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Im freien Fall

und andere Kurzgeschichten

von Mart Schreiber (Autor:in)
124 Seiten

Zusammenfassung

Gustav musste fliehen. Mit ausladenden Schritten bewegte er sich entlang des Rückens einer Hügelkette, die überwiegend dicht bewaldet war. Hin und wieder kam er auf eine Lichtung, aus der er in ein weites Becken sehen konnte. Lichter flimmerten zu ihm herauf. Er drückte sich an den Waldrand, denn der Mond schien so hell, wie er es noch nie erlebt hatte. Gustav hätte gerne gewusst, wie spät es war, er hatte aber keine Uhr dabei. Er versuchte sich zu erinnern, wie weit er schon gegangen war, seit die Dämmerung endgültig in einer stetigen Dunkelheit geendet hatte. Erst dann war er aus seinem Versteck im Dickicht aufgebrochen. Der Mond war erst später aufgegangen. Um wieviel später? Vielleicht zwei Stunden?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Im freien Fall

Gustav musste fliehen. Mit ausladenden Schritten bewegte er sich entlang des Rückens einer Hügelkette, die überwiegend dicht bewaldet war. Hin und wieder kam er auf eine Lichtung, aus der er in ein weites Becken sehen konnte. Lichter flimmerten zu ihm herauf. Er drückte sich an den Waldrand, denn der Mond schien so hell, wie er es noch nie erlebt hatte. Gustav hätte gerne gewusst, wie spät es war, er hatte aber keine Uhr dabei. Er versuchte sich zu erinnern, wie weit er schon gegangen war, seit die Dämmerung endgültig in einer stetigen Dunkelheit geendet hatte. Erst dann war er aus seinem Versteck im Dickicht aufgebrochen. Der Mond war erst später aufgegangen. Um wieviel später? Vielleicht zwei Stunden? Ziemlich sicher war es nun nach Mitternacht, glaubte er. Der Mond stand hoch am Himmel und würde ihn bis zur Morgendämmerung erhalten bleiben, um dann zu verblassen. Er wusste nicht, wohin ihn der Rücken führen würde und wann er wieder ins Tal hinab musste. Das Versteck war ihm nicht mehr sicher erschienen. Es war nur wenige Stunden vom Haus seiner Eltern entfernt gewesen. Er musste ein neues finden, bevor die Sonne aufgegangen war. Sein Magen knurrte. Er tastete die linke Jackentasche ab und war beruhigt. Ein Joghurt hatte er noch bei sich. Und rechts spürte er einen kleinen Löffel. Dass er daran gedacht hatte, wunderte ihn. Ein Hund bellte. Einmal. Zweimal. Dann war es wieder still. Hatten sie vielleicht einen Suchtrupp zusammengestellt, um ihn zu verfolgen? Dem Hund hatten sie ein Kleidungsstück von ihm unter die Nase gehalten. Möglicherweise. Wahrscheinlich sogar. Sie würden alles tun, damit er nicht entkommen konnte. Er blieb stehen und lauschte. Nichts war zu hören. Dann vernahm er das Geräusch eines Autos im Tal, das langsam wieder leiser wurde und entschwand. Es war windstill. Nun hörte er seinen Atem. Beim Ausatmen keuchte er ein wenig. Er versuchte, nur durch die Nase zu atmen, doch diese war nicht frei genug. Er ging langsamer weiter. Nur nicht mehr außer Atem kommen. Wer wusste schon, wie laut dies zu hören war bei dieser Stille. Vielleicht waren sie nicht mehr weit entfernt, vielleicht waren sie viel schneller als er. Obwohl seine Beine schwer wurden, durfte er keine Pause einlegen. Essen konnte er auch später. Im Moment ging es darum, möglichst weit zu kommen, bevor die morgendliche Dämmerung langsam die Dunkelheit verdrängte, um dann in einem neuen Versteck über den Tag auszuharren. Gerne wäre er jetzt in seinem Bett gelegen und hätte geschlafen. Geschlafen, ohne befürchten zu müssen, dass die Tür aufgestoßen wurde und man ihn ins Freie zerrte. Wolkenschleier hatten sich vor den Mond geschoben. Er konnte noch seine Schuhe und ein Stück des Weges vor ihm sehen. Anfangs war es weicher Waldboden gewesen, doch nun tauchten immer mehr Steine auf. Die Steine wuchsen und wurden zum Hindernis. Er kam nur mehr langsam voran. Sei vorsichtig, dachte er. Besser ein wenig langsamer gehen, dafür aber sicher. Wenn er stürzte oder sich den Knöchel verstauchte, konnte dies das Ende seiner Flucht sein. Manchmal musste er seine Hände zu Hilfe nehmen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen. Der Wald hatte sich zurückgezogen. Er ging nun auf einem felsigen Grat, der abrupt endete. Vor ihm war ein Abbruch, der in der Dunkelheit wie ein schwarzes Loch wirkte. Er konnte nicht sehen, wie weit es nach unten ging. Auch links und rechts von ihm schien das Gelände steil abzufallen. Also musste er zurück. Was blieb ihm auch anderes übrig. Oder er wartete hinter einem großen Stein bis zum Morgengrauen, um dann nach einem möglichen Abstieg durch das felsdurchsetzte Gelände zu suchen. Denn, wenn er zurück ginge, würde er dem Suchtrupp in die Arme laufen. Er hob einen faustgroßen Stein auf und warf ihn in den Abgrund. Wenn er die Sekunden zählte, konnte er errechnen, wie weit es senkrecht nach unten ging. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig. Es war kein Aufschlag zu hören. Ungläubig ging er an den Rand und ließ einen weiteren Stein aus seiner Hand fallen. Wieder nichts. Plötzlich spürte er einen Stoß von hinten und fiel in den Abgrund. Der Wind drückte seine Jacke nach oben. Sein Inneres schien sich gegen das Fallen zu wehren, konnte aber dem hinabstürzenden Körper nicht entfliehen. Er wollte sich irgendwo festhalten, doch es gab nichts zu greifen außer der schneidenden Luft. Die ausgestreckten Arme, mit denen er wild ruderte, konnten den freien Fall nicht bremsen. Am Rücken liegend würde er aufprallen. Doch noch war es nicht so weit. Er schrie. Schrie, so laut er nur konnte. Jemand rüttelte ihn. Er öffnete die Augen. Es war seine Mutter.

Was denn los sei, fragte sie. Ob er schlecht geträumt habe. Gustav nickte. Er spürte immer noch das Gefühl, ins Endlose zu fallen. Noch nie war er aufgeprallt. Selbst nach dem Aufwachen fiel er noch. Er klammerte sich am Leintuch fest. Das sei jetzt das vierte Mal in dieser Woche, sagte seine Mutter und streichelte über seinen Kopf. Sie setzte sich an den Bettrand und umfasste seine Hände. Er möge vor dem Einschlafen immer wieder sagen, es sei nur ein Traum. Immer wieder. So lange, bis er einschlief. Sie habe selbst einmal als Kind Albträume gehabt und von ihrer Mutter diesen Rat erhalten. Immer habe sie ein schwarzer Mann verfolgt und kurz bevor er nahe genug war, um sie zu fassen, sei sie schreiend aufgewacht. Doch einmal gelang es ihr im Traum, sich zum schwarzen Mann umzudrehen, der schon verdammt nahe war, und ihm entgegenzuschleudern, dass dies nur ein Traum sei. Alles nur ein Traum. Alles nur ein Traum. Danach wäre es mit den Albträumen vorbei gewesen.

Gustav glaubte nicht, dass es bei ihm funktionieren könnte. Und doch sagte er vor dem Einschlafen immer wieder, dass alles nur ein Traum sei. Trotzdem wachte er schreiend auf. Wieder einmal war er in den Abgrund gestürzt. Wieder einmal hatte er das Gefühl, dass sein Magen, seine Lunge, sein Herz nicht im fallenden Körper bleiben wollten und nach oben drückten. Er sagte seiner Mutter, dass bei ihm das Vorsagen nichts nütze und er damit aufhören werde. Sie bat ihn, nicht aufzugeben und es immer wieder zu versuchen. Eines Tages würde es gelingen. Er müsse aber auch fest daran glauben.

Wochen vergingen. Die Albträume machten eine Pause. Wenn ihn seine Mutter fragte, ob es ihm nun gelungen sei, den Traum zu überlisten, schüttelte er den Kopf. Aber warum habe das nächtliche Schreien aufgehört? Er träume nicht mehr, sagte er. Der Mutter war es recht. So oder so musste sie nicht mehr an sein Bett eilen, wenn er im Traum schrie. Doch die Träume kamen wieder und damit das nächtliche Aufschreien. Gustav tat seiner Mutter leid, andererseits ärgerte sie sich, dass er nicht noch einmal versuchte, vor dem Einschlafen den Satz für den kommenden Traum zu üben. Der Satz „Alles nur ein Traum“ wirke bei ihm nicht, sagte Gustav. Sie sei damals weggelaufen und konnte stehen bleiben. So wäre es viel leichter, „alles nur ein Traum“ zu sagen. Aber er wäre im freien Fall. Er träume diesen nicht nur. Nach dem Aufwachen wich dieses Gefühl des Fallens nur langsam aus seinem Körper. Er könne den freien Fall nicht kurz stoppen, um diesen blöden Satz zu sagen. Vielleicht müsste er den Satz nur ein wenig anders formulieren, meinte seine Mutter. Sie dachte nach. Wie wäre es mit „Ich falle, aber es ist nur im Traum“, fragte sie. Gustav fand auch diesen Satz nicht passend. Der einzige Unterschied zum ursprünglichen Satz war, dass er den Sturz ins Bodenlose akzeptierte, aber hinzufügte, dass es nur im Traum geschehe. Er wollte sich trotzdem noch einmal bemühen, vergaß aber oft, den Satz vor dem Einschlafen immer wieder aufzusagen. Und doch gelang es ihm während eines Traums, den Satz auszusprechen. Aber es ist nur ein Traum. Ich werde bald aufprallen, aber es ist nur ein Traum. Die Träume verschwanden. Wenn er sich später an diesen Trick erinnerte, musste er lächeln und konnte doch nicht begreifen, wie man während eines Traums sagen konnte, dass es nur ein Traum sei.

Seine Erinnerungen an den freien Fall im Traum verblassten und verschwanden schließlich aus seinem Bewusstsein. Sein Großvater kam anlässlich seiner Firmung nach Wien. Er lebte in einem kleinen Seitental im Westen von Österreich und musste nicht überredet werden, der Firmpate von Gustav zu werden. Der Großvater war ein kräftiger Mann mit Riesenpranken. Er hatte am Bau gearbeitet und half hin und wieder sogar jetzt noch aus. Gustav fühlte sich bei und mit ihm besonders wohl. Wenn er zu Besuch beim Großvater war, gab es keine Grenzen für ihn. Er durfte sogar mit dem alten Moped herumfahren, obwohl er erst vierzehn Jahre alt war und daher auch keinen Führerschein für Mopeds hatte. Zur Firmung hatte er sich ein Rennrad gewünscht. Seine Eltern meinten, dass auch ein normales Fahrrad genüge, aber der Großvater erfüllte Gustavs Wunsch ohne Zögern. Nach der Firmung fuhren sie in den Prater. Der Großvater fuhr noch in der Geisterbahn mit, bei der Achterbahn blieb er aber lieber am Boden. Auch seine Mutter hatte keine Lust auf diesen Adrenalinschub. Als sich die Wagen nach oben bewegten, wurde Gustav etwas mulmig. Bei der ersten Fahrt hinunter kam in ihm das Gefühl des freien Falls auf. Er begann zu schreien. Vor ihm saß ein jugendliches Paar, das sich nach ihm umdrehte und ihm den Vogel zeigte. Gustav schämte sich und hielt sich während der restlichen Fahrt zurück. Er gewöhnte sich auch schnell an die Geschwindigkeit, wenn es steil bergab ging. Die Erinnerung an seine Fluchtträume, die alle mit dem Absturz ins Bodenlose geendet hatten, war aber zurück. Früher hatte er sich vor diesen Träumen gefürchtet. Nach seiner Firmung sehnte er das Gefühl des freien Falls herbei. Er wünschte sich, wieder davon zu träumen. Es musste nicht mit einer surrealen Flucht verbunden sein. Das Gefühl des Fallens in eine endlose Tiefe wollte er wieder erleben. Doch der Traum kehrte nicht wieder. Jedenfalls erinnerte er sich nicht an seine Träume und wachte auch nicht davon auf, geschweige denn schreiend.

Mit sechzehn verliebte sich Gustav in eine Mitschülerin, die auch von anderen heftig umworben wurde. Sie war ausgesprochen hübsch und sehr sportlich. Klettern in der Halle war ihre große Leidenschaft. Die Mitschüler hatten keine Chance. Sie ließ sie alle abblitzen, auch Gustav. Das änderte aber nichts an Gustavs Gefühlen. Seine Leistungen in der Schule wurden immer schlechter, da er sich während des Unterrichts nur auf sie konzentrierte. Er saß seitlich hinter ihr, sodass er sie beobachten konnte, ohne damit aufzufallen. Wenn sie ihr blondes Haar zurückstrich, wenn sie sich bückte, um etwas vom Boden aufzuheben, wenn sie sich durch Heben ihrer Hand meldete und wenn sie schließlich aufstand, weil die Glocke zur Pause geläutet hatte, nichts davon entging Gustav. Er schlich in der Pause in ihrer Nähe herum, wagte es aber nicht, sie noch einmal anzusprechen. Sie hatte sich bei seinem ersten schüchternen Versuch einfach umgedreht. Er versuchte, bei ihren Gesprächen mit Mitschülerinnen zuzuhören. Alleine der Klang ihrer Stimme versetzte ihn in Entzückung, steigerte aber auch das Leid der unerwiderten Liebe. Als sie Freundinnen von der Kletterhalle erzählte, die sie fast täglich besuchte, fuhr Gustav am nächsten Tag dorthin und buchte einen Anfängerkurs. Schnell durfte er sich an schwierigen Routen versuchen, da er keine Probleme mit den Varianten für Einsteiger hatte. Ab und an sah er Julia in der Kletterhalle. Sein Herz klopfte und er wollte die gleichen Routen klettern wie sie. Julia hatte soeben eine Route mit Überhang beendet und schickte sich an, eine noch schwierigere direkt daneben zu versuchen. Gustav stieg in die erste Route von Julia ein. Sie sah ihn und sagte, er möge sich nicht übernehmen. Beim Überhang scheiterte Gustav. Er stürzte ins Seil. Es war das erste Mal, seit er hier kletterte. Für den Bruchteil einer Sekunde empfand er wieder das Gefühl des freien Falls. Noch zweimal versuchte er den Überhang zu bewältigen. Beim dritten Mal gelang es ihm. Er hörte ein Bravo von unten. Es war Julias Stimme. In den folgenden Wochen steigerte sich Gustav immer mehr. Jede Route, die Julia geklettert war, wollte auch er bezwingen. Julia gab ihm Tipps, wie er besonders kritische Stellen schaffen könne. Selbst in der Schule redete sie nun mit ihm. Gustav wagte aber immer noch nicht, sie auf einen Drink einzuladen oder etwas ähnliches vorzuschlagen, um ihr näher zu kommen. Als Julia ohne Kletterpartnerin in die Halle kam, fragte sie Gustav, ob er sie nicht sichern könne. Freudig stimmte er ein. Nun konnte er Julia ständig beim Klettern beobachten. Er musste es sogar, da er das Seil so nachziehen musste, dass es zwar nicht spannte, aber trotzdem nicht durchhing. Eines Tages fragte ihn Julia, ob er nicht Lust habe, sie zum Bungee-Jumping am Donauturm zu begleiten. Gustav hatte noch nie davon gehört. Julia erklärte ihm, dass es eine Mutprobe sei und sie für einige Sekunden den freien Fall spüren wolle. Gustav horchte auf. Hatte sie auch ähnliche Träume wie er gehabt? Auf die Frage, warum sie den freien Fall erleben wolle, wich sie aber aus. Es sei einfach eine Mutprobe und einfacher, als Fallschirmspringen zu lernen, obwohl sie auch das reizen würde. Natürlich begleitete Gustav sie zum Donauturm. Er durfte sogar mit hinauf und auf der Sprungplattform kurz nach unten sehen. Die Menschen und die Bäume, die er von oben sehen konnte, waren Miniaturen ihrer selbst. Sie schienen hunderte Meter entfernt zu sein. Gustav fühlte einen leichten Schwindel. Die Möglichkeit, den freien Fall im realen Leben und nicht nur im Traum zu erleben, faszinierte ihn. Leider musste man wochenlang auf einen Termin warten. Für den Moment musste er sich damit begnügen, Julia dabei zuzusehen, wie sie kopfüber von der Plattform stürzte, um wenige Sekunden danach im Seil zu hängen. Sie wurde durch die Spannung des Seils wieder nach oben geschleudert und schließlich langsam zu Boden gelassen. Gustav hatte sie von unten beobachtet und keinen Laut von Julia gehört. Zwei Burschen, die noch vor ihr gesprungen waren, stießen vom Absprung bis zum Rebound, also dem Wiederhochschleudern, einen lauten Schrei aus. Dies erinnerte Gustav an sein Schreien, als er den freien Fall im Traum erlebt hatte. Er umarmte Julia und sie ließ es geschehen. Sie war so begeistert vom Sprung, von diesem unbeschreiblichen Gefühl, ins Bodenlose zu fallen, dass sie sich gemeinsam mit Gustav für einen weiteren Sprung anmeldete. Er erzählte ihr von den Träumen aus seiner Kindheit und hoffte, dass sie ähnliche Träume gehabt hatte. Sie lachte und schüttelte den Kopf. Woher dann ihre Sehnsucht nach dem freien Fall käme, fragte Gustav. Es sei keine Sehnsucht, sondern Neugier. Sie wolle noch so viel ausprobieren. Es wunderte sie sehr, dass es Gustav als Kind geschafft hatte, den Albtraum durch den Satz „Aber es ist nur ein Traum“ zu beenden. Gustav war sich nicht sicher, ob sie ihm glaubte. Julia stellte immer weitere Fragen dazu. Schließlich meinte sie, dass die Vorstellung, seine Träume beeinflussen zu können, mehr als kurios sei. Leider erinnere sie sich nur selten an einen Traum. Trotz dieser Gespräche gelang es Gustav nicht, Julia näher zu kommen. Wenn er sie fragte, ob sie Lust auf Kino habe, winkte sie ab. Dreimal die Woche trafen sie sich in der Kletterhalle. Gustav war nun auf einem ähnlichen Niveau wie Julia. Das stachelte sie an, noch schwierigere Routen zu klettern. Immer wieder fiel sie nun ins Seil und manchmal schaffte Gustav unüberwindbar erscheinende Stellen, an denen Julia zuvor gescheitert war. Sie begann darauf, seltener in die Kletterhalle zu kommen. Gustav musste sich nach einem neuen Partner zum gegenseitigen Sichern umsehen. In der Nacht vor dem gebuchten Termin für das Bungee-Jumping am Donauturm erinnerte sich Gustav nach dem Aufwachen wieder einmal an seinen Traum. Er stand am Fuße eines hohen Turms, der nur aus einem endlos langen Rohr bestand, in dessen Inneren schmale Trittstufen senkrecht nach oben führten. Das Rohr war so eng, dass Gustav fast darin stecken blieb. Gustav keuchte bald bei jeder Stufe. Er glaubte, schon mehr als eine halbe Stunde nach oben zu steigen. Das kleine Loch des Ausstiegs schien aber nicht näher zu kommen. Schweißgebadet wachte er auf. Er fühlte sich ausgelaugt und war frustriert, es nicht ganz nach oben geschafft zu haben. Auch wenn er sich immer wieder vorsagte, dass es nur ein Traum war, legte sich das Gefühl der Enttäuschung nicht. In dieser Stimmung fuhr er zum Donauturm. Julia war noch nicht da. Gustav war sich sicher, dass sie auch nicht kommen würde. Trotzdem schrieb er ihr eine Nachricht. Er erhielt keine Antwort. Da er nichts anderes erwartet hatte, belastete es ihn nicht so sehr. Er wollte sich nun ausschließlich auf seinen Sprung in die Tiefe konzentrieren. Doch sogar auf der Fahrt mit dem Lift nach oben spürte er noch die Nachwirkungen seines nächtlichen Traums. Aber es war nur ein Traum, sagte er laut im Lift. Er hatte vergessen, dass er nicht alleine war. Ein junger Mann, der ein blaues T-Shirt mit der Aufschrift „Bungee-Jumping Vienna“ trug, lachte auf. Spätestens auf der Plattform werde er aus seinem Traum erwachen, sagte er. Gustav musste einige Zeit warten, bis er an der Reihe war. Er hörte die Schreie der Springer und nahm sich vor, so wie Julia keinen Laut von sich zu geben. Als er dann kopfüber nach unten stürzte ergriff dieses Gefühl, ins Bodenlose zu fallen, von ihm Besitz. Er begann zu schreien, so wie er es nach dem Aufwachen aus seinen kindlichen Träumen getan hatte. Unten wartete Julia auf ihn. Sie grinste und sagte, dass sie jetzt quitt seien. Beim Bungee-Jumping sei jedenfalls sie cooler und außerdem hätte sie mit einem Trainer die Routen, an denen sie bisher gescheitert war, geübt. Sie könnten sich gerne gleich morgen in der Kletterhalle treffen. Bei einem gemeinsamen Bier erzählte Gustav von seinem Traum aus der vergangenen Nacht. Julia lachte dazu. Gustav glaubte, dass sie ihn auslachte. Früher musste er im Traum sagen, aber es sei nur ein Traum, jetzt aber, dass es nur ein Traum war, scherzte sie. Es sei aber kein Traum gewesen, dass er beim Sprung vom Donauturm wie am Spieß geschrien habe. Gustav meldete sich zu einem weiteren Termin an. Er entwickelte eine Sucht nach dem Sprung in die Tiefe, an dieses Gefühl, von der Schwerkraft angezogen nach unten zu rasen, immer schneller werdend, bis leider das Seil schon nach vierzig Metern den freien Fall verlangsamte. Doch auch beim zweiten und dritten Versuch gelang es ihm nicht, ohne Schreien auszukommen. Julia ging ihm in der Schule aus dem Weg. Sie war auf einer neuen Route wieder ins Seil gestürzt und beschuldigte Gustav, er hätte sie schlecht gesichert. Gustavs Verliebtheit war schon abgekühlt. Ihr aus seiner Sicht krankhafter Ehrgeiz, der es nicht duldete, wenn Gustav sie beim Klettern überholte, zeigten eine Seite von ihr, die Gustav nicht gefiel.

Während der Schulferien arbeitete Gustav am Bau. Zum Glück wurde er auf einer Baustelle für die Errichtung eines Hochhauses eingesetzt. Seine Aufgabe bestand darin, Werkzeuge, Pläne und Getränke in die Höhe zu bringen. Er liebte es, das Gerüst hinaufzusteigen und aus fast fünfzig Metern in die Tiefe zu blicken. Manchmal beugte er sich vor und versuchte, sich an das Gefühl des freien Falls aus seinen früheren Träumen zu erinnern. Er schloss die Augen und murmelte den Satz, dass er zwar falle, es aber nur ein Traum sei. Ein leichter Schwindel erfasste ihn, der sich gut anfühlte, so als hätte er zwei Gläser Wein getrunken. Die Möglichkeit zum Bungee-Jumping am Donauturm war eingestellt worden. Gustav hatte an die zehn Sprünge dort absolviert. Bei keinem davon schaffte er es, still zu bleiben. Er bildete sich ein, dass es ab dem fünften Sprung immer besser geworden war. Zum Schluss war es nur mehr ein gut hörbares Stöhnen gewesen, glaubte er.

Gustav wusste nicht so recht, was er studieren sollte. Beim Bundesheer lernte er drei Kollegen kennen, die genau wussten, dass nur Architektur als Studium in Frage käme. Also entschloss sich auch Gustav dazu. Er stellte sich vor, dass er später die höchsten Bauwerke planen würde. Auf jedem sollte es eine Bungee-Jumping Plattform geben. Er würde sich das Recht ausbedingen, diese zu nutzen, solange er wollte. Gustav freute sich, als ihm die neu gewonnenen Freunde erzählten, dass sie immer wieder gemeinsam Klettertouren unternahmen. Sie hatten als Jugendliche die Kletterwände im Umkreis von Wien besucht und nutzten eine Kletterhalle nur selten. Gustav hatte es in der Halle bis zum achten Schwierigkeitsgrad geschafft. Das war nicht mit dem Klettern im alpinen Raum zu vergleichen, die Freunde bewegten sich dort in wesentlich leichterem Gelände.

Kurz vor dem neuen Studienjahr machten sich seine Freunde und er zu den Drei Zinnen in den Sextener Dolomiten auf. Es war ruhiges Herbstwetter mit moderaten Temperaturen angesagt. Als erste Tour hatten sie die sogenannte „Gelbe Kante“, die auf Italienisch Spigolo Giallo hieß, ausgewählt. Aus Gustavs Sicht war sie leicht, mit einer Sechs-plus Stelle, sonst aber überwiegend im Schwierigkeitsgrad fünf und vier. Er freute sich aber darauf, denn das Gemeinsame stand für ihn im Vordergrund. Das Klettern in zwei Seilschaften hatten sie davor am Hochschwab geübt. Sie fanden heraus, wer mit wem besser harmonierte und welche Seilschaft etwas schneller war und daher als Erste klettern sollte.

Die Sonne stand nur mehr knapp über dem Horizont, als sie mit dem Shuttlebus bei der Auronzo Hütte ankamen. Die Wände der drei Zinnen waren in ein warmes, fast goldenes Licht getaucht. Lange saßen sie vor der Hütte und philosophierten über die Berge und das Klettern. Gustav hatte nur wenig Erfahrung im alpinen Gelände. Daher hörte er lieber zu, was die anderen schon alles erlebt hatten und wie sie zum Klettern gekommen waren. Die Freunde lachten als er erzählte, dass er aus unerwiderter Liebe zu klettern begonnen hatte. Er beschrieb Julia als wunderschönes, jedoch vom Ehrgeiz zerfressenes Mädchen. Später am Abend berichtete Tom, er war Gustavs Seilpartner, vom Bungee-Jumping am Donauturm. Er habe sich sicher gefühlt und schon nach zwei oder drei Sekunden die Seildehnung gespürt, die den freien Fall immer mehr bremste. Er verstehe nicht, warum andere während des Fallens laut und andauernd schrien. Wieder auf festem Boden sei ihn ein leichtes Schwindelgefühl überkommen und – das müsse er zugeben – seine Hände hatten gezittert. Gustav wollte nicht von seinen Erfahrungen am Donauturm erzählen. Wenn er nicht lügen wollte, hätte er von seinen vielen Versuchen, bei denen es ihm nicht gelungen war, still zu bleiben, berichten müssen. Nach dem dritten Glas Rotwein gab er aber seinen Traum aus der Kindheit zum Besten, den nicht enden wollenden freien Fall in eine unbekannte Tiefe und das Gefühl der nach oben drängenden Organe, die seinem Körper entweichen wollten. Tom glaubte ihm nicht, dass er es wirklich geschafft hatte, im Traum den Satz auszusprechen, dass er zwar falle, es aber nur ein Traum sei. Das würde ja bedeuten, dass man aktiv in einen Traum eingreifen könne. Wenn man das weiterspänne, könnte man seinen eigenen Traum gestalten und so zu wunderbaren Erlebnissen kommen. Aber nur im Traum, warf Gustav ein und lachte. Noch besser wäre es doch, wenn man sein Leben, sein Schicksal durch das Aussprechen seiner Wünsche beeinflussen könnte. Wie im Märchen, sagte Tom und alle lachten. Gustav konnte lange nicht einschlafen. Als er am Abend von Julia erzählt hatte, stieg seine starke Zuneigung zu ihr wieder in ihm auf. Er nahm sich vor, sie in den kommenden Tagen anzurufen. Jetzt könne er doch endlich einschlafen, dachte Gustav. Doch nun wurde er die Vorstellung, von ihr kalt abgefertigt zu werden, nicht los.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752140460
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
short stories Kurzgeschichten Traum freier Fall

Autor

  • Mart Schreiber (Autor:in)

Mart Schreiber ist mein Pseudonym, mein schreibendes Ich sozusagen. Vor vier Jahren habe ich ernsthaft zu schreiben begonnen. Davor waren es mutlose Versuche. In den folgenden Jahrzehnten war Schreiben nur mehr ein verschütteter Wunsch. Beruflich habe ich mich schnell in die Selbständigkeit gestürzt, zwei Unternehmen im Bereich der Softwareentwicklung mitgegründet und später die Anteile wieder verkauft. Seit einigen Jahren bin ich freiberuflich als Projektmanager und Projektcoach tätig.
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Titel: Im freien Fall