gekleidet waren und Tabletts hielten, auf denen Gläser mit gekühlter Limonade standen.

Man achtete darauf, dass die potenziellen Bieter bei guter Laune waren.

Während wir unsere Gläser in Empfang nahmen, schaute ich mich um. Die Halle war nicht sehr groß, jedoch vollgestopft mit allerlei Kleinmöbel. An den Wänden hingen unzählige Bilder. Sie schienen von der Größe, den Motiven und der Herkunft keinem anderen Muster zu folgen, als dem einer großen Unordnung. Ich sah Landschaftsbilder, die augenscheinlich Motive wie den Golf von Neapel oder zerklüftete Gebirge darstellten, dann wieder liebreizende Porträts von Müttern mit ihren Kindern oder alten Menschen, die auf Bänken saßen. Dort war die klassische Schäferin mit Hirtenstab und Lämmlein auf dem Arm, gleich daneben befand sich die Abbildung einer Kriegsszene; offenbar lagen einige Buren in Erwartung ihrer Feinde in einem Graben.

Jemand verteilte den Katalog für die Dinge, um die es heute gehen sollte. Ich ließ mir ein Exemplar geben und blätterte darin herum. Die Mindestgebote waren in den Beschreibungen angegeben. Weil das meiste für mich zu teuer war, fiel es mir leicht, die Seiten schnell durchzublättern, denn es war nicht mehr viel Zeit bis zum Beginn, und ich wollte doch mit meiner Vorauswahl rechtzeitig fertig werden.

Bei einem historischen und persönlichen Manuskript Sir Archibalds blieb ich hängen. Es trug den Namen: Der Teufelsvers oder wie ich die Wahrheit über Menschen erfuhr und meine Frau verlor. Ein schlimmes Abenteuer in Goethes Weimar.

Der Ansatz für das Anfangsgebot war niedrig genug, dass mein Blick einen Moment lang darauf haften blieb.

„Watson“, sagte Holmes.

„Ja?“

„Es beginnt gleich. Gehen wir hinein.“

Ich leerte schnell mein Limonadenglas und übergab es einem der Bediensteten. Dann reihten wir uns in die Schlange der Kaufwilligen ein. Wir gingen die Treppe nach oben in den ersten Stock. Dort betraten wir einen Prunksaal. In einer Ecke stand ein altes Piano. Das Parkett war stumpf. Alte und renovierungsbedürftige Stuckarbeiten beherrschten die Decken. An den Wänden hingen Vorhänge, die alle Geräusche dämpften.

Vor uns erstreckten sich durch einen Mittelgang geteilte Stuhlreihen. Erstaunlich viele Menschen waren gekommen. Das fiel mir erst jetzt auf. Die Leute aus dem Zug saßen, soweit ich das überblicken konnte, nahezu komplett beisammen. Erneut meinte ich, im Profil jemanden zu erkennen, den ich vor nicht allzu langer Zeit schon einmal gesehen hatte. Ich erinnerte mich nicht daran, ob wir miteinander gesprochen hatten, doch wir waren nicht nur grußlos aneinander vorbeigegangen.

„Hier“, sagte Holmes und deutete auf zwei Plätze am mittleren Rand der rechten letzten Reihe.

„So weit hinten?“, fragte ich meinen Freund.

„Es wäre mir ein Bedürfnis.“

Ich gab nach und überließ ihm den äußeren Stuhl.

Ich beobachtete die Menschen, die immer noch hereingeströmt kamen. Ich erkannte zwei Lords, zwei Bankiers und eine ganze Reihe anderer wichtiger Geschäftsleute, die ich nicht in unserem Zug gesehen hatte.

Als endlich alle einen Platz gefunden hatten, betrat der Auktionator den Saal und ging bis nach vorn durch. Dort hatte man ein kleines Podest errichtet. Darauf stand an der linken Seite ein Pult. Der Auktionator stellte sich dahinter und nahm den kleinen Hammer, der dort lag, in die Hand. Er wiegte ihn, als prüfe er sein Gewicht. Dann schaute er zur Seite, wo sich eine Tür befand. Das Ganze hatte etwas von einer Gerichtsverhandlung, bei der einer der Anwälte sich sammelte, bevor er mit seinem Plädoyer begann.

Schließlich begrüßte er die Gäste, sprach die Umstände an, die zur Versteigerung geführt hatten, nämlich Miss Florence Jones’ Ableben, am Ende erklärte er die Regeln, nach denen die Gebote abgegeben werden sollten.

Und dann ging es los. Ich spürte, wie Aufregung von mir Besitz ergriff. Diener schafften eine Staffelei herein, danach platzierten sie ein Gemälde darauf. Es wurde geboten, jemand erhielt den Zuschlag. Weiter ging es mit einer Büste, einem Kunstobjekt, das keine berühmte Persönlichkeit, sondern ein junges Mädchen zeigte, das ein offenherziges Lachen zur Schau stellte. Als Nächstes ging es um eine Lexika-Sammlung, die bereits einhundert Jahre alt war. Und dann – ich traute meinen Augen nicht – stand dort oben plötzlich ein Objekt, das mir nicht unbekannt war.

Einige der Besucher schnappten nach Luft oder murmelten etwas ihrem Nachbarn zu. Nicht nur ich war verwundert.

Verstohlen schaute ich zu Holmes hinüber, doch der ließ sich nichts anmerken.

„Kommen wir nun zu dem Schild von Sir Clemens Alway“, sagte der Auktionator. „Wie Sir Archibald oder Miss Florence Jones an das gute Stück gelangt sein können, bleibt uns leider unbekannt. Es wurde bei der Inventur des Nachlasses im Keller gefunden. Der Zustand ist“, er machte eine Pause, „mittelprächtig. So ehrlich wollen wir sein.“ Er lachte kurz und affektiert, dann schaute er kurz in die Menge, als suche er jemanden. Ein Räuspern, danach ging es weiter.

„Sir Clemens Alway erhielt im Jahr 1038 die Ritterwürde von König Harold I. Wie wir alle wissen, hatte Harold I. den Beinamen“, er unterbrach sich und schaute erneut in die Runde, dieses Mal schien er weniger ­unsicher zu sein. Er bezog die Gäste ganz bewusst mit ein, als wolle er eine besondere Aufmerksamkeit für das Exponat erwecken. Das war sehr ungewöhnlich.

„Hasenfuß“, rief jemand.

„Genau, so ist es.“

Neben mir bemerkte ich, wie Holmes auf seinem Sitz unruhig wurde. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er am liebsten aufgesprungen wäre und die Situation an sich gerissen hätte.

Wie zum Beweis meiner Annahme räusperte sich Holmes für alle im Saal hörbar, jedoch nicht auffällig, denn auch andere gaben hin und wieder ein ähnliches Geräusch von sich. Für den Auktionator schien dies ein Zeichen zu sein, denn er verfiel wieder in den sachlichen und würdevollen Ton, der seiner Funktion angemessen war.

„König Harold I. ging gern auf die Jagd und bewegte sich dort so flink und wendig, dass er den Beinamen Hasenfuß erhielt. Sir Clemens hatte damals noch kein Wappen, und so wählte er eines aus, dass einerseits König Harold I. ehren sollte, das andererseits aber keinen direkten Vergleich mit ihm anstreben sollte. Sir Clemens wählte als Wappen also keinen Hasen, sondern ein Kaninchen. Man erkennt das an der gedrungenen Gestalt der Zeichnung. Blau sollte es sein, weil dies die Lieblingsfarbe der Tochter von Sir Clemens war.“

Im Katalog war ein Schild aufgeführt, doch bei der Beschreibung hatte man sich auffallend in Zurückhaltung geübt. Der Name Sir Clemens Alway, daran erinnerte ich mich, war genannt worden. Ich hätte nie und nimmer damit gerechnet, ausgerechnet dieses Exponat hier anzutreffen, von dem Holmes in unserem Zuhause eine Kopie angefertigt hatte. Wenn ich es noch richtig in Erinnerung hatte, so handelte es sich sogar um eine äußerst gelungene Kopie.

„Ich bin beeindruckt, Holmes“, raunte ich meinem Freund zu. „Ihr Schild sieht diesem hier sehr ähnlich. Das haben Sie gut hinbekommen.“

Mein Freund kicherte, während er sagte: „Vielen Dank, mein guter Watson. Ich finde jedoch, da besteht mehr als nur eine Ähnlichkeit.“

„Nun übertreiben Sie mal nicht.“

„Nun ja, ich wüsste nicht, wo der Auktionator ein zweites Exemplar herbekommen sollte.“

Ich war verwirrt, doch die Auktion war in vollem Gange, sodass ich nun schwieg und beobachtete, wie eine Frau – auch sie erinnerte mich an jemanden, den ich vor Kurzem gesehen hatte – das erste Gebot abgab. Das Bild einer stolzen Maria Stuart schoss mir durch den Kopf. Ein Herr in feinem Zwirn und mit nichtssagendem Blick gab das nächste Gebot ab. Dieser Mann machte das nicht zum ersten Mal. Wahrscheinlich handelte es sich um einen professionellen Agenten, der im Auftrag für seinen Auftraggeber hier war.

Eine andere Frau, ich hatte sie schon auf dem Bahnsteig gesehen, bot ebenso. Als sie den Kopf zur Seite legte, da hatte ich so etwas wie eine Erscheinung. „Eselsohren!“, dachte ich. Wie seltsam. Und dort drüben, dort saß doch Puck, nur zwei Plätze weiter Lysander. Ich war für einen Augenblick wieder in dem Sommernachtstraum gefangen.

„Holmes“, hauchte ich ihm ins Ohr.

Mein Freund hob den Zeigefinger zum Mund und machte: „Schscht!“

„Diese Leute dort.“

„Schscht!“ Dieses Mal kam es von einer anderen Personen.

Ich biss mir auf die Zunge. Das war doch ein Betrug! Woher sollten Schauspieler so viel Geld haben? Das höchste Gebot lag bei – großer Gott – fünfundvierzig Pfund für dieses alte und von Holzwürmern zerfressene Stück. Und Miss oder Mrs Eselsohr bot erneut. Fünfzig Pfund, fünfundfünfzig von dem Agenten, sechzig von Maria Stuart, fünfundsechzig von dem Agenten, siebzig von einem weiteren Herrn, der mir vom Profil nicht unbekannt war, den ich aber nicht zuordnen konnte. Als die einhundert Pfund erreicht waren, ging ein leises Raunen durch den Saal. Mit offenem Mund hörte ich zu, wie Maria Stuart von sich aus auf einhundertfünfzig erhöhte.

Es gab keinen Zweifel. Das waren die Schauspieler des kleinen Theaters, in das ich Holmes geschleppt hatte. Warum hatte ich das nicht längst bemerkt?

Ich dachte an die leichte Aufregung, die mich ergriffen hatte, als wir zur Auktion gefahren waren, an das Flattern in meinem Bauch. An die Sorge, es mochte etwas angeboten werden, das mich interessierte – was durchaus der Fall war, wenn ich an das Manuskript über das Abenteuer in Weimar dachte und das ich mir am Ende nicht würde leisten können. Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen.

Doch woher hatten Schauspieler so viel Geld?

Ich warf meinem Freund einen Seitenblick zu. Holmes! Er hatte irgendwie seine Finger im Spiel. Etwas hatte er nach dem Stück mit den Schauspielern ausgeheckt, doch um was es sich handelte, das war mir beim besten Willen ein Rätsel.

Holmes wirkte zufrieden. Er grinste beinahe selig vor sich hin.

„Fünfhundert“, rief der Agent, und abermals erhob sich ein Raunen. Das war ein kleines Vermögen für jemanden wie mich. Selbst die wohlhabenden Geschäftsleute wunderten sich über diesen Preis.

In dem Moment musste Holmes unvermittelt dreimal kurz husten.

Es blieb bei fünfhundert. Der Agent erhielt den Zuschlag. Formalitäten wurden geregelt, das Schild wurde in einen Nebenraum gebracht. Als der Agent den Trägern folgte, tippte mich Holmes an den Arm und erhob sich.

„Wir gehen, Watson.“

„Kommen wir nun zu einem Manuskript, das aus der Feder Sir Archibalds stammt“, sagte der Auktionator. „Hierin beschreibt er seine Abenteuer, die mit einem gewissen Teufelsvers zu tun haben. Außerdem wird darin seine Begegnung mit Johann Wolfgang von Goethe beschrieben.“

Mit Handzeichen machte ich meinen Freund drauf aufmerksam, dass mich dieser Artikel interessierte und ich gern bleiben wollte.

„Wir haben keine Zeit, Doktor“, zischte mir Holmes zu, während der Auktionator einen Mindestpreis von six pence aufrief. Einen Tanner. Das konnte ich mir sehr leicht leisten.

„Ich brauche Sie, Watson.“

Seufzend stand ich auf und verließ mit Holmes den Raum. Der drehte sich noch einmal um und gab ein Handzeichen, das ich nicht zu deuten vermochte.

Wir liefen nicht den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren, sondern blieben auf der oberen Etage, wandten uns in die Richtung, die uns hinter die Kulissen bringen würde. Wir traten durch eine Tür, wandten uns einem weiteren Gang zu und mussten uns schließlich für rechts oder links entscheiden.

Die ganze Zeit über war ich Holmes gefolgt und wunderte mich darüber, wie gut er sich in diesen Räumlichkeiten scheinbar auskannte.

Holmes lauschte, schließlich murmelte er: „Sie können nicht so schnell sein.“ Dann wandte er sich der rechten Seite zu. Der Gang maß nur wenige Yards, gerade genug, um drei Türen zu beherbergen.

Holmes nahm die rechte Tür. Hier standen wir in einem Raum, in dem ein kleines provisorisches Kontor untergebracht war. Ein Mann sah von seiner Kladde auf.

„Ja? Sie wünschen?“, fragte er.

„Ich suche den Agenten mit dem Schild. War er noch nicht bei Ihnen?“

„Das Schild mit dem Hasen drauf, wie ihn diese Diebesbande benutzt?“

„Es ist ein Kaninchen, mein Herr“, stellte Holmes richtig.

„Ein Kaninchen, ja? Woran erkennt man das?“

„Der Auktionator hat es gerade erklärt ...“, begann ich, wurde aber von Holmes unterbrochen.

„Wir haben es eilig.“

„Oh, na gut. Der Agent ist weg.“

„So schnell?“

„Der Mindestpreis ist geboten“, hörten wir den Auktionator von hier aus. „Six pence. Keiner mehr?“

„Oh ja. Der war ganz fix“, meinte der Mann im Kontor. „Hat das Geld in bar auf meinen Schreibtisch gelegt. Da ging die Schreibarbeit natürlich schneller. Es brauchte nur eine Quittung für das Geld und eine Eigentumsübertragungsquittung …“

„Also dann six pence zum Ersten.“

„Vielen Dank!“, rief Holmes und stürzte wieder hinaus.

„Zum Zweiten.“

„Einen schönen Tag noch“, sagte ich und folgte meinem Freund.

„Zum Dritten.“

Diese Worte zu hören gab mir einen kleinen Stich. Mein Buch war verkauft.

Als wir aus der Tür in den Gang traten, kam aus dem gegenüberliegenden Raum ein Mann in Arbeitskleidung. Ich erkannte einen der Helfer, welche die Verkaufs­stücke brachten, aufbauten und wieder wegholten. Die Tür stand einen Spalt offen, und ich konnte einen Blick auf all die schönen Dinge erhaschen, die heute noch angeboten wurden.

„Beeilung, Watson!“

Nun nahmen wir die andere Richtung. Wir hatten Zeit verloren, die Holmes offensichtlich wieder aufholen wollte.

Wir stürzten eine schmale Seitentreppe hinunter, die wahrscheinlich in vergangener Zeit dem Personal zugedacht war, und rauschten schließlich durch eine offen stehende Tür einige Yards vom Haupteingang entfernt auf den Hof. Eine Droschke fuhr gerade auf den Weg Richtung Bahnhof. Es war dieselbe, die uns vorhin überholt hatte.

Holmes grummelte etwas vor sich hin.

„Zu spät“, sagte ich.

„Was Sie nicht sagen, Watson. Der Agent war schnell. Als habe er gewusst, dass ihm jemand auf den Fersen ist.“

„Zumindest hat er es befürchtet. Und mit dieser Einschätzung lag er nicht falsch.“

Holmes wandte sich vom Anblick der davonfahrenden Droschke ab und starrte mich an. „Wenn Sie mit Ihren Worten versuchen, mich zu necken, so kann ich Ihnen versichern, dass dazu ein äußerst schlechter Zeitpunkt ist.“

„Nichts läge mir ferner, Holmes. Doch hätten Sie mich eingeweiht, so hätte ich Schmiere stehen können, um es einfach auszudrücken.“

„Haben Sie die Droschke vorhin gesehen, als sie uns vom Bahnhof aus überholte?“

„Aber ja, Holmes. Auch ich beobachte meine Umgebung genau. Ich habe auch Ihre zufriedene Miene gesehen, als Sie sich die Insassen betrachteten.“

„In der Kabine hat sich der Agent befunden. Das war ein gutes Zeichen, denn er ist in der Auktionsgemeinschaft wohlbekannt.“

„Sie wollten, dass sich jemand Bestimmtes für dieses Schild interessierte. Und Sie fertigten eine Kopie an, die nun wegging, weil es mit dem Original etwas Besonderes auf sich hat.“

„Nur teilweise korrekt, Watson. Aber haben Sie auch die drei vierschrötigen Kerle gesehen, welche die anderen Plätze der Kutsche belegten?“

„Sie wollen andeuten, ich hätte mich besser nicht mit Ihnen angelegt, hätte ich Schmiere gestanden. Dabei haben Sie meinen Armeerevolver vergessen, den ich bei mir trage.“

„Und Sie hätten im Ernstfall geschossen? Vor der Tür dieses ehrenwerten Hauses? Bei so viel Publikum, das Ihnen zugejubelt hätte, wenn es nach den Schüssen nach draußen gelaufen wäre? Und ohne zu wissen, ob der Fall einen Schuss wert wäre?“

„Dann lassen Sie mich nicht dumm sterben, Holmes!“

„Ihnen mehr zu erzählen, das bringt nichts.“

„Ach nein?“

„Nicht zum jetzigen Zeitpunkt, Watson. Viele Dinge sind noch zu vage. Gehen wir zum Bahnhof. Wir sollten rasch nach London zurückkehren. Wir werden jemandem einen Besuch abstatten.“

„An wen werden wir uns wenden?“

„Das, mein lieber Watson, ist eigentlich geheim.“



Wir kamen erst am Abend in London an. Holmes schlug mir vor, ein kräftiges Dinner einzunehmen. Offenbar war ihm der Besuch doch nicht so eilig, und er konnte bis zum morgigen Tag warten. Das war mir recht, denn außer dem Frühstück hatte ich heute noch nichts in den Magen bekommen.

Es war bereits dunkel, als wir uns gesättigt wieder auf die Straße begaben.

„Und nun eine Pfeife voll Tabak für Sie, Holmes, und eine Zigarre für mich in unserer gemeinsamen Stube. So können wir diesen interessanten Tag beschließen, nicht wahr?“

„In der Tat. Jedoch muss der Tabak noch eine Weile warten, wenigstens für mich.“

„Sie haben noch etwas vor?“

„Ich werde heute noch einen inoffiziellen Termin wahrnehmen.“

„Nein Holmes, bitte nicht. Tun Sie nichts Unüberlegtes.“

„Das ist auch nicht meine Absicht.“

„Geben Sie zu, dass Sie in das Büro des Agenten eindringen wollen, um herauszufinden, in wessen Auftrag er das Schild gekauft hat.“ Ich schaute demonstrativ auf meine Uhr. „Und die Bürozeiten sind längst vorbei. Aus diesem Grund sind wir auch zum Essen gegangen: um Zeit zu schinden.“

Holmes schüttelte den Kopf. „Sie und Ihre Räuberpistolen, Watson. Nichts liegt mir ferner, als bei dem Agent einzubrechen.“

„Es wäre nicht das erste Mal.“

„Ich werde mich mit einem Informant treffen. Haben Sie Lust, mich zu begleiten?“

„Es ist vorteilhaft, wenn ich bei Ihnen bleibe. Ich möchte nicht, dass zwielichtiges Gesindel Sie in einer dunklen Gasse überwältigt.“

„Sie haben schon wieder ein voreingenommenes Bild vor Augen, Watson.“

„Oh nein, Holmes. Da kenne ich mich aus. Ich war oft genug mit Ihnen auf ähnlichen Missionen unterwegs, wenn abgerissene Individuen, die schon dreißig Yards gegen den Wind nach Problemen riechen, Ihnen aufgrund fragwürdiger Informationen ein paar Münzen aus dem Kreuz leiern wollten. Wenn diese Leute einen Partner haben, der Ihnen von hinten eins überzieht, rauben sie Ihnen noch den Rest.“

„Also abgemacht“, meinte Holmes und lächelte dabei, als habe ich einen lauen Witz erzählt. „Sie kommen mit.“

Holmes mietete einen Hansom.

„Zum Nationalarchiv“, rief er dem Kutscher zu, dann stiegen wir ein.

Ich erkannte, wie lächerlich ich mich mit meiner Rede gemacht hatte. Es würde keine finsteren Gesellen geben, keine Gauner, die in den Schatten der Hausmauern auf uns lauerten, sondern nur alte, verstaubte Archivare.

„Ich fürchte, das Nationalarchiv hat bereits geschlossen“, sagte ich, und es klang selbst in meinen Ohren pikiert.

„Oh, das will ich hoffen, Watson.“

„Sie planen also doch einen Einbruch?“

„Mein lieber Watson, Sie urteilen erneut vorschnell.“

„Mag sein“, murmelte ich und wusste, dass Holmes recht hatte. Aber ich war unleidlich, weil ich dieses interessante und bezahlbare Schriftstück nicht ersteigern konnte.

Den Rest der Fahrt schwiegen wir. Als wir an dem großen Gebäude des Nationalarchives ankamen und ausstiegen, brannte nicht in einem Fenster Licht. Ich war gespannt, wie Holmes nun vorgehen würde.

Das Archiv, das sich – wie es seine Natur war – mit so viel altem Wissen beschäftigte, war erstaunlich modern ausgestattet. Wir fanden an dem Nebeneingang eine Klingel. Holmes drückte auf den Knopf, aber nicht nur einmal, sondern er tat dies in einem eigentümlichen kurzen Rhythmus, gerade so, wie wenn man eine verabredete Melodie an eine Tür klopfte, damit der andere wusste, wer draußen stand.

Zuerst ging ein Licht hinter einem Fenster an, dann außen, direkt über dem Eingang.

Jemand öffnete die Tür. Im Schein der elektrischen Lampe erkannte ich einen alten, gebeugten Mann mit grauem Haarkranz und einem Stock in der Hand, auf den er sich stützte.

„Es ist mir eine Freude, Sie wieder einmal begrüßen zu dürfen“, sagte der Mann in einem grauenvollen walisischen Akzent.

„Mister Upjohn, wie geht es Ihnen?“

Der Alte machte eine vage Geste mit der Hand. „Heute so und morgen so.“

„Darf ich Ihnen meinen Freund und Assistenten Doktor Watson vorstellen?“

Ich hielt ihm die Hand hin. „Sehr erfreut, sagte ich.“

„Oh, ganz meinerseits. Irgendwann wird es einen eigenen Hausflügel mit Ihren Werken geben, zur Ehre unseres Meisterdetektivs.“ Bei diesen Worten schlug er einen pathetischen Ton an, jedoch relativierte er das Gesagte mit einem verschwörerischen Augenzwinkern. „Aber treten Sie doch ein, meine Herren. Sie kommen gerade zur rechten Zeit. Meinen Tee habe ich nämlich schon getrunken, und jetzt gibt es nichts mehr.“

Holmes und Mister Upjohn lachten gleichzeitig.

„Aber von Ihrem guten Brandy wird doch noch ein Schluck vorhanden sein?“, wollte Holmes wissen.

„Sie haben recht, genau ein Schluck.“

Kichernd ging Mister Upjohn vor und führte uns herein.

Bald standen wir in einem kleinen Raum mit einem Schreibtisch und einer Sitzgarnitur.

Von einer Anrichte nahm Mister Upjohn eine Flasche und drei Gläser.

„Wird Ihr Vorgesetzter nicht irgendwann bemerken, dass sich diese Flasche quasi von selbst leert?“, wollte Holmes wissen.

Mister Upjohn winkte ab. „Der alte Bursche hört nichts mehr und sieht nur noch die Schriftstücke, die wir hier lagern. Alles andere nimmt er nicht mehr wahr. Wussten Sie, dass er am letzten Wochenende nach dem Theaterbesuch versehentlich eine fremde Frau an die Hand nahm und in die Droschke für den Heimweg bugsierte?“ Der Alte kicherte wieder. „Er hat mir am Montag in der Mittagspause ganz entrüstet davon erzählt und behauptet, seine Frau habe das bewusst eingefädelt, um ihn zu blamieren. Dann nahm er“, Mister Upjohn lachte plötzlich bellend auf. „Er hat … Er …“ Der Alte seufzte. „Entschuldigen Sie, meine Herren, aber das sollte ich wirklich nicht erzählen. Der arme Mann. Ich meine, er kann ja nichts dafür.“

„Mister Upjohn, so geht das nicht“, beschwerte sich Holmes. „Sie haben uns neugierig gemacht.“

„Also gut. Er hat doch tatsächlich den Tafelschwamm genommen, ihn kritisch mit der Hand zwei- oder dreimal zusammengedrückt, dann hat er herzhaft hineingebissen, während er sein Sandwich liegen ließ.“ Erneut lachte Mister Upjohn. Und wir stimmten mit ein.

„Aber deswegen sind Sie ja nicht hier. Wie verlief die Auktion?“

Ich war überrascht, dass der Alte darüber Bescheid wusste.

„Ihr Hinweis auf Sir Clemens war goldrichtig. Man hat den Kauf über einen Agenten abgewickelt. Der war schneller weg, als ich hinter die Kulissen kommen konnte. Ich komme nun zu Ihnen, um Sie zu fragen, ob Sie etwas für mich haben, Mister Upjohn.“

Der Alte gab einen undefinierbaren Laut von sich, dann sagte er auf walisisch: „Mae gennyf ateb.“ Er war ­offenkundig so ergriffen, dass er unversehens in die Sprache seiner Heimat verfallen war.

„Wirklich, Upjohn? Sie haben gefunden, was ich gesucht habe?“

„Das habe ich in der Tat.“ Mister Upjohn zog einen faltigen Umschlag aus seinem Jackett und übergab ihn Holmes.

Mein Freund öffnete den Umschlag, warf einen Blick hinein und steckte ihn dann in seine Jackentasche. Nun schob er dem Alten seinerseits einen Umschlag zu. „Ich weiß Ihre Mühe zu schätzen.“

Mister Upjohn griff nach dem Brandy und schenkte ein. „Darauf trinken wir einen.“

Wir hoben die Gläser.

„Cheers!“, sagten Holmes und ich gleichzeitig.

„Iechyd da!“, sagte der Alte.

Der Brandy war ganz ausgezeichnet.



Der Ancestry Club, dorthin sollten wir uns begeben, lag nicht weit vom Diogenes Club entfernt auf der Pall Mall. In Letzterem residierte Holmes’ Bruder. Der Ancestry Club beherbergte, wie der Name es bereits andeutete, Mitglieder, die über einen langen und angesehenen Stammbaum verfügten. In der Morning Post hatte ich einmal in einem Bericht gelesen, dass dort ein armer Schaubudenbesitzer Mitglied werden konnte, da er nachweisen konnte, dass er von einem bedeutenden Landadeligen abstammte. Weil er sich die Gebühr des Clubs nicht leisten konnte, wurde sie ihm erlassen. Das war eine Besonderheit im Clubgeschehen.

Es war der nächste Morgen, als wir uns auf den Weg zur Pall Mall machten. Holmes ließ es sich nicht nehmen, ein ausgedehntes Frühstück und die Lektüre der Morgenzeitungen zu genießen, ehe er den grauen Morgenrock ablegte und sich ausgehfertig machte. Doch bevor wir uns auf den eigentlichen Weg machen, ließ er den Kutscher bei Scotland Yard vorfahren.

„Warten Sie hier“, sagte mein Freund zu mir und dem Kutscher gleichzeitig. Er wandte sich um, doch bevor er den Bau betreten konnte, kam Inspektor Gregson zur Tür hinaus.

„Inspektor Gregson“, rief Holmes, „gut, Sie zu sehen.“

„Mister Holmes? Was führt Sie zu uns?“

„Ich möchte Ihnen behilflich sein.“

„Mir? Mister Holmes, ich glaube nicht, dass Sie mir helfen müssen.“

„Das glaube ich sehr gern, doch ich kann Ihre Arbeit verkürzen. Sie versuchen doch, die Diebstähle mit den blauen Kaninchen aufzuklären.“

„Nun ja, da haben Sie recht. Ich bin sicher, ich bekomme den oder die Täter auch ohne Ihre Hilfe, nichts für ungut, Mister Holmes.“

„Nun, ich habe ihn bereits, wenn auch nicht physisch, so doch in der Theorie. Er muss nur noch eingefangen ­werden.“

„Machen Sie Witze?“

„Über so etwas mache ich keine Witze. Also, kommen Sie mit, oder sollen Doktor Watson und meine Wenigkeit auf uns allein gestellt Ihre Arbeit übernehmen?“

„Wer ist es denn?“

„Steigen Sie ein, und ein Teil des Ruhmes wird auf Sie übergehen“, sagte Holmes.

„Sie wissen, wie Sie mich kriegen können.“

Holmes lächelte böse. „Ich weiß, wie ich Sie alle kriege. Seien Sie unbesorgt.“

Kurz darauf machten wir uns zu dritt auf den Weg in die Pall Mall.

Das Gebäude des Ancestry Clubs war prächtig und vermittelte Reichtum. Die Eingangstür zierte eine Schnitzerei, die einem Stammbaum nachempfunden war.

Das Gebäude verfügte über eine elektrische Klingel. Es dauerte nicht lange, bis ein livrierter Herr in mittleren Jahren und ausdruckslosem Gesicht öffnete.

„Sie wünschen?“

„Eine kurze Unterredung mit Sir Hieronymus Bengsley“, erwiderte Holmes.

Gregson und ich, wir schauten uns an und waren gleichermaßen überrascht. Der Name war bekannt im britischen Empire. Es handelte sich um einen einflussreichen Mann mit einem nicht unbeträchtlichen Vermögen.

„Sir Hieronymus ist leider unpässlich, meine Herren. Er wünscht, keine Besucher zu empfangen.“

„Ich bin Inspektor Gregson von Scotland Yard“, sagte unser polizeilicher Begleiter. „Es ist zur Aufklärung eines sehr schwierigen Falls unabdingbar, dass wir kurz mit Sir Hieronymus sprechen.“

„Nun, wenn das so ist, dann treten Sie ein und warten Sie bitte. Ich werde Sie anmelden.“

„Ich muss darauf bestehen, dass wir mit Ihnen kommen“, sagte Holmes.“

„Aber meine Herren, so geht das doch nicht.“

„Ich fürchte, heute muss es das“, behauptete Gregson.

„Ich protestiere!“

„Ich werde dies im Protokoll vermerken. Doch nun sollten wir unverzüglich Sir Hieronymus aufsuchen“, meinte Gregson und verlieh seinen Worten Nachdruck, indem er ein paar Schritte vorausging.

„Ich gehe vor“, ließ der Hausdiener wissen.

Wir folgten ihm durch einen großen Saal, in dem ein paar alte Männer saßen und ihre Zeitung lasen. Danach traten wir in einen anderen Raum und störten einen jungen Mann bei einer Vorlesung vor kleinem Kreise. Hier waren die Mitglieder nicht ganz so alt. Fragend schauten Sie uns an, als wir still hinter der letzten Stuhlreihe durchmarschierten. Wir kamen in einen Flur und von dort zu einer weiteren Tür.

Der Hausdiener klopfte.

Ich konnte ein leises undefinierbares Geräusch hören, dann klackte etwas. Schließlich rief jemand mit schwacher Stimme: „Herein.“

Ein Greis – ich schätzte ihn auf über neunzig Jahre – lag auf einer Récamiere. Jemand hatte eine leichte Decke über seine Beine gelegt, allerdings war dies nicht sehr ordentlich geschehen. Das Ganze sah hastig übergeworfen aus und bedeckte den Boden mehr als den Körper des Greises.

„Ich bin untröstlich, Sir Hieronymus, doch diese Herren wollen Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen und nicht von meiner Seite weichen.“

„Es ist gut“, sagte der Greis mit brüchiger Stimme. Er hatte offenbar Mühe dabei, Luft zu holen.

„Ich bin Arzt“, sagte ich. „Doktor Watson. Soll ich mal nach Ihnen sehen?“

Sir Hieronymus winkte ab. „Nein, das ist nicht nötig. Vielen Dank, aber ich stehe unter ärztlicher Beobachtung. Es ist das Herz, wissen Sie?“

Ich nickte.

Nun trat Holmes vor. „Sir Hieronymus, ich bin gekommen, um Ihnen zu gratulieren.“

Der Greis lachte schwach. „Da haben Sie sich nur unwesentlich verspätet. Meinen Dreiundneunzigsten habe ich im letzten Monat gefeiert.“

„Mein Herr“, mischte sich der Hausdiener ein. „Haben Sie keine Manieren?“

„Gehen Sie nur, Maximilian. Ein bedeutender Mensch wie Mister Holmes muss sich nicht vorstellen“, sagte der Greis.

„Sind Sie sicher?“

Holmes antwortete für den alten Mann. „Gehen Sie“, sagte er sehr bestimmt.

„In Clubs wie diesem hier legt man einen gewissen Wert auf das, was sich Anstand nennt“, tadelte Sir ­Hieronymus meinen Freund. „Doktor Watson kann Ihnen als ein Beispiel dienen. Zwei Namen kenne ich nun, doch wer ist der Dritte?“

Gregson stellte sich vor.

„Ich bin verwirrt, meine Herren. Was soll dieses Aufgebot bedeuten?“ Er klang verunsichert.

„Sir Hieronymus, Sie sind schon eine ganze Weile Mitglied dieses Clubs, ist es nicht so?“

Der Greis lächelte und nickte.

„Wie lange beschäftigen Sie sich schon mit der Erforschung Ihrer Ahnen?“

„Es mögen fünfzig Jahre sein, Mister Holmes.“

„Da haben Sie vieles herausgefunden, nicht wahr?“

Der andere wiegte den Kopf. „Erstaunlich wenig, möchte ich sagen. Meine Vorfahren haben nicht so viele Spuren hinterlassen, wie ich es mir wünschte.“

„Sie sind der letzte Bengsley, nicht wahr?“

„In der Tat, Mister Holmes.“

„Gibt es noch einen anderen Zweig Ihrer Familie? Einen, der aufgrund von Verheiratung einen anderen Namen trägt?“

„Es gibt niemanden mehr, und das wissen Sie. Sonst wären Sie nicht der, der Sie sind. Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen, und reden Sie nicht um den heißen Brei herum. Ich bin alt und habe keine Zeit mehr für solche Mätzchen.“

„Inspektor Gregson ist hier, um das Exponat zu beschlagnahmen, das Sie auf einer gestrigen Auktion erstanden haben“, sagte Holmes.

„Sehe ich so aus, als wäre ich in der Lage, eine Auktion zu besuchen?“

Holmes verzog den Mund zu einem bösen Lächeln. „Ich würde es mir nicht anmaßen, von Ihrem Aussehen auf Ihre Gesundheit zu schließen. Schließlich bin ich kein Arzt. Aber ob Sie anwesend waren oder nicht, das spielt keine Rolle. Jemand hat auf der Auktion in Ihrem Namen geboten und den Zuschlag erhalten. Es handelt sich um das angebliche Schild von Sir Clemens. Sie haben den überaus stolzen Betrag von fünfhundert Pfund dafür bezahlt. Und wahrscheinlich hätten Sie auch das Zehnfache dafür ausgegeben, nicht wahr?“

Der Greis schwieg.

„Es handelt sich um eine schlichte Fälschung. Inspektor Gregson ist hier, um das teure Stück zu beschlagnahmen.“

„Warum sollte ich mich für dieses Schild interessieren? Und warum sollte ich es hier haben?“

„Weil Sie Mitglied dieses Clubs sind. Das beantwortet beide Fragen, Sir.“ Holmes schritt das Zimmer ab und deutete schließlich auf die Decke, die halb zu Boden gesunken war. „So geht das ja nicht“, meinte mein Freund. „So ist die Decke unnütz.“

Sir Hieronymus zuckte zusammen. „Was tun Sie?“

Holmes griff nach der oberen Kante der Decke.

„Nicht“, sagte der Greis. „Ich will es so haben, wie es ist.“

„Ich möchte doch nur, dass es Ihnen gutgeht.“ Holmes zog gegen allen Widerstand die Decke nach oben, obgleich Sir Hieronymus seine Hände an Holmes’ Arme legte, um ihn davon abzubringen.

„Holmes!“, rief ich. „Sie werden doch nicht einen alten Herrn nötigen wollen?“

„Das fiele mir im Traum nicht ein. Hoppla, was ist denn das?“ Holmes schaute zu Boden und trat einen Schritt zur Seite. Unter der Récamiere lag das Schild, das bei der Versteigerung verkauft worden war. Und nun war ich mir absolut sicher, dass es sich um das Schild handelte, das Holmes in unserem Salon angefertigt hatte.

Für einen Moment herrschte Schweigen. Sir Hieronymus sah Holmes herausfordernd an.

Mein Freund brach als Erster das Schweigen.

„Sie sind kein Royalist, nicht wahr?“

„Das ist kein Verbrechen.“

„Das habe ich nicht behauptet. Ich frage mich jedoch, weshalb das so ist. Immerhin hat unsere Königin Ihnen vor rund dreißig Jahren die Baronetswürde verliehen.“

„Vor siebenundzwanzig Jahren.“

„Damit haben Sie Ihren Zweig der Familie wieder in den alten Adelsstand gehoben.“

„Meinen Zweig der Familie? Ich bin der letzte Bengsley. Wir reden also von einem dürren Ästchen, Mister Holmes.“

„Ihre Familie hatte schon einmal einen Adelstitel?“, fragte Gregson.

„Nicht nur das“, giftete der Greis. „Ländereien hatten wir auch.“ Sir Hieronymus stockte. Er hatte sich gehen lassen, und das war ihm offensichtlich unangenehm.

„König Harold I. war einem Ihrer Vorfahren wohlgesonnen, nicht wahr? Im Jahr 1038 wurde Clemens Alway zum Baronet erhoben und seitdem mit Sir angeredet. Soll ich Ihnen erzählen, wie es zu dem eigentümlichen Wappen kam, dem blauen Kaninchen?“

„Ich bin im Bilde“, presste Sir Hieronymus heraus. „Aber wissen Sie, dass uns das Haus Hannover unter König Georg II. betrog und uns alle Ländereien und die Baronetswürde stahl?“

Holmes nickte. „Das war im Jahr 1745.“

„Ich bin überrascht, dass Sie das wissen.“

Ich war nicht minder erstaunt über das Wissen meines Freundes, ahnte aber, dass es etwas mit dem alten Waliser in der Nationalbibliothek zu tun hatte.

Sir Hieronymus schob die Decke beiseite und stand auf. Er war etwas wackelig auf den Beinen, doch für sein Alter in erstaunlich gutem Zustand. Er, ein steinaltes, dürres und krummes Männlein, stand vor dem hochgewachsenen und stolzen Sherlock Holmes. Dabei zeigte er all die Würde, die in seinem adeligen Blut steckte. In der Haltung des Greises lagen Jahrhunderte der Baronetswürde, nicht nur siebenundzwanzig Jahre. Auch wenn es sich nur um einen unteren Adelsrang handelte, hätte Sir Hieronymus in diesem Moment auch ein Earl sein können.

„Ihre Verwandtschaftsverhältnisse sind schwierig zu deuten für jemanden, der sich erst wenige Tage mit Ihrem Stammbaum beschäftigt. Besonders, wenn man sich von der Vergangenheit in die Gegenwart hinaufarbeiten muss“, sagte Holmes. „Doch es ist einem guten Bekannten von mir geglückt. Zuerst konnte er mir die Bedeutung des blauen Kaninchens erklären, später lieferte er mir Ihren Namen. Und nun, da Sie sich so sehr um das Schild bemüht haben, bin ich mir sicher, dass Sie hinter den Diebstählen stecken, bei denen jeweils ein blaues Kaninchen hinterlassen wurde.“

„Ha!“, rief der Sir Hieronymus. „Museen geben nichts her, was sie einmal in den Fingern haben. Und Händler wollen sich an meinem Eigentum bereichern. Das konnte ich nicht dulden. Ich nahm mir, was von Rechts wegen mir gehört. Ich erkenne die Enteignung meiner Familie nicht an.“

„Sie haben auf sich aufmerksam gemacht“, sagte Holmes, „indem Sie die blauen Kaninchen an Hauswände malten.“

„Das haben meine Helfer getan. Ja, es gibt eine Hand voll anständiger Leute, die auf meiner Seite stehen.“

„Die Leute kommen hier aus dem Club, nehme ich an.“

„Dazu sage ich nichts. Es ging mir darum, das Wappen, das so lange von der Öffentlichkeit nicht mehr wahrgenommen wurde, wieder bekannt zu machen. Und ich bin ehrlich erstaunt, dass jemand es so bald wiedererkannte.“ Sir Hieronymus ging einen Schritt auf Holmes zu, sodass die beiden nicht mehr als einen halben Fuß trennte, auch wenn Holmes den Greis um mehr als zwei Fuß überragte. „Das erfüllt mich mit Stolz.“

„Ich nehme an, Sie haben ein Enteignungsprotokoll gefunden oder eine alte Inventarliste.“

„Ich fand es in einem Geheimfach eines alten Schreibtisches, der mir geblieben war. Es handelte sich um ein Urteil mit eben jener Liste. Nach und nach konnte ich diverse Exponate, die darauf standen, identifizieren. Ich fand heraus, wer sie besaß.“

„Ich nehme an, dass das Schild, das Sie gestern erstanden haben, nicht auf dieser Liste steht.“

„In der Tat, Mister Holmes. Das war ein Glücksfund. Dieses Schild muss Sir Clemens oder seiner Familie bereits früher abhanden gekommen sein. Und wenn ich ehrlich bin, dann hätte ich es lieber stehlen lassen, als fünfhundert Pfund dafür zu bezahlen. Doch die Zeit drängte. Es tauchte so plötzlich auf, und ich wollte nicht, dass es bei einem unbekannten Käufer wieder schnell untertaucht.“

„Ich muss Sie enttäuschen, Sir Hieronymus. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass es sich um eine Fälschung handelt. Dieses Schild ist ein Produkt meiner Fantasie. Ich selbst habe es in den letzten Tagen angefertigt.“

„Ach?“, kam es von dem Greis. So wie ich wirkte er nicht besonders überrascht nach dem Verlauf dieses Gespräches.

„Gregson“, sagte Holmes, „Sie sind dran.“



Am späten Abend saßen wir zu Hause. Holmes holte eine Flasche Whisky aus dem Schrank und schenkte uns ein.

„Sie haben sich viele Umstände gemacht, um einen Einbrecher zu finden, Holmes.“

„Ja, das habe ich. Doch es hat Spaß gemacht, dies alles zu organisieren. Und die kleine Bastelarbeit hat mir ebenfalls Freunde bereitet.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957192264
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Kult Detektiv Klassiker London

Autor

  • Michael Buttler (Autor:in)

Michael Buttler wohnt mit seiner Familie und zwei Katzen im Rhein-Main-Gebiet. Er arbeitet als Bankkaufmann bei einem Kreditinstitut. Anthologien, an denen der Autor beteiligt war, wurden verschiedentlich für den Deutschen Phantastik-Preis nominiert.
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Titel: Sherlock Holmes - Neue Fälle 27: Sherlock Holmes und der Bengalische Tiger