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Sherlock Holmes - Neue Fälle 25: Sherlock Holmes und das Urumi-Schwert

von Klaus-Peter Walter (Hrsg.) (Autor:in)
126 Seiten

Zusammenfassung

Vier Geschichten aus Dr. Watsons unerschöpflicher Nachlasssammlung zeigen Sherlock Holmes in Bestform. Eine nackte Tote aus der Themse offenbart Holmes bis auf ihren Namen alles über sich und ihren Mörder. Der versteht sich meisterhaft auf die Handhabung einer seltenen indischen Spezialwaffe. Auf der Suche nach einem verschwundenen Fabergé-Ei stellt der Meisterdetektiv Blenheim Castle, die weltberühmte Nobelimmobilie des Duke of Marlborough, komplett auf den Kopf. Zwei Leben stehen auf dem Spiel. Holmes muss in den Kindertagen des Films erfolgreich seinen untadeligen Ruf gegen einen betrügerischen Kino-Doppelgänger verteidigen. Im letzten Fall muss der unvergleichliche Meisterdetektiv ein kulinarisches Rätsel lösen. Er versucht es diesmal mit Eleganz. Die Printausgabe umfasst 198 Buchseiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis




Vorwort des Herausgebers


Noch ein paar wenige Sherlock-Holmes-­Geschichten waren übrig und werden hier in Form einer kleinen Anthologie vereinigt.

Irgendwann zu Beginn des 20. Jahrhunderts muss Dr. Watson in Die bewegten Bilder zu seinem Entsetzen feststellen, dass sein seit Langem im Ruhestand lebender Freund vor Kurzem wegen Betrugs vor Gericht stand und dass ein Holmes-Double in einem höchst unanständigen Stummfilm auftritt. Beide Fälle hängen zusammen. Zur Beruhigung aller Fans: Holmes ist natürlich völlig unschuldig, und er löst die Probleme auf bewährte Art und Weise.

Das Urumi-Schwert wird erstmals als selbstständiger Text vorgestellt. Dieser Text war bereits 2018 in zwei Hälften geteilt in meinem Roman Sherlock Holmes, Sisi und das Erbe des Karl Marx als angebliche Erzählung aus der Feder Dr. Watsons enthalten. Er zeigt Sherlock ­Holmes auf dem Gipfelpunkt seiner deduktorischen Fähigkeiten. Nachdem er sie über den Grund seiner Anwesenheit in Südtirol unterrichtet hat und von ihr nach Meran eingeladen worden ist, trägt Dr. Watson die Geschichte im Roman 1883 der sportlichen, aber auch romantisch veranlagten und unkonventionellen Kaiserin Sisi vor. Sie lässt sich von der Duellszene derart beeindrucken, dass sie sofort an der Spitze ihrer militärischen Entourage mit gezücktem Säbel zu einem Überfall auf Schloss Runkelstein aufbricht, wohin die Manuskript-Konvolute für die beiden letzten Bände von Marxens Kapital verschleppt wurden. Das Urumi-Schwert bildet also, obwohl weder figural noch thematisch mit dem Haupttext des Romans verwoben, einen wichtigen Bestandteil seiner Figurenmotivation.

Das goldene Osterei liegt hier erstmals in gedruckter Form vor. 2019 erschien es auf CD als Hörspiel und exklusives Easter-Special für den Hörbuch-­Verlag ­WinterZeit. An dieser Stelle möchte ich unbedingt ­meinem langjährigen Kollegen, Mitarbeiter und Freund Dr. Jost Hindersmann für die Idee mit den Handtüchern in den Palastfenstern besonders danken!

Mit Das Rätsel der Schildkrötensuppe von Uwe Niemann schließlich erfüllt sich mir ein lange gehegter Wunsch: Ich wollte den Verfasser des schönen Sherlock-Holmes-Pastiches Das Rätsel der eiskalten Hand unbedingt als Beiträger zu einer Anthologie gewinnen. Dies ist nun geschehen, und ich danke Dr. Niemann für die Bereitschaft, mir seine Geschichte zu überlassen.

Viel Vergnügen also mit diesen Pastiches, die natürlich wie immer aus dem Nachlass von John H. Watson, M.D. stammen!

Klaus-Peter Walter



Sherlock Holmes und das Rätsel der Schildkrötensuppe

Uwe Niemann


Bei Niederschrift meiner vielfältigen Abenteuer, die ich mit meinem Freund und Mentor Sherlock Holmes in so großer Zahl erleben durfte, habe ich mich oft gefragt, welche besonderen Eigenschaften ihn dazu befähigten, allein durch die Kraft seines überragenden Geistes und nur selten durch Einsatz seiner nicht zu unterschätzenden körperlichen Kraft so unglaubliche Taten zu vollbringen. Natürlich spielte seine hohe Intelligenz eine Rolle, die ihn durch Anwendung präziser Logik komplizierte Rätsel lösen ließ, während das Niveau seiner Allgemeinbildung doch zu wünschen übrig ließ. Dabei sollte ich besser sagen, dass sein allgemeiner Kenntnisstand beachtliche Lücken aufwies, während er auf anderen Gebieten wie der Chemie und Pharmazie mit der Toxikologie oder der Medizin mit der Pathologie über ein glänzendes Wissen verfügte, das weit über die Fähigkeiten eines gebildeten Laien hinausging. Anderes interessierte ihn kaum, der moderne psychologische Roman französischer Provenienz öde ihn an, wie er mir einmal gestand, denn das Leben schreibe die besten Romane. Mit der Malerei und den Anforderungen der ästhetischen Wahrnehmung schien er mir völlig überfordert, denn als ich ihn einmal in London in eine Ausstellung moderner Malerei mitnahm, war er gelangweilt und erlaubte es sich, mit einem seiner langen Finger auf der Oberfläche eines sehr farbigen Ölgemäldes herumzukratzen, um der chemischen Zusammensetzung der verwendeten Farben auf die Spur zu kommen. Natürlich wurden wir der Galerie verwiesen.

Diese Analyse trifft jedoch vermutlich nicht den wahren und inneren Kern von Holmes‘ außerordentlicher Persönlichkeit. Wie auch dieser Bericht zeigen wird, war es vermutlich seine Fähigkeit, kleinste Details einer Ermittlung mit anderen offensichtlichen Indizien eines Falls in Verbindung zu setzen, um schließlich eine erstaunliche Lösung zu präsentieren, wobei sich die anderen Beteiligten fragten, warum nicht auch sie auf die Erkenntnis von so etwas Banalem gekommen waren. Bei einer Ermittlung, über die später in aller Ausführlichkeit zu berichten sein wird, und die das Vereinigte Königreich einige Wochen in Atem hielt, vermochte er die Struktur eines Knopfes, den er am Tatort fand, mit einer jahrhundertealten schottischen Familiengeschichte in Verbindung zu bringen und konnte damit die Identität eines unbekannten Mordopfers, das einem perfiden Plan erlegen war, auf glänzende Weise klären. Die folgende Geschichte zeigt aber auch, wie recht Holmes mit seiner Mahnung hatte, nicht nur das Offensichtliche zu analysieren, sondern sich auch zu fragen, was an einem Tatort nicht vorhanden oder anders war als sonst.

Das Frühjahr und der Sommer des Jahres, aus dem ich berichten will, waren für Holmes und mich ungewöhnlich ruhig verlaufen. Er ging Beschäftigungen nach, die mir manchmal sonderbar, wenn nicht abstrus erschienen, und die seinem ungeordneten Wissensdrang geschuldet waren. Nahezu auf sich gestellt, hatte er die Entführung der jüngsten Tochter des Earls of Kildane beendet, die sich schließlich als eine Art Schmierenkomödie im Umkreis der Familie entpuppte und die Holmes eher als Fingerübung denn als ernsthafte Herausforderung betrachtet hatte. Doch der Earl hatte sich bei seinem Honorar als überaus generös erwiesen und Holmes einen Besuch abgestattet, um ihm seinen tief empfundenen Dank auszusprechen. Ich war bei dem Gespräch zufällig anwesend und erfuhr so, dass uns der glückliche Vater für den Herbst dieses Jahres zu der berühmten Treibjagd auf seinen schottischen Landsitz einlud. Nun bin ich nach meinen Kriegserfahrungen kein Freund von Gewehrsalven und Pulverdampf, ja, ich erwache immer noch schweißgebadet aus Albträumen mit kriegerischen Verwicklungen. Und Holmes schätzte die gesellschaftlichen Verpflichtungen, die sich nun einmal aus solchen Einladungen ergaben, überhaupt nicht, denn sie störten seinen Tagesablauf, der sich so sehr von dem anderer Menschen unterschied. Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse seiner Mitmenschen und gesellschaftliche Konventionen waren ihm fremd, und er war durchaus in der Lage, sich in größerer Gesellschaft einen Sessel ans Fenster oder an den Kamin zu stellen, in Schweigen zu verfallen und einzuschlafen.

So ging ich auch diesmal davon aus, dass Holmes die Einladung ablehnen würde, doch zu meiner großen Überraschung sagte er zu, vielleicht, weil sie vom Earl mit viel Charme und Freundlichkeit vorgebracht wurde. Wir fuhren also Anfang Oktober für eine Woche nach Schottland.

Ein langer warmer Sommer war nahtlos in einen goldenen Herbst übergegangen, das Laub der Wälder bot ein unglaubliches Farbenspiel, ohne vom sonst so drückenden Nebel überdeckt zu werden, und auf den einsamen und abgeholzten Hochflächen in Schottland standen die Kriechgewächse des Bodens, Heide und Ginster, noch in voller Blüte. Unsere Reise nach Schottland war erstaunlich bequem, dauerte jedoch länger als erwartet, denn Holmes hatte Zugverbindungen herausgesucht, die uns auf verschlungenen Wegen durch das Vereinigte Königreich führten, das lästige Umsteigen aber nahezu vollständig vermieden.

Darrick Castle, Landsitz und Jagdschloss des Earls, stand auf einer schmalen Landzunge in Loch Less, das mit seinen gezackten Ufern und schmalen Buchten einige Dutzend Meilen lang war, während seine Breite an der engsten Stelle in einer halben Stunde mittels eines Ruderbootes überwunden werden konnte. Die Umrundung des Sees auf seinem geschlängelten Uferweg, der ständig Höhen und Tiefen überwand, erforderte sicher einige Tage intensives Wandern mit guter Ausrüstung. Darrick Castle lag sehr einsam, doch der Earl of Kildane hatte keine Mühen und Gelder gescheut, die Annehmlichkeiten unserer städtischen Zivilisation in diese malerische Einöde zu holen, sodass sogar warmes Wasser zur Körperpflege ständig bereitgehalten wurde. Wer einmal Fremde in seinem eigenen Anwesen bewirtet hat, weiß, welchen Aufwand es bedeutet, die über einhundert Mitglieder einer Jagdgesellschaft über Tage hinweg mit allem zu versorgen, was anspruchsvolle Gäste nun einmal erwarten. Doch Vorratsräume und Keller in Darrick Castle waren prall gefüllt, und das gut geschulte Personal schaffte es, die unvermeidlichen kleinen Störungen im Ablauf der Jagdwoche auszugleichen, ohne dass Verzögerungen das Ereignis gefährdet hätten.

Die natürliche Feinfühligkeit von Lord Kildane, der den unausgesprochenen Wunsch von Holmes und mir verstanden hatte, von den übrigen Mitgliedern der Jagdgesellschaft in gewissem Maße abgesondert zu sein, verschaffte uns eine Unterbringung in einem abgelegenen Seitenflügel des Schlosses, den eine Tante der früh verstorbenen Gattin des Lords bis zu ihrem Tod bewohnt hatte. Dort wurden wir von extra für uns abgestelltem Personal bewirtet. Wenn auch die überladene Einrichtung dieser Flucht von Räumen nicht unserem Geschmack entsprach, so war sie doch behaglich genug, um uns von der überwältigenden Gastlichkeit von Darrick Castle zu überzeugen. Lord Kildane hatte uns bei der Begrüßung völlig freie Hand bei der Gestaltung unseres Aufenthaltes zugesichert und uns nur gebeten, an den Abendveranstaltungen am Beginn und am Ende der Jagdwoche teilzunehmen, da sie einen besonderen Höhepunkt der Festwoche boten. Natürlich verstanden Holmes und ich, dass wir der Jagdgesellschaft als besondere Ehrengäste präsentiert werden sollten, und ich präparierte während der Zugfahrt eine kurze Erzählung aus dem reichen Fundus unserer Abenteuer, die ich bei diesem Anlass zum Besten geben könnte – sollte ich dazu aufgefordert werden.

Wir hatten Darrick Castle am frühen Nachmittag erreicht, und der sonnige Tag versprach eine goldene Abendstimmung über den Hügeln und dem See, sodass ich Holmes zu einem Spaziergang aufforderte, der auch dazu dienen sollte, die Umgebung des Schlosses ein wenig zu erkunden. Unsere Wohnung im Schloss hatte einen eigenen Eingang, und wir konnten unbemerkt von der übrigen Gesellschaft ein und aus gehen. Holmes‘ Stimmung war während der Reise ungewohnt heiter und aufgeräumt gewesen, wobei mich sein sprunghafter Wechsel unserer Gesprächsthemen vermuten ließ, er habe einer seiner stimmungsaufhellenden Drogen mehr als sonst zugesprochen. Doch als wir unser Apartment in Darrick Castle erreichten, wurde er mürrisch und schweigsam. Er streifte durch die Zimmerflucht, ohne sich um das Gepäck zu kümmern, fand schließlich einen Lehnsessel, der entfernte Ähnlichkeit mit dem aus der Baker Street besaß, schob ihn vor einen Erker mit tiefen Fenstern und versenkte sich in ihm.

Ich wusste, dass man ihn in dieser Gemütsanwandlung nicht stören oder gar anreden durfte, überwachte das Ausräumen unserer Koffer und wartete, bis nach einer Weile Rauchkringel aus seiner geliebten Pfeife zur Decke aufstiegen.

Der Erker im Wohnraum unseres Apartments lag nach Süden, und wir konnten durch die Fenster über den See auf das gegenüberliegende Ufer blicken, das zum Greifen nahe schien. Drüben lag Corbyn Abbey, ein grauer, mächtiger und Furcht einflößender Bau mit zahllosen Giebeln und Schornsteinen, dessen Mauerwerk an vielen Stellen von Efeu überwuchert war. Die früheren Bewohner, Mönche eines mir unbekannten Ordens, hatten die Abtei längst verlassen, und ich hatte auf der Hinfahrt von Holmes erfahren, dass die riesige, verwinkelte Anlage von einem überaus reichen Industriellen, Sir Soames Carlyle, und seiner jungen Frau bewohnt wurde. Mir schien das Bauwerk einem Gefängnis zu gleichen, und ich staunte über den Gegensatz zwischen der Lebhaftigkeit von Darrick Castle und der Totenruhe der Abtei, denn außer einer schmalen Rauchfahne an einem der Schornsteine kündete kein anderes Zeichen von Leben in diesem steinernen Palast.



Meine Betrachtung unserer Umgebung wurde von Holmes‘ Stimme unterbrochen, die dumpf und unheilschwanger aus den Tiefen des Sessels zu mir drang. „Watson, ich fühle, dass etwas geschehen wird und wir bald aufs Äußerste gefordert sein werden.“ Zur Untermauerung seiner Worte ließ er die Knöchel seiner Finger einzeln knacken, bei ihm ein Zeichen höchster nervöser Anspannung.

In früheren Jahren hätte ich auf eine derartige ungenaue Prophezeiung geantwortet, dass im Leben in jedem Augenblick etwas geschieht, ja, dass dies geradezu eine Eigenschaft des Lebens sei und deshalb seine Ahnung nichts bedeute, aber ich war aus der Erfahrung mit Holmes vorsichtiger geworden. Allzu oft hatte er mit seinen zunächst nebulösen Ankündigungen recht gehabt. Vielleicht erlaubte es ihm der besondere Bau seines wahrnehmenden Nervensystems, Spannungen im allumfassenden Äther zu entdecken, die von anderen Menschen ausgelöst wurden, den Normalsterblichen aber verborgen blieben, so wie manche Hunde Geruchsspuren entdecken, die von der menschlichen Nase nicht wahrgenommen werden können. Doch ich verliere mich in Spekulationen. Zu weiteren Erklärungen ließ Holmes sich nicht bewegen, und er blieb schweigsam, ja, geradezu abweisend, bis wir uns zum Abendessen umkleideten.

Die riesige Tafel in der großen Halle von Darrick Castle war bis auf den letzten Platz eingedeckt. Kristallgläser und Silber glänzten im Kerzenschein der Deckenleuchter, und in großen ovalen Silberschalen stellten Tischdekorationen auf Moos mit Holzfiguren Jagdszenen nach. Auf der Empore hatte ein Streichorchester Aufstellung genommen, das mit eingängigen Melodien die Pausen zwischen den Gängen verkürzen sollte. Lord Kildane hatte an dem einen Ende der Tafel Platz genommen, und der Stuhl zu seiner Linken war aus liebevoller Pietät freigelassen und mit einem Bild der verstorbenen Ehefrau geschmückt worden. Rechts neben ihm saßen seine ­beiden gerade erwachsen gewordenen, noch unverheirateten Söhne, deren körperliche Vorzüge bei geringen geistigen Gaben sie befähigen sollten, eines Tages in den Militärdienst einzutreten, wie ihr Vater mir verriet.

Zwischen Holmes und mir hatte man General Gravestone platziert, einen alten Haudegen aus den afrikanischen Kolonialkriegen, der mich in ein Gespräch über die Notwendigkeit, das Mutterland des Empires von Kontinentaleuropa abzuschotten, zu verwickeln trachtete. Ich antwortete ihm, dass ich als zivilisierter Mensch italienischen Belcanto, deutsche Philosophie und französisches Essen sehr schätzte und mich an keine derartige Hervorbringung in unserer Heimat erinnern könnte.

„Unsinn, Watson“, brummte er ärgerlich, „bin mit Porridge und Bier zum Frühstück groß geworden, brauche keine Froschschenkel.“

Ich dachte, dass es zu einer Annäherung so verschiedener europäischer Kulturen noch ein weiter Weg sei. Mein Tischnachbar wandte sich dann aber an Holmes, der ein so schlüpfriges Terrain als Gesprächsthema mied und ihn über die neuesten chemischen Errungenschaften bei der Artillerie befragte.

Die Suppe war gerade aufgetragen worden, eine köstliche Melange aus Portwein, Sahne, Wachtelbrüsten und den essbaren Innereien dieser so harmlosen und possierlichen Vögelchen, als wir aus der Eingangshalle laute und erregte Stimmen hörten. Lord Kildane war zunächst geneigt, diese ungebührliche Störung nicht zu beachten, gab dann aber seinem Diener, der hinter ihm stand und nur für die Bedienung der Familienangehörigen am Ende der Tafel abgestellt war, zu verstehen, dass er auf möglichst dezente Weise nach der Ursache der Aufregung sehen möge. Seinem Butler, der über die Jahre hinweg auf erstaunliche Weise seine Physiognomie der seines Herrn angenähert hatte, war jede Hektik in Gestik und Mimik fremd. Er entfernte sich mit präzise abgemessenen Schritten, die dem Takt einer Pendeluhr hätten entstammen können. Schnell verstummten die Stimmen in der Halle, und der Butler kehrte so würdevoll zurück, wie er gegangen war. Auf einem silbernen Tablett präsentierte er seinem Herrn einen Umschlag. Lord Kildane öffnete und überflog ihn und zögerte nicht, Holmes und mich in eines der Nebenzimmer der großen Halle zu bitten, das für die letzte Zubereitung der Speisen genutzt wurde. Unser Weggang wurde kaum beachtet, denn die Suppentassen wurden abgeräumt, die Gespräche setzten wieder ein, und das Orchester spielte Walzer.

„Leider muss ich Sie bitten, meine Herren“, begann er und schien ehrlich betrübt zu sein, „unsere Abend­gesellschaft unverzüglich zu verlassen und trotz der fortgeschrittenen Stunde einen Auftrag anzunehmen.“

Über Holmes‘ Züge huschte der Hauch eines Lächelns, mit dem er die Korrektheit seiner Vermutung vom Nachmittag, ohne zu triumphieren, bestätigt sah. Ich will den Inhalt von Lord Kildanes Worten und die genauso umständliche Formulierung aus dem Brief nicht in allen Einzelheiten wiedergeben, sondern zusammenfassen.

Am frühen Abend des gestrigen Tages war Sir ­Carlyle im Speisesaal von Corbyn Abbey auf dem Boden liegend tot aufgefunden worden. Man hatte dieser Tatsache zunächst wenig Bedeutung geschenkt, denn Sir Carlyle war seit einem Schlaganfall vor einigen Jahren an den Rollstuhl gefesselt und zusehends gebrechlicher geworden. Der Hausarzt war gerufen worden und hatte keine Zweifel am natürlichen Tod seines Patienten geäußert. Doch am heutigen Mittag war eine überraschende Wendung eingetreten. Polizei war plötzlich in Corbyn Abbey aufgetaucht, hatte die Wohnräume durchsucht und schließlich die junge Frau von Sir Soames, Lady Sarah Carlyle, unter dem Verdacht verhaftet, ihren Mann mit einem schnell wirksamen Gift umgebracht zu haben. Der Brief stammte von Reverend Pearson, einem viele Jahre älteren Halbbruder von Lady Carlyle, der sich gleich nach ihrer Verhaftung nach Corbyn Abbey aufgemacht und wohl auf verschlungenen Wegen von unserer Anwesenheit auf Darrick Castle erfahren hatte.

„Reverend Pearson ist ein alter Vertrauter, um nicht zu sagen, Freund unserer Familie“, fuhr Lord Kildane fort, „der mir in den trüben Stunden während des Siechtums meiner Frau zur Seite stand, ihr geistlichen Beistand leistete und sich nicht scheute, zu jeder Tages- und Nachtzeit zu kommen, wenn wir seiner bedurften. Deshalb kann ich es nicht übers Herz bringen, ihm nicht zu helfen, wenn er so dringlich darum bittet.“

Der flehentliche Ton des Briefes war mir nicht entgangen. Ich schaute Holmes fragend an, doch er beachtete mich nicht, sondern ergriff die Hand von Lord Kildane und hatte bereits eine Entscheidung getroffen. „Eure Lordschaft können versichert sein, dass wir alles Menschenmögliche tun werden, um uns noch heute Nacht einen Eindruck von den Ereignissen in Corbyn Abbey zu verschaffen. Wenn Lady Carlyle zu Unrecht beschuldigt wird, werden wir ihre Unschuld beweisen, doch sollte sie schuldig sein“, seine Stimme wurde besonders ernst und bedeutungsschwer, „dann werden wir sie der irdischen Rechtsprechung überlassen.“

„Natürlich Holmes, natürlich. Anderes habe ich nicht erwartet“, erwiderte Lord Kildane. „Doch mein Gefühl sagt mir, dass Lady Carlyle so unschuldig ist wie jeder von uns. In früheren Zeiten, als es der Gesundheitszustand von Sir Soames erlaubte, haben wir uns öfter und zwanglos in kleinem Kreise entweder hier oder drüben in Corbyn Abbey getroffen. Es mögen anfangs schwere Jahre für die junge Frau in diesem alten und kalten Gemäuer gewesen sein, aber später hat sie sich mit Hingabe der Pflege ihres Mannes gewidmet, der um so vieles älter war, ja, man kann sagen, dass sie dies zu ihrer eigentlichen Lebensaufgabe gemacht hatte. Ihre Treue war über alle Zweifel erhaben, sie hat trotz ihrer bemerkenswerten Schönheit und Jugendlichkeit allen Anfechtungen widerstanden, und niemals vermochten ihr noch die bösesten Klatschzungen, eine Liebelei oder Affäre anzuhängen“, ergänzte Lord Kildane, als hätte er unsere Gedanken erahnt.

Bei mir dachte ich, dass trotz der hinreißenden Schönheit von Lady Carlyle die weltabgeschiedene Lage der Abtei und die Lebensumstände hinter diesen grauen Klostermauern wohl jeden Liebhaber abgeschreckt hätten.

Holmes fing an, ungeduldig zu werden und riet zu baldigem Aufbruch. „Sollte ich jemals, meine Herren, ein Lehrbuch der Kriminalistik herausbringen, so wird das erste Kapitel eine Ausführung über den Grundsatz sein, dass die frühzeitige Inaugenscheinnahme des Tatorts von elementarer Bedeutung für die weiteren Ermittlungen ist. Die Zeit verwischt so viele Spuren, und wir dürfen nicht vergessen, dass seit dem Ableben von Sir Soames schon vierundzwanzig Stunden vergangen sind. Also, Watson, Beeilung. Wir holen unsere Mäntel und Stöcke. Für das Ablegen der Abendgarderobe und den Wechsel auf bequemere Kleidung bleibt keine Zeit. Beeilung, Beeilung. In fünf Minuten am Hauptportal.“

Ich stimmte zu, verneigte mich vor Lord Kildane, der zur Gesellschaft zurückkehrte, und traf in aller Kürze die notwendigen Vorbereitungen für unsere nächtliche Exkursion.



Natürlich hatte ich mich gefragt, wie wir am späten Abend und in voller Dunkelheit Corbyn Abbey erreichen sollten, doch die Antwort stand vor dem Portal von Darrick Castle und wartete auf uns. Zwei kräftige Männer lehnten an den Säulen und rauchten in aller Seelenruhe ihre Pfeifen. Als sie uns bemerkten, nahmen sie zwei hell leuchtende Laternen vom Boden auf und winkten uns, ihnen zu folgen. Wir gingen über die riesige Rasenfläche, die Darrick Castle wie ein Teppich umgab, und erreichten bald das Seeufer mit einem Steg aus Eichenbohlen, wo ein Ruderboot lag. Unsere beiden Begleiter, Stallknechte von Corbyn Abbey, die wie Brüder wirkten, tatsächlich aber Vater und Sohn waren, setzten sich auf die Ruderbank, hielten das Boot ruhig am Steg, bis wir Platz genommen hatten, und legten sich dann mächtig ins Zeug, um uns schon mit einigen wenigen kräftigen Ruderschlägen vom Ufer zu entfernen. Meine Hände wären nach kurzer Zeit vom rauen Holz der Rudergriffe wund geworden, doch ihren mächtigen Pranken schien das nichts auszumachen.

Die Nacht war für diese fortgeschrittene Jahreszeit seltsam klar und wenig kühl, und es war kaum ein Windhauch zu spüren. Silbrig stand der Mond am Himmel, spiegelte sich in der Wasseroberfläche des Sees, und seine Ränder waren so scharf gezeichnet, als wären sie mittels einer Schablone ausgeschnitten. Das Ufer des Sees mit seinem dichten Bewuchs aus Nadelbäumen war in Dunkelheit versunken.

Bald hatten wir die Mitte des Sees erreicht, und ­Corbyn Abbey mit seinen wenigen beleuchteten Fenstern kam sichtbar näher, als eine merkwürdige Veränderung bei unseren Ruderern vorging. Sie zogen die Ruder ein, blickten sich sorgenvoll um und schienen sich ins Boot zu ducken. Plötzlich tauchte eine schmale Nebelwand auf, aus der sich kreiselnde Luftwirbel lösten und gegen den Himmel stiegen, so als würde ein magisches, unsichtbares Wesen im See dampfige Atemluft ausstoßen. Vater und Sohn schienen erstarrt, bekreuzigten sich und bedeuteten uns, zu schweigen. Die Geschwindigkeit des Bootes war hoch genug, um die Nebelbank nahezu geräuschlos zu durchqueren, und nach wenigen Minuten nahmen die Ruderer ihre monotone Tätigkeit wieder auf. Ich neige nicht zu Ängstlichkeit, doch die offensichtliche Besorgnis dieser beiden gestandenen Männer jagte mir kurz einen eisigen Schauer über den Rücken.

Am Seeufer vor Corbyn Abbey wurde das Ruderboot sicher vertäut, und Holmes und ich wollten uns aufmachen, den kurzen Weg zu unserem Ziel ohne fremde Hilfe zurückzulegen, doch unsere Begleiter forderten uns auf, zwischen ihnen zu gehen. Nach kurzer Zeit wusste ich warum, denn zwischen dem See und der Abtei lag morastiges Gelände, das einem Fremden in der Dunkelheit zum Verhängnis werden konnte. Doch dank unserer Helfer und ihrer kräftigen Laternen erreichten wir den Wohnsitz von Sir Carlyle nahezu trockenen Fußes und mit wenig durchnässten Hosenaufschlägen.

Lord Kildane hatte uns den Eindruck vermittelt, die Abtei sei bewohnt und mit Leben erfüllt, doch als wir ankamen, sahen wir, dass Sir Carlyle nur das Haus des Abtes für sich umgebaut hatte, das abseits lag und über einen halb offenen Säulengang mit der Klosteranlage verbunden war, während die Gebäude um den Kreuzgang mit ihren grauen Mauern, winzigen Fenstern und Schiefer­dächern in majestätischer, unangetasteter Strenge dalagen wie schon vor Jahrhunderten, als sie von Mönchen eines mir unbekannten Ordens bewohnt wurden. Hier war in der Schreibstube vor unvorstellbar langer Zeit das Book of Saints geschaffen worden, noch heute der ganze Stolz unserer Nationalbibliothek.

In der Eingangshalle des Abthauses wartete Reverend Pearson, der Halbbruder von Lady Carlyle, um uns zu begrüßen und trotz der fortgeschrittenen Stunde einen Abriss der Ereignisse zu geben. Er war ein mittel­großer schlanker Mann mittleren Alters, schon weitgehend ergraut, dessen scharfgeschnittenes, nahezu asketisches Gesicht zusammen mit den kühl blickenden Augen die hohe Intelligenz verriet, die ihn im Laufe der kommenden Jahre in die höchsten Ränge seiner Glaubensgemeinschaft aufsteigen lassen würde. Er nahm uns selbst die Mäntel ab und erklärte, er habe das Personal nach den aufregenden Ereignissen der letzten Stunden zu Bett geschickt. In der Bibliothek mit ihrem gemütlichen Kaminfeuer wurde warmer Tee bereitgehalten, der uns die Unbilden unserer kurzen Anfahrt bald vergessen ließ, und wir schoben zwei mächtige Ledersessel in die Nähe des wärmenden Feuers.

Der Reverend versuchte, die anfänglich bedrückende Stille nach den Begrüßungsfloskeln durch einige allgemeine Bemerkungen zum Wetter und zur politischen Lage zu beenden, doch Holmes unterbrach ihn höflich, aber bestimmt. „Es tut mir leid, wenn ich Sie unterbreche, Reverend Pearson, doch wir benötigen als Erstes eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse, die sich gestern und heute hier zugetragen haben.“ Holmes betonte das Wort kurze besonders. „Danach müssen wir unbedingt noch in der Nacht den Fundort von Sir Carlyles Leiche in Augenschein nehmen.“

Ich bemerkte, dass Holmes das Wort Tatort vermied, denn noch war nichts über den Hergang des Ablebens des Hausherrn bekannt.

„Natürlich, meine Herren, natürlich“, antwortete Reverend Pearson mit Erstaunen im Gesicht, da er Widerworte vermutlich nicht gewohnt war. „Sie sollten aber wissen, dass ich auch heute erst im Tagesverlauf angekommen bin und deshalb manches nur vom Hörensagen erfahren habe.“

Holmes nickte und konnte seine Ungeduld nur mühsam verbergen.

„Gestern wurde am späten Nachmittag, also gegen 17 Uhr, Sir Carlyle tot aufgefunden. Sein Diener fand ihn vor dem großen Speisetisch im Refektorium auf dem Boden liegend und konnte keine Lebenszeichen mehr feststellen. Sie müssen wissen, dass Sir Soames darauf bestanden hat, diesen riesenhaften Raum als Speisesaal zu nutzen, obwohl dort nur für ihn und seine Frau, meine Halbschwester, gedeckt wurde. Seit seinem Schlag­anfall kamen keine Gäste mehr nach Corbyn Abbey, denn seine Krankheit hatte ihn menschenscheu und abweisend gemacht. Meine Schwester war an diesem schönen Tag ausgeritten und hatte sich verspätet. Als sie zurückkehrte, saß ihr Mann bereits am Tisch und knurrte, sie solle sich mit dem Umkleiden beeilen, wie mir sein Diener berichtete. Als sie aus ihren Gemächern zurückkam, sie bewohnt den westlichen Teil der ersten Etage, während Sir Soames wegen seiner Behinderung das Erdgeschoss nutzt, fand sie einen Teil der Dienerschaft wie erstarrt um den Entseelten stehen, und niemand mochte etwas sagen.“ Der Reverend erhob sich, legte Holzscheite im Kamin nach und fuhr nach einer kurzen Pause mit seiner Erzählung fort. „Zum Glück ist meine Schwester weniger lebensfremd, als man angesichts ihrer Jugend zunächst glauben möchte, denn sie ist auf einem großen Landgut aufgewachsen, auf dem sich nun einmal die natürlichen Lebensvorgänge nicht verbergen lassen. Sie befahl, die Leiche ihres Mannes an Ort und Stelle zu belassen und nur angemessen zu bedecken. Am nächsten Morgen würde der Hausarzt von Sir Carlyle auf seiner wöchentlichen Runde auch in Corbyn Abbey Station machen und könnte dann den Tod des Hausherrn feststellen. So geschah es dann. Dr. Blackwater erschien heute Vormittag pünktlich bei seinem langjährigen Patienten, war wenig erstaunt über dessen Ableben und hatte keinerlei Zweifel an seiner natürlichen Todesursache. Meine Schwester gab erste Anordnungen für die würdevolle Aufbahrung des Toten und plante das Begräbnis, wobei zu bemerken ist, dass Sir Soames bis auf einen Sohn aus erster Ehe, Frederik, mit dem er sich vor langer Zeit überworfen hat, keine weiteren näheren Angehörigen besitzt. Alles schien also in bester Ordnung, wie mir das Personal versicherte, bis plötzlich gegen Mittag ein Inspektor aus Kirkdeen mit einem großen Polizeiaufgebot erschien, die Leiche von Sir Carlyle beschlagnahmte und eine Hausdurchsuchung anordnete. Meine Schwester erfuhr nur so viel, dass der Inspektor, ich glaube, er heißt McGregor, einen anonymen Brief erhalten habe, in dem sehr detailliert dargelegt wurde, wie Sir Soames durch ein schnell wirkendes Gift zu Tode gekommen ist. Meine Schwester wurde unter Aufsicht gestellt und – es wird Sie nicht wundern – man fand tatsächlich in ihrem Schlafgemach ein Fläschchen mit einer absolut todbringenden Substanz, allerdings so laienhaft versteckt, dass es jedermann auffallen musste. Also wurde sie verhaftet und sogleich in Begleitung des Inspektors nach Aufklärung über ihre Rechte nach Glimerick ins Gefängnis gebracht. Ob es Zufall oder Fügung war, meine Herren, ich befand mich zur selben Zeit in Glimerick, wo eine Sitzung unserer Glaubensgemeinschaft stattfindet, erhielt ihren Hilferuf und durfte sie auf Vermittlung eines hohen kirchlichen Würdenträgers kurz sprechen. Sie war von unglaublicher Ruhe, erbat nichts für sich und wünschte nur, dass ich nach Corbyn Abbey gehen und nach dem Rechten sehen sollte. Ihre Anwesenheit, Mr Holmes und Mr Watson, auf Darrick Castle ist nicht geheim geblieben, deshalb kam es mir sogleich in den Sinn, Sie über Lord Kildane um Hilfe zu bitten. Mehr kann ich Ihnen zum Sachstand im Augenblick nicht sagen, aber Sie werden Fragen haben.“

Holmes blieb eine Weile stumm, lehnte sich in seinem Sessel vor, stützte das Kinn auf seine Hände und blickte den Reverend unverwandt an. „Hochwürden“, sagte er schließlich, „Sie werden jetzt einen ersten Eindruck meiner Ansichten zu diesem Fall hören wollen. ­Entweder haben wir es hier mit einer perfiden Verschwörung zu tun, oder Ihre Schwester hat geglaubt, in der Einsamkeit von Corbyn Abbey ein perfektes Verbrechen planen zu können. Ich kann Ihnen versprechen, eine der beiden Alternativen werden Watson und ich beweisen, auch wenn wir dabei ungewöhnliche Wege einschlagen müssen und Ihnen die Auflösung des Falls ungebührlich lange erscheinen mag. Doch glauben Sie mir, jeder unserer Schritte erfüllt seinen geheimen Sinn auf dem Weg zum Ziel.“

Der Reverend erschien wegen dieser ziemlich kryptischen Ankündigung etwas indigniert und fuhr fort: „Vielleicht sollte ich Ihnen, Mr Holmes und Mr Watson, noch einige Informationen über die Herkunft meiner Schwester und meiner Wenigkeit geben. Ich bin im Süden unseres Landes aufgewachsen, wo mein Vater, Gott hab ihn selig, in einer Kleinstadt eine Privatschule betrieb. Obwohl schon älter, hatte er eine sehr junge Frau geheiratet, und er war mir ein Vater voller Güte und Liebe, doch konnte er mich beim Heranwachsen nicht begleiten, denn eines Tages raffte ihn ein Fieber ohne allzu viel Widerstand dahin. Verständlicherweise konnte meine Mutter die Schule allein nicht am Leben erhalten, verkaufte alles mit wenig Gewinn und entschloss sich schließlich, einen entfernten Cousin, nämlich Sir Charles Lyndon, zu heiraten. Sie zog mit ihm auf dessen Landsitz und brachte noch eine Tochter zur Welt, Sarah, meine Halbschwester, obwohl kaum jemand damit gerechnet hatte. Mein Stiefvater war das Gegenteil meines leiblichen Vaters, ein Hasardeur und Spieler, eigentlich nicht bösartig, aber unstet und launisch. Ich war ihm zuwider, denn ich ertrug seine Eskapaden mit anklagender Gelassenheit, und er war froh, mich aus dem Haus zu haben, als ich früh ankündigte, die geistliche Laufbahn einzuschlagen, wozu ein kleines Legat einer entfernten Tante die materielle Basis bot. Doch mit den Jahren wurde Sir Lyndon immer wüster, verspielte das Vermögen und die Ländereien, und alle wären im Armenhaus gelandet, hätte Sir Carlyle sich nicht bereit erklärt, die Schulden zu zahlen, wenn meine junge, überaus schöne Halbschwester ihn heiraten und nach Corbyn Abbey ziehen würde. Mein Stiefvater war bereit zu diesem Handel, und meine arme Mutter hatte sich längst mit ihrem Schicksal abgefunden und wagte keinen Widerstand. Die Ehe war pro forma eingegangen worden, wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will, meine Herren, denn Sir Carlyle war früh gealtert, und die ersten Zeichen seiner späteren Hinfälligkeit waren unübersehbar.“ Noch einmal legte der Reverend Scheite im Kamin nach. „Was mich aber all die Jahre in Erstaunen versetzt hat, war die Tatsache, dass meiner Schwester das Leben in Corbyn Abbey zu gefallen schien. Sie war bei den Dienstboten gut gelitten, übernahm mehr und mehr die Führung des Haushalts und des zugehörigen Gutes und genoss die langen Ausritte in die einsame Umgebung. Ich habe sie ein paarmal hier besucht und niemals den Eindruck gehabt, sie sei unglücklich und suche Zerstreuung in den Anfechtungen, die unser Leben nun einmal für junge Menschen bereithält. Aber ihr Ruf war über jeden Zweifel erhaben.“

Holmes erhob sich, und ich tat es ihm gleich. „Wir danken Ihnen für diese Zusammenfassung des Geschehens und der Lage, Reverend, doch müssen wir trotz der fortgeschrittenen Stunde darauf bestehen, den Fundort der Leiche zu besichtigen. Können Sie uns bitte den Speisesaal zeigen?“

„Leider gibt es dabei ein Problem, meine Herren.“ Der Reverend zögerte und suchte nach Worten, unserem Ansinnen zu widersprechen. „Die Polizei hat die Eingangstür zum Refektorium versiegelt, ich kann …“

Holmes wischte die Bedenken unwirsch mit einer lässigen Handbewegung beiseite. „Und ich kann nicht glauben, dass es nur einen Zugang zum Speisesaal gibt, in dem immerhin mehr als einhundert Menschen zu den Mahlzeiten Platz finden. Also sollten wir uns die übrigen Eingänge ansehen. Ich denke nicht, dass die Polizei sich die Mühe gemacht hat, alle zu versiegeln.“

„Natürlich haben Sie recht, Holmes, ich werde meine Bedenken hintanstellen müssen, wenn es um den Unschuldsbeweis meiner Schwester geht. Folgen Sie mir bitte. Ich muss nur schnell den großen Schlüsselbund für die Kirchentür holen, der in einem Extraschrank in der Halle verwahrt wird, da man ihn im Haus selten braucht.“

Wir gingen durch den Kreuzgang, durch dessen Bogenfenster das Mondlicht schien, und mussten aufpassen, nicht über die Kanten der Steinplatten zu stolpern, die im Laufe der Jahre abgesackt waren. Der Reverend schloss eine Seitentür der Kirche auf und zündete eine Kerze an. Wir stiegen auf eine Empore, durchquerten das dunkle, geheimnisvolle Kirchenschiff, durchschritten eine sehr niedrige Holztür, die sich erst nach mehreren Versuchen mit einem rostigen Schlüssel öffnen ließ, und standen auf einer Art Balkon am westlichen Ende des Refektoriums, den wir über eine mächtige Steintreppe verließen.

Das Refektorium war ein mächtiger, völlig schmuckloser Raum, an dessen Seiten sich Fenster und Säulen mit Kapitellen voller Fratzen und Fabelwesen abwechselten, die im Flimmern der Kerzen nahezu lebendig wirkten. Es gab keine Zwischendecke, die Baumeister hatten einen offenen Dachstuhl wie einen umgedrehten Schiffsrumpf auf die Mauern gesetzt. Wenn man sich fragte, wohin Schottlands Wälder verschwunden waren, hier lag die Antwort.

Doch Holmes hatte für die Besonderheiten der Architektur keinen Blick, und mit zügigen Schritten näherte er sich dem westlichen Ende des Raums, dessen Zweck wir an einem riesigen Eichentisch erkannten, dessen Platte nur auf einer Schmalseite mit einem weißen Tischtuch bedeckt war. Hier war jeden Tag einem einsamen, kranken und alten Mann das Essen serviert worden, und hier hatte ihn gestern das Schicksal ereilt. Die Position der Leiche auf dem Boden konnten wir gut erkennen, denn sie war auf den Fliesen mit Kreide markiert, und man hatte seinen verwaisten Rollstuhl stehen gelassen, die Decke, die seine Beine bedeckt haben mochte, aber sorgsam gefaltet auf einen Stuhl gelegt. Ein Weinglas stand neben einer Suppentasse mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit, und das unbenutzte Besteck verriet die Zahl weiterer Gänge.

Mit seiner gewohnten Sorgfalt inspizierte Holmes jedes Detail. Er zeigte schließlich auf die Suppentasse, nahm sie in die Hand und schnupperte am Inhalt. „Schildkrötensuppe, Watson, wenn ich mich nicht irre. Was meinen Sie?“

Doch der Reverend kam mir mit einer Antwort zuvor.

„In der Tat, Holmes. Schildkrötensuppe. Die Lieblingsspeise von Sir Carlyle. Gab es fast jeden Abend. Er verdanke ihrer kraftvollen Zusammensetzung die Tatsache, dass er noch am Leben sei, meinte er, und die Köchin durfte die Zubereitung niemals ändern. Der Rotwein im Glas stammt übrigens aus Burgund, vorzüglicher Tropfen. Lagert in großen Mengen im Keller. Ich schlage vor, wir machen uns auf den Rückweg und gönnen uns drüben in der Bibliothek vor dem Kamin noch ein Schlückchen. Was halten Sie davon, meine Herren?“

Froh, dem kalten und unwirtlichen Gemäuer zu entkommen, stimmte ich sofort zu, doch Holmes schien unzufrieden. „Ich würde gern noch die Leiche von Sir Carlyle untersuchen, Reverend“, sagte er. „Wo ist sie denn aufgebahrt? In der Abteikirche habe ich nichts gesehen.“

„In der Tat, Holmes, sie ist nicht hier verwahrt, sondern in der kleinen Privatkapelle des Abthauses, die man von der Bibliothek aus erreicht. Aber es dürfte Schwierigkeiten geben. Der Inspektor hat zwei seiner Leute hiergelassen, um sie zu bewachen, und ihnen ausdrücklich in meinem Beisein untersagt, jemanden in die Kapelle zu lassen.“

Zu meinem Erstaunen gab sich Holmes mit dieser Erklärung zufrieden und verschob die Leichenschau auf den nächsten Morgen, wenn er sich die Erlaubnis des Inspektors eingeholt haben würde. Wir machten uns auf den Rückweg und saßen bald wieder in unseren Ledersesseln vor dem Kamin.

„Trägt Ihre Schwester übrigens eine Brille, Reverend?“, war Holmes‘ erste Frage nach einer längeren Pause.

„In der Tat, Holmes, doch wie kommen Sie darauf, und was spielt diese Tatsache für eine Rolle? Sie ist stark kurzsichtig, was nicht auffällt, wenn sie sich hier in ihrer gewohnten Umgebung bewegt, aber draußen und besonders bei ihren Ausritten muss sie zu ihrem Kummer eine Brille tragen. Für mich nur der geringe Makel einer sonst überwältigend perfekten Person.“

„Nur so eine Idee, Reverend, ein Gedanke, den ich im Augenblick nicht näher begründen kann.“ Holmes zog sich in die Tiefen seines Sessels zurück und schwieg, sodass ich endlich zum Zug kam und zwei Fragen stellen konnte, die mich schon die ganze Zeit bewegten.

„Verraten Sie uns, Hochwürden, woher der sagenhafte Reichtum von Sir Carlyle stammt und was es mit seinem Sohn auf sich hat, den er verstoßen hat.“

Der Reverend schaukelte das Burgunderglas eine Weile in seiner Hand, nahm einen guten Schluck von dem ­Rotwein und beantwortete mit müder und etwas gelangweilter Stimme meine Fragen. „Sir Carlyle stammt aus einer Familie anerkannter Naturwissenschaftler, aber er hatte sich von Jugend an der pragmatischen Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse verschrieben. Er erfand noch während des Studiums ein Verfahren zur Härtung von Stahl, das Sie in jedem Buch der Metallurgie finden und das nach ihm benannt ist. Doch er hielt es geheim und verkaufte das Patent nicht, sondern suchte Geld­geber für sein erstes Stahlwerk, und dann floss das Geld in Strömen. Aber geniale Männer haben häufig Söhne, die – wie soll ich sagen – aus der Art schlagen und nicht beabsichtigen, in die ohnehin viel zu großen Fußstapfen ihrer Väter zu treten.

Als Frederick zehn Jahre alt war, hat sein Vater ein chemisches Labor nur für ihn eingerichtet, aber der Junge war weder durch gute Worte noch durch Schläge dazu zu bewegen, sich an Tiegeln und Reagenzgläsern die Finger zu verbrennen. Mit sechzehn hat er eine ­Privataufführung des Sommernachtstraums veranstaltet und seine Kostümierung war durchaus – wie soll ich sagen – vieldeutig und gab zu gewagtesten Spekulationen Anlass. Vier Jahre später kam es dann zum endgültigen Bruch, und seitdem tingelt Frederick Carlyle unter einem mir nicht bekannten Künstlernamen als Schauspieler durch die Lande.“

„Haben Sie ihn je in Corbyn Abbey gesehen, Reverend?“, wollte Holmes wissen. „Und würden Sie ihn erkennen, wenn er vor Ihnen stünde?“

„Ich bin zu selten hier, Holmes, um diese Frage mit letzter Gewissheit zu beantworten. Ich glaube jedoch, einmal kurz auf ihn gestoßen zu sein, als es Sir Soames nach dem Schlaganfall sehr schlecht ging und wir fürchteten, er sei in extremis. Damals kam es, wie gesagt, zum endgültigen Bruch der beiden, und Carlyle drohte an, seinen Sohn vollständig zu enterben, wenn er mit der Schauspielerei nicht aufhören würde. Nun, er hat nicht aufgehört.“ Der Reverend unterdrückte nur mit Mühe ein Gähnen. „Es war ein langer Tag, meine Herren, ich möchte mich zurückziehen. Vorher zeige ich Ihnen noch Ihre Zimmer. Einverstanden? Alle weiteren Fragen dürften bis morgen früh Zeit haben, und Sir Carlyle wird Ihnen nicht weglaufen.“

Ich überhörte den makabren Schlusssatz, wir standen auf und folgten dem Reverend.

Hatte ich damit gerechnet, nun endlich in mein mit einer Wärmflasche vorgewärmtes Bett schlüpfen zu können, so täuschte ich mich, denn kurz nachdem sich der Reverend zurückgezogen hatte, stand Holmes mit leuchtenden Augen in meinem Schlafraum.

„Ihr Daunenbett wird noch etwas auf Sie warten müssen, Watson, denn wir müssen noch einmal in den Speise­saal zurück. Ich möchte etwas mitnehmen.“

„Keinesfalls, Holmes, ich falle um vor Müdigkeit. Gehen Sie allein, wenn es für Sie so wichtig ist.“

„Unmöglich, Watson, ich brauche Sie als Zeugen.“

Ich stieß leise einige Verwünschungen aus, doch fügte ich mich in mein Schicksal. Leise gingen wir ins ­Erdgeschoss. Holmes nahm aus einem unverschlossenen Schränkchen den Bund mit den Schlüsseln der Abtei, und bald standen wir wieder vor dem Tisch im Refektorium, den wir vor einer Stunde verlassen hatten.

Holmes ging sogleich ans Werk und holte aus den unergründlichen Taschen seines Mantels zwei Gläser mit einem Schraubverschluss. In eines füllte er etwas Flüssigkeit aus dem Rotweinglas von Sir Carlyle, in das andere gab er vorsichtig die Reste der eingedickten Schildkrötensuppe aus der Suppentasse. Dann versiegelte er beide Gläser und bat mich, Datum und mein Namenskürzel auf das Papiersiegel zu schreiben, dessen Enden mit Wachs auf Glas und Deckel befestigt waren.

„Was soll das alles, Holmes?“, fragte ich gereizt und gähnte demonstrativ.

„Das, was wir hier machen, rettet den Kopf von Lady Carlyle, Watson.“

Ich schwieg.



Am nächsten Morgen hüllte dichter Nebel den tief liegenden See ein, während die umliegenden Hügel im ersten Sonnenlicht glänzten. Mein Zimmer lag nach Osten, und so wurde ich von der aufgehenden Sonne geweckt. Die Nacht war kurz gewesen, doch der Schlaf trotz der Anstrengungen der letzten Tage und der gestrigen ­Aufregungen tief und erholsam. Ich freute mich auf das Frühstück.

Holmes und der Reverend waren gerade vor mir im Frühstückszimmer des Abthauses angekommen und betrachteten die Speisen, die auf einem langen Büffettisch aufgestellt waren. Wir nahmen Platz, und der Diener von Sir Soames füllte unsere Teller mit dem Gewünschten. Er war ein hagerer, gebeugter Mann mittleren Alters, mit tiefen Furchen im Gesicht, zwischen dessen verkniffenen Lippen nur mühsam ein Gerne, Sir hervorkam, wenn ich etwas bestellte. Ich habe mich oft gewundert, warum so schlanke, um nicht zu sagen, asketische Menschen wie Holmes und auch der Reverend große Mengen an Speisen zu sich nehmen können, ohne ihre Körperform im Mindesten zu vergröbern, während bei mir selbst eine längere Fastenzeit wenig an dem pyknischen Habitus ändert.

Um unser anfängliches Schweigen zu unterbrechen, wollte ich zu einer Zusammenfassung und Analyse der gestrigen Ereignisse anheben, wurde aber durch einen scharfen Blick von Holmes, dessen Augen zwischen dem Butler und mir hin und her wanderten, zum Schweigen gebracht. Stattdessen ließ Holmes sich über die Vorzüge eines englischen Frühstücks aus, das im Grunde weitere Mahlzeiten am selben Tag überflüssig mache, und der Reverend stimmte zu, indem er die Zumutungen eines französischen Frühstücks schilderte, das er vor Jahren während einer Reise an die Riviera kennengelernt hatte. Gegen elf Uhr hörten wir Stimmen in der Eingangshalle, und der Butler meldete, dass der Inspektor aus Glimerick wie angekündigt eingetroffen war.

„Fragen Sie ihn bitte, ob er uns beim Frühstück Gesellschaft leisten möchte, George“, gab der Reverend dem Butler auf, und dieser kehrte bald in Begleitung des Besuchers zurück.

Unverkennbar war der Inspektor ein Kind dieser Gegend, denn die zahllosen Sommersprossen auf der hellen Haut und sein rötliches, gekräuseltes Haar ließen keltische Wurzeln vermuten. Er war kräftig und allenfalls mittelgroß, betrat den Raum mit ausholenden, kraftvollen Schritten und musterte die Gesellschaft mit dem sicheren Blick eines Mannes, der sich seiner Bedeutung bewusst war, Menschenkenntnis besaß und schnell zu einem unvoreingenommenen Urteil kam. Nach den ersten Floskeln der Begrüßung gab er zu verstehen, dass ihm die Namen von Holmes und meiner Wenigkeit durchaus geläufig waren. Holmes bat ihn, nachdem er sich gesetzt und den ersten Schluck Kaffee getrunken hatte, seine Einschätzung der Lage und insbesondere der Rolle von Lady Carlyle darzulegen. George, der Butler, wurde unter einem Vorwand vom Reverend aus dem Raum geschickt.

„Natürlich ist man geneigt, meine Herren, dem Ableben eines älteren, hinfälligen Menschen eine natürliche Ursache zuzuschreiben, aber Sie werden zugeben, dass unter vielen Grabsteinen unseres schönen Landes in Wahrheit die Opfer perfider Verbrechen liegen. Schließlich können Sie ja nicht überall ermitteln, Holmes.“

Holmes trommelte nervös mit den Fingern auf der Armlehne seines Stuhls herum und deutete damit an, dass er nicht hoffte, die Darstellung des Inspektors würde sich in Gemeinplätzen und Komplimenten erschöpfen.

„Natürlich hätte ich der Einschätzung des Haus­arztes von Sir Soames zugestimmt, was die Todesursache angeht, wenn mich nicht gestern in meiner Dienststelle ein anonymer Brief erreicht hätte. Er war so neutral verfasst, dass sich kein Hinweis auf den Absender aus Wortwahl und Schreibstil gewinnen ließ, schilderte den Ablauf hier in der Abtei sehr präzise und beschuldigte Lady ­Carlyle, ihren Mann vergiftet zu haben. Natürlich schenken wir nicht jedem anonymen Absender Glauben, aber er ergänzte seine Ausführungen um den Hinweis, dass sie selbst das Gift in der hiesigen Apotheke von Glimerick besorgt habe. Und tatsächlich bestätigte der Apotheker diese Angaben, und in dem Buch, in dem die Herausgabe jeder Giftmenge vermerkt ist, hat Lady Carlyle den Empfang mit eigener Unterschrift, so wie es vorgeschrieben ist, quittiert. Als Verwendungszweck war natürlich nicht Gattenmord, sondern Ungeziefer­vertilgung angegeben, wie Sie sich denken können, meine Herren.“

Der Inspektor sah uns triumphierend an, als sei der Fall damit gelöst und die Schuldige überführt, doch Holmes schien ungerührt. „So etwas Ähnliches habe ich erwartet, McGregor, es passt alles wie bei einem Puzzlespiel zusammen. Warten wir mal ab, bis wir den Apotheker im Zeugenstand vernehmen. Ich möchte Sie jetzt bitten, uns die Untersuchung der Leiche von Sir Soames zu ­gestatten. Und an Sie, Reverend, geht die Frage, wie wir unsere Rückkehr nach Darrick Castle bewerkstelligen können.“

„Darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht, meine Herren“, erwiderte der Reverend und sah uns fragend an. „Ich gehe davon aus, dass Sie nach diesen dramatischen Ereignissen nicht mehr in die Abgeschiedenheit der Jagdgesellschaft zurückkehren wollen.“

Holmes und ich nickten.

„Nun, dann ist alles einfach. Der Inspektor ist mit dem Dampfschiff aus Glimerick gekommen, das in einer Stunde ablegen wird. Genug Zeit also, Ihre letzte Aufgabe hier zu erfüllen. Da ich Ihre Entscheidung erwartete, habe ich zwei unserer Reitknechte über den See nach Darrick Castle geschickt und den Lord gebeten, Ihr Gepäck zusammenzustellen und am Anleger bereitzustellen. So werden Sie am späten Nachmittag auf bequeme Weise Glimerick erreichen. Am Hafen gibt es eine einfache, aber sehr ordentliche Pension, die Ihnen Nachtquartier bieten wird, und heute Abend oder morgen können Sie dann frisch ausgeruht meine Schwester an ihrem jetzigen Aufenthaltsort vernehmen. Ich bin sicher, es wird sich alles als Irrtum oder böses Spiel erweisen.“

Holmes schwieg, und ich dachte bei mir, dass so mancher Unschuldige sein Todesurteil einem Irrtum oder bösen Spiel verdankte.

Vor der Kapelle warteten die beiden Polizisten, die der Inspektor gestern mit der Bewachung des Zugangs beauftragt hatte. Sie verneinten besondere Vorkommnisse in der Nacht und wurden zum Frühstück in die Küche geschickt. Die Leiche von Sir Soames war nur provisorisch auf zwei grob zusammengezimmerten Eichenbohlen aufgebahrt, die man auf zwei kräftige Holzböcke gestellt hatte. Ich will nicht verschweigen, dass mich Ehrfurcht ergriff vor dieser so bedeutsamen Person, von der im Tode alles Kärgliche der Existenz seiner letzten Jahre abgefallen schien und deren majestätischem Eindruck nicht einmal die Tatsache etwas anhaben konnte, dass sie nur notdürftig mit einem weißen Nachthemd bekleidet war, dessen Saum sich am unteren Ende aufzulösen begann. Ich umrundete zusammen mit Holmes den Toten, wobei ich nichts bemerkte, was für einen gewaltsamen Tod sprach. Allerdings wusste ich, dass die Wirkung mancher tödlichen Gifte spurenlos bleiben konnte.

„Sind Sie fertig, meine Herren?“, fragte der Inspektor, der den Abtransport der Leiche in Auftrag geben wollte und ungeduldig auf die Uhr sah.

„Sofort, sofort“, antwortete Holmes gelassen. „Watson, helfen Sie mir, den Toten umzudrehen.“

„Muss das sein, Holmes?“

„Selbstverständlich, Watson. Nur keine Scheu.“

Also drehten wir die sterblichen Reste von Sir Soames auf die Seite, und Holmes zog das Nachthemd bis zum Nacken hoch, um den Rücken zu inspizieren. Wie angesichts der abgelaufenen Zeit nicht anders zu erwarten, waren die Totenflecken sehr ausgeprägt und ließen sich von Holmes‘ Daumen nicht mehr wegdrücken.

„Interessant, finden Sie nicht, Watson?“

Ich murmelte etwas Unverständliches. Wir brachten den Toten in seine alte Lage und verließen die Kapelle.

Vor unserer Abreise suchten wir noch die Köchin auf, um sie nach ihren Erlebnissen am Abend des Todes von Sir Carlyle zu befragen. Doch wir erfuhren nichts Neues. Sie hatte wie an jedem Tag die Speisen für das Abendessen in den Wärmeraum vor dem Refektorium gebracht und dort in die großen Wärmebehälter gestellt, wo sie aufbewahrt wurden, bis der Hausherr und seine Gattin den Befehl zum Auftragen gaben. Tatsächlich hatte sie auch Lady Carlyle gesehen, als diese von ihrem Ausritt zurückkam und sich aufwärmen wollte. Etwas Besonderes und Ungewöhnliches sei ihr an Lady Carlyle, deren Freundlichkeit und Güte sie hervorhob, nicht aufgefallen. Bevor wir gingen, brach sie in Tränen aus, was ­Holmes wohl vorausgesehen hatte, denn sie beruhigte sich erst, als Holmes ihr versicherte, er habe keinen Zweifel an der einwandfreien Zubereitung ihrer Speisen und er hätte unter anderen Umständen gerne von ihrer weithin berühmten Schildkrötensuppe gekostet. Zum Schluss huschte sogar ein Lächeln über ihr Gesicht, als Holmes ihr ankündigte, sich beim Reverend einzusetzen und ihn zu bitten, sich für sie und die anderen Dienstboten um eine neue Anstellung zu kümmern.

Unsere Rückfahrt auf dem Dampfboot über den See verlief ohne Verzögerungen, die Sonne löste langsam den Nebel auf, und ihre Strahlen verwoben sich mit den Flocken von Dunst zu einem ebenso schönen wie magischen Gewebe. Am Anleger vor Kirkdeen Castle warteten nicht nur wie angekündigt unsere Koffer auf uns, sondern Lord Kildane hatte es sich zu unserer Überraschung nicht nehmen lassen, sich persönlich von uns zu verabschieden. Seine Person bot das Bild eines einheimischen Landedelmannes, er war in der Tracht seines Landes gekleidet, denn der Kilt trug das vererbte Muster seiner Ahnen, und neben ihm saßen gehorsam, aber unruhig, zwei seiner schönsten Jagdhunde. Er unterhielt sich auf joviale Weise mit einer ärmlich gekleideten Frau, wohl Gattin einer seiner Pächter, die sich mit Körben voller Herbstfrüchte aufgemacht hatte, den Wochenmarkt in Glimerick zu besuchen. Als der Lord unser ansichtig wurde, begrüßte er uns freundlich und erhielt ohne weitere Aufforderung von Holmes einen kurzen Abriss der gestrigen Ereignisse, den er, ohne zu unterbrechen, aufmerksam anhörte.

„Lady Carlyle, eine Giftmörderin, meine Herren? Da müsste ich mich sehr wundern, um das zu glauben, und deshalb glaube ich es einfach nicht. Na, Sie werden sie da schon rausholen, was Holmes?“, war sein Resümee, und damit schien die Sache für ihn zunächst abgeschlossen zu sein. „Ach ja, meine Herren, wie hat Ihnen übrigens die nächtliche Bootsfahrt über unseren hübschen See gefallen? Sind Sie auf Nessie getroffen?“

Wir sahen Lord Kildane fragend an.

„Na, unsere Einheimischen, besonders die Fischer und Fährleute, glauben, dass in den Tiefen des Sees ein Ungeheuer haust, eine Art riesiger Walfisch, der gelegentlich an die Oberfläche kommt, um nach Luft zu schnappen. Natürlich alles Unfug, meine Herren, zudem soll in jedem unserer zahllosen Seen irgendein Untier hausen.“

Ich dachte an den Dunstwirbel während der Überfahrt, der durchaus etwas Animalisches gehabt hatte, und an die Angst unserer Ruderleute, und war mir nicht so sicher, dass Lord Kildane im Recht war.

Das Signal zur Abfahrt des Dampfschiffs ertönte zum zweiten Mal, und wir gingen an Bord. Die Sonne hatte ihren Höchststand erreicht und wärmte genügend, sodass wir das enge Deckhaus mieden und uns auf die rohen Holzbänke im Heck setzten. Holmes zündete sich eine Pfeife an, und ich wollte eine Zusammenfassung und Analyse des Geschehenen abgeben, um die Vorgänge besser zu verstehen und um Holmes seine Einschätzung zu entlocken.

„Papperlapapp, Watson“, unterbrach er mich unwirsch. „Sehen Sie denn nicht, dass das Ganze eine Schmierenkomödie ist? Zugegeben, auf ziemlich hohem Niveau, sodass wir uns vor unserem Gegner in Acht nehmen sollten. Und ihn zu überführen, wird nicht leicht. Wem werden die Geschworenen im Prozess mehr glauben, ihrem einheimischen Inspektor, der auch optisch alle Vorzüge dieses Landes in sich vereinigt, oder zwei hergelaufenen Detektiven, die sich einbilden, den Kopf einer zugereisten Giftmörderin retten zu können?“

Er zog mehrmals heftig an der Pfeife, bei ihm ein untrügliches Zeichen innerer Unruhe. Eine Antwort erübrigte sich.

„Ich glaube, es gibt so ein ausländisches Sprichwort, dass man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben muss. Also müssen wir auch ein Theaterstück, um nicht zu sagen, eine Komödie, aufführen.“

Ohne weitere Vorkommnisse erreichten wir nach dreistündiger Fahrt am Nachmittag Glimerick. Der morgendliche Wind hatte sich gelegt, der See war spiegelglatt, und ich war neben dem schweigsamen Holmes die ganze Zeit mit der Betrachtung der unbewohnten und zerklüfteten Ufer beschäftigt. Glimerick besaß einen felsigen Naturhafen mit einer schmalen, torähnlichen Einfahrt, die immer nur ein Schiff passieren konnte, sodass der Hafenwärter mit seiner Signalflagge erst die heimkommenden Fischerboote einfahren ließ. Ein paar Jungs lungerten am Steg herum, und zwei waren bereit, für ein paar Pence unser Gepäck zu der Pension zu bringen, die der Reverend uns empfohlen hatte. Sie lag nur einen kurzen Fußmarsch in der zweiten Reihe hinter der Hafenpromenade und wurde von zwei ältlichen Schwestern geführt, die sich nicht nur die Bewirtung ihrer Gäste, sondern auch die Verbesserung deren Lebenswandel zum Ziel gesetzt hatten. So gab es an zwei Abenden in der Woche einen Singkreis und eine Bibellesung, an der jedermann teilnehmen konnte. Die Zimmer waren karg möbliert, aber reinlich, und als besonderer Luxus wurde uns ein Wannenbad im Anbau angeboten, dessen Preis davon abhängig war, ob man als Erster, Zweiter oder Dritter die Wanne belegte. Holmes und ich gönnten uns ein frisches Bad in zwei großen, nebeneinanderstehenden Holzzubern, die mit dem angewärmten, etwas moorigen Wasser aus dem See gefüllt waren. Bald war der Anbau von Wasserdampf erfüllt, ließ die Konturen verschwimmen und mich einen Moment einschlummern und von atmenden Seeungeheuern träumen, die nur einmal am Tag zum Luftholen an die Oberfläche kamen.

An der Teestunde in der Pension nahmen wir als einzige Gäste teil und stärkten uns mit frisch gebackenen Scones und clotted Cream, bevor wir uns zum Besuch im Gefängnis bei Lady Carlyle aufmachten.

Der Reverend hatte den Inspektor gebeten, uns am späten Nachmittag einen Besuch bei Lady Carlyle zu ermöglichen, und wir wurden ohne große Formalitäten im Gefängnis empfangen und in einen Raum geführt, dessen Zweckbestimmung offenblieb. Die Anstalt lag am Stadtrand hinter hohen Mauern aus Bruchstein, und beim Betreten des Innenhofs erkannten wir, dass es sich um ein umgebautes mittelalterliches Kloster handelte. In dem provisorischen Besucherraum stand nur ein Tisch mit Stühlen an beiden Längsseiten und neben der gesicherten Eingangstür ein Hocker für einen Wachpolizisten.

Lady Carlyle saß am Tisch, hatte die Hände in den Schoß gelegt und las mit gesenktem Kopf in einem Brevier mit dunklem Einband. Nie in meinem Leben bin ich einer anderen jungen Frau begegnet, die Anmut und Würde, Haltung und Natürlichkeit und ein grenzen­loses Gottvertrauen in ihrer Person ausstrahlte. Trotz des grauen Anstaltskittels war sie von berückender Schönheit, ja, dieses unvorteilhafte Kleidungsstück schien sie noch zu betonen. Man hatte ihr unseren Besuch angekündigt, und sie bat uns mit einer untadeligen Geste, Platz zu nehmen, so, wie sie es mit Gästen bei einem abendlichen Diner gemacht hätte.

Holmes vermied es, mit Worten auf die heikle Lage einzugehen oder ihr unangebrachte Hoffnungen auf eine baldige Freilassung zu machen und bat sie, uns ihre Sicht der Vorfälle von dem Abend zu machen, an dem ihr Mann gestorben war.

Sie schwieg eine Weile, versuchte sich zu erinnern, nahm ihre Brille ab und legte dann ihr Brevier beiseite. „Sie werden sicher mitbekommen haben, meine Herren, dass das Wetter in den letzten Tagen hier in Schottland besonders schön war, ja, einem ungewöhnlichen und verspäteten Sommer glich. Ich habe die Zeit für lange Ausritte genutzt, denn die Witterung schlägt schnell um hier im Norden, und der Winter ist nicht weit. An diesem Tag war ich weiter geritten als sonst, und mein Lieblingspferd war müde geworden, sodass ich erst spät zu Hause ankam. Sonst plaudere ich noch kurz mit den Stallknechten, aber an diesem Tag übergab ich ihnen schweigend die Zügel, ich wusste, dass mein Mann Unpünktlichkeit hasste, besonders wenn das Abendessen aufgetragen werden sollte. Ich durchquerte die Eingangshalle, sah, dass die Tür zum Speisesaal offen stand und mein Mann von seinem Diener bereits an den Tisch geschoben worden war. Er knurrte irgendetwas wie Beeilung, Beeilung, junge Dame, aber genau habe ich es nicht mitbekommen, weil die Sprache von Sir Soames nach dem Schlaganfall so unverständlich geworden war. Da ich durstig und durchgefroren war, trat ich noch kurz in den Wärmeraum ein, wo die Speisen vor dem Servieren aufbewahrt werden und wo immer etwas Wasser steht. Unsere Köchin war damit beschäftigt, die Suppe in der Terrine, die in einem heißen Wasserbad gewärmt wurde, durchzurühren und so zu verhindern, dass sie klumpig wurde und mein Mann deswegen einen Wutanfall bekam. Ich trank ein paar Schlucke Wasser und ging dann nach oben in mein Ankleidezimmer, um mich für das Abendessen umzuziehen. Als ich etwa eine Viertelstunde später herunterkam, sah ich gleich, dass etwas Furchtbares passiert sein musste, denn nahezu unser gesamtes Personal stand im Halbkreis um den leeren Rollstuhl meines Mannes, und George, sein Butler, kniete neben ihm und prüfte, ob es noch ein Lebenszeichen gab. Den Rest der Geschichte kennen Sie, meine Herren.“

Holmes und ich nickten, doch Holmes bat noch, zwei Fragen stellen zu dürfen. „Trugen Sie an diesem Tag Ihre Brille, Lady Carlyle?“

„Beim Ausritt gebrauche ich sie immer. Vorgestern Abend nahm ich sie ab, weil sie so beschlagen war und mein Mann es nicht liebte, mich mit diesem lästigen, aber leider unvermeidlichen Hilfsmittel zu sehen. Und wie lautet Ihre zweite Frage, Mr Holmes?“

„Sie wissen, Lady Carlyle, dass man Ihnen vorwirft, Ihren Mann vergiftet und das Gift selbst in der Apotheke von Glimerick besorgt zu haben. Der Apotheker ist laut dem Inspektor absolut sicher, dass Sie vor einigen Tagen die tödliche Substanz besorgt haben, und ich fürchte, er wird vor Gericht seine Aussage beeiden.“

Ohne Furcht in ihren Augen und mit fester Stimme, die über jeden Zweifel ihrer Angabe erhaben war, erwiderte sie: „Wer immer das Gift besorgt hat, ich war es nicht. Und wer es im Haus versteckt hat, muss meine Angewohnheiten gut kennen, denn es wurde auf meinem Maltisch gefunden, auf dem ich an langen Winter­abenden Blumenbilder male, und der mit Gläsern und Tiegeln vollgestellt ist.“

Holmes erhob sich, und ich tat es ihm gleich.

„Können wir noch etwas für Sie tun, Lady Carlyle, das Ihren Aufenthalt hier angenehmer gestalten könnte?“, fragte mein Freund.

Sie schüttelte leise lächelnd den Kopf. „Nein, danke, meine Herren. Wenn man es nicht allzu genau nimmt, habe ich meine Wohnung nur von einem zugigen mittelalterlichen Kloster in ein anderes verlegt.“

Mich schauderte bei dem Gedanken, dass dieses traurige Gemäuer im Falle einer Verurteilung von Lady ­Carlyle vermutlich ihr letzter irdischer Aufenthaltsort werden könnte.



Die nächsten Wochen nach unserer Rückkehr in London verliefen fast ereignislos. Holmes stand mit dem Reverend in brieflichem Kontakt, und wir wurden ständig auf dem Laufenden über die Vorbereitungen des Prozesses von Lady Carlyle gehalten. Ein berühmter Strafverteidiger aus London war engagiert worden, doch Holmes versprach sich nichts davon, mit ihm in Kontakt zu treten. Schließlich war die Warterei zu Ende, die Verhandlung war auf den zweiten Montag im März gelegt worden. Fast ein halbes Jahr hatte es gedauert, bis die Anklageschrift vorlag und den Parteien zur Prüfung übergeben worden war.

So fuhren wir Anfang März wieder nach Schottland und quartierten uns bei den strengen Schwestern ein, die unsere Wiederkehr ohne besondere Überraschung aufnahmen, Holmes jedoch baten, mit Rücksicht auf die nachfolgenden Gäste das Rauchen in seinem Zimmer einzustellen. Ohne diesem Wunsch allzu viel Beachtung zu schenken, stimmte Holmes geistesabwesend zu.

Der Prozess fand in der alten Gerichtshalle von Glimerick statt, einem düsteren Gebäude am Stadtrand, das einst einem Bettelorden als Kirche gedient hatte. Der alte Chor wurde von einem mächtigen Holzgestühl für den Richter und die Schreiber eingenommen, das man aus gotischem Chorgestühl zusammengezimmert hatte, während die Geschworenen wie eingepfercht im Erdgeschoss hinter einer hölzernen Balustrade saßen. Am anderen Ende der Halle, also dem Richter gegenüber, waren die Plätze für die Angeklagte und ihren Verteidiger, während sich die Zeugen nach ihrer Vernehmung auf wackelige Stühle zur Linken des Richters setzen konnten. Das Publikum konnte dem Prozess von einer umlaufenden Galerie folgen.

Schon am frühen Morgen war viel Volk auf den Straßen, um die besten Plätze im Gericht zu bekommen, und der aufgebrachte Mob hätte Lady Carlyle um ein Haar aus dem Wagen gezerrt und gesteinigt, wenn nicht ­Inspektor McGregor mit seinen Leuten beherzt eingegriffen hätte. Seinem Einsatz verdankten Holmes und ich auch, dass wir nicht unter den Zuschauern auf der Galerie Platz nehmen mussten, sondern neben der Richtertribüne auf zwei extra herbeigeschafften Stühlen sitzen konnten.

Pünktlich um zehn Uhr erhoben wir uns, und der ehrenwerte Richter betrat den Saal, ein untersetzter korpulenter alter Mann, dem die Perücke und sein ovales Gesicht mit den kräftigen Kiefern das Aussehen eines alten Löwen verlieh. Er nahm zunächst von den Anwesenden keinerlei Kenntnis, blätterte in den Akten und ordnete schließlich noch einmal seine Robe. Dann erhob er seine kraftvolle Stimme, die den Saal bis in den hintersten Winkel durchdrang. Keinerlei Störungen im Prozessablauf würde er dulden, verkündete er mit Blick auf die Zuschauerränge, und alle waren gewillt, ihm zu glauben. Die Anklageschrift wurde verlesen, die nichts enthielt, was wir nicht schon wussten, und der Verteidiger von Lady Carlyle, ein dünner Mann mit unruhigen Augen und dem Gesicht eines Wiesels, plädierte auf unschuldig. Die Geschworenen wurden über ihre Rechte und Pflichten belehrt, und ihr Sprecher verkündete, dass man vollzählig wäre.

Als Erster wurde Inspektor McGregor vernommen, der seine Erlebnisse in Corbyn Abbey und die anschließenden Ermittlungen so geordnet und präzise schilderte, dass sich am Ende des Vortrags weitere Fragen erübrigten. Er setzte sich am Ende seiner Ausführungen neben uns. Holmes wirkte zu Beginn des Prozesses auf mich wie geistesabwesend und saß in sich zusammengesunken auf seinem Stuhl, aber wer ihn kannte, wusste, dass er sich auf seinen Auftritt vorbereitete. Der Hausarzt von Sir Carlyle, Dr. Blackwater, wurde in den Zeugenstand gerufen. Auch sein Bericht ergab keine neuen Gesichtspunkte, und der Richter wollte ihn schon entlassen, als Holmes mit dem Inspektor flüsterte.

McGregor stand auf. „Euer Ehren, Mr Holmes bittet Sie, dem Doktor noch ein paar einfache Fragen stellen zu dürfen, die vielleicht ein neues Licht auf die Geschehnisse werfen könnten.“

„Ungewöhnlicher Wunsch, McGregor“, brummte der Richter, „aber wenn es der Wahrheitsfindung dient … Was sagt die Verteidigung?“

„Keine Einwände, Euer Ehren.“

„Also gut. Holmes, legen Sie los!“

Im Zuschauerraum wurde es unruhig, und manche der Anwesenden auf der Galerie traten nach vorne, um einen Blick auf den Detektiv aus London zu erhaschen, dessen Ruhm sich langsam nach Norden ausgebreitet hatte, und der Richter mahnte zur Ruhe.

Holmes erhob sich, ging zu dem Zeugen, stellte sich vor ihn und schaute ihn ernst an. „Dr. Blackwater, schildern Sie bitte noch einmal, wie Sie den Leichnam von Sir Carlyle vorgefunden haben … und seien Sie bitte so präzise wie möglich.“

Der Arzt wiederholte mit den nahezu selben Worten seinen Bericht.

„Ich fürchte, das genügt nicht, Doktor.“ Holmes zeigte sich deutlich unzufrieden. „Wir müssen also die Szene nachstellen. Watson, legen Sie sich bitte auf den Boden, damit Doktor Blackwater an Ihnen die Position der Leiche nachstellen kann.“

Ich zögerte zunächst, sah den Richter an, der keine Einwände erhob, und legte mich schließlich in der Mitte des Saals bäuchlings auf den Boden. Dr. Blackwater umkreiste mich, schob mir den linken Arm unter den Bauch und spreizte meinen rechten Arm in so unnatürlicher Weise ab, dass ich befürchtete, die schmerzhafte Position nicht lange einnehmen zu können.

Holmes erlöste mich nicht aus meiner Lage, sondern befragte den Doktor: „Sind Sie sicher, dass der Tote so lag, Dr. Blackwater?“

„Absolut sicher, Sir.“

„Haben Sie nicht ein kleines, aber wichtiges Detail vergessen?“ Holmes lächelte siegessicher.

„Nicht, dass ich wüsste, Mr Holmes.“

„Hatte der Tote nicht einen Löffel in der rechten Hand, Doktor? Einen wie diesen?“

Holmes holte aus seiner Manteltasche einen schweren silbernen Löffel, zeigte ihn rundum und schob ihn mir in die rechte Hand. „Gleich erlöst, Watson“, flüsterte er mir zu.

Der Doktor stutzte und zögerte mit der Antwort. „Ich denke schon, Mr Holmes, aber ich habe diesem Detail keine Bedeutung beigemessen.“

Holmes schüttelte ärgerlich den Kopf. „In so einem Verfahren hat jedes Detail seine Bedeutung, Dr. Blackwater. Danke Watson, Sie können jetzt aufstehen.“

Erleichtert erhob ich mich und setzte mich neben den Inspektor, der Holmes‘ Vortrag gebannt folgte.

Der Doktor wollte sich zurückziehen, wurde aber von Holmes mit weiteren Fragen daran gehindert. „Sie haben uns eindrucksvoll geschildert, dass Sir Carlyle schon mehrere Stunden tot war, als Sie ihn vorfanden, und dass Sie angesichts seiner Vorgeschichte und seiner Leiden, die Sie als sein Hausarzt natürlich kannten, keinen Zweifel an einer natürlichen Todesursache hegten.“

Blackwater nickte.

„Haben Sie den Toten denn entkleidet und die Leichenschau durchgeführt?“

„Nein, Sir. Dazu sah ich keine Veranlassung.“

„Nun, Dr. Watson und ich haben den unbekleideten Leichnam in Anwesenheit des Inspektors untersucht. Stimmt es, Inspektor, dass wir bei der Untersuchung die Totenflecken nur am Rücken vorfanden?“

McGregor erhob sich und bestätigte Holmes‘ Angaben.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957192240
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Detektiv Spannung Sherlock Holmes Krimi Thriller Historisch

Autor

  • Klaus-Peter Walter (Hrsg.) (Autor:in)

Klaus-Peter Walter (* 18. April 1955 in Michelstadt im Odenwald) ist ein deutscher Autor. Er studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Philosophie in Mainz und promovierte 1983. Seitdem ist er als freier Publizist tätig. Er schrieb unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt und den SWR.
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Titel: Sherlock Holmes - Neue Fälle 25: Sherlock Holmes und das Urumi-Schwert