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Aus dem alten Wien

Mit über 200 Fußnoten zum besseren sprachlichen und historischen Verständnis

von Adalbert Stifter (Autor:in)
200 Seiten

Zusammenfassung

Adalbert Stifter zeichnet in dreizehn Kurzgeschichten ein buntes Kaleidoskop der Stadt Wien, das für Wiener wie Besucher der Stadt gleichermaßen faszinierend ist. In seinem typischen klaren und scharf beobachtenden Stil berichtet der Autor in kurzweiligen Anekdoten und Beobachtungen über die Kaiserstadt - und der Leser ist verblüfft über Veränderungen wie Ähnlichkeiten zum heutigen Wien. Dabei greift Stifter auch Themen wie Umweltschutz oder den Wert des Konsumverzichts auf, die aktueller nicht sein könnten. Mit Fußnoten werden die historischen Orte und Begebenheiten eingeordnet und so der Bezug zum heutigen Wien hergestellt. Auch einzelne, heute unübliche Ausdrücke werden erklärt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Aus dem alten Wien

Wie in längst vergang’nen Tagen

Sich die Sachen zugetragen.

 

Was ich hier von Wien sage, stammt aus Wien vor der sogenannten Neugestaltung1, also, wie sie jetzt sagen, aus dem alten Wien. Nicht jedermann wird das alte Wien verachten, und wir, die wir älter werden, verachten es am wenigsten. Ich hatte einmal eine Freundin, sie war sehr schön, ich hätte mich beinahe in sie verliebt — oder vielmehr, ich war in sie verliebt; verbiß aber die Sache und ließ mir nichts merken. Sie war ein wildes, hochfahrendes, aber auch wieder ein herrliches Ding. Die Farbe ihres Angesichts war fast brauner, als es sich für ein Mädchen ziemt. Oft meinte ich, ich müßte ihre kräftigen, roten Lippen so sehr küssen, daß sie bluteten. Sie neckte mich mit Übermut, liebte mich aber doch nach ihrer Art. Nach einer Trennung von vielen Jahren, in denen wir jedes an einem andern Orte lebten, sah ich sie als eine sanfte, edle Mutter, als eine liebreiche Gattin und als eine vortreffliche Hausfrau wieder, und als müßte sich alles an ihr geklärt und gemildert haben, so war auch ihre Hautfarbe viel weißer geworden, sodaß sie jetzt als alternde Frau fast schöner war, als einstens als blühendes Mädchen. Ich saß mit Verehrung gegen sie an ihrem Tische, hatte aber doch eine gewisse Wehmut in dem Herzen, und konnte dieser Wehmut nicht Meister werden. Erst in meinem Gasthofe erkannte ich, daß ich ihre Fehler vermißte. Ich war ein Narr; aber die Sache war nicht anders. Ich hatte auch einmal einen Vetter, er war ein leidlich guter Mensch, und ich war ihm herzlich zugetan. Als ich ihn nach langer Abwesenheit mit einigen Widerwärtigkeiten ausgerüstet wiederfand, konnte ich ihn nicht mehr leiden. Es wird mir bei Wien mit seinen guten und bösen Veränderungen ein wenig so gehen, wie bei meiner Freundin und bei meinem Vetter. Die im alten Wien fröhlich waren, werden die harmlosen Dinge, welche in diesen Blättern folgen, ansehen, wie die ausgebleichte Schleife einer Geliebten, die jetzt alt geworden ist und von der sie nicht einmal wissen, wo sie sich befindet.

 

Adalbert Stifter

 

Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des Sankt Stephansturmes

So entrollen wir denn vorerst vor dem geneigten Leser dieser Blätter die ungeheure Tafel, auf der dies Häusermeer hinauswogt, ein Leben in sich tragend, so bunt und heiter, daß man wähnt, es diene nur dem Augenblicke und der Stunde, und die Göttin, die hier herrschet, sei die Freude — und sie ist es auch — denn der Mensch, die Tausenden, die hier strömen, arbeiten, sorgen, sich vergnügen und in Hast und bewundernswertem Geschicke die Frucht jeder Minute zu brechen wissen — sie ahnen es nicht, daß sie Lettern2 sind, heitere, schöne Lettern, womit die Muse das furchtbare Drama der Weltgeschichte schreibt; sie fühlen es nicht, daß hier der Herzschlag einer großen Monarchie ist, die im Rate der Völker sitzt und das Geschick des Erdballes bestimmen hilft, und daß von diesem Herzschlage die Frische und Gesundheit der andern Glieder abhängt — sie wissen es nicht und können es nicht wissen; aus Gemüt und Streben jedes einzelnen baut sich jener Geist der Zeit zusammen, der die Tat gebiert, die Tat und das Antlitz des Jahrhunderts, oft des Jahrtausends — keiner tat die Tat und formte das Antlitz, aber alle taten’s, wenn sie auch dann vielleicht dastehn und staunen — das Blut, der einfach rote Balsam, strömt fröhlich durch alle Adern des ganzen Körpers und ahnt nicht, daß es selbst dies Wunderwerk von Körper aufgebauet hat: das Volk, das hier jubelnd strömet, jeder seinem Zwecke, meist dem der Freude dienend, dieses Volk bauet rastlos emsig in Kindern und Kindes-Kindes-Kindern an einem Baue, den es nicht kennt, nach einem Plane, den es nicht weiß — sie bauen unermüdlich fort, und stürzt einer, so steht schon wieder ein andrer mit Hammer und Kelle an seinem Platze und sputet sich — und wenn der Bau fertig ist, so erstaunen die einigen, die eben zugegen sind! Dann geht einer hin und erzählt in vielen Blättern, wie das alles gekommen ist, aber auch er weiß es nicht. — Weise Lenker waren bei dem Baue, aber auch sie konnten nur Teile sehen und bestimmen. — Wer das Ganze anbefahl und überwachte, den hat noch nie ein Auge gesehen!

Nun, lieber Leser, schaue dir noch einmal im Geiste dieses bewegte Leben an, und es wird dir bedeutungsvoller scheinen als vordem, und dann, wenn du dein Herz vorbereitet hast zu Erhabenheit und Scherz, zur Freude wie zur Betrübnis — dann folge mir, daß wir unsere Augen schweben lassen über dieser Riesenscheibe, die da wogt und wallt und kocht und sprüht und sich ewig rührt in allen ihren Teilen.

Wenn man Süd und Südwest ausnimmt, so mag der Wanderer kommen von welcher Weltgegend immer, und er wird, bevor er noch ein Atom von der großen Stadt erblicken kann, schon jene schlanke, zarte, luftige Pappel erblicken, die still und ruhig in einem leichten blauen Dufte steht und die Stelle anzeigt, an der sich die noch nicht gesehene riesige Stadt hindehnet, dann, wenn er weiter geht, reitet oder fährt, münden sich allerwärts Straßen, wie Adern, zusammen, der Gefährten werden immer mehr, die schneller oder langsamer teilnahmslos an ihm vorüberjagen, wie Treibholz, demselben Strudel zu, bis sich endlich rechts und links, nah und ferne die Massen der Stadt heben, hier sanft rauchend und hinausdämmernd, dort nahe schreitend mit Dächern, Giebeln, Türmen, funkelnden Punkten — bis er endlich bei einer unscheinbaren Barriere hineintritt, und nun schlagen die Wogen über ihm zusammen. Eine endlose Gasse nimmt ihn auf; ein Strom, der schmutzige und glänzende Dinge treibt, wird immer dichter und immer lärmender, je näher er jener Pappel kommt, die er aber jetzt nirgends sieht — ja dort tritt sie vor, ein dunkler, schlanker, riesiger Stift in der glänzenden Luft — nein, sie ist es nicht; denn weiter rechts steht mit einem Male eine noch größere, ruhigere, graublau dämmernd, den Adler auf der Spitze tragend — diese ist’s — man sieht fast das zarte Laubwerk an ihrem Schafte emporstreben. — Jetzt tritt wieder eine Häuserpartie dazwischen — die Gasse will kein Ende nehmen; allerorts Drängen und Brausen und Vergnügen und Freude, nur dem Fremdling will es einsam werden in dieser tosenden Wüstenei. Fast betäubt geht er weiter; mit einem Male ist die Gasse zu Ende und auch die Stadt. Ein weiter grüner Platz voll Laubgrün und geputzter Menschen steht vor ihm, aber jenseits wieder eine Stadt, die ewig unerreichbare Pappel wieder in ihrer Mitte tragend. — Unverdrossen durchschreitet er den seltsamen Garten; ein finsteres Tor schlingt ihn ein; eine Versammlung glänzender Paläste tritt um ihn herum und nimmt ihn in die Mitte, ihn hier und dort hindurchgeleitend, immer zu neuen, fast noch glänzenderen weisend. — Dem armen Landbewohner ist’s, als seien hier ja gar keine Häuser, lauter Paläste und Kirchen — seine Pappel ist verschwunden — hier oder dort taucht wohl ihre Spitze ein wenig vor, dann wieder lange nicht, dann wieder auf einmal an einem ganz anderen Orte. — Er geht darauf zu, weicht ein wenig an dieser Ecke ab, dann an jener, es kommt Gasse an Gasse, aber er erreicht sie nicht — ja, dort sieht die Spitze wieder hervor, gerade hinter ihm. Sind ihrer denn unzählige? — — »Nein, mein Guter, aber du gehst in der Irre — siehe hier, wo die endlos große Tafel auf dem Hause ist, ist eine Herberge: da ruhe aus, erquicke dich, siehe von deinem Fenster aus dem Schwalle zu, der ewig unerschöpflich um jene Ecke flutet, und gewöhne dich an ihn — dann morgen früh mit Tagesanbruch geh mit mir, ich führe dich bis zur Spitze deiner geliebten Pappel empor und zeige dir von dort herab die Zauberei dieser Welt.«

 

* * *

 

So. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Es werden wenige sein von allen denen, die jetzt noch unter uns schlummern, welche schon den Anblick genossen haben, der unser harret; denn sie können das Bett nicht verlassen oder haben niemand, der ihnen dazu verhelfen könnte, schon so früh heroben auf dieser Spitze sein zu können. Dort gegen Norden hinaus, wo die leichten weißen Nebel ruhen und ziehen, ist die Donau, und die dunklen Streifen, die sich im Nebel zu wälzen und mit ihm zu ziehen scheinen, sind schöne Auen, durch die der edle Strom wallet3. — Weiter hinaus, das luftige, im Morgengrau schimmernde Fahlrot, ist das Marchfeld, und jener blaue Hauch durch den Himmel, der sich eben mit der ersten Milch des Morgens lichtet, sind die Karpaten und die Berge gegen Ungarn. Sie schweifen wie ein aus Luft gewobenes Band um den ganzen Osten, der bereits überraschend schnell in ein immer feineres Licht aufblühet, und schwimmen dort wie in unermeßlicher Ferne in die Luft hinaus. Aber was ist jener Berg gleich rechts daran mit der zum Erschrecken nahen, weißglänzenden Zeichnung? Er steht eine Tagereise weit von hier gegen Südwesten und ist der Schneeberg, das letzte jener Häupter, die, mit manchem silberweißen Helm und Panzer bedeckt, in jenem Zuge stehen, der vom Lande Schweiz an durch Tirol hinausreicht und dann, zwischen unserm Lande und der Steiermark laufend, hier mit einem Male ein Ende nimmt. Rechts von ihm siehst du die blaue Mauer weiter westwärts springen, bis sie dir jene dunklen Rücken decken, die uns breit und schwer den auch noch dunklen Westhimmel umlagern. Wie sie auch jetzt mit dem wilden Schwarz um den sich hellenden Himmel liegen, so wirst du doch sehen, wenn über ihnen die Sonne steht, wie sie anmutige Höhen sind, üppige Laubschöße, in denen die weißen Landhäuser herumgestreut sind, und die Dörfer und die Schlösser, in deren Schatten die tausend verschlungenen Wege laufen, sodaß diese Höhen wie ein riesenhafter heitergrüner Park um die große staubende Stadt herumlaufen, ihren Westen wie ein sanfter Bogen gürtend. Mitten nun auf dieser dunklen Länderscheibe, die du eben mit deinem Auge aus dem Himmel herausgeschnitten, gerade unten zu deinen Füßen liegt die schwarze Stadt, unberührt von der Morgenröte, die bereits über ihr heraufflammt, dieses Bild des gestrigen Treibens, nun unbeweglich ruhig, wie in Todesschlummer gestürzt, gespenstig starr heraufglotzend, als wäre sie tot, von keinem einzigen Laute erschüttert, als hier und da von dem grellen Schlag einer geblendeten Nachtigall, die, den stillen Nacht- und Morgenhauch in ihren Gliedern fühlend, mitten im Steinmeere von grünen Zweigen träumt und einen Lieb- und Angstruf tut — — doch horch, das erste Lebenszeichen des schlafenden Ungeheuers gibt sich eben kund. Hörst du das ferne Rasseln durch eine Gasse, als ob Kriegsgeschütze im Galopp führen? Es sind die ersten Fähren, die beginnen, dem ungeheuren Magen seine heutige Nahrung zuzuführen, Fleischerwagen sind es, die durch die Schläfer rasseln und donnern und in ihre Träume reichen, ohne sie wecken zu können; denn sie haben es schon tausendmal gehört. Jetzt ist es wieder stille — feurige Landzungen ragen durch den Himmel und legen ein sanftes Purpurrot auf die grauen Steine um uns, die Rippen dieses Turmes, auf dem wir stehen. — Siehst du, ein graues Schimmern läuft schon hie und da durch Teile der Stadt, die dir immer größer wird und ihre Glieder, gleichsam wie im Morgenschlummer dehnend, über Hügel und Täler hinausstreckt — und in dem Schimmer blitzen rote Funken auf wie vortauchende Karfunkel4, es sind Fenster, an denen sich die Morgenröte fängt. —Jetzt rasselt es wieder, und an mehreren Stellen; jetzt fängt sich’s auch hier und dort in andern verworrenen Tönen zu regen an, und dort und da erbraust es sanft wie Atemzüge eines Erwachenden — die Nebel sind von der Donau verschwunden und sie wird sichtbar wie ein stiller, goldner Bach. Einzelne Rauchsäulen heben sich bereits aus der Stadt — das Brausen schwillt — — hui! ein Blitz fliegt an unsern Turm: die Sonne ist herauf!! Die unten aber haben sie noch nicht — jetzt — ganz draußen brennt plötzlich ein Teil der Stadt an; wie es blitzt und von Zeile zu Zeile lodert! Jetzt brennt’s auch dort, jetzt dort, jetzt in der ganzen Stadt, ihr Rauch vermehret sich und wallt wie ein goldner trüber Brodem5 in die Morgenglut hinein. Ganze Gassen schimmern im Morgenglanze, ganze Fensterreihen belegen sich mit Gold — Turmkreuze und Kuppeln funkeln — von einzelnen Türmen fallen die sanften Klänge der Glocken zum Morgen-Ave6. In den Gassen regt sich’s; schwarze Punkte werden sichtbar und bewegen sich und schießen durcheinander, sie werden immer mehr, einzelne frische Schalle schlagen herauf, das Rollen, Rasseln und Prasseln wird immer dichter, das verworrene Tönen ergreift alle Stadtteile, als ob sich Gassen und Häuser durcheinanderrührten, bis ein einziges dichtes, dumpfes, fortgehendes Brausen unausgesetzt durch die ganze Stadt geht. Sie ist erwacht. Indes schwingt sich die Sonne siegend und lächelnd wie ein silbern reines Schild immer höher über das wirre Babel7 empor.

Und nun, da der Tag alles ins Klare gebracht hat, lasse unsere Blicke durch dies schöne Schauspiel wandern, ehe der Wind sich hebt und der Staub seinen schmutzigen Schleier über ganze Teile der Stadt und jenen schönen Schmelz der Fernsicht legt.

Der Teil gerade zu unsern Füßen ist die eigentliche Stadt. Wir sehen sie wie eine Scheibe um unsern Turm herumliegen, ein Gewimmel und Geschiebe von Dächern, Giebeln, Schornsteinen, Türmen, ein Durcheinanderliegen von Prismen, Würfeln, Pyramiden, Parallelepipeden8, Kuppeln, als sei das alles in toller Kristallisation aneinandergeschossen und starre nun da so fort. — In der Tat, von dieser Höhe der Vogelperspektive angesehen, hat selbst für den Eingeborenen seine Stadt etwas Fremdes und Abenteuerliches, sodaß er sich für den Augenblick nicht zu finden weiß. Wie eine ungeheure Wabe von Bienen liegt sie unten, durchbrochen und gegittert allenthalben, und doch allenthalben zusammenhängend, nur die Gassen nach allen Richtungen sind wie hineingerissene Furchen und die Plätze wie ein Zurückweichen des Gedränges, wo man wieder Luft gewinnt. Senkrecht im Abgrund unter uns liegt der Platz St. Stephans, die Menschen laufen auf dem lichtgrauen Pflaster wie dunkle Ameisen herum, und jene Kutsche gleitet wie eine schwarze Nußschale vorüber, von zwei netten Käferchen gezogen, und immer mehr und mehr werden der Ameisen und immer mehr der gleitenden Nußschalen. Dort, nur durch eine dünne Häuserschicht von uns getrennt, steht die schöne schwarze Kuppel St. Peters, von dieser Höhe erst sichtbar, wie weit sie die Häusermasse überragt — hinter ihr der freundliche Turm der Schottenabtei, links das schlanke Stift St. Michaels, dann die Augustiner, die Kapuziner und zwischen ihnen allen — selber eine kleine Stadt — die ehrwürdigen Gebäude der kaiserlichen Hofburg. Dann schwingt sich von Süd gegen Ost herum die Häusermasse des Kärntnerviertels, durchschnitten von dem sanften Bogen der Kärntnerstraße, der menschenwimmelnden — dort ragen die Franziskanertürme, weiter links die der Universität9 empor, und dort gegen Nordwest — du kleines bescheidenes Türmchen! St. Ruprecht, ältestes der Stadt — und wieder links davon die zart durchbrochene Spitze von Maria am Gestade — und noch andere und andere Türme, Giebel, Erker und Balkone. — — Aber sieh, auch das Volk dieser Stadt ist erwacht und fängt sein Tagewerk zu betreiben an. Man könnte dessen Charakter weissagen aus der Stunde des Erscheinens auf dem Schauplatze der Beschäftigung — doch eh wir dies tun, wirf noch einen Blick weiter hinaus über die Grenzen der eigentlichen Stadt — siehe, dort ist ein seltsamer Garten, in den du gestern gelangtest, als plötzlich die lange Vorstadtgasse abbrach. Wie ein breiter, grüner Gürtel läuft er um die Stadt herum, einst Glacis10 der Festung, nun in der Tat ein anmutiger Garten, mit grünen Rasenplätzen bedeckt, nach allen Richtungen von Alleen durchschnitten, ein wohltätig Luftreservoir, dahin sich in der Abendkühle gerne und zahlreich die Bevölkerung ergießt, um sich zu ergehen und freier aufzuatmen.

Und jenseits dieses Gartens, in ungeheurem Kreise herumgeschlungen, breit hinausgelagert, liegt erst jene Masse, die dieser Hauptstadt eigentlich ihre Größe gibt, die Masse der Vorstädte, ich glaube, man zählt deren bereits fünfunddreißig — mit größtenteils sehr schönen Fronten stellen sie sich im Kreise gegen das Glacis auf, gleichsam in ihrem Hereinschieben gegen die Stadt hier an einer unsichtbaren Grenze anhaltend und sich anstaunend; denn weiter dürfen sie gegen den luftigen, gesundheitbringenden Garten des Glacis nicht vordringen: aber dafür machen sie sich draußen breit und fressen immer weiter und weiter den Raum hinweg; denn siehst du, obwohl sie dort gegen Südwest über einen Hügel steigen, dann sanft ins Tal sinken, dort breit auseinanderfließen bis ans Gestade des Donauarmes, ja denselben überschreiten, das jenseitige Inselgestade dicht überfüllend, dann wieder steigen und wieder sinken ans Ufer des Flusses Wien und dann jenen ersten Hügel anklimmen — obwohl sie an manchen Stellen fast unübersehlich breit hinausgehen, bis sie sich allmählich mit mehr und mehr Gärten mischen, die weißen Punkte der Häuser einzelner auseinanderstreuend, und endlich an das grüne Gefilde stoßen, das wohl die Grenze der Stadt, nicht aber der Häuser ist; denn weit und breit in dasselbe herumgestreut liegen die Landhäuser, winzige weiße Punkte, herüberleuchtend wie ferne Segel in einem duftigen, grünblau dämmernden Meere — obwohl schon unzählige der einstigen Dörfer um Wien von den Vorstädten verschlungen sind und jetzt als Städte noch meistens ihren einstigen Dorfnamen führen: so ist des Wachsens und des Bauens noch immer kein Ende; denn siehe dort hinaus gen Süden, wo der schöne sanft dunkelgrüne Rücken des Wienerberges hinüberziehet, da siehst du auf seiner Höhe eine kleine Säule, die Spinnerin am Kreuz genannt. — Dort herein, gerade auf uns zu führt eine mächtige Straße, sie kommt von unserm Hafen Triest und knüpft uns an den ganzen Süden. — Nimm nun das Fernrohr hier und suche die Straße; dort, wo jene ferne, schwache Staubwolke aufgeht, muß sie sein — — nun was siehst du? Einen langen Zug, Wagen an Wagen, langsam fahrend, alle gegen die Stadt — an ihnen vorüberjagend hinein und hinaus die vielerlei leichten Wagen und Reiter und zwischen ihnen wandelnd die Fußgänger und Wanderer und Herden von kleinem Vieh und Wagen, die weder zu jenen ganz schweren noch zu diesen leichten gehören. Jene schweren Wagen, die du siehest, bringen vielnamige Waren in die Stadt, aber ein großer Teil derselben, die du mit einem dunkelroten Stoffe beladen siehst, kommt von jener Gegend, aus der du hinter dem Berge einzelne Rauchsäulen aufsteigen siehest, und bringt unablässig und unermüdlich jenes Materiale, woraus sich dieses riesige Häusergewimmel nach und nach erbaut hat: die Ziegel — und im Wienerberge liegen noch und harren unermeßbare Schichten von Ton, daß man noch ein Wien und noch eins und weiß Gott wie viele aneinander fortbauen könnte, bis der Berg erschöpft und eben, aber auch von der Stadt verschlungen wäre! Und sieht man so zu, wie sie sich sputen und treiben und wirken, so sollte man meinen, sie hätten auch nichts anders im Sinne.

Und da du das Rohr einmal in Händen hast, so gehe nun damit etwas links — siehst du am Rande der Stadt jenes palastähnliche Gebäude? Es ist ein Wagenraum, aber für große, mächtige Wagen, deren gleich immer eine ganze Reihe aneinandergehängt daraus hervorfährt, von furchtbaren, unbändigen Rossen gezogen; ihr Schnauben ist erschütternd und der Dampf ihrer Nüstern geht als hohe, dunkle Säule durch den Himmel; sie zermalmen jeden Widerstand, und ihrem Laufe vergleicht sich nur der Flug des Vogels, und dennoch nur ein Mensch, ein kleiner Mensch, du würdest ihn mit deinem Rohre kaum sehen, mit einem sanften Druck seiner Hand bändigt er die Rosse, daß sie dastehen, still und fromm wie zitternde Lämmer. Ei — dort fährt er ja — siehe, die dunkle Linie schiebt sich durch die Saaten hin — sieh zu, eh sie dir enteilt. Schon steht die erste Rauchwolke weit hinter ihr am Himmel, aber auch ihre zweite und ihre dritte — jetzt deckt sie jener Abhang, jetzt ist sie wieder sichtbar, deutlich hinausschwebend — jetzt ist sie verschwunden, und nur der Rauch zerstreut sich langsam am Himmel.

Wie das majestätisch ist! Und der Mensch, das körperlich ohnmächtige Ding, hat das alles zusammengebracht; die furchtbar gewaltige Naturkraft, blind und entsetzlich, hat er wie ein Spielwerk vor seinen Wagenpalast gespannt und lenkt sie mit dem Drucke seines Fingers — und so wird er auch noch andere, noch innigere, noch grauenhaftere seinem Dienste unterwerfen und allmächtig werden in seinem Hause, der Erde. Die Welt wird immer schöner und großartiger — fast ist es betrübend, sterben zu müssen!

Hast du hier den Menschen in seiner Stärke gesehen — gehe nun mit dem Rohre einen Finger breit links und du siehest ihn in seiner Schönheit. Ein alter, vornehm belasteter Palast steht am oberen Ende eines Gartens: es ist das Schloß zu Belvedere. — Ein kleiner schwacher Mann ruhte einst dort aus von seinen Taten, die die Frucht eines eisernen Willens waren, der in dem kleinen schwachen Manne wohnte, und die in ihrer Gewalt durch Europa klangen und wie einen Halm die Säulen brachen, auf denen der gefürchtete fanatische Halbmond stand. — Jetzt ist es still in den Hallen des Schlosses; denn der kleine schwache Mann ist längst begraben, und obwohl an Hunderte von Helden in dem Schlosse sind, obwohl ein Kranz der schönsten Frauen dort weilet und Rinder und Rosse, Hirsche und Reiter und Wälder und Felsen, Gärten und Blumen und aller Tiere eine unzählige Menge: so ist es doch dort totenstille; denn als Bilder, als schöne, ehrwürdige Blüten der Menschenseele hängen sie dort, dicht Wand an Wand bedeckend, als Denkmal der Größe, der Tiefe, der Liebe, der Innigkeit des menschlichen Herzens. Es ist eine würdige Nachkommenschaft des Helden, der einst hier gewandelt.11

Weiter vorn ist der Sommerpalast des Fürsten von Schwarzenberg und rechts davon die gewaltige Kuppel der Kirche des heiligen Karolus mit ihren zwei schlanken, fast orientalischen Säulen, gleich daneben das symmetrische Gebäude mit dem schönen Blechdache ist die polytechnische Schule und von da weiter links, an schönen, fast palastähnlichen Privatgebäuden vorüber, trifft dein Auge auf ein Haus von großem Ansehen und Umfange — es ist ein seltsam Haus; man macht darinnen ein Ding, das an sich von geringem, man möchte sagen, von gar keinem Gebrauche ist — aber durch Übereinkunft schlummert in dem Dinge der Inbegriff aller andern, und es wird täglich erstrebt, heiß erstrebt von Millionen Händen und täglich weggeworfen von Millionen Händen: das Geld, ein Ding, erst harmlos erdacht zur Bequemlichkeit der Menschen, ein hohler, unbedeutender Vertreter der wahren Güter, um sie, die großen, plumpen, unbequemen, nicht allerorts mitführen zu dürfen — dann sachte wachsend in mählicher Bedeutung, unsäglichen Nutzen gewährend, Dinge und Völker mischend in steigendem Verkehr, der feinste Nervengeist der Volksverbindungen — endlich ein Dämon, seine Farbe wechselnd, statt Bild der Dinge selbst Ding werdend, ja einzig Ding, das all die andern verschlang — ein blendend Gespenst, dem wir, als wäre es Glück, nachjagen, — ein rätselhafter Abgrund, aus dem alle Genüsse der Welt empor tauchen und in den wir dafür das höchste Gut dieser Erde hineingeworfen haben, die Bruderliebe; denn sein leichter Verkehr (ein Herzogtum kann man in einer Tasche tragen) reizt zur Anhäufung, sein Allwert lockt zum Erwerb, dieser, der saure, zum Genuß als Lohn; und dieser als Afterglück reizt zur Steigerung, weil keiner dem lechzenden Herzen hält, was er versprach, und so geht es fort; wieder Erwerb, wieder Genuß, immer steigend, immerzu — größerer Gewinn, größerer Genuß, und der da stürzt in der hastigen Jagd, hat dann Neid und Groll gegen die andern, weil er wähnt, er sei arm. — Und so in toller Verkehrtheit des Begriffes »Glück« jagen Völker, jagt fast die Menschheit in zitternder Hast nach der Wechselmarter: Erwerben und Verzehren, indes ihm sein einzig Glück aus den Händen fällt; hold und selig zu spielen im Sonnenschein der Güte Gottes wie der Vogel in den Lüften: selig und arm — — nein, nicht arm; denn zum Bedürfnis ist eine Überfülle da, und reich und glücklich macht die Liebe und die Fröhlichkeit der tausend um uns herum Mitspielenden. — — Aber es muß wohl so sein, so gewiß, als es einst anders werden wird; in dem riesenhaft angelegten Erziehungsplane des unbegreiflich rätselhaften Geschlechtes, Mensch genannt, wird es wohl liegen, daß er auch diese Erfahrung mache, und von ihr zu andern und wieder andern sich rette, bis die kurzen Jahrtausende seiner Kindheit vorübergegangen sind und der Jüngling sich sacht des sanften Gutes in sich bewußt wird, das ihn zu stillerer Menschheit weiterführen wird, seiner moralischen Freiheit. — Und somit rolle das Geld seinem Zwecke und seiner Bestimmung entgegen.

Gleich links von dem Münzhause12, bloß durch jenen blauen Wasserfaden getrennt (es ist der Neustädter Kanal13), liegt ein anderes Gebäude, wo man auch ein Ding aus Metall macht, das beinahe so nützlich ist wie das Geld und fast nicht so schädlich, nämlich die Kanonen, die Zähne, die wir dem Fremden weisen, wenn ihn nach unserem Gute gelüstet14 — sie sind nur ein zeitweiliges Gut und taugen nur so lange, bis einmal die gesamte Menschheit vernünftig wird. Dann hat bloß hie und da das Söhnlein eines Vornehmen ein solch Ding zum Vergnügen, das man ihn losschießen lehret des wundersam starken Schalles wegen. Bis aber jene Zeit kommt, sind noch immer solche Häuser nötig, wo man sie macht, und auch solche, wie du wieder weiter links eins siehest, ein großes, schönes Haus wie der Palast eines großen Fürsten. Es steht dort gerade an jener Straße, wo du so sehr aus- und einfahren siehest, und ist geschnitten von mächtig großen Pappeln, die in einer Allee dahin führen. — Wenn du das Rohr auf sein Mittelschild richtest, so kannst du die Aufschrift lesen: »Patria laeso militi«, zu deutsch: »Das Vaterland dem beschädigten Krieger«. Es ist das Invalidenhaus15, und zwar, wie gesagt, nur so lange tauglich, als man auch das Kanonenhaus braucht, aber es lebt noch keiner, der es wüßte, wann jene Zeit kommen wird, da beide nicht mehr nötig sind. Die Straße, die an dem Gebäude vorüberführt und deren Lauf du auch außer der Stadt dort in dem gelben Felde an dem leichten Staubstreifen, der sich hinauszieht, verfolgen kannst, ist die nach Ungarn und in den Orient, Tag und Nacht befahren von den kleinen Rossen des Ungarlandes, deren oft fast eine Herde vor einem Wagen läuft, gelenkt und ermuntert von jenem malerischen Menschenschlage mit den weiten weißen Beinkleidern und dem breiten Hute, der ein verbranntes, höchst ausdrucksvolles Gesicht beschattet. Es sind noch unverkennbar die Nachkommen der Söhne der Steppe. Aber auch noch eine andere Straße haben wir nach dem Orient, eine noch ergiebigere, ob es gleich auf ihr nicht so wimmelt wie auf dieser, und gar kein einzig Stäubchen ist. — Wie einen breiten schimmernden Silberbach siehest du sie dort hinausgehen durch jenen dunkelgrünen Laubwald. Es ist unser schöner Strom, die Donau, und der Laubwald ist der Prater, der Garten von Wien. Große schimmernde Häuser gehen auf dieser Straße abwärts, Menschen und Waren aller Art nach Osten führend, darunter auch jene zierlichen, schlanken Fähren, die Geburt unserer Zeit, die Dampfschiffe, abwärts fliegend wie die Wasserschwalbe, aufwärts ruhig wandelnd wie ein Schwan, mit der Gewalt seiner Ruder die Macht der Welle überwindend. Sieh, es wallet dort am Eingange des Waldes die mächtig große, weiß und rote Fahne, ein Zeichen, daß noch heute eines jener Feuerschiffe abgehen wird. — Ei, dort steht ja der schwarze Punkt am Ufer, siehst du, draußen auf dem breiteren Wasserbande rechts, wo jene Mühlen sind, das ist das Schiff. Wie viel Freude, wie viel Tränen wird der schwarze Punkt heute noch sehen.

Nun geh noch weiter links, stromaufwärts, da sind zwei dunkle Linien über dem Strom, fast parallel, sie sind die zwei Brücken, die nordwärts führen, die eine links, uralt, für Wagen und Wanderer nach dem Norden, die andere rechts, neu und bloß für die Wagenzüge der Eisenbahn. Am Eingange des Praters siehst du auch den Bahnhof. Besieh dir auch rechts ab von den Brücken jenseits des Stromes jene gelblich fahle Fläche, wogend von Getreide und schier unermeßlich hinausgehend bis zum Horizonte, der in matter Farbe an dem Himmel verschwimmt — mit dem Segen Gottes ist das Feld überdeckt, Nahrung und Heil für die Hauptstadt, aber auch einstens einmal Glück, einmal Unglück bringend; es ist das Feld von Aspern und von Wagram16. Man hat vor nicht langer Zeit dort einmal eiserne Körner gesäet, und wer weiß, ob nicht die Millionen goldner, die eben dort der Ernte entgegenreife, eine Frucht der eisernen sind; denn dort haben die Völker gelernt, daß einer besiegt werden konnte, der bis dahin unbesieglich schien. Da man jene Körner säete mit vielen tausend Arbeitern, da war diese Stelle, auf der wir stehen, gedrängt von Menschenangesichtern, und jede andere Stelle unter uns, wo nur der Turm immer eine Lücke gegen jene Seite zeigte, wenn nur so groß wie ein Menschenauge: da war auch ein solches Auge, und alle die Antlitze und alle die Augen waren gerichtet nach der einen Stelle, nach dem Saatfelde — und manches Auge dort wird ahnungsvoll hieher geblickt haben nach der luftigen befreundeten Pappel seiner Stadt, und in manchem brechenden wird diese Spitze noch wie ein Phantom gezittert haben. Der Tag ging vorüber, die Kämpfer gingen vorüber, und die Natur hüllte schamhaft einem Blumenteppich auf diese Stelle.

Wenn du nun noch weiter links gehst, so streift dein Blick über die Inselstadt, die unser Strom vor wenig Jahren so arg heimgesucht hat.17 Wieder auch dieser Turm war der Ort, von wo aus tausend Blicke auf jene Stätte schauten, wie Häuser und Eis ruhig zum Himmel emporstarrten, und wo sie angstvoll harrten, ob die aus Schollen gebaute Stadt über die andere emporwachsen werde, ob nicht — und draußen lag es gegossen weithin wie ein silberner Spiegel blitzend, die Dörfer und Häuser hineingelegt wie ein schwarzer Punkt; der graue Märzhimmel wie eine ruhige matte Kuppel sah unbeweglich nieder, und wo die Sonne das Grau durchdringen konnte, da legte sie flimmernde Mosaik und prachtvoll glitzernde Bilder auf den furchtbaren Spiegel. Die Wasser rannen wieder ab und manches Leben mit — aber die Inselstadt steht wieder heiter und glänzend da, und die Flut von Leben, die hier wogt, schloß sich über jene verlorene, wie die Luft an jener Stelle wieder zusammenfließt, wo man sie verwundet hat.

Willst du nun wieder zur Stelle gelangen, von der wir unsere Rundschau begonnen haben, so schreite von der Inselstadt links, dann über den kleinen gewundenen Strom (eine zu uns hereingesendete Ader der Donau) durch eine Masse von Vorstädten, die gerade dort, wo das Glacis wegen kriegerischer Übungen und Festlichkeiten ohne Baumpflanzung gelassen ist, eine lang gedehnte, schimmernd weiße Linie ziehen, darunter jenes neue Haus, das sich so mächtig und fast ägyptisch ernst und schwer dem Sandplatze entlang zieht — es ist das neue Kriminalgebäude18. — Wenn einst jene vernünftige Zeit erscheint, wo man keine Kanonen mehr nötig haben wird, da wird auch dieses Haus unbrauchbar werden und vielleicht erschallen dann Freudengesänge in den Zellen, wo jetzt die Reue und Verzweiflung brütet — oder vielleicht ist das feste Haus längst in Staub zerfallen, und etwas anderes steht wieder an seiner Stelle, ehe jene Zeit gekommen.

So wie dies Haus vor innerem Unheil wahret, so wahrt das andere rechts gegenüber vor äußerem. Es ist die erste große Alserkaserne19, ein regsamer Bienenstock von Krieger- und Waffengewimmel.

Nun gehe noch jenen Schutt von Häusern durch, der links sich über die Höhe lagert, ein Gewirr vielnamiger Vorstädte: Josephstadt, Altlerchenfeld, Neubau, St. Ulrich, Mariahilf, Leimgrube usw. . . . So, und nun siehst du wieder den sanft grünen Rücken mit der kleinen Säule, den Wienerberg, und unsere Rundschau ist vollendet.

Siehe, die Sonne ist unterdes heraufgestiegen und gießt ihren Schimmer weithin und blendend über all den Schmelz und die Abenteuerlichkeit und Mannigfaltigkeit der ungeheuren Stadt. — Den Schauplatz haben wir durchgangen . . . und nun, welch ein Volk wohnt und treibt in diesen tausend Mauern?!

Obwohl die Sonne dem Landmanne draußen und uns hier oben längst schon aufgegangen ist, obwohl wir schon mit dem Auge die ganze Stadt durchwandelt haben, so bricht doch für diese unten erst der Morgen an, und ihre Regsamkeit beginnt. — Es ist ein tausendgestaltig, ein seltsam Volk, durcheinandergewürfelt mit allen Vortrefflichkeiten und Tugenden und mit allen Leidenschaften und Lastern, und wenn du sagen gehört, wie Frohsinn und Herzensgüte, so wie Scherz und Schalkheit der eigentliche Grundzug dieses Volkes sei, und obwohl es wahr ist, was man dir sagte: so hoffe doch nicht, daß du dieses am ersten oder zweiten oder zehnten oder hundertsten Tag herauskostest. — Diese Stadt muß wie ein kostbares Nachessen langsam, Stückchen für Stückchen mit Prüfung ausgekostet werden, ja, du mußt selbst ein solches Stückchen geworden sein, ehe der ganze Reichtum ihres Inhaltes und die Reize ihrer Umgebungen dein Eigentum geworden sind. Nur der langsamen und anhaltenden Beobachtung gibt sie sich hin, aber dann tief und innig und nachhaltend. Darum geht mancher von hier fort und trägt nichts mit als ein Getümmel in seinem Kopfe. Erst lerne jede Öde überwinden, die dich fassen wird, wenn du täglich aus deiner Wohnung gehst und täglich andere Menschen auf der Gasse siehest; wenn du an Orten der Freude bist und alles um dich braust und jubelt, ohne sich um dich zu kümmern, daß es dir fast gespenstisch einsam wird — harre nur, gehe immer aus, sei immer hier, werde gemach einer aus ihnen, und siehe, in geheimer Neigung wirst du alle auf der Gasse erkennen, ja so erkennen, daß du den Fremden sogleich herausfindest. Sie werden überall mit dir reden, sie werden dich einladen, sie werden dir Freude zuteilen; denn du bist jetzt einer der Ihren, sie erkennen dich und geben sich dir — — und wie du auch jetzt befremdet auf diese Häuser hinabsiehst, wer weiß, ob nicht in einem derselben noch im süßesten Morgenschlummer die zwei Augen zugedeckt sind, in deren Himmel du rettungslos versinken wirst, daß du dann die Stadt ein Paradies heißest, die dich jetzt noch mit so widerstrebenden Elementen anfaßt; — und hüte dich nur, man trägt hier wunderschöne Augen, und von der Herzensliebenswürdigkeit der Wiener haben die Frauen einen mächtig großen Teil empfangen.

Nun geht das Treiben an, sieh, wie auf dem Platze unten der Menschen immer mehr werden; die Fiaker fahren an und stellen sich auf, die großen eisernen Riegel vor den Gewölben lüften sich und der Reichtum der Auslagen beginnt sich zu entfalten, ein blendend Verführungsmittel für das schöne und schönheitsliebende Geschlecht. Und wie sie alle laufen und durcheinanderwimmeln, als fürchteten sie sämtlich, zu spät zu kommen. Da fahren die Wagen und bringen in tausend kleineren Gefäßen das Weltmeer »Milch«, das heute verzehrt werden soll — Stand an Stand drängt sich auf dem Markte, mit Lebensmitteln belastet. Eine Million Tiere ist heute nachts gestorben, daß alle diese unten zu essen haben; ein Wald von Pflanzen wurde abgemähet und hereingebracht — da gehen die Mägde mit ihren reinlichen Einkaufskörbchen und tauchen hinein in das wogende Gesurre — — siehe, auch schon eine Karosse, die über den Platz rollt — und all die Geschäftsleute erscheinen und die Beamten, die in ihr Amt gehen — und es mehrt sich Rauch und Staub über der Stadt; der Wagen und Kutschen werden immer mehr, sodaß ein unausgesetztes Donnern gedämpft heraufschlägt zu unserer luftigen Einsamkeit — — siehe, wie lieblich! Der Morgenhimmel sammelt nach und nach seine Vormittagswolken und die Sonne legt deshalb auf die ausgebreitete Stadt hier Schattenbilder, dort Lichtblicke, daß sie unten liegt wie der Schmelz einer schönen Gold- und Silberstickerei und ihre Größe kannst du daraus abnehmen, wie dort draußen die Ringe der Vorstädte in einem schwachen blauen Dufte schwimmen, während die nahen Teile der Stadt mit der Klarheit eines Camera obscura-Bildes heraufsehen. Nun erblickt man auch schon die Wagen des Adels und reicher Privaten über das glatte Kirchenpflaster unseres Platzes rollen, am Trottoir20 des Hauses zieht sich ein ununterbrochener schwarzer Strom von Menschen hin, wie wimmelnde Insekten — Trommelschlag — dort um die Ecke rücken Grenadiere21: schön und gleich wie eine wandelnde Mauer schiebt sich’s auf den lichten Platz heraus, vor derselben weicht und hinter ihr schließt sich das schwarze Gedränge — die Fenster öffnen sich und schöne neugierige Augen schauen heraus; oder die gestickte Mütze und der rote Schlafrock eines Müßiggängers oder Spätlings, für den es jetzt erst frühmorgens ist; die Musik und die Krieger ziehen vorüber, und eine neugierige Schar, teils Männer, teils Knaben, ziehen ihnen im Taktschritte nach.

Endlich öffnen sich auch die Fenster jenes schönen Hauses, und die Vorhänge fliegen hinauf. Wer mag dort wohnen? Ganz gewiß jemand, bei dem Mitternacht erst Abend ist und später Vormittag Morgen. So, nun sind sie alle erwacht, und der Tag ist da — — nein! Einer oder der andere vielleicht schlummert noch; siehe, dieser wallende, brodelnde Kessel, er treibt und quirlt, als sei das so obenhin und gehe nach irgend einem geheimen unabänderlichen Gesetze fort: aber da sind einige in dieser Stadt, du würdest sie auf der Gasse nicht von den andern kennen, diese sitzen an dem schweren Arbeitstische; ihnen ist von noch einem Höheren die Formel dieses Treibens und Lebens anvertraut, daß sie sich schön und glückselig entwickle und nicht jetzt und jetzt in Wirrsal überschlage — alle fühlen die Wohltat ungehemmten Ganges, aber keiner den Zauber, durch den es geschieht — nur wenn er, sei es auch leise, gehemmt wird, dann meint er, es gehe alles gefehlt und er könnte es besser machen. Laß sie, es ist so die Art des menschlichen Geschlechtes! Mancher nun von denen, auf die ich oben deutete, mag wohl noch zur Zeit, als wir heraufstiegen, bei der Lampe gesessen und der Formel nachgesonnen haben, und als da unten das Leben, für dessen Wohl er sorgt, erwachte, löschte er die Lampe aus und suchte kurzen Schlummer — oder auch er suchte ihn nicht, sondern wandelt jetzt unter den Wachenden wie einer aus ihnen und läßt sich von seinen Untergebenen berichten, was sie meinen und was not tut. Ist dir dieses Treiben noch nichtig? Wächst dir nicht eine furchtbare, ernste Bedeutung aus dem Gewirre dieses Häusermeers empor? Ein Stück und manchmal schon bedeutende Stücke der Weltgeschichte wurden hier geprägt und werden noch gepräget werden.

Aber lasse selbst Weltgeschichte Weltgeschichte sein und denke und male dir nur recht deutlich die Geschichte eines einzigen Tages, einer einzigen Nacht, wie sie hier etwa sein mag. Es ist kein Glück auf dieser Erde, es sei so groß und innig, daß es nur eben noch ein Menschenherz ertragen kann: heute Nacht war es in diesen Mauern. Der verzagende Jüngling — es waren zwei Lippen, so unerreichbar wie die Sterne des Orion — heute streiften sie zum erstenmal über die seinen, und da saß er auf seiner Stube und hielt sich mit beiden Händen die Augen zu, daß er’s festhalte, ja, daß er’s nur begreife, das Glück, und daß es ihm beim Licht des Tages nicht entschwinde. — Das Kind entschlief im Arme einer neuen, fast fabelhaft schönen Puppe. — Eine Jungfrau lag vor dem Bilde der Gebenedeiten22 und flehte, daß jeder Tag so schön sei wie heute, denn sie war mit dem Längstgeliebten eingesegnet23 worden. — Einer hat das große Los gezogen — Einer in den Armen der schönsten Frau gezittert — Tausend Lippen mögen sich geküßt, tausend Arme ineinander geschlungen haben. — Dem Dichter erschien in der trunkenen Sommernacht sein Ideal zum erstenmal sichtbarlich, und der Astronom zählte die Sterne. — Eine Mutter besuchte mit der Lampe nach Mitternacht ihre rosenroten, schlummernden Engel — Geizhälse zählten das Geld — Träume zuckten durch tausend Herzen — Wüstlinge feierten eine Orgie — Der Spieler trug das ganze Vermögen von zwei andern nach Hause — und was da ruhte im sorgenfreien Schlummer, über das wurde feenhaft der goldgestickte Traumteppich gewoben, daß sie sanken und schwebten in einem Meere der Wunder. Aber auch, es gibt keinen Jammer und kein Unglück, es sei mir gräulich immer: heute war es auch in dieser Stadt. — Der Tod ging in hundert Häuser und zerdrückte überall ein Herz. — Ein blasser Mann lud eine Pistole, im Zimmer neben ihm schläft sein Weib und Kind, morgen ist Kassenuntersuchung, und dann Festung24, wenn er nicht früher — — er wischt die Stirn, es ist ihm märchenhaft ferne, wie er auch einmal unten gegangen wie eben die Nachtwandelnden und unschuldig war wie sie. — Tausend Kranke zählten die ewig zögernden Schläge unserer Turmuhr, und die Wächterin schlief neben ihnen. — Jenes Mädchen zerdrückt vor Schmerz das Glas von dem Brustbilde des schönen falschen Mannes, daß ihr das Blut von den Händen rinnt. — Eine andere öffnet unter tausend angstvollen Herzschlägen dem Verführer ihre Zimmertüre. — Verschmähte Liebe klagt im Liede ihr Leid in die Nacht hinaus und eine Wachtel daneben schlägt leichtsinnig darunter. — Auf sorgenvoller Armut liegt der Schlummer wie Blei, und die Lusttöne heimkehrender Schlemmer klingen in ihn hinein. — Das Laster martert seinen Verehrer, und durch Höhlen und Säle schreitet der Vorwurf und webt ein Stachelhemd um das Herz des Schlummernden — die Träume legen heiße Steinhüllen darüber, indessen oben die Sterne ruhig glitzern, das Rollen der Wagen einzelner wird und endlich, so wie die Reden und Fußtritte spät Heimkehrender, gänzlich schweigt. Diese Zeit ist um zwei Uhr nachts herum — — dann gemach lichtet sich der Himmel, und bald beginnt jenes Rasseln der Nahrungswagen, indes der Tag heraufkommt und die Sonne, so mild und unschuldig über die Stadt aufgehend wie über einen grünen Grasteppich, in dem die Tierchen spielten oder schlummerten und nun freudig an ihr Tagewerk gehen werden.

Welch eine Fülle, unermeßlich reich an Freude und an Schauer, liegt nicht in der Geschichte einer einzigen Nacht einer solchen Stadt — und unten treibt sich alles harmlos fröhlich und ist harmlos fröhlich; denn der einzelne Unglückliche wird nicht gesehen in dieser Menge oder er macht ein Gesicht so heiter wie sie, weil er stolz oder starrköpfig ist.

Sie alle, die du unten so winzig wandeln siehst, sie reden, grüßen sich, es schallt das Pflaster unter ihrem Fußtritte, aber wir hören es nicht, es ist stumm unter dem allgemeinen Brausen, wie wenn die dunkle Herde der Grundeln25 in der Tiefe des Wassers, das ober ihnen wallt, ein und aus durch die Gassen und Tore ihrer großen, feuchten steinernen Stadt schlüpfet.

Was treibt und bewegt nun alle, daß sie ebenso rastlos strömen und dringen und eilen, als würden bunte Schnüre durch die Gassen gezogen?

Was?! Es ist kein Interesse, so hoch und niedrig es in der Menschheit sei, das da nicht wirkt, um jenen treibenden, kreisenden Wirbel zu erzeugen. — Da ist die breite, mächtige, schmähliche Basis der Menschheit, die Habsucht mit ihrer Stiefschwester, der Verschwendung. — Ihre Opfer siehest du zu Tausenden unten gestachelt rennen, daß sie es einem andern zuvortun und ihm Weg und Zeit abgewinnen, daß es einkehre in ihr Haus, auf daß es wieder glänzend hinausgehen könne. — Der eine trägt schon den Gewinn in der Tasche und hastet weiter; der andere trägt ein furchtbar pochend Herz, denn alles kann heute noch verloren sein — und Erwerben, Erraffen, Erlisten den ganzen Tag so fort und fort, und morgen wieder von Neuem begonnen. — Dann ist der Hunger, er treibt zu den Tausenden der abenteuerlichsten Leistungen und Arbeiten, daß er nur verscheucht werde, der bleiche und schmutzige Geselle — da geht die Grisette26 und läßt Wimpel und Flagge wallen, daß sie nur die Gier anlocke, die in müßiger Weise herumlauert, um sich zu sättigen und zu ekeln — da geht der Gewerbsmann aus der fernen Vorstadt und trägt die fertige Arbeit den Kunden zu — der Müßiggänger treibt sich — der Eitle hat die schönsten Kleider an und zeigt sie — ihm vorüber, nachlässig gehalten, geht der Dichter und trägt ein Himmelreich durch das Getose — und der Liebende hat eben die zwei Augen leuchten gesehen — die Zöglinge werden von dem Lehrer in die Luft geführt — der Künstler trägt seine Herzensträume, die Himmelsmelodien, die Farbenwunder in seinem Kopfe mit, an den vergebens die Wellen des äußeren Brausens schlagen — ein unglücklich jammernd Frauenherz sucht den kühlen, dunklen Dom unter uns, daß es sich in Andacht ergieße, und der Architekt steht neben ihr und bewundert die Dichtung, die sie hier mit Stein und Mörtel aufgebaut haben — und Tausende strömen nach rechts und links, die all das nicht tun, sondern ein und derselben, obwohl vielgestaltigen Göttin nachjagen, der Freude. — — Indes geht der glänzende Tag gemach herauf, so freundlich oder so gleichgültig, wie über eine prachtvolle Wildnis — sein leuchtendes Blau wird beschmutzt von den quellenden Rauchsäulen. — Indes die außen treiben, geht es auch im Innern der Häuser nicht minder lebhaft zu. Es wird gekauft und verkauft, gehämmert und geschnitten, gearbeitet und gefördert; viele tausend Zeilen werden geschrieben, viele tausend gedruckt, musiziert und gespielt, und an die tausend Hände sind beschäftigt in millionfacher Gestalt, das zu bereiten, was heute verzehrt werden soll; denn wenn der Hammer der Uhr unter uns die Stunde zwölf schlägt, von da an ist jede Stunde eine Eßstunde, und dem letzten Mittagmahle im Palaste reicht das erste Abendessen in einer Kammer die Hand, wenn es nicht etwa noch früher kommt als jenes. Und dann ruhen die Geschäfte und die Welt des Vergnügens beginnt. — Siehest du draußen auf dem Bergesabhang die weißen Punkte im Grünen leuchten? Das sind ihre Landhäuser, das sind die Orte ihrer Lustfahrten, dahin gehen Wagen aller Art und bringen in das Grüne; — dort wogt die Stadt hinaus, daß du meinst, alle seien an den einen Ort gefahren, und wenn du an den andern kommst, so sind auch alle dort, und wenn du in die Stadt wanderst, so geht keiner ab. Tag und Nacht wird gesonnen, tausend Hände sind in Bewegung, daß neue Altäre ersonnen, neue Altäre gebaut werden der tausendäugigen Göttin Vergnügen, und überall wird es ausgebreitet und überall wird es in den Weg gelegt, geschmückt, mit großen Zetteln an die Mauern geklebt, was heute noch zu haben ist, daß man sich daran ergötze — und da sind alle Sorten von den Späßen des Hanswurstes27 im Prater an bis zu dem höchsten Genusse der Kunst, und jeder sucht sich, was ihm und dem heutigen Tage zusteht — indes geht Glück und Unglück dieses Tages gelassen seines Weges und beseligt hier ein Herz und drückt dort eins entzwei — aber die Menge weiß das eine nicht und nicht das andere. — Dort klingt Musik und Freude, dort geht die Schar der Spazierenden, hier ein angehender Selbstmörder, dort ein Jüngling, eben aus der Einsamkeit des Landes gekommen, dem sein Herz in diesem Gewirre vor Heimweh zerspringen möchte — und lustige Reiter jagen vorüber und lachen sich zu — indes entzündet sich sachte die Abendröte und flammet von jenen Bergen herüber dem weiten Lande seinen Abschiedsgruß zu, und auch dem kleinen Pünktchen Wien. Und wenn die Oper ausgeklungen und die Vorhänge der Theater gefallen, die Wagen heimrollen, die Zecher die Schenken verlassen, so zünden sich die Sterne an und sehen nieder, und eine Nacht folgt wie die gestrige und ein Tag wie der heutige — — und so schieben sie sich fort, einer gleich dem andern und jeder so verschieden von dem andern, und so bauen sie im eigenen Treiben und Rollen freitätig und doch bewußtlos jenes rätselhafte Ding auf, das Schicksal, vor dem Reiche entstehen und vergehen, ohne es berechnen zu können, und das wir doch selber durch langsamen tausendfältigen Beitrag an Tugenden und Lastern aufgerichtet haben.

Die Glocke unter uns verkündet Mittag und von den hundert Türmen der Stadt hallt es nach — so lasse uns denn wieder hinabsteigen. Tauche denn nun getrost in dieses Treiben, und es wird an dir sein, dir Glück oder Unglück darinnen zu suchen; beides ist in Menge da zu haben.

Nimm die Menschen und Bilder, wie sie kommen. Jetzt ein kleines unbedeutendes Wesen, jetzt ein tiefer Mann voll Bedeutung; jetzt Scherz, jetzt Ernst, jetzt ein Einzelbild, jetzt Gruppen und Massen — und alles dies zusammen malet dir dann zuletzt Geist und Bedeutung dieser Stadt in allem, was in ihr liegt, sei es Größe und Würde, sei es Lächerlichkeit und Torheit, sei es Güte und Fröhlichkeit. So, nun steige hinab und trete an das nächstbeste Individuum und beachte es und studiere es, und werde gemach auch einer aus diesen allen, welche in Wien leben, und leben und sterben wollen nur in Wien.

Ein Gang durch die Katakomben

Wir sind so gewohnt worden, unsere Voreltern als gute dumme Hanse zu betrachten, daß, wenn von was immer für geistiger Größe die Rede ist, wir sogleich mit den Fortschritten unsrer glorreichen Zeit da sind, worunter jeder die versteht, in der er gelebt hat, und daß, wenn von einer Torheit die Rede ist, die dort oder da geschehen, wir sogleich schreien: »Dies ist doch unglaublich; so etwas geschieht in dem Jahre 1842!« Ich aber frage: »Warum sollte es denn nicht geschehen?« Was wir auch in gewissen Richtungen gewonnen haben, so blieb es doch meistens nur Eigentum einzelner oder weniger — was wir verloren haben, das verloren alle. Ich will mich deutlicher erklären. Die Wissenschaft, der Gewerbfleiß, in gewissen Zweigen auch die Kunst (aber weniger) haben erstaunliche Fortschritte gemacht — aber das Gute, ich meine das Menschlich-Gute, was diese Dinge brachten, wie vielen wurde es zuteil? Oder liegt nicht die Masse in eben den Banden des Rohen gefangen wie einst, nur sind diese Bande beweglicher und polierter — und von denen, die sich in den Besitz des menschlich Erworbenen setzten, der Wissenschaft, der Politik, der Kunst, bei wie vielen ist es zuletzt Sitte und Schmuck des Herzens geworden, als ein wirklich Menschliches? Oder tragen sie es nicht als toten Schatz, als bloßes Wissen oder Können in sich, es höchstens zu Nützlichem verwendend, nicht zum Guten? Ja durch vervielfältigte geistige und leibliche Verkehrsmittel sind wir feiner, glatter, geschmeidiger geworden, wie Kiesel, die sich aneinander abreiben: aber ist deshalb der Kiesel innerlich weniger hart? Mit Betrübnis und Entsetzen müssen wir erfahren, wenn heute diese Politur, diese, ach, so fälschlich »Bildung« getaufte Politur von der Leidenschaft durchbrochen wird, daß da Feuerflammen herausfahren, wie wir sie kaum in alter oder ältester Zeit gesehen haben, — oder gibt an Gräßlichkeit und Ausschweifung die Französische Revolution irgendeiner Tatsache der frühern Zeit etwas nach? — Unverkennbar ist es zwar, daß wir fortschreiten; denn solche Szenen der Weltgeschichte werden, gottlob, seltener — aber wann wird jene Zeit kommen, in der ein Krieg ebenso ein Unding der Vernunft sein wird, wie ein Trugschluß schon heute ein logisches Unding ist? — Es ist ein seltsam, furchtbar erhabenes Ding, der Mensch!! Und schwindelnd für das Denken des einzelnen ist der Plan seiner Erziehung, die ihm Gott als Geschenk seiner sittlichen Freiheit übertragen, daß er sie in Jahrtausenden, vielleicht in Jahrmillionen vollende! — — Wie lange, wieviel Billionen Jahrtausende muß dann die Großjährigkeit dauern? Ich sagte oben, daß, was wir verloren haben, alle verloren. In der Glätte und Verflachung unsrer Zeit ging alle tiefe Gemütskraft und Glaubenstreue unsrer Voreltern unter, was sie auch immer unter uns stellen mag an Wissen und Erfahrung: fromme Kraft stellt sie weit über uns, und diese war allen gemein, sie war Geist der Zeit; denn nur der bringt das Bleibende hervor, was er durch Individuen zwar wirkt, aber er erzeugt selbst die Individuen. Darum baute dieser Sinn einst jene rührend erhabenen Kathedralen und malte jene Bilder, die wir heute bloß bewundern können, aber trotz aller Trefflichkeit unserer technischen Mittel nicht mehr nachmachen, indes unser Zeitgeist auf das sogenannte Praktische geht, worunter sie meistens nur das Materiell-Nützliche, oft sogar nur das Sinnlich-Wollüstige verstehen; daher wir Eisenbahnen und Fabriken bauen, während sie Dome und Altäre, und wenn es ja heutzutage eine Kirche werden soll, so wird sie wieder sehr nützlich gebaut, oder sie sähe, wie ich es leider in meinem Vaterlande schon erfahren, wenn sie keinen Turm hätte, einem Zinshause ähnlich. Ja, oft nicht einmal bewundern mehr kann die Zeit jene kräftig schönen Werke der Vorzeit; denn wieviel Tausende werden täglich über den Platz von St. Stephan gehen, ohne von dem Dome desselben etwas anders zu wissen, als daß er sehr groß ist. Wenn mir jemand den Aberglauben unserer Voreltern einwenden will, so muß ich ihm leider entgegnen, daß heute der widerwärtige Indifferentismus der sogenannten gebildeten Klassen zu dem alten Aberglauben, den die Massen nicht abgelegt haben, noch hinzugekommen ist — und zuletzt ist Aberglaube schöner, heiliger, kräftiger als jene sieche Kraftlosigkeit des Indifferentismus, der bei den Worten: Gott, Unsterblichkeit, Ewigkeit nichts denkt und sie nur als Redeformen in dem Munde führt, die er überkommen hat, wie andere Worte, bei denen er auch nichts denkt. Dies ist neben dem so vielen Nützlichen der Buchdruckerei eine Schattenseite derselben, daß, seit sie die Bücher so vervielfältigen, tausend und tausend Menschen aus der Welt gehen, ohne darin einen einzigen Gedanken gehabt zu haben; denn sie lesen sich einen gewissen Vorstellungskreis, eine Art Natur zusammen und sagen ihn so lange sich selber und andern vor, bis sie sterben, und wissen nicht, daß sie selber in der Welt gar nichts gedacht haben; darum hat sogar auch unsere Literatur etwas so Wässeriges und Familienähnliches, während die der Alten so frisch und so unmittelbar ist, trotz der Einfalt und Naivität, die wir heute belächeln.

Solche und ähnliche schwermütige Gedanken hatte ich, als ich eines Tages aus den Katakomben des Stephansturmes wieder an das Licht des Tages trat und schnell durch das frivole Treiben der Gasse nach Hause ging.

In diese Katakomben nun will ich den freundlichen Leser begleiten, daß er ein ernstes Stück Vergangenheit vor sich sehe, und daß er etwa anfange, über den ernsten Inhalt der Worte Gott, Weltgeschichte, Ewigkeit usw. nachzudenken.

Wer immer über die Spinnerin am Kreuz (ein schöner Getreidehügel, über den die Triester Straße führt) oder über einen der Westberge Wiens gegen die Stadt kommt, der wird die alte, ernste, große Stephanskirche mitten in dem Häusermeere wie einen Schwerpunkt ruhen sehen und sich dieser Symmetrie erfreuen; aber dies war nicht immer so, sondern bei ihrem Entstehen lag die Kirche sogar außerhalb der Stadt, und wie es eine rührende Sitte unserer Ahnen war, um den Ort, an dem sie sich im Leben Trost und Zuversicht holten, nämlich um die Kirche, auch im Tode zu schlummern, welchen Platz sie mit dem schönen Namen Friedhof belegten, so war es auch um diese Kirche, und manche alten Leute Wiens sagen noch immer statt Stephansplatz Stephansfriedhof28, aber es ist kein Friedhof mehr; denn diese Sitte der Altväter ist ebenfalls aus allerdings sehr nützlichen Sanitätsrücksichten abgeschafft worden, und heute ragt jede Kirche geradewegs aus dem lustigen Getümmel des Alltagslebens empor und ist fast ein gewöhnliches Haus geworden, so wie sie einst aus den Monumenten des Todes emporstieg und selbst von seinen Schauern umweht war. Oft, wenn ich über diesen Umstand traurig war, dachte ich: wenn sie nur tief genug grüben, so könnten schon die Toten an ihrer Kirche ruhen, und wie wäre es religiös feierlich, wenn jede Kirche, selbst in den Städten, mit einem großen Garten der Toten umgeben wäre, der durch eine Mauer von der leichten Lust der Lebenden getrennt wäre, daß sie ein Gedanke der Ewigkeit anwandeln müßte, wenn sie durch das Gitter einträten.

Der Stephansfriedhof ist keiner mehr, sondern ein geräumiger Stadtplatz mit schönen Häusern und Warenauslagen, und glänzende Karossen rollen über das Pflaster, unter dem die Reste unserer Vorfahren ruhen — ihre Kreuze und Monumente sind verschwunden, das Lob ihrer Tugenden auf denselben ist verstummt, die Denkmale, die sie einst gründeten, um die Stätte ihrer Angehörigen auf ewige Zeiten zu bezeichnen, sind von unserer Industrie und unserem Verkehre bis hart an die Mauern der Kirche gedrängt worden, wo noch manche Tafel aus rotem Stein übriggeblieben ist, auf dem ein betender Vater mit seinen Kindern ausgemeißelt ist oder ein liegender Toter selber mit gefalteten Händen oder Heiligenbild oder sonst Embleme und Wappen, wovon manch Stück durch die Zeit herabgeschlagen oder verwittert ist, und darunter steht Namen und Amt und stehen die Tugenden des Toten — aber wie oft weiß man gar nichts mehr aus der Zeit seines Lebens, und es ist da keiner mehr, um zu sagen: er war unser Ahnherr.

Es ist in neuester Zeit, gegenüber von der Rückseite der Kirche, ein sehr großes Haus aufgeführt worden, und als es bereits prachtvoll und wohnlich mit mehr als hundert Fenstern glänzte, als zu ebener Erde schon die grünen Flügeltüren der Verkaufsgewölbe hoch und elegant eingehängt waren und längs derselben ein breites, flaches Trottoir hinlief, so ging man auch daran, den Platz vor dem Hause bis zur Kirche zu ebnen und das bisherige schlechte Pflaster zu verbessern. Es mußten einst die Grabhügel bedeutend höher gelegen haben, als das heutige Pflaster; denn als man zum Behufe der oben angeführten Planierung und Pflasterung die Erde lockerte, kamen die Knochen und Schädel der Begrabenen zum Vorscheine, und wie ich nebst vielen andern Menschen zufällig dastand und sah, wie man bald die Röhre eines Oberarmes, bald ein Stück eines Schädels, ein Gebiß mit etlichen Zähnen, ein Schulterblatt oder anderes gelassen auf einen bereitstehenden Schubkarren legte und lachend und scherzend und die Pfeife stopfend weiterschaufelte, dachte ich: vor soundsoviel Jahren hat man euch eingegraben und an eurem Grabe wurde gesungen: »Requiem aeternam dona eis, domine!«29, dann deckte man es mit Erde zu und setzte ein Denkmal auf den Hügel, daß man wisse, wer da in Ewigkeit ruhe — und jetzt legt man eure Reste, die niemand kennt, wie das wertloseste Ding auf einen Haufen, um sie an einen andern Ort zu bringen, wo sie wieder nicht bleiben; denn wer weiß, zu welchem Zwecke unsre Nachkommen denselben wieder werden brauchen können.

Außer den Hügeln des Stephansfriedhofes, deren Ruhe, wie wir erfahren haben, nichts weniger als ungestört blieb, haben sich aber jene, deren Rang oder Reichtum es erlaubte, noch ganz andere, festere, sicherere Grabesstätten auserwählt; nämlich nicht nur unter dem ganzen riesenhaften Baue von St. Stephan, sondern auch rückwärts hinaus unter dem ganzen Platze, ja selbst bis unter die umliegenden Häuser, wie z. B. bis unter das sogenannte Deutsche Haus30, unter die Post, ist ein System von Gewölben und Gängen nach Art unserer Voreltern äußerst fest gebaut, und man weiß heutzutage noch gar nicht, wie weit sie sich erstrecken. Sie sind hier unter dem Namen der Katakomben von St. Stephan bekannt und waren lauter Begräbnisstätten, gleichsam eine weitläufige unterirdische Totenstadt. Jedoch trotz der dickeren Mauern, aus denen diese Zellen, als Fundament der Kirche, aufgeführt sind, trotz der Quadern, womit Gänge, Gemächer und Bogen überwölbt sind, ja trotzdem, daß jedes Gewölbe, wenn es mit Toten gefüllt war, zugemauert wurde, fanden dennoch die hier liegenden Schläfer die beabsichtigte Ruhe nicht, so wie sie ihre ärmeren Brüder nicht gefunden, die man über ihnen auf dem Friedhofe in bloßer Erde eingegraben hatte. Manche Gänge, manche Gewölbe wurden im Laufe der Zeit geöffnet. Die einen lockte Neugierde; die andern jenes Schauergefühl, das den Menschen über Tod und Ewigkeit ergreift und ihn doch lockt, solche Stätten zu betreten, wo es erweckt wird; wieder andere wurden durch frevlen Vorwitz hingeführt, sodaß Menschenhände, teils fromm ordnend, teils mutwillig zerstörend, das vollendeten, was Zeit und leise Verwesung begonnen hatten, nämlich einen ganz anderen Zustand der hier verborgenen Reste hervorzubringen, als den die beabsichtigten, welche sie hier verbargen.

Wir wollen in folgenden Zeilen einen Gang durch diese Katakomben beschreiben.

Es war ein feuchter, nebeliger Novembernachmittag, als wir uns, fünfe an der Zahl, auf dem nassen Pflaster des St. Stephansplatzes, rückwärts der Kirche, wo der Turm emporsteigt, einfanden. Ein Freund hatte uns versprochen, uns in die Katakomben zu führen. Wir standen lachend und scherzend, als wir ihn erwarteten und machten Bemerkungen über das trübselige Wetter und die Unpünktlichkeit des Freundes; aber nach einer Stunde war es ganz anders: nie werde ich den Eindruck vergessen, den diese Stunde unterirdischen Aufenthaltes in mir hervorbrachte.

Als wir einige Zeit gewartet hatten, erschien der Freund und mit ihm zwei Führer, weil er, obwohl schon öfter unten, doch nicht sicher war, sich und uns vor Verirrung zu bewahren. Nicht von der Kirche aus, wie ich wähnte, war der Hinabgang, sondern einer der Führer winkte uns an ein Haus des Platzes, das einen vorspringenden Winkel bildet und Wohnparteien und Handelsgewölbe enthält, — es liegt mit dem Winkel schief gegenüber der Wohnung des Küsters31, die sich im Erdgeschosse des Stephansturmes befindet. An diesem Hause sperrte er eine dunkle, schwarze, hohe Türe auf, an der ich Wohl hundertmal vorübergegangen war, und die ich immer für die zufällig zugemachte Hälfte des Tores einer Bude gehalten hatte. Als wir eingetreten waren, befanden wir uns in einem schmalen Gange; der Führer schloß hinter uns die Türe wieder zu, und der andre machte Licht, woran er eine Fackel und wir jeder unsre Wachskerze anzündeten, und dann ging es nicht über eine Treppe, sondern wie über einen sanften Gang abwärts; ein schwacher Tagesschein fiel in das erste Gewölbe durch einen schmalen Schacht herab, der in den Hof des Deutschen Hauses mündet. Dieses Gewölb war gleichsam eine Vorhalle, und es lagen Stangen, Stroh, Bretter, Tragbahren und dergleichen in dem Winkel, alles von seltsamem, veraltetem Ansehen.

Dann kamen wir in allerlei Gänge und Gewölbe, die leer waren. Nach Art unsrer Voreltern sind die Gänge schmal und die Gewölbe verhältnismäßig klein und niedrig, aber das Mauerwerk fest und dicht, als wäre es aus einem einzigen riesenhaften Granitblocke gegossen worden. Ob wir in diesen Gängen nach Ost oder West, nach Nord oder Süd gingen, konnten wir keiner erkennen, und da sie sich vielfach kreuzten und die gewölbten Zellen sich alle ähnlich sahen, so war es uns einleuchtend, daß man sich hier verirren und stundenlang herumsuchen könnte, ohne den Ausgang zu finden. Endlich kamen die ersten Bewohner dieser stillen, finstern Stadt, nämlich: wie Holz aufgeschichtet, viele Klafter32 lang und hoch, lauter Knochen von Armen und Füßen — es überläuft einen ein seltsamer Schauer. — Was werden alle diese Werkzeuge, als sie noch ein denkender Geist belebte, ein liebendes oder hassendes Gemüt stachelte, Schönes, Herrliches oder Entsetzliches getan haben.

Und nun liegen sie hier, starr, übereinandergeschichtet, eine wertlose, schauererregende Masse. — In gewissen Abständen, gleichsam symmetrisch geordnet, stecken zwischen ihnen die Köpfe, aber auch auf der Erde liegen bereits Trümmer herum, und der weiche Tritt läßt merken, daß man auf Moder gehe. Ein Führer bedeutete uns, daß man die vielfach zerstreuten Knochen der Katakomben und die einst auf dem Stephansfriedhofe ausgegrabenen hier der Ordnung wegen aufgeschichtet habe. Meine Phantasie fing bereits zu arbeiten an, sei es durch den Anblick vor mir aufgeschreckt oder gedrückt durch das Bewußtsein, unter der Erde zu sein. Die Luft trug nichts bei; denn trotz den hier vorgegangenen Akten der Zersetzung waren diese doch schon vor so langer Zeit, und es ist seitdem eine solche Trockenheit eingetreten, daß die Luft, durch viele Schachte in Kommunikation mit der äußeren erhalten, ganz trocken und rein ist. Wir ließen das Licht unserer Kerzen und Fackeln längs des großen Knochenstoßes hingleiten und beleuchteten bald diese, bald jene Partie, und das fahle, verwitterte Grau dieser ausgetrockneten, uralten Gebeine erglühte düster rot in dem Schein unsrer Lichter, die dem ungeachtet, trotz der anscheinenden Kleinheit dieser Räume, nicht bis zu den oberen Rändern dringen konnten, sodaß der Schein in unheimliche, geheimnisvolle Schatten überlief, die hoch oben und seitwärts in den Ecken saßen und glotzten. Wenn wir einer Wand nahekamen, so erglänzte das Gestein der Mauer in allerlei kleinen Flimmern, wahrscheinlich die schönen Glimmertäfelchen des Granites. Auf dem Fußboden war dichter Moder, hie und da ein Splitter, und der Fuß streifte zuweilen an einen Lappen von einst kostbarem und schimmerndem Seidenstoffe. — Wir gingen weiter in einem Kreuzgange: Ein Schädel mit langen, staubigen Haaren lag da. Einer leuchtete ihn an; ich aber mußte augenblicklich die Augen wegwenden, und es rieselte mir seltsam in dem Körper. — »Lassen Sie das liegen,« sagte ein Führer, »wir werden schon noch mehr solches und besser erhalten antreffen.« Ei freilich trafen wir es an. An einem viereckigen, machtvoll großen Pfeiler stand ein Sarg, ein einziger in diesem Gewölbe, als wäre er von seinem Orte absichtlich hierhergebracht und geöffnet worden und dann stehen gelassen; denn wirklich lag sein Deckel nebenan, und zwischen den Brettern, die vom Alter geschwärzt und nur mehr lose zusammenhängend waren, lag der einstige Bewohner dieses gezimmerten Hauses, eine Frau — — ach! Wer war sie? Mit welchem Pompe mag sie einst begraben worden sein! Und in welchem Zustande liegt sie jetzt da! Bloßgegeben dem Blicke jedes Beschauers, schnöde auf die bloße Erde niedergestellt, und unverwahrt vor rohen Händen; das Antlitz und der Körper ist wunderbar erhalten — in diese verschlossenen Räume muß die Verwesung nicht haben eindringen können, sodaß die organischen Gebilde bloß vertrockneten, aber nicht zerstört wurden — die Züge des Gesichtes sind erkennbar, die Glieder des Körpers sind da, aber die züchtige Hülle desselben ist verstaubt und zerrissen, nur einige schmutzig-schwarze Lappen liegen um die Glieder und verhüllen sie dürftig, auf einem Fuße schlottert ein schwarzer seidner Strumpf, der andre ist nackt, die Haare liegen wirr und staubig, und Fetzen eines schwarzen Schleiers ziehen sich seitwärts und kleben aneinander wie ein gedrehter Strick — diese Zersetzung des Anzuges und die Unordnung, gleichsam wie eine Art von Liederlichkeit, zeigte mir ins Herz schneidend die rührende Hilflosigkeit eines Toten und widersprach fürchterlich der Heiligkeit einer Leiche. — Ich legte mit der Spitze meines Stockes die Reste des gewiß einst prunkenden Anzugs so anständig, als es noch möglich war, über die Glieder und leuchtete dann der vergessenen Toten ins Antlitz. Es war im Todeskampfe und durch die nachher wirkenden Naturkräfte verzogen und in dieser, dem Menschenangesichte gewaltsamen Lage erstarrt, und so blieb es, wer weiß wieviel hundert Jahre, in unheimlicher Ruhe ein Bild eines einstigen gewaltsamen Kampfes, der das so heiß geliebte Leben von diesen Formen abgelöset hatte; und eben das ist das Erschütternde an Mumien und Leichen, daß sie meistens in ihrer eisernen Ruhe doch auf einen furchtbar bewegten Moment zurückweisen — und dann das, daß wir sie uns schon jenseits jenes Vorhanges denken müssen, der so geheimnisvoll zwischen Diesseits und Jenseits hängt, daß sie schon wissen, wie es ist — und dennoch mit dem ehernen Schweigen da vor unsern Augen liegen, fremde Bürger einer andern Welt. Wer mag die Tote vor meinen Augen — wer mag sie einst gewesen sein? Welchen Unterschied auch die Menschen im Leben machen, wie nichtigem Flitter sie auch Wert geben, ja wie sehr sie sich auch bemühen, diesen Unterschied bis über das Grab fortzupflanzen: der Tod macht alles gleich, und vor ihm sinkt lächerlich nieder, was wir uns hienieden bemühen, wichtig zu finden. Wer weiß, mit welchem Ansehen und mit welchen Kosten es diese Tote dahin gebracht hatte, daß sie dereinst in diesen unbezwinglichen Gewölben ruhen möge, dem Asyle der Reichen und vornehmen: und nun steht ein Mann vor ihr, der vielleicht bei ihrem Leben sich kaum ihrer Schwelle hätte nähern dürfen und legt, nicht mit der Hand, weil’s ihn ekelt, sondern mit der Spitze seines Stockes einige Lappen zurechte daß sie ihren Leib bedecken — und wer weiß, ob nicht bald eine mutwillige Hand erscheint, sie aus dem Sarge reißt und nackt und zerrissen dort auf jenen Haufen namenlosen Moders wirft, wo sie dann jeder, der diese Keller besucht, emporreißt, anleuchtet, herumdreht und wieder hinwirft.

Mitleidig wandte ich mich ab, um weiter zu gehen; da sah ich, daß ich bereits allein war, und die Lichter meiner Freunde schon fern und klein in einem Gange dahinschwebten. Mit raschen Schritten ging ich nach — es wollte mich fast wie Furcht überkommen.

»Hier stehen wir gerade unter dem Hochaltare der Kirche,« sagte ein Führer und leuchtete mit der Fackel gegen das Gewölbe empor. Wir waren zufällig in dem Augenblicke alle stille, und da hörten wir deutlich in langen, schweren Tönen die Orgel aus der Kirche heruntertönen. Wie durch Verabredung blieben wir stehen und horchten einige Augenblicke, bis die Orgel schwieg und dann wieder in höheren, sanfteren Tönen anhob, die wunderbar deutlich und lieblich durch die Gewölbe zu uns herabsanken — es mußte gerade Nachmittagsgottesdienst sein — und wie eine holde goldene Leiter, schien mir’s, gingen diese gedämpften Töne von den geliebten Lebenden zu uns hernieder.

Endlich schwieg alles, und wir gingen weiter. Wie doch die Musik wunderbar auf unsere Seele wirkt! Ich brauchte einige Zeit, um mich wieder zu orientieren, wo ich sei, und meine Phantasie wieder an diese unterirdischen Gemächer zu gewöhnen, und doch war es wahrscheinlich nur das sogenannte Segenlied gewesen, was wir herunter gehört hatten.

Wir traten nun wieder in eine neue Halle, und wie ich um die Ecke des Pfeilerbogens komme und vor mich hinleuchte, erschrak ich heftig. Ein großer nackter Mann lehnte starr an der Mauer; zu seinen Füßen saß ein anderer zusammengekauert, die Hände über der Brust gefaltet, und den Kopf, der nur mehr an einem losen Bande des Halses hing, über die Schulter seitwärts gesunken — eine Frau, in sich gebückt und eingesunken, gleichfalls mit gefalteten Händen, lauerte im Winkel, und an den Wänden lehnten oder saßen oder lagen andere — und wie ich so vor mir herleuchte, wieder andere und wieder andere — lauter Leichen und Mumien, der eine mit offenem Munde, der andere mit furchtbar zusammengepreßtem, der eine gestreckt, der andere zusammengeknittert, fast alle mit gefalteten Händen, wie man sie ihnen im Sarge gegeben — alle mit verzerrten Zügen; aber bis zum Erschrecken deutlich waren die Gesichter und die Körperformen, als wären sie gestern hierher gestellt worden; denn aus einer mir unbekannten Ursache war hier keine Verwesung eingetreten, sondern die Haut war sanft getrocknet und war anzufühlen wie weich gegerbtes Leder, das Zellgewebe des Fleisches war ebenfalls ausgetrocknet und füllte die Haut wie eingestopfte Sägespäne, sodaß selbst die Muskeln elastisch blieben, dem Drucke unserer Stöcke wichen und wieder sachte emporschwollen, wenn der Druck nachließ.

Es war ein seltsamer, gespenstiger Anblick in dieser Halle, und überwältigend für Gefühl und Phantasie. Ein Berg von Moder stieg gegen die Gewölbmauer empor; aus ihm ragten Lappen von Gewändern heraus, mitunter Holzsplitter, oder es blickte ein Arm hervor, oder ein Fuß mit allen Zehen, oder eine zusammengekrümmte Gestalt saß auf demselben, eine andere lag der Länge nach, wieder andere standen aufrecht, und obwohl sie einst unverletzt gewesen waren und ihrer Art nach bleiben konnten, so mochte doch schon der Mutwille an ihnen manches verübt haben; denn viele derselben waren zerrissen, daß ein Arm herabhing, oder der Kopf oder Glieder ganz fehlten — vielleicht hat auch teilweise Verwesung das ihrige getan. — Seltsam ist es, die Körper sind geblieben, und die Gewänder sind fast alle zerstäubt und vermodert, nur wo sie durch Schutt gesichert waren, haben sich ganze Lappen erhalten und waren sogar erkennbar, meistens Linnen und Seidenzeug, welches letztere ganz besonders stark und fest gearbeitet war.

Wie wir nun so dastanden in der Versammlung von längst verstorbenen, unbekannten Menschen, die vor Jahrhunderten hiehergebracht wurden, um zu verwesen, die aber nun ihren Ururenkeln dieselben Züge weisen müssen, die man einst, davor grauend, mit einem Tuche zugehüllt und in einen Sarg verborgen hatte — und wie das reine, weiße Wachslicht oder die dunkelrote Glut der Fackeln, die wir trugen, über die Gesichter und Glieder der Toten lief und darinnen schweren Kampf, oder starre Ruhe, oder häßlich Grinsen wies: so waren wir alle bis in das Innerste erschüttert. Mir war, als sei ich in ein fabelhaft Gebiet des Todes geraten, in ein Gebiet, so ganz anders, als wir es im Leben der Menschen erfahren, ein Gebiet, wo alles gewaltsam zernichtet wird, was wir im Leben mit Scheu und Ehrfurcht zu betrachten gewohnt sind — wo das Höchste und Heiligste dieser Erde, die menschliche Gestalt, ein wertloses Ding wird, hingeworfen in das Kehricht, daß es liege, wie ein anderer Unrat. — Ach! welch eine furchtbare, eine ungeheure Gewalt muß es sein, der wir dahingegeben sind, daß sie über uns verfüge — — und wie riesenhaft, all unser Denken vernichtend, muß Plan und Zweck dieser Gewalt sein, daß vor ihr millionenfach ein Kunstwerk zugrunde geht, das sie selber mit solcher Liebe baute, und zwar gleichgültig zugrunde geht, als wäre es eben nichts! — Oder gefällt sich jene Macht darin, im öden Kreislaufe immer dasselbe zu erzeugen und zu zerstören? — Es wäre gräßlich absurd! — Mitten im Reiche der üppigsten Zerstörung durchflog mich ein Funke der innigsten Unsterblichkeitsüberzeugung. Wir standen alle stumm und ließen unsere Fackeln und unsere Lichter lodern. Der Eindruck ist so mächtig, so neu und ernst; er nimmt unser ganzes Wesen so ein, daß alles andere abfällt und vor seiner Gewalt nichtig wird. — Ich war so aus mir selber getreten, daß mir das Rollen eines Wagens, das wir in diesem Augenblicke auf dem Pflaster über uns hörten, ganz abenteuerlich vorkam, ja durch den Gegensatz schauerlich. Ist es denn der Mühe wert, dachte ich, daß sich der im Wagen oben brüstet, und über das Pflaster wegrollt? Daß sie Häuser bauen und bunte Lappen heraushängen, als wäre es was?

Wir fragten die Führer, ob man denn gar nicht mehr weiß, wer einer von denen gewesen sein möge, die wir da vor uns haben? »Es mag wohl im Pfarrarchive zu lesen sein,« antwortete er, »wer überhaupt herab begraben worden ist, aber da es schon viel über hundert Jahre sein mag, daß man niemanden mehr herab begraben hat so kann man auch gar nicht wissen, wer dieser oder jener sei. Sie haben einmal sehr getrachtet, in die Stephansgruft begraben zu werden, damit sie ein vornehmes und ungestörtes Begräbnisplätzchen hätten.«

Ein vornehmes und ungestörtes Begräbnisplätzchen! Als ob irgend auf der Erde etwas Ungestörtes, etwas Unvergängliches wäre! Ja, ist nicht am Ende sie selber vergänglich, und wird eine Leiche so wie die, die man jetzt so sorglich in ihrem Innern verbirgt?

Mir fiel die Sage von dem Hunnenkönige Attila ein, dessen Leiche man in einen goldenen Sarg tat, den goldenen in einen silbernen, diesen in einen eisernen und diesen zuletzt in einen steinernen. Dann grub man einen Fluß ab, senkte die Särge tief in die Erde seines Bettes, und ließ dann die Wasser wieder darüber wegrollen — ja endlich tötete man die, die um das Werk wußten und es machen halfen, damit niemand auf Erden das Grab des Hunnenkönigs wisse!! — — Aber eines Tages wird der Fluß den Sand und Schlamm in einer Überschwemmung herausstoßen, oder man wird eine Wasserbaute anlegen, oder der Fluß wird seinen Lauf ändern, und man wird im alten Bette ein Feld oder einen Garten graben: dieses Tages wird man dann den Sarg finden, Gold und Silber nehmen, den König aber hinauswerfen auf den Anger33 der Heide.

Und so ist jeder Ruhm; denn für uns Sterbliche ist keine Stelle in diesem Universum so beständig, daß man auf ihr berühmt werden könnte; die Erde selber wird von den nächsten Sonnen nicht mehr gesehen, und hätten sie dort auch Röhre34, die zehntausendmal mehr vergrößerten als die unsern. Und wenn in jener Nacht, wo unsere Erde auf ewig aufhört, ein Siriusbewohner35 den schönen Sternenhimmel ansieht, so weiß er nicht, daß ein Stern weniger ist, ja, hätte er sie alle einst gezählt und auf Karten getragen, und zählte sie heute wieder, und sieht seine Karten an, so fehlt keiner, und so prachtvoll wie immer glüht der Himmel über seinem Haupte. Und tausend Milchstraßen weiter außer dem Sirius wissen sie auch von seinem Untergange nichts, ja sie wissen nichts von unserem ganzen Sternenhimmel; nicht einmal ein Nebelfleck, nicht einmal ein lichttrübes Pünktchen erscheint er in ihrem Rohre, wenn sie damit ihren nächtlichen Himmel durchforschen.

Während ich dies dachte, rasselte wieder ober uns das Geräusch eines rollenden Wagens auf dem Pflaster des Stephansplatzes, und es deuchte36 mir so leichtsinnig oder so wichtig wie etwa die Weltgeschichte der Mücken oder der Eintagsfliegen.

Wir aber leuchteten noch einmal die unbewegliche gespenstige Versammlung in die Runde an, und wendeten uns dann zum Fortgehen; sie aber sanken hinter unseren weichenden Lichtern in ihre alte Ruhe, in ihre alte Nacht zurück.

Immer weiter, immer verwickelter und größer entfaltete sich diese Stadt der Grüfte; immer neue Tote waren zu treffen; Trümmer von Särgen, Hügel und Wälle von getrocknetem Moder, dann kommen wieder Knochen, dann leere Gewölbe und Gänge — und wie weit sich dies alles hin erstrecke, weiß man jetzt noch gar nicht mit Gewißheit; denn in manchem Gemache sieht man in der Mauer einen Steinbogen, fest und künstlich gefügt, daß er etwas trage, oder daß man hindurch gehe, so wie durch den, durch welchen wir hereingekommen waren: aber dieser Schwibbogen37 ist mit Mauer angefüllt, sodaß die Vermutung entsteht, daß hinter ihm wieder ein Gewölbe sei, das man zugemauert hatte, als es voll mit Toten war. — Und wirklich traten wir jetzt an eine Stelle, wo man eine Schlußmauer durchbrochen hatte, und siehe! aus der Bresche ragten eine Unzahl Särge hervor, klafterhoch aufeinandergeschichtet, mit gräßlichen Trümmern und Splittern herausragend aus der Finsternis des Gewölbes — die Zeit hatte Bretter und Fugen gelöset, daß ein ganzes Wirrsal derselben herabgegleitet dalag, und oben in der Öffnung nackte Füße und Glieder der Toten in die Luft herausstanden, verlassen von der schützenden und bergenden Wand ihrer Särge, ebenfalls bestimmt, auf den hängenden Brettern vorwärts zu gleiten, und endlich wie sie herabzustürzen. Es war ein Anblick, noch erschütternder als jener in dem Gewölbe der Mumien, weil er unmittelbarer das Reich der Verwesung und Zerstörung auftat und näher der Zeit lag, wo alle diese noch wandelten und lebten, weil er eindringender wies, wie auch wir einst werden sollen, und weil das Werk der Vergehung und Vernichtung gleich massenhafter und großartiger ersichtlich war. Auch einen solchen aufgeschichteten Stoß von Kindersärgen sahen wir hervorblicken, einen übereinandergeworfenen Haufen kleiner Häuschen, deren Bewohner starben, ehe sie lebten. Es tat unsäglich wohl, daß man von den Särgen keines der zarten Glieder hervorragen sah, sondern alle verdeckt waren, wahrscheinlich ihres geringen Gewichtes wegen, das die Särge nicht aus den Fugen zu drücken vermochte. Arme kleine Welt!

Es war ein düster großartiger Anblick, wie wir so dastanden vor dem starren Ruinengewirre und der Lichtblick unserer Fackeln auf dem Granit der Mauer und auf den alten braunen Sargbrettern glänzte — und wie weiter zurück zwischen den Brettertrümmern heraus Finsternis glotzte, und sich unsre Phantasie hinter ihr dieselbe Bevölkerung von Toten vorstellen mußte, immer fortgesetzt und immer fortgesetzt — liegend in der eisernen Nacht, bis einmal diese vorderen zerstäubt sind, und wieder ein anderes Jahrhundert und eine andere Hand das fernere Gewölbe erbricht und die Schläfer dem Lichte der Fackeln bloßlegt, so wie diese da in dem der unsern düster glänzen.

Es war einleuchtend, daß dieses System von Gewölben, wie weitläufig es auch sein möge, doch einmal angefüllt werden müßte, an welchem Tage sich dann die Gruft von St. Stephan auf immer schloß — daß es nur die Mächtigsten und Reichsten sein können, die wir da in dieser Zerwürfnis und schnöder Verlassenheit liegen sehen, und dieser Gegensatz machte die Szene noch tragischer und all den Flitter38 noch erbärmlicher, um den wir gewohnt sind, die anderen zu beneiden. Ein Stück Vergangenheit und Weltgeschichte halfen die da bauen, welche da vor uns liegen. Vielleicht sind Helden darunter, ein Todesblick für Feinde; vielleicht sanfte Künstler, die den Himmel des Schönen in ihrer Brust trugen, nicht daran denkend, wie schnöde die Wohnung dieses Himmels einst herumgeworfen werde — vielleicht schöne Frauen und Jungfrauen, deren Auge die Seligkeit der Liebe in andrer Herzen strahlte, und um die der schwärmende, wahnsinnige Jüngling seinen Leib dahin vorausschleuderte. Wie sie nun auch liegen: — vorübergegangen ist der Traum, und beide sind sie eine wertlose Masse — — vielleicht liegen auch solche da, deren Glieder Samt und Purpur deckte, auf deren Wimper tausend Augen blickten, ob sie freundlich zucke oder zürne, die aus Gold und Silber aßen, jedes Rauhe und Ekle von sich fernehielten, und nun selber ärmer und ekler sind, als das Tier des Berges, welches in die Felskluft stürzte und dort in der Mittagssonne dörret und von den Winden der Nacht getrocknet wird. — Sie alle mühten sich, erwarben, verzehrten, arbeiteten, stiegen empor, verrichteten Taten, die tausend Arme regten sich täglich, die Seelen dachten, die Herzen glühten in Wunsch und Begierde oder in Befriedigung und Triumph, die Leidenschaften kochten und kühlten sich — nun ist alles vorüber, und von dem Gebirge von Arbeiten aus dem Leben dieser ist ein Blatt Geschichte übriggeblieben, und selbst dieses Blatt, wenn die Jahrhunderte rollen, schrumpft zu einer Zeile ein, bis auch endlich diese verschwindet und die Zeit gar nicht mehr ist, die den darin Lebenden so ungeheuer und so einzig herrlich vorgekommen.

In die Stille unsrer Betrachtungen tönte jetzt das Wort eines Führers: »Es wird hier, wenn einmal alles ausgegraben und gelüftet sein wird, noch viel weitläufiger und wunderbarer herumzugehen sein als jetzt; denn auch der Boden, auf dem wir in dem Augenblicke wandeln, ist höchstwahrscheinlich wieder nur die Decke von anderen Gewölben, die unter uns befindlich sind.« Wirklich war es uns schon öfter, wo wir nicht weichen Moderboden unter den Füßen hatten, vorgekommen, als gingen wir über harte, sanft gewölbte Stellen weg. Und als der Führer obige Worte gesagt hatte, verließen wir die traurige Bresche und gelangten nun in der Tat in ein Gemach, dessen Fußboden durchbrochen war, und siehe, es war unten wieder eine solche Halle wie die, in der wir standen, eine Leiter führte durch die aufgebrochene Öffnung in dieselbe hinab, und zweie von uns stiegen hinunter. Das Gewölbe schien niedriger, wahrscheinlich nur des gehäuften Schuttes wegen. Gegen die Wände hin und in den Winkeln war wegen Moder und dicker Finsternis, in der unsere Lichter wie ohnmächtig waren, nichts deutlich zu sehen, aber unser Führer versicherte uns, es sei hier unten alles vollgestopft mit Toten. Unendlich erleichtert stiegen wir wieder empor — seltsam! — obwohl die Luft unbegreiflich trocken und rein war: so fühlte sich doch die Phantasie erleichtert, als sie wieder nur mehr eine Decke über dem Haupte wußte. Die nicht hinabgestiegen waren, leuchteten nun noch einmal in die Höhle hinab, und wir gingen dann weiter durch mehrere Gänge und leere Gewölbe, wie es mir schien, auf dem Rückweg begriffen. Wir hatten alle Orientierung bereits so verloren, daß jedem die Unmöglichkeit einleuchtete, ohne Führer sich hinauszufinden— namentlich, wenn einer ganz allein wäre. Er müßte nur, meinte man, die Wege, die er schon gegangen ist, mit Knochen bestreuen, um immer andere Gänge zu finden, und so auch den, der ihn herausführt.

»Aber wenn ihm allenfalls das Licht ausginge?« bemerkte ein anderer.

Es ist entsetzlich, dies zu denken, und furchtbar inhaltschwer wäre die Geschichte solcher Augenblicke. Das Licht flackert noch einmal und ist aus: eine Nacht, so dick, wie die Erde keine kennt, ist um ihn; die Toten, die ihm früher sein Licht gezeigt hatte, ist er nun genötiget, mit dem inneren Auge zu schauen, und zwar, da ihm die Begrenzung seines Raumes, die ihm das Licht vorher so freundlich gewiesen hatte, durch die Finsternis entrückt ist, so muß er sich nun gleich das ganze Totengewölbe auf einmal vorstellen, die ganze durchbrochene Totenstadt mit all ihren Bewohnern — er horcht — vielleicht rührt sich heimlich etwas — alles stille, nur das Knistern seines Trittes und das dumpfe Rascheln seiner Hände, wie er sich an den Mauern fortgreift — er ruft, er ruft — keine Hoffnung, gehört zu werden; er geht in Todes- und Geisterangst gestachelt fort durch Gänge und Gewölbe, die sich ewig ineinander münden. — — Es sind bereits Stunden, es ist vielleicht schon ein Tag vergangen — er faßt, an der Felsenmauer fortgreifend, einen Toten, und erkennt, daß es derselbe sei, den er schon einmal ergriffen habe — und dabei hört er von oben herab die Orgel tönen, vielleicht auch das Singen der Gemeinde oder das Läuten der Glocken, das Rasseln der lustigen Wagen auf dem Straßenpflaster — er ruft und ruft — — alle gehen sie ihrer Wege, es wird stille, also Nacht — und des andern Tages hört er es wieder so — und so fort und so fort bis in der Gruft um einen Toten mehr ist.

Mich schauerte, als ich dies dachte, und unwillkürlich drängte ich mich an die Führer, mit leisem Frösteln mir den Einfall hinwerfend, »wenn nur diese sicher zu der schmalen, hohen Türe zurückfinden, bei der sie uns hereingelassen haben.«

»Wir sind jetzt unter der Post,« sagte einer von ihnen und leuchtete im Gange weiter.

Jetzt fing es mir an, in diesen massiven Kreuzgängen und Überwölbungen drückend zu werden — immer Mauer, eisenfeste Steinmauer, keine Fenster, keine Öffnung. — Wie schwer der Mensch jene leichte, lichte Decke entbehrt, deren Köstlichkeit er in seinem Leichtsinne nicht beachtet, die Decke des Firmamentes! — Es schien mir, als entbehrte ich die Luft selber. — —

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752140590
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Salon Reiseführer Biedermeier Vormärz Prater Stephansdom Vorort Vorstadt 1848 Kaiser

Autor

  • Adalbert Stifter (Autor:in)

Adalbert Stifter (1805-1868) gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Als er in den Jahren 1841 – 44 die vorliegenden Essays verfasste, geschah dies bereits in Zusammenarbeit mit seinem langjährigen Verleger Gustav Heckenast. Die Voraussetzungen für seinen unmittelbar bevorstehenden literarischen Durchbruch waren also vorhanden, und in ihrer schriftstellerischen Qualität und Reife weisen die Kurzgeschichten bereits auf die noch kommenden Erfolge hin.
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Titel: Aus dem alten Wien