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Sherlock Holmes - Neue Fälle 08: Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch

von Martin Barkawitz (Autor:in)
160 Seiten

Zusammenfassung

Welche Verbindung besteht zwischen einem mittelalterlichen holländischen Maler wie Hieronymus Bosch und einer unheimlichen Mordserie im London des Jahres 1895? Keine, meint Inspektor Lestrade von Scotland Yard. Doch Sherlock Holmes ist anderer Ansicht. Gemeinsam mit Dr. John Watson ermittelt er in finsteren Opiumhöhlen und einem geheimnisvollen Wasserschloss. Dabei lernt er eine zwielichtige Opernsängerin, einen rätselhaften Gnom und einen heruntergekommenen Engelmacher kennen. Die Printausgabe umfasst 224 Buchseiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Im Blutkeller

 

Wenn ein Mann müde an London wird, ist er müde am Leben, denn es gibt in London alles, was das Leben bieten kann. Diese Worte unseres großen Gelehrten und Dichters Samuel Johnson gingen mir durch den Sinn, als ich an einem schönen Frühsommermorgen des Jahres 1895 zur Times griff. Mrs Hudson hatte soeben das Frühstück gebracht, das ich gerne gemeinsam mit meinem besten Freund einnehmen wollte, aber die geschlossene Schlafzimmertür legte die Vermutung nahe, dass mein Mitbewohner noch nicht aufgestanden war.

Mein Blick schweifte durch unseren Salon. Wie üblich hatte Holmes seine Korrespondenz mithilfe eines Taschenmessers am Kaminsims befestigt, und die zerfetzte Tapete sowie der abgebröckelte Verputz zeugten von seinen nachmittäglichen Schießübungen mit dem Revolver. Sein Tabak steckte wie gewohnt in der Spitze eines persischen Pantoffels. An den bestialischen Gestank, der von den Chemikalien meines Gefährten ausging, hatte ich mich sehr schnell wieder gewöhnt.

Nach dem Tod meiner geliebten Gattin Mary war ich wieder in der Baker Street 221B eingezogen, und die gemeinsame Detektivarbeit mit Holmes hatte sich als der beste Balsam für meine wunde Seele erwiesen. Doch nun hatten wir vor Kurzem einen spektakulären Kriminalfall zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht, und ich musste mir eingestehen, dass sich in meinem Inneren bereits eine gewisse Leere breitzumachen begann. Ich ertappte mich schon seit einigen Tagen dabei, dass ich die Morgenzeitung mit der Hoffnung auf ein möglichst abscheuliches Verbrechen aufschlug.

Derartige Gefühlsregungen widersprachen eigentlich den ethischen Grundsätzen, die für mich als Mediziner eine Notwendigkeit und Verpflichtung sein sollten, aber der geneigte Leser wird mir diese Emotionen hoffentlich nachsehen. Die Lebenserfahrung beweist schließlich, dass Kriminalität ein ständiger und unvermeidlicher Begleiter unserer Kultur ist, verweist doch schon der Konflikt zwischen Kain und Abel, den jeder in der Heiligen Schrift nachlesen kann, auf die latent vorhandene dunkle Seite in jedem Menschen.

London jedenfalls – um dem bedeutenden Samuel Johnson auch in dieser Hinsicht recht zu geben – war eine Stadt, in der jedes nur vorstellbare Verbrechen geschehen konnte. Wo viel Licht ist, findet sich auch viel Schatten, wie es so schön heißt. Seit den Zeiten des finsteren Mittelalters waren unsere Straßen nicht unbedingt sicherer geworden. An diesem Tag jedoch, da mein vorliegender Bericht beginnt, war es wie verhext. Gewiss, es hatten sich wieder zahlreiche Schandtaten in der Hauptstadt des britischen Empires ereignet, allerdings handelte es sich offenbar ausschließlich um Schurkereien, die durch einen Inspektor von Scotland Yard oder sogar durch einen einfachen Konstabler im Streifendienst aufgeklärt werden konnten. Vom Handtaschendiebstahl bis zur Wirtshausrauferei, von der Falschmünzerei bis zum Mädchenhandel fanden sich zahlreiche Meldungen über verbrecherische Umtriebe, doch zu meinem größten Missfallen war keine dieser Untaten dazu geeignet, den Intellekt und die Phantasie der Scotland-Yard-Beamten zu überfordern.

Nicht Kunst und Wissenschaft allein, Geduld will bei dem Werke sein. Dieses Goethe-Zitat sollten Sie sich zu Herzen nehmen, mein lieber Watson.“

Ich zuckte zusammen, als ich Sherlock Holmes’ Stimme vernahm. Mein Freund hatte lautlos seine Schlafzimmertür geöffnet und war ebenso geräuschlos in unseren Salon getreten. Er war bereits komplett bekleidet, lediglich anstelle des Gehrocks trug er noch einen bequemen samtenen Schnürrock, der als Hausjacke Verwendung fand.

Natürlich wusste ich als gebildeter britischer Gentleman, wer der von Holmes erwähnte deutsche Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe gewesen war, doch mich trieb vielmehr die Frage um, auf welche Weise mein Freund meine Ungeduld bemerkt hatte. Konnte man in meinem Gesicht wirklich lesen wie in einem offenen Buch?

Da ich nach mehreren Jahren an der Seite des Meisterdetektivs inzwischen mit seiner Deduktionsmethode vertraut war, sagte ich: „Sie haben bemerkt, dass ich die Seite mit den Polizeiberichten aufgeschlagen habe, nicht wahr, Holmes?“

Er nickte lächelnd und trat näher. Zuvor hatte der Abstand zwischen uns noch ungefähr acht Fuß betragen. Für einen scharfäugigen Mann wie Holmes war es trotzdem ein Leichtes gewesen zu erkennen, auf welcher Seite ich meine Zeitungslektüre unterbrochen hatte. „Elementar, Watson. Außerdem wechselte ihr gereizter Blick mehrmals zwischen der aufgeschlagenen Zeitungsseite und dem Regal mit Ihren Aufzeichnungen über unsere Kriminalfälle hin und her. Berücksichtigt man außerdem, dass Sie grundsätzlich ein sehr ausgeglichener Mensch sind, so muss man kein Hellseher sein, um Ihre Ungeduld zu erkennen. Aber ich kann Sie beruhigen, mein Freund. Der verwitwete Schuhmachermeister dort auf der Baker Street will garantiert zu uns. Ein neuer Fall rückt also in greifbare Nähe.“

Holmes hatte die Stores ein wenig zur Seite geschoben, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Bevor ich mich aus meinem Sessel erheben und mich zu ihm gesellen konnte, waren unten im Haus und auf der Treppe bereits Geräusche und Stimmen zu hören. Gleich darauf klopfte Mrs Hudson an unserer Wohnzimmertür, um einen Besucher zu melden, und der Mann, den Holmes unten auf der Straße erblickt hatte, trat ein.

Man musste kein Meisterdetektiv sein, um zu erkennen, dass der Ärmste in Trauer war. Die schwarze Armbinde an seinem Tweed-Jackett war nicht zu übersehen. Doch wie hatte Holmes herausgefunden, dass er seine Gattin und nicht etwa ein Kind oder einen Elternteil verloren hatte? Ich schätzte den Besucher auf Mitte fünfzig. Als Mediziner wusste ich natürlich, dass die Lebenserwartung eines Mannes nur rund sechzig Jahre betrug, zumal wenn er aus der Arbeiterschicht stammte, was bei diesem Trauernden offenbar der Fall war. Es war also eher unwahrscheinlich, dass seine Eltern noch am Leben beziehungsweise erst vor Kurzem verstorben waren. Und ein totes Kind? Hätte er wirklich den Verlust eines Sohns oder einer Tochter zu beklagen gehabt, dann würde er wohl seine Frau mit zu uns genommen haben. Also konnte nur seine Gattin verstorben sein, und zwar nicht auf natürliche Weise, sonst hätte er wohl nicht Holmes aufgesucht.

Insgeheim war ich stolz auf meine eigene kleine Schlussfolgerung. Aber woran hatte mein Freund erkannt, dass es sich bei unserem Besucher um einen Schuhmachermeister handelte?

„Ich bin Tobias Merrick.“ Die Stimme des Mannes hatte den unverkennbaren Cockney-Akzent der Londoner Unterschicht, außerdem klang sie rau wie eine Sturmbö über dem Ärmelkanal. Ob der Schmerz Merricks Stimme diese Färbung gab oder ob er üblicherweise so redete, konnte ich natürlich noch nicht beurteilen.

„Un’ wer von den Gentlemen ist Mister Sherlock Holmes?“, fuhr er fort.

Merrick hörte sich wirklich so an wie ein Arbeiter, der versuchte, mit höhergestellten Personen Queens English zu reden. Es klappte mehr oder weniger gut. Offenbar war der Trauernde es gewohnt, mit Gentlemen zu verkehren. Auch diese Tatsache passte zu Holmes’ Vermutung, einen Schuhmachermeister vor sich zu haben.

Unwillkürlich senkte ich meinen Blick hinunter zur Fußbekleidung unseres Besuchers. Merrick trug erstklassige Zugstiefel aus Büffelleder, die er vermutlich selbst angefertigt hatte. Sein Anzug hingegen war leicht abgetragen und von einem findigen Schneider mehrmals aufgebessert worden. Kein Gentleman hätte sich in dieser Kleidung zu einem Besuch begeben, schon gar nicht ohne eine eigene Visitenkarte.

Die Riesenhände, die aus den Ärmeln ragten, gehörten einem Mann, der im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdiente. Zahlreiche kleine Narben und Verfärbungen zeugten davon, dass Merrick sein ganzes Leben lang Bekanntschaft mit Zwickzangen, Täckshebern, Spitzknochen und anderem Schusterwerkzeug gemacht hatte. Andererseits war sein Teint bleich, er konnte also nicht unter freiem Himmel arbeiten, sondern schuftete wahrscheinlich im spärlichen Licht einer Schusterkugel. Merrick blinzelte unaufhörlich. Vermutlich war er kurzsichtig, besaß aber keine Brille.

Während mir diese Beobachtungen durch den Kopf gingen, hatte Holmes sich selbst und auch mich vorgestellt und dem Besucher einen Platz angeboten. Merrick nahm dankend an, setzte sich aber nur auf die äußerste Kante eines Lehnstuhls.

„Sehr freundlich, Mister Holmes, aber ich wär’ Ihnen dankbar, wenn Se gleich mit mir kommen könnten. Meine Frau … sie wurde von irgend so ’nem Lumpenhund massakriert!“

„Haben Sie bereits die Polizei verständigt, guter Mann?“

Merrick quittierte Holmes’ fürsorgliche Bemerkung mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Die Bobbys sind schon vor Ort, aber diese Plattfüße haben doch keine Ahnung. Ich bin ein ehrlicher Handwerker, Mister Holmes. Ich erkenn’ sofort, wenn jemand seine Arbeit versteht. Oder eben auch nicht. Und dieser Inspektor Lestrade ist ein Holzkopf, mein’ ich.“

Obwohl Holmes ein Meister der Selbstbeherrschung ist, glaubte ich in seinem mageren asketischen Gesicht den Anflug eines unterdrückten Lächelns zu erkennen. Ich selbst würde nicht so weit gehen, den rattengesichtigen Scotland-Yard-Beamten als nicht intelligent zu bezeichnen. Aber Lestrade fehlten bedauerlicherweise sowohl der Weitblick als auch die Kombinationsgabe, die für den Meisterdetektiv so signifikant waren.

Holmes stand auf und schenkte unserem Besucher höchstpersönlich einen Brandy ein.

„Ich verstehe Ihre Unruhe und Ihren Kummer, Mister Merrick. Trotzdem schlage ich vor, dass Sie mir zunächst die Fakten präsentieren, bevor wir gemeinsam zum Leichenfundort fahren. Die sterblichen Überreste Ihrer Gattin wurden doch bereits gefunden, nicht wahr?“

Merrick stürzte den Brandy hinunter und schaute meinen Freund überrascht an. „Stimmt, Mister Holmes. Woher wissen Sie?“

„Das habe ich geschlussfolgert. Sie sind ein Mann, der es zu bescheidenem Wohlstand gebracht hat, das sehe ich Ihrer Kleidung an. Sie war einst teuer, wurde aber immer wieder aufgebessert. Wer so handelt, ist sparsam, und das ist üblicherweise eine Grundvoraussetzung zur Vermehrung des Besitzes. Außerdem greifen Sie immer noch selbst zum Schusterhammer, obwohl einige Gesellen und Lehrlinge bei Ihnen in Lohn und Brot stehen. Also ist es für einen Mann wie Sie unvorstellbar, an einem Dienstagvormittag nicht in der Werkstatt zu arbeiten, es sei denn, etwas Furchtbares ist geschehen.“

„Das stimmt, Mister Holmes. Und woher wissen Se, dass ich Schuster bin?“

„Das tut jetzt nichts zur Sache, Mister Merrick. Erzählen Sie uns bitte, was heute geschehen ist.“

Merrick kniff seine hellen Augen noch stärker zusammen. Ich dachte schon, seine Gefühle würden ihn übermannen, aber er gehörte offenbar zu den Naturen, die auch größte Trauer und Bestürzung mit trockenen Augen überstehen können. Vielleicht half ihm ja Holmes’ ruhige und konzentrierte Art dabei, sich zu beherrschen.

„Das ist schnell erzählt, Mister Holmes. Ich hab’ heut’ Morgen um sieben Uhr in der Werkstatt angefangen, zusammen mit meinen Gesellen Tom und Mike. Meine Frau wollte zur Charterhouse Street gehen, zum Wochenmarkt.“

„Richtig, der Smithfield Wochenmarkt findet dort immer dienstags statt. Wo befindet sich Ihr Wohn- und Arbeitshaus, Mister Merrick?“

„In der Clerkenwell Road. Es sind keine zehn Minuten von dort bis zum Wochenmarkt.“

„Zweifellos. Was geschah dann?“

„Nichts. Das heißt, meine Männer und ich haben in der Werkstatt gearbeitet. Plötzlich kam ein Peeler hereingestürzt, ohne anzuklopfen, und …“

„Sie meinen einen uniformierten Polizisten“, vergewisserte sich Holmes. Er wusste natürlich auch, dass die Beamten in den unteren Volksschichten gern mit dem Spitznamen Peeler bedacht werden, in Anspielung auf Sir Robert Peel, den Begründer der Metropolitan Police.

Der Schuhmachermeister nickte betrübt. Meine ärztliche Erfahrung sagte mir, dass dieser Mann unter Schock stand. Momentan konnte er noch funktionieren wie einer dieser neumodischen Automaten. Erst später würde er den Verlust seiner Gattin richtig realisieren. Und Merrick war offenbar ein Mann der Tat. Deshalb hatte er meinen Freund aufgesucht, um die Aufklärung des Verbrechens aus eigener Initiative voranzutreiben. Aber was genau war eigentlich geschehen?

Merricks raue Stimme riss mich aus meinen Grübeleien. „Der Peeler erklärte uns, mit meiner Frau wäre ein Unglück geschehen. Ich sollte gleich mit ihm kommen. Natürlich löcherte ich den Kerl, aber er wollte nicht mit der Sprache herausrücken. Er wirkte auf mich wie eine lebende Leiche, bleich und schweißnass.“

„Interessant“, bemerkte Holmes und stopfte seine Bruyère-Pfeife. „Sie sind ein guter Beobachter, Mister Merrick. Fahren Sie bitte fort.“

„Natürlich wollte ich wissen, was passiert war, also ging ich mit ihm raus. Draußen wartete eine Polizeikutsche. Sie brachte uns zum Bloomsbury Hotel.“

„Das ist in Holborn, ziemlich weit vom Smithfield Wochenmarkt entfernt.“

„Richtig, Mister Holmes. Jedenfalls brachte mich der Peeler dort in den Weinkeller, wo ich Inspektor Lestrade kennenlernte. Und ich sah Harriett … zumindest das, was von ihr noch übrig war.“ Der Schuhmachermeister presste die Lippen aufeinander, um seiner inneren Qualen Herr zu werden. Seine Augen begannen feucht zu schimmern. Es war für mich offensichtlich, dass ihm der Anblick seiner ermordeten Gattin schwer zugesetzt hatte. Mir lag die Frage auf der Zunge, auf welche Art und Weise Harriett Merrick denn ums Leben gekommen war, aber ich wollte mich nicht einmischen, solange ich nicht nach meiner Meinung gefragt wurde. Schließlich war es ja Sherlock Holmes und nicht ich, an den sich der brave Schuhmachermeister mit seinem Hilfeersuchen gewandt hatte.

Mein Freund schlug entschlossen mit der flachen Hand auf die Sessellehne, legte seine Pfeife zur Seite und erhob sich. „Ich werde mir am besten selbst einen ersten Eindruck verschaffen. Würden Sie uns das Vergnügen bereiten, uns zu begleiten, lieber Watson?“

Holmes wartete meine Antwort nicht ab, sondern verschwand schnell in seinem Schlafzimmer. Im Handumdrehen war er wieder da, er hatte seine Hausjacke nur schnell gegen einen schwarzen Gehrock vertauscht. Holmes griff außerdem zu Spazierstock, Handschuhen und Zylinder. Ich folgte seinem Beispiel. Dann eilten wir gemeinsam mit dem bedauernswerten Tobias Merrick die Treppe hinunter.

Schnell fanden wir ein freies Hansom Cab, und nachdem wir in die Droschke gestiegen waren und ich dem Kutscher das Bloomsbury Hotel als Fahrtziel genannt hatte, stellte Holmes unserem zukünftigen Klienten noch eine Frage. „Wie ist es der Polizei überhaupt gelungen, Ihre Gattin zu identifizieren, Mister Merrick? Da sie sich auf dem Weg zum Wochenmarkt befand, führte sie gewiss keine Personalpapiere mit sich.“

„Nein, Mister Holmes, das stimmt. Aber Harriett hatte einen Brief an ihre Schwester dabei, den sie bei der Post aufgeben wollte. Da stand natürlich als Absender unsere Adresse drauf. Deshalb hat der Peeler direkt zu mir gefunden.“

Holmes nickte. Der Blick seiner hellen Augen war in die Ferne gerichtet, und sein schmales Gesicht erinnerte mit seinem meditativen Ausdruck an das eines buddhistischen Meisters. Ich kannte meinen Freund und wusste, dass er sich nun auf die uns bevorstehenden Eindrücke konzentrierte.

 

Das Bloomsbury Hotel war ein prachtvoller Bau mit stolzen Zinnen und Erkern sowie hohen, gotisch anmutenden Panoramafenstern für die Zimmer der exklusiven Gästeschar. Wir betraten den weitläufigen Beherbergungsbetrieb jedoch nicht durch das repräsentative Portal, sondern von der Hofseite her durch den Lieferanteneingang, wo mehrere Polizeikutschen abgestellt waren. Ein uniformierter Beamter salutierte sofort, als er Holmes erblickte. Der Mann hieß Konstabler Warren und gehörte zu Lestrades Leuten.

„Guten Tag, Konstabler“, grüßte mein Freund und nickte dem Uniformierten zu. „Wo finden wir den Inspektor?“

Warren schluckte schwer, als ob ein Ziegelstein quer in seiner Kehle sitzen würde. „Er ist im … Weinkeller, Mister Holmes.“

Das Antlitz des Polizisten war unnatürlich bleich, während er diese Auskunft gab. Er schien froh zu sein, dem Hotel den Rücken zukehren zu dürfen, aber das war nur meine bescheidene Meinung.

Holmes nickte abermals. Unter seiner Führung betraten wir das labyrinthische Innere des Dienstbotentrakts. Hier sorgten unzählige fleißige Hände dafür, dass es den illustren Gästen aus aller Welt an nichts mangelte. In diesen Kellergewölben unter dem Straßenniveau gab es nur wenige Luftschächte und keinerlei Fenster, daher sorgten zahlreiche fahle Gaslampen dafür, dass trotzdem genügend Helligkeit herrschte.

Mein Freund drehte sich zu unserem Klienten um. „Mister Merrick, Sie müssen sich dem Anblick Ihrer ermordeten Gattin nicht noch einmal aussetzen. Ich ahne bereits, dass er schockierend sein wird.“

„Ich werde es ertragen, Mister Holmes. Für mich ist nur wichtig, dass Sie diese Bestie erwischen, die Harriett das angetan hat.“

Natürlich fragte ich mich innerlich, wie Holmes schon jetzt zu seinem rücksichtsvollen Angebot kam. Noch konnten wir schließlich nicht einmal einen Rockzipfel von der Frauenleiche erblicken. Aber da ich seine Konzentration nicht unnötig stören wollte, versuchte ich, das Rätsel selbst zu lösen. Wenig später wurde es mir klar. Uns schlug ein appetitlicher Weingeruch entgegen, der sich allerdings immer stärker mit penetrantem Blutgestank vermischte, je weiter wir in die steinernen Eingeweide des Hotels vordrangen.

Irgendwann war der Odem von vergossenem Lebenssaft so dominierend, dass auch die feinste Nase selbst den kräftigsten Burgunder nicht mehr wahrgenommen hätte. Und das, obwohl wir nun die großen, bauchigen Weinfässer erblickten. Vor uns lag ein Gewölbe, das Bacchus geweiht war, doch diese Kulisse, die an unbeschwerte Tafelfreuden denken ließ, verblasste angesichts des Grauens mitten im Raum. Nicht Bacchus, sondern Orkus schwang hier sein düsteres Zepter.

An Holmes’ Seite hatte ich ja schon viele Leichen gesehen, und der Blutgestank war mir seit meiner Zeit als Militärarzt in Afghanistan nur allzu sehr vertraut. Dennoch stand ich stumm da und betrachtete kopfschüttelnd das makabre Machwerk. Ich konnte nur ahnen, wie sich Tobias Merrick beim Anblick des blutüberströmten Körpers seiner Frau fühlen musste. Der satanische Täter hatte sich nicht damit begnügt, die Gattin des Schuhmachermeisters einfach zu erstechen, was an sich schon entsetzlich genug gewesen wäre. Der Mörder hatte das Gesicht der Toten mit seinem Messer so bearbeitet, dass ihr Mund zu einem grotesken Grinsen verzerrt war, und ihr einen Nonnenschleier über den Kopf gestülpt, der ihr Haar verdeckte. Und neben der Leiche lag ein junger Birkenbaum, der in einem Weinkeller garantiert fehl am Platz war.

Alle Anwesenden verharrten steif und starr wie einst Lots Weib in der Wüste. Einzig mein Freund umrundete leichtfüßig den leblosen Körper, während er seine Lupe aus der Tasche zog, und beugte sich dann über das Gesicht der Ermordeten, um die Schnittränder des Mördermessers genauer in Augenschein zu nehmen. Erst jetzt bemerkte ich Inspektor Lestrade, der sich einen Ruck gab und aus dem Hintergrund der weitläufigen Kellerei auf uns zukam. Er hatte seine Melone in den Nacken geschoben und sah aus, als ob er sich nicht besonders wohl in seiner Haut fühlen würde, was ich ihm nicht verdenken konnte.

„Mister Holmes, Doktor Watson … seien Sie gegrüßt. Mister Merrick hatte bereits angekündigt, dass er Sie hinzuziehen wollte. Meiner Meinung nach ist das unnötig, aber wenn ein Hinterbliebener alles tun will, um den Mörder seiner Frau zu fassen, dann werde ich ihm keine Steine in den Weg legen. Für mich allerdings ist dieser Fall schon so gut wie gelöst.“

„Was Sie nicht sagen, Inspektor“, entgegnete Holmes. „Und wer ist der Täter?“

Lestrade tat, als ob er die Frage nicht gehört hätte. Stattdessen nahm er Holmes und mich beiseite. Wir steckten die Köpfe zusammen. „Dieser Mord folgt einem gewissen Muster, Gentlemen. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit will ich Ihnen anvertrauen, dass es nicht die erste Tat dieser Art ist.“

Ich erschrak. „Sie meinen also …?“

Lestrade nickte düster. „Es hat bereits zwei weitere vergleichbare Morde gegeben. Die Bluttaten wurden von uns aus ermittlungstaktischen Gründen bis jetzt vor der Presse geheim gehalten.“

Leben imitiert Kunst

 

Diese Nachricht musste ich erst einmal verdauen.

Holmes hingegen blieb gelassen. „Als Systematiker bin ich es gewohnt, mich zunächst mit einem einzelnen Verbrechen zu befassen. Gestatten Sie mir also, dass ich mir hier im Hotel einen allgemeinen Überblick verschaffe?“

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Mister Holmes“, erwiderte der Scotland-Yard-Beamte und hob die Schultern. „Meine Konstabler haben schon mit dem Personal und den Gästen gesprochen. Keiner von ihnen kannte das Opfer, und den Täter hat auch niemand gesehen.“

Holmes nickte, doch ich hatte nicht den Eindruck, dass Lestrades Worte zu ihm durchgedrungen wären. Ich wusste aus Erfahrung, dass mein Freund alles ausblendete, was ihn bei der Beurteilung eines Verbrechens irritieren konnte. Er betastete die feuchten Wände, die aus mächtigen Granitquadern bestanden, roch an den einzelnen Weinfässern und deutete schließlich auf eine schmale Tür an der Westseite des Gewölbes. „Auf diesem Weg ist das Opfer in den Keller gebracht worden. Sehen Sie die Kratzer, die seitlich auf den Schuhabsätzen von Misses Merrick zu erkennen sind, Watson? Sie entstanden durch den Kontakt mit diesen grob behauenen Treppenstufen. Die Frau war vermutlich schon tot oder zumindest betäubt, als sie hierher in den Keller geschleift wurde.“

„Die Tür führt auf den Hof hinaus“, brummte Lestrade. „Das haben zumindest die Hotelangestellten ausgesagt.“

„Und diese Information wird sicherlich zutreffen“, sagte Holmes. „Wenn der Innenhof nicht gerade durch Polizeikutschen blockiert ist, dann werden hier allerlei Vorräte und Lebensmittel angeliefert, von lebenden Muscheln bis zu importiertem Parmaschinken. Den Gästen dieses Luxushotels soll es an nichts fehlen. Daher herrscht ein ständiges Kommen und Gehen von Pferdegespannen. Es fällt überhaupt nicht auf, wenn ein Wagen bis vor den Kellereingang fährt. Misses Merrick war eine zierliche Person. Der Mörder hat die Leiche vermutlich in ein Tuch eingeschlagen, und wenn der Täter stark war, konnte er sie sich einfach auf die Schulter laden und hier heruntertragen. Da der Türsturz jedoch sehr niedrig und schmal ist, musste der Verbrecher den Leichnam wieder zu Boden lassen und hinter sich her schleifen. So kamen die Kratzspuren an den Schuhen zustande.“

„Das ist natürlich alles sehr interessant, Mister Holmes“, warf Lestrade ungeduldig ein. „Und was hat die Blutbestie damit bezweckt?“

„Darüber habe ich mir noch kein abschließendes Urteil gebildet“, erwiderte mein Freund reserviert.

„Aber ich!“ Lestrades kleine Knopfaugen leuchteten. „Ich habe ja schon angedeutet, dass es zwei weitere vergleichbare Mordtaten gegeben hat. Für mich steht fest, dass es sich in allen drei Fällen um denselben Täter handelt.“

„Und wie heißt die Kanaille, Inspektor?“

„Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen, Mister Holmes. Aber es ist nicht zu leugnen, dass es sich um einen brutalen Geisteskranken handelt. Ich habe noch keinen Zusammenhang zwischen Misses Merrick und den beiden anderen Toten feststellen können. Es gibt keine Logik, nach der dieser Killer vorgeht. Hinzu kommt seine bizarre Veränderung an den toten Körpern. So eine Vorgehensweise kann nur einem kranken Hirn entsprungen sein. Ich werde deshalb meine Ermittlungen auf entlaufene Patienten aus Londoner Irrenanstalten konzentrieren.“

Holmes’ Miene war so undurchdringlich wie die eines amerikanischen Pokerspielers. Selbst ich, der ich mich ohne Übertreibung als den besten Freund und Kenner des Meisterdetektivs bezeichnen darf, hätte nicht sagen können, ob Holmes Lestrades Fahndung für eine Eselei oder für einen brauchbaren Ansatz hielt.

Natürlich ließ es sich auch Holmes nicht nehmen, mit allen infrage kommenden Zeugen im Hotel zu reden, aber in diesem Fall hatte sich Lestrade einmal nicht getäuscht. Keiner von ihnen hatte eine Beobachtung gemacht, die unsere Ermittlungen weiter voranbringen konnte. Merrick verfolgte unsere Bemühungen aus respektvoller Entfernung. Inzwischen waren Helfer vom gerichtsmedizinischen Institut eingetroffen, um die sterblichen Überreste seiner Gattin abzuholen.

Holmes ging zu unserem Klienten hinüber. „Ihre Anwesenheit hier ist nicht weiter nötig, Mister Merrick. Sie haben jetzt gewiss mit der Bestattung zu tun, sobald die Polizei den Körper Ihrer Frau freigegeben hat. Ich übernehme den Fall und verspreche Ihnen, dass ich den Mörder Ihrer Gattin seiner gerechten Strafe zuführen werde.“

Merrick nickte nur und wischte sich mit einem großen Schnupftuch den Schweiß von der Stirn. Er war am Ende seiner Kräfte, das konnte ich als Mediziner ihm deutlich ansehen. Grußlos taumelte er davon.

„Armer Teufel“, murmelte Holmes, als der Schuhmachermeister außer Hörweite war. „Er selbst hat seine Frau nicht getötet, so viel steht für mich fest.“

„Hatten Sie das denn angenommen, Holmes?“, fragte ich verblüfft.

„Anfangs habe ich diese Möglichkeit zumindest nicht ausgeschlossen. Die Tatsache, dass uns Merrick mit der Lösung des Rätsels beauftragt hat, muss nicht zwangsläufig für seine Unschuld sprechen. Aber ich bin sicher, dass unser wackerer Handwerksmeister ein Rechtshänder ist. Der hauptsächliche Tötungsschnitt bei seiner Gattin wurde hingegen mit einer Bewegung ausgeführt, wie sie für einen Linkshänder typisch ist.“ Holmes machte mit seiner linken Hand und einem imaginären Messer eine schneidende Bewegung durch die feuchte und modrige Kellerluft.

Lestrade schüttelte den Kopf. „Falls sich unter den flüchtigen Geisteskranken ein Linkshänder befindet, werde ich an Ihre Worte denken, Mister Holmes.“ Dann lachte der Inspektor meckernd, als ob irgendetwas komisch wäre.

Holmes ließ sich davon nicht irritieren. „Wäre es wohl möglich, einen Blick auf die beiden anderen Mordopfer zu werfen, Inspektor?“

„Selbstverständlich, Mister Holmes. Scotland Yard will sich nicht nachsagen lassen, dass wir einen Amateurdetektiv bei seinen Nachforschungen hindern würden. Es lässt sich ja auch nicht leugnen, dass Sie in der Vergangenheit den einen oder anderen nützlichen Hinweis geben konnten. Doch in diesem Fall bin ich sicher, dass die Spur zu einem gefährlichen Geisteskranken führen wird.“

Holmes war diplomatisch genug, Lestrades Theorie im Raum stehen zu lassen. Schließlich hatte sich ja schon oft genug gezeigt, dass der wackere Inspektor mit seinen Einschätzungen auf dem Holzweg gewesen war.

Ich konnte mir angenehmere Betätigungen vorstellen, als ähnlich schlimm zugerichtete Leichname wie den von Mrs Merrick ansehen zu müssen, doch war diese Bürde zweifellos notwendig, um den schurkischen Täter seiner gerechten Strafe zuführen zu können.

Lestrade erteilte seinen Untergebenen noch einige Befehle, dann stieg er mit Holmes und mir in eine Polizeikutsche, die uns zum gerichtsmedizinischen Institut brachte.

 

Der Anatomiesaal war mit modernen Gaslampen hell beleuchtet worden. Holmes warf einen unwilligen Blick auf die leblosen Körper, die dort aufgebahrt worden waren. „Ich hätte es vorgezogen, die Opfer am Leichenfundort inspizieren zu können. Und es wäre auch hilfreich gewesen, wenn man sie nicht ihrer Kleider entledigt hätte.“

„Das mag schon sein, Mister Holmes“, entgegnete der Inspektor gespreizt. „Doch beim Auffinden der Mordopfer war uns nicht bewusst, dass den Leichen eine Sonderbehandlung widerfährt.“

Holmes zog zwar unwillig die Augenbrauen zusammen, zeigte aber ansonsten die stoische Ruhe, wie sie einem Gentleman angemessen sein sollte. Lestrade konnte manchmal fürchterlich impertinent sein; gleichwohl musste ich ihm zugestehen, dass er momentan, vermutlich wegen dieser grässlichen Bluttaten, unter einem enormen Druck stand.

Holmes deutete auf den bizarren Toten auf dem rechten Stahltisch. „Konnte die Identität dieses Opfers schon nachgewiesen werden?“

Die Frage war aus meiner Sicht berechtigt, denn der Mörder hatte aus irgendeinem finsteren Grund schwarzes Pech in die Augenhöhlen des Toten gegossen. Der Mund des Verblichenen war weit aufgerissen, sodass ich unwillkürlich an einen Vogel denken musste. Auch das fliehende Kinn und die scharf hervorstehende Nase des Opfers ließen meine Vorstellungskraft in diese Richtung schweifen. Eine weitere Veränderung bestand darin, dass die Haut der Leiche mit blauer Farbe bemalt worden war. Unwillkürlich war ich dazu geneigt, Lestrade recht zu geben. Welcher Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hatte, würde einen toten Körper auf diese Weise zurichten? In welchen Mahlstrom an Grausamkeiten war dieses bedauernswerte Individuum nur geraten?

Die Stimme des Inspektors riss mich aus meinen sinisteren Grübeleien. „Das Opfer hieß Charles Rosenbloom. Er war der Inhaber einer kleinen galvanischen Anstalt in der Addington Street. Seine Spezialität war das Versilbern von Tafelgeschirr. Mister Rosenbloom hatte ein Paket bei sich, das eine von ihm galvanisierte Teekanne enthielt. Diese Schlussfolgerung stammt übrigens nicht von mir, sondern von einem meiner Konstabler.“

„Überaus scharfsinnig, Ihr Mitarbeiter“, bemerkte Holmes und beugte sich über die bleiche rechte Hand des Leichnams. „Bimsstein, immer wieder Bimsstein. Zweifellos, dieser Mann hat Gegenstände versilbert, und das seit vielen Jahren.“ Dann zeigte Holmes auf die sterblichen Überreste einer schönen jungen Frau. „Und was ist mit dem bedauernswerten Opfer zu unserer Linken?“

Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als ich die blutigen Male an Händen und Füßen bemerkte, nachdem ein Assistent das weiße Laken zurückgezogen hatte. Das bisher einzige weibliche Opfer des monströsen Täters war offenbar gekreuzigt worden.

„Meine Konstabler fanden die Tote in einem verlassenen Schuppen im East End. Sie war mit langen Zimmermannsnägeln an die Wand genagelt worden.“

„Sie war nicht nackt, oder?“

Lestrade warf Holmes einen verblüfften Blick zu. „Nein, die Tote trug ein langes, rötliches und irgendwie mittelalterlich wirkendes Gewand.“

Ich hätte schwören können, dass über Holmes’ Gesicht in diesem Moment ein Ausdruck huschte, den man am besten mit grimmiger Genugtuung beschreiben kann. Gewiss galt diese Gefühlsregung – falls es denn eine war – nicht dem entsetzlichen Tod dieser jungen Frau. Stattdessen war ich mir sicher, dass sich mein Freund nun auf der richtigen Spur des Mörders befand. Eine diesbezügliche Frage wollte ich ihm allerdings erst stellen, wenn wir wieder unter vier Augen waren. Hätte Holmes in Gegenwart von Lestrade seine Überlegungen darlegen wollen, dann wäre das gewiss schon längst geschehen.

„Der Name der Frau lautete Amanda Douglas“, ergänzte der Inspektor seine Angaben. „Sie war als Kindermädchen für Lord Barnabas Fornham tätig. Lady Melissa Fornham war es auch, die eine Vermisstenanzeige erstattete. Amanda Douglas war mit dem Kinderwagen im Hyde Park unterwegs gewesen und nicht rechtzeitig zum Dinner in die Mansion am Eaton Place zurückgekehrt. In dem Kinderwagen befand sich der junge Master Richard Fornham, ein Säugling von sechs Monaten. Glücklicherweise konnten meine Beamten den Kinderwagen im Hyde Park sicherstellen. Er stand unweit vom Wellington Arch. Dem Kind fehlte Gott sei Dank nichts.“

„Der Täter hatte also keinerlei Interesse an der Entführung des kleinen Richard“, dachte Holmes laut nach, „obwohl der wohlhabende Vater des Babys vermutlich sein ganzes Vermögen für das Wohlergehen seines Sohnes ausgegeben hätte. Es ging dem Verbrecher entweder nur um das Kindermädchen oder er wusste schlicht und einfach nicht, wie vermögend die Fornham-Familie ist.“

„Von einem Verrückten können Sie eben keine rationalen Gedankengänge erwarten“, versetzte Lestrade in einem Tonfall, als ob Holmes die einfachsten Zusammenhänge nicht begreifen würde.

Mein Freund erwiderte nichts, doch seine schmalen Lippen wurden von einem süffisanten Lächeln umspielt.

„Ich will nicht unhöflich erscheinen, meine Herren“, sagte Lestrade und zog mit großer Geste seine Taschenuhr aus der Weste, „aber die Pflicht ruft mich ins Yard-Gebäude zurück. Bisher ist es uns gelungen, diese nun insgesamt drei grauenvollen Morde vor der Presse geheim zu halten. Der Innenminister ist besorgt wegen möglicher Unruhen in der Bevölkerung, die durch diese Untaten provoziert werden könnten. Doch schon bald werden meine Kollegen und ich den Fleetstreet-Geiern einige Informationshappen zum Fraß vorwerfen müssen.“

Lestrades Formulierungen waren meiner Meinung nach immer schon etwas abenteuerlich gewesen, und das ist noch gelinde ausgedrückt. Doch Holmes bedankte sich höflich bei dem Inspektor für seine Mühe, und so verabschiedete auch ich mich formvollendet von Lestrade.

 

Wenig später standen mein Freund und ich vor dem gerichtsmedizinischen Institut auf dem Bürgersteig. Holmes schaute mir mit einem prüfenden Blick direkt ins Gesicht. „Sie sind ein wenig blass, mein guter Watson. Der Anblick dieser drei zugegebenermaßen unschönen Leichname ist Ihnen offenbar nicht gut bekommen. Darf ich mir erlauben, Sie zu einer Tasse Tee einzuladen?“

Welcher britische Gentleman kann schon Nein sagen, wenn es sich um das aromatische Getränk aus unseren asiatischen Kolonien handelt? Ich ging nur allzu gern auf den Vorschlag ein. Holmes winkte ein Hansom Cab herbei, das uns in die Regent Street brachte, wo sich der Continental Tearoom befand, ein trotz des Namens sehr patriotisches Etablissement mit Portraits britischer Heroen von Oliver Cromwell bis Horatio Nelson an den Wänden. Als wenig später der köstlich duftende Darjeeling in unsere mit Rosendekor verzierten Wedgwood-Tassen gegossen wurde, konnte zumindest ich die Gemeinheit und Vulgarität der Welt für wenige Momente vergessen.

Als das belebende Aufgussgetränk seine Wirkung tat, holte mich Holmes’ Stimme in die Wirklichkeit zurück. „Wissen Sie, was ich an diesem Fall wirklich amüsant finde, Watson?“

Ich schüttelte den Kopf. Die Gedankengänge meines Freundes waren für mich wieder einmal nur schwer nachvollziehbar.

„Unser tüchtiger, wenn auch imaginationsarmer Inspektor dürfte diesmal mit seiner Theorie nicht völlig auf dem Holzweg sein“, fuhr Holmes fort. „Obwohl die Medizin zweifellos Ihr Fachgebiet ist, mein lieber Doktor, würde ich den Täter aus meiner Sicht als einen zumindest gemütskranken Menschen bezeichnen. Der Mörder ist jedoch kein kreischender Irrer, der wahllos seine Mitbürger niedermetzelt. Ich halte den Verbrecher vielmehr für ein Individuum von teuflischer Intelligenz, das mit diesen drei Morden einem bestimmten Muster folgt und einen Plan in die Tat umsetzen will.“

„Das begreife ich nicht, Holmes. Was für ein Muster? Und welcher Plan?“

Holmes’ Miene war undurchdringlich, als er erwiderte: „Um seinen Plan durchschauen zu können, fehlen mir bedauerlicherweise noch weitere Fakten, Watson, doch das Muster kann ich Ihnen darlegen. Allerdings möchte ich es Ihnen lieber direkt vor Augen führen, als mich in weitschweifigen Beschreibungen zu ergehen.“

Diese Ankündigung war in meinem Sinn. Wir tranken aus, und nachdem Holmes die Zeche bezahlt hatte, bestiegen wir wenig später erneut eine Droschke. Diesmal war unser Ziel allerdings zu meiner größten Verblüffung die National Gallery am nördlichen Ende des Trafalgar Squares. „Was haben Sie vor, Holmes? Wollen Sie mir beweisen, dass die Kunst eine Vermittlerin des Unaussprechlichen ist?“

„Auch Sie können offenbar den deutschen Dichterfürst Goethe zitieren, mein guter Watson.“ Mein Freund lächelte. „Ich habe allerdings auch nichts anderes von Ihnen erwartet. Nun, als unaussprechlich könnte man die Verbrechen unseres noch unbekannten Mörders wirklich bezeichnen. Haben Sie noch ein wenig Geduld, dann werden Sie meine Absichten vollständig begreifen.“

Wieder einmal konnte ich über die unnachahmliche Art meines Freundes innerlich nur den Kopf schütteln. Doch ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, einen Sherlock Holmes zu etwas drängen zu wollen. Also betrat ich abwartend an seiner Seite den bedeutenden Kunsttempel, dessen Portikus-Säulen bekanntlich aus den Überresten des zerstörten Carlton-Hauses stammen. Von Ehrfurcht gebietender Perfektion ist der symmetrische Grundriss des Gebäudes, den Edward Middleton Barry entworfen hat und der auf einzigartige Weise die Harmonie britischer Klassik verkörpert. Ich merkte, dass ich ins Schwärmen geriet, doch bevor ich auf den Schwingen der Erhabenheit unseren blutigen Kriminalfall vergessen konnte, führte mich Holmes zielgerichtet in einen Saal mit Werken niederländischer und flämischer Meister aus der Renaissance.

Die Dornenkrönung von Hieronymus Bosch“, sagte Holmes mit neutral klingender Stimme, während er vor einem Gemälde stehen blieb.

Ich blinzelte und nahm das Bild näher in Augenschein. Der Künstler hatte eines der bekannten Kreuztragungsmotive aus der religiösen Malerei variiert. Der Heiland war zu sehen, wie er von seinen Feinden umringt wird und ihm einer dieser Grobiane soeben die Dornenkrone auf das Haupt drücken will. Es war eine Szene, die keinen Menschen kalt lassen konnte, insbesondere, wenn man die widerlichen Visagen der Peiniger Christi betrachtete. Hieronymus Bosch hatte es meisterhaft verstanden, ihre dumpfe Gehässigkeit und unirdische Boshaftigkeit auf die hölzerne Malunterlage zu bannen. Beim Anblick dieses Kunstwerks lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Doch ich verstand nach wie vor nicht, was dieses Gemälde mit unseren drei Morden zu tun haben sollte.

„Hieronymus Bosch ist Ihnen ein Begriff, Watson?“, hakte Holmes nach.

„Gewiss. Dieser holländische Maler hat zur Zeit der Renaissance gewirkt. Er tat sich vor allem durch religiöse Motive sowie durch phantastische, albtraumhafte Darstellungen von Monstren, Fabelwesen und Dämonen hervor.“

„Elementar, mein guter Watson“, lobte Holmes. „Ergänzend wäre noch hinzuzufügen, dass die Kunstwissenschaft bis heute das Gesamtwerk von Hieronymus Bosch nicht gesichtet hat, weil einige ihm zugeschriebene Bilder verschwunden oder verschollen sind beziehungsweise von anderen Künstlern umgearbeitet wurden.“

„Das ist ja alles gut und schön, Holmes“, warf ich mit einem unterschwelligen Drängen in meiner Stimme ein, denn allmählich konnte ich meine Ungeduld nun doch nicht mehr im Zaum halten, „aber wären Sie bitte so freundlich, mich über den Zusammenhang zwischen dem Renaissance-Maler und unseren bedauernswerten Mordopfern im London des Jahres 1888 aufzuklären?“

„Mit dem größten Vergnügen, Watson“, entgegnete Holmes. „Alle drei Morde weisen eine Gemeinsamkeit auf. Der Täter hat seine Opfer mit brutaler Gewalt und viel Phantasie verändert, um damit auf drei Gemälde von Hieronymus Bosch hinzuweisen.“

Das grauenvolle Päckchen

 

Ich muss in diesem Moment ziemlich verdutzt aus der Wäsche geschaut haben, denn Holmes schüttelte lächelnd den Kopf.

„Ich bin Ihnen zweifellos eine eingehendere Erklärung schuldig, mein lieber Watson. Lassen Sie uns in die Baker Street zurückkehren. Nach dem Kunstgenuss könnte ich eine Pfeife mit bestem Black Virginia Tabak vertragen.“

Ich konnte meinem Gefährten nur zustimmen, wenngleich mir die Beantwortung offener Fragen wichtiger war als der in Aussicht gestellte Tabakgenuss. Dennoch wusste ich es zu schätzen, als wir es uns einige Zeit später in unseren Sesseln bequem gemacht und die Rauchgeräte gestopft hatten. Holmes hielt einen brennenden Fidibus an den Kopf seiner imposanten Bruyère-Pfeife und gab gleich darauf blaue Wolken von sich.

„Ich würde mich nicht als einen ausgewiesenen Kunstkenner bezeichnen“, begann er, „gleichwohl fiel mir schon beim Anblick der sterblichen Überreste von Misses Merrick die merkwürdige Inszenierung des toten Körpers auf. Der Mörder hat sich etwas dabei gedacht, die Leiche im Weinkeller des Hotels abzulegen.“

„Ist er damit nicht ein unnötig hohes Risiko eingegangen? Immerhin herrscht im Bloomsbury ein reges Treiben. Zahlreiche dienstbare Geister haben im Arbeitstrakt des Hotels zu tun.“

„Allerdings, Watson. Doch ich gehe davon aus, dass die Tote am Morgen dort deponiert wurde. Das ist eine Zeit, in der zumindest der Weinkeller kaum betreten wird. Andererseits wird spätestens um die Mittagszeit ein Sommelier das Gewölbe betreten, um einen guten Tropfen für die Mittagsgäste zu besorgen. Also konnte der Täter davon ausgehen, dass die Leiche innerhalb weniger Stunden gefunden werden würde. Und darauf hat er es auch angelegt. Der Verbrecher wollte erreichen, dass seine aufwendige Installation bemerkt wird.“

„Und diese Anspielung auf Hieronymus Bosch ist Ihnen sofort ins Auge gesprungen?“

„Ja, denn die bedauernswerte Harriett Merrick erinnerte mich sofort an sein Gemälde Das Narrenschiff. Das groteske Grinsen, zu dem der Mund der Toten vom Mörder zurechtgeschnitten wurde, weist auf die darin abgebildeten Possenreißer hin. Da Hieronymus Bosch auch Mönche und Nonnen dargestellt hat, durfte natürlich auch ein Nonnenschleier auf dem Haar der getöteten Ehefrau nicht fehlen. Und da der Mast des Narrenschiffs auf dem Bild aus einem Baum besteht, hat der Verbrecher die Tote auch mit diesem Attribut versehen. Er wollte sichergehen, dass seine Hinweise auf Hieronymus Bosch auf jeden Fall verstanden werden.“

Ich will nicht leugnen, dass mich Holmes’ scharfe Beobachtungsgabe wieder einmal beeindruckt hatte. Mir war dieser Bezug nicht aufgefallen, aber im Vergleich zu meinem auf den unterschiedlichsten Fachgebieten so bewanderten Freund bin ich zweifellos ein Kunstbanause. Darüber mache ich mir keine Illusionen. Es gehört auch zu den vornehmsten Eigenschaften eines Gentlemans, die eigenen Grenzen zu kennen.

„Und wie verhält es sich mit den beiden übrigen Mordopfern?“, stammelte ich.

Holmes blies einige Rauchkringel Richtung Salondecke, bevor er antwortete: „Charles Rosenbloom, unser unglücklicher Galvaniseur, musste für eine besonders albtraumhafte Darstellung aus Boschs Lebenswerk herhalten. Das Bild gehört zu dem Triptychon Der Garten der Lüste. Rosenblooms Leiche soll offenbar das vogelköpfige Ungeheuer verkörpern, das auf dem rechten Flügel von Boschs Gemälde auf einem Thron sitzt und einen Sünder verspeist.“

Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, obwohl Holmes ja nur von einem Kunstwerk sprach. Was mich viel mehr erschauern ließ, war die vage Ahnung der seelischen Abgründe, die sich im Inneren des Mörders auftaten. Was für ein Mensch war zu derlei perfiden Abnormitäten fähig? Ich fühlte mich in diesem Moment einfach nicht in der Lage, diese Emotionen in Worte zu fassen. Also griff ich lieber zur Amontillado-Kristallkaraffe und schenkte für Holmes und mich ein Gläschen ein, woraufhin mich mein Freund mit einem freundlichen Blick bedachte.

„Verbindlichsten Dank, lieber Watson. Bei dem bedauernswerten Kindermädchen Amanda Douglas hat unser obskurer Hieronymus-Bosch-Verehrer es mir noch leichter gemacht, denn das Mordopfer ähnelt der Hauptfigur auf dem Gemälde Die Kreuzigung der heiligen Julia auf geradezu unheimliche Weise. Momentan deutet bedauerlicherweise nichts darauf hin, dass die Mordserie schon beendet ist.“

Ich leerte mein Sherry-Glas in einem Zug. „Aber was treibt diese Bestie in Menschengestalt zu diesen Handlungen, Holmes? Er kann doch nicht einfach nur geistesgestört sein, wie Lestrade annimmt. Sie haben doch bereits darauf hingewiesen, dass noch etwas anderes hinter diesen Bluttaten steckt.“

„Sie haben aufmerksam zugehört, mein Freund. Ja, ich vermute eine kalte Systematik, die übrigens keineswegs im Widerspruch zum offensichtlichen Irresein dieses Individuums stehen muss. Aber es ist noch zu früh, um mir ein diesbezügliches Urteil bilden zu können. Ich benötige weitere Fakten, die mir der Täter leider noch nicht geliefert hat. Einstweilen will ich mich damit begnügen, ihm den Spitznamen Hieronymus Bosch zu verpassen, und hoffe, der geniale Maler im Jenseits wird mir verzeihen, dass ich einen gemeinen Mörder nach ihm benenne. Aber es dürfte auch im Sinn des schon längst verstorbenen holländischen Kunstgenies sein, wenn ich diesem blutigen Mummenschanz mit seinen Bildmotiven einen Riegel vorschiebe.“

Ich nickte und goss mein Glas erneut voll. Die beschwichtigende Wirkung des Amontillado blieb bedauerlicherweise bisher aus. „Der Künstler hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, nicht wahr?“

„Sie sagen es, Watson. Es gibt etliche Gemälde, die ihm zugeschrieben werden, wenngleich es sich teilweise um Bilder von Nachahmern oder Fälschern handeln dürfte. Ich bin kein Kunsthistoriker. Aber die Inspirationsquelle für weitere Bluttaten unseres neuzeitlichen Hieronymus Bosch ist noch lange nicht versiegt.“

Das war eine ernüchternde Zukunftsaussicht, die sich auch mit größeren Mengen Sherry nicht in zufriedenstellender Weise bekämpfen ließ.

 

Wenn auch keine weiteren Mordtaten vermeldet wurden, die unserem mysteriösen Gegenspieler zugeschrieben werden konnten, so schlachtete immerhin die Hauptstadtpresse am nächsten Morgen die bisher verübten Verbrechen genüsslich aus. Allerdings schien sich keiner der Journalisten in Kunstgeschichte so gut auszukennen wie mein Freund, denn ich konnte weder in der Times noch im Telegraph oder in einer der anderen Londoner Zeitungen auch nur eine einzige Zeile über den Zusammenhang zwischen den Hieronymus-Bosch-Bildern und den drei Toten entdecken. Stattdessen schwenkten die Reporter ganz auf die Linie von Inspektor Lestrade ein, der mehrfach mit seinen Hinweisen auf einen aus dem Irrenhaus entsprungenen Tobsüchtigen zitiert wurde.

Und tatsächlich schien es bereits einen Verdächtigen zu geben, der für alle drei Morde als Täter infrage kam. Das teilte uns Lestrade höchstpersönlich mit, als er uns tags darauf seine Aufwartung machte. Holmes hatte am Vorabend noch die Baker Street Irregulars losgeschickt, um überall im East End die Ohren aufzusperren, aber noch waren Wiggins und die anderen Straßenbengel nicht wieder zum Rapport erschienen. Stattdessen gab sich der Inspektor von Scotland Yard die Ehre.

Wir hatten gerade das Frühstück beendet und saßen noch bei einer Tasse Earl Grey zusammen, als Mrs Hudson den Besucher zu uns führte. Lestrade rieb sich die Hände und sah so zufrieden aus, als ob er den Dreifachmörder soeben höchstpersönlich zum Schafott geführt hätte. „Guten Morgen, Gentlemen! Wie ich sehe, geben Sie beide sich noch dem süßen Müßiggang hin. Ich als Beamter Ihrer Majestät habe hingegen schon sämtliche Maßnahmen in die Wege geleitet, um den irren Täter dingfest machen zu können.“

„Was Sie nicht sagen, Inspektor“, entgegnete Holmes gleichmütig und stopfte seine Pfeife. „Dann kennen Sie vermutlich auch schon den Namen des Mörders?“

„Gewiss, Mister Holmes. Er heißt Archibald Hymer und war bis vor zwei Wochen unfreiwilliger Gast im Stone House Hospital.“

„Diese Klinik ist mir bekannt“, warf ich ein. „Ein Studienkollege von mir arbeitet dort als Assistenzarzt, ein gewisser Doktor Blake Simmons. Das Stone House Hospital befindet sich in einem schönen Gebäude im Neo-Tudor-Stil. Das Irrenhaus wurde in Dartford in Kent errichtet, ungefähr sechzehn Meilen von London entfernt.“

„Besser hätte ich es auch nicht zusammenfassen können, Doktor Watson. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Hymer bei seiner Flucht Ihrem Studienkollegen den Schädel eingeschlagen hat. Außerdem hat er noch einen Pfleger schwer verletzt, bevor er bei Nacht und Nebel entkommen ist.“

Der Schock fuhr mir in die Glieder. Ich hätte mich setzen müssen, wenn ich mich nicht schon in meinem bequemen Fauteuil befunden hätte. Blake Simmons hatte mir persönlich zwar nicht nahegestanden, aber sein Tod ließ mich nicht unberührt, denn er war ja immerhin ein Weggefährte meiner Jugendjahre gewesen. Während ich die Hiobsbotschaft noch verdauen musste, wandte sich Holmes an den Inspektor.

„Und was veranlasst Sie zu der Annahme, dass dieser Archibald Hymer unser gesuchter Mörder sein könnte?“

„Hymer ist bei Scotland Yard kein Unbekannter, Mister Holmes“, erwiderte der Inspektor und nickte befriedigt, offenbar hatte er nur auf diese Frage gewartet. „Schon als Jugendlicher hat er mehr Zeit in der Besserungsanstalt und auf der Straße als in der Schule zugebracht. Diese Kanaille zeichnet sich durch eine besonders phantasievoll zu nennende Grausamkeit aus. So pflegte er beispielsweise in jungen Jahren eine lebende Katze als Schlaginstrument zu verwenden. Eines Tages hielt er sie an ihrem Schwanzende gepackt und ließ sie, wie ein amerikanischer Cowboy sein Lasso, um seinen Kopf kreisen. Das arme Tier verfiel natürlich in Panik, fuhr die Krallen aus und biss wild um sich. Somit wurde der Dachhase für Hymers Opponenten zu einer gefährlichen und schmerzhaften Waffe.“

„Zweifellos“, gab Holmes unbeeindruckt zurück. „Aber mir erschließt sich noch immer nicht der Zusammenhang mit den drei infrage stehenden ungeklärten Mordfällen.“

„Nur nicht so eilig, Sir. Sie werden gleich bemerken, worauf ich hinauswill. Zu den wenigen ehrlichen Arbeiten, die Hymer in seinem Leben verrichtet hat, zählt eine Hilfstätigkeit in einer Schlachterei. Dazu muss ich ergänzen, dass der Verbrecher von Ehrfurcht gebietender Gestalt ist. Ein Zeuge bezeichnete ihn einmal als einen Mann wie ein moderner Dampftraktor. Wie auch immer, an roher Kraft mangelt es dem Delinquenten also nicht. Aber von den Fleischern lernte Hymer den fachgerechten Umgang mit Messern, das Ausbeinen und weitere Tätigkeiten des Schlachthandwerks.“

Es war offensichtlich, dass sich unser wackerer Inspektor auf diesen Archibald Hymer als Hauptverdächtigen eingeschossen hatte. Inzwischen fühlte ich mich endlich dazu in der Lage, eine Zwischenfrage zu stellen. „Wieso landete Hymer eigentlich in Stone House und nicht in einem Gefängnis Ihrer Majestät?“

„Ein ausgezeichneter Einwand, Doktor. Es verhielt sich so, dass Hymer in Old Bailey aufgrund seiner Brutalität und seiner wirren Verteidigungsreden als geisteskrank eingestuft und in die Anstalt für gefährliche Irre eingewiesen wurde. Und zwar lebenslang, wohlgemerkt. Hymer ist jedenfalls ein waschechter East-Ender. Meines Wissens war das Stone House Hospital der erste Ort außerhalb Londons, den er in seinem achtundzwanzigjährigen Leben jemals kennengelernt hatte. Ich bin absolut sicher, dass der Mörder versuchen wird, sich nach London durchzuschlagen. Hier hat er zahlreiche Kumpane und Helfer, hier kann er in den Brutstätten der Kriminalität auf Unterstützung und Solidarität hoffen.“

„Zweifellos“, versetzte Holmes. „Haben Ihre Leute denn schon eine Spur des Verdächtigen aufnehmen können?“

„Das nicht, jedoch ist mittlerweile jeder Polizeispitzel über das Aussehen und das auffällige Verhalten von Archibald Hymer informiert worden. Zudem hat der Innenminister eine Belohnung von zehn Pfund Sterling für Hinweise ausgesetzt, die zu Hymers Verhaftung führen.“

„Auffälliges Verhalten, Inspektor?“, hakte Holmes nach. „Das hatten Sie bisher unerwähnt gelassen.“

„Wirklich? Nun ja, Hymer ist bekanntlich nicht Herr seiner Sinne. Sobald eine hübsche Frauensperson in sein Blickfeld gerät, verzieht sich sein Antlitz zu einer grotesken Visage und er beginnt zu sabbern wie ein tollwütiger Straßenköter.“

„Faszinierend“, entgegnete Holmes, doch sein Tonfall verriet mir, dass er gänzlich unbeeindruckt war. „Angesichts der vielen aufreizend gekleideten Nachtschönen im East End dürfte es unter diesen Umständen kein Problem sein, Ihren Verdächtigen im Handumdrehen dingfest zu machen.“

Lestrade nickte voller Genugtuung, während sein Blick etwas Lauerndes bekam. „Und was ist mit Ihnen, Mister Holmes? Darf ich mir die Frage erlauben, ob Ihre Ermittlungen schon weiter fortgeschritten sind?“

„Sie dürfen, Inspektor“, erwiderte Holmes und machte eine unbestimmte Handbewegung. „Ich bin mir über das Motiv des Täters noch nicht vollständig klar geworden. Außerdem kann ich Ihnen über seine Identität noch keine Auskunft geben.“

„Mit anderen Worten: Sie haben überhaupt nichts!“, höhnte Lestrade.

Holmes würdigte diese verbale Entgleisung keiner Antwort, und so verabschiedete sich der Inspektor mit der nur halblaut gemurmelten Bemerkung, er hätte Besseres zu tun, als indifferenten Müßiggängern beim Teetrinken zuzusehen.

 

„Die Impertinenz dieses Menschen ist unerträglich!“, brach es aus mir hervor, sobald sich die Tür hinter Lestrade geschlossen hatte.

Holmes verzog seine schmalen Lippen zu einem ironischen Lächeln und meinte gelassen: „Wir wollen unserem Freund Lestrade seinen scheinbaren Triumph vorerst gönnen, Watson. Ich hege große Zweifel daran, dass sein katzenschwingender und Lebedamen anschmachtender Unhold auch nur das Geringste mit den drei Morden zu tun hat. Dieser Archibald Hymer, von dem Lestrade faselt, ist ganz offensichtlich ein tumber Klotz aus der Hefe der Londoner Verbrecherkultur. Es mangelt dem Verdächtigen gewiss an Bildung. Man muss die Gemälde des holländischen Renaissancemeisters überhaupt erst einmal kennen, um dann die Leichname nach diesen Vorbildern umarbeiten zu können.“

„Das ist völlig logisch“, gab ich meinem Freund recht. Natürlich beschäftigte mich auch der Gedanke, ob der von uns nach Hieronymus Bosch benannte Mörder bereits seine nächste Untat plante. Offenbar suchte er seine Opfer wahllos, denn eine Gemeinsamkeit zwischen der Handwerkergattin Harriett Merrick, dem Kindermädchen Amanda Douglas und dem Galvaniseur Rosenbloom hatte zumindest ich nicht erkennen können.

Aus Lestrades Perspektive musste es wirklich so aussehen, als ob Sherlock Holmes untätig die Hände in den Schoß legen würde, doch wenig später meldete uns Mrs Hudson naserümpfend die Ankunft von Wiggins. Gespannt betrachtete ich den Anführer der Baker Street Irregulars, der hoffentlich mit Ergebnissen von seinen Streifzügen gekommen war. Billy Wiggins war ein hoch aufgeschossener Straßenbengel, dessen kräftige Handgelenke weit aus den Ärmeln seiner abgetragenen Jacke ragten. Innerlich hatte ich ihm bereits den Spitznamen Schniefnase verpasst, weil Wiggins sommers wie winters stets einen Tropfen Sekret an seinem geröteten Zinken hängen hatte. Der größte Teil seines knochigen Schädels wurde von einer schäbigen Tuchmütze verdeckt. Ich sah ihm an, dass er seine Pranken gerne weltverächtlich in seine Hosentaschen versenkt hätte, doch Wiggins besann sich anscheinend auf seine rudimentären Manieren und hielt die Hände vor dem Bauch gefaltet wie ein Ministrant bei der Morgenandacht. Zuvor hatte er sogar seine Mütze vom Kopf gerissen, sodass sein wirrer Haarschopf sichtbar wurde. Alles in allem erinnerte mich der Bursche an eine Romanfigur von unserem großen Romancier Charles Dickens.

Holmes’ dunkle Stimme hatte einen erwartungsvollen Unterton, als er fragte: „Nun, Wiggins?“

„Also, Mister Holmes, Sir … Wir hab’n im East End mächtig unsere Lauscher aufgesperrt. Da ist zum Beispiel so ’n Messerheld, ein Spaghetti, von dem alle quatschen. Der Kerl heißt Lorenzo Massimo. Hat früher als Deckshand auf einem Yankee-Clipper geschuftet. Treibt sich seit ’n paar Monaten im East End rum. Ist wohl neuerdings ein Lude und schlitzt mehr Leute auf als ein Schlachter Rindviecher, sag’n die Leute.“

„Das sagen sie also“, entgegnete Holmes. „Und weißt du zufällig, ob dieser Massimo Rechts- oder Linkshänder ist?“

„Rechtshänder, Mister Holmes, Sir“, erwiderte Wiggins mit einem breiten Grinsen. „Seine linke Pfote wurde zerquetscht, deshalb musste er ja abmustern. Ein Quacksalber hat ihn wieder einigermaßen zusammengeflickt, aber die Hand kann er nich’ mehr brauchen. Deshalb hat der Krüppel wohl jede Menge Wut im Bauch und sticht umso beherzter mit rechts zu.“

„Möglicherweise. Dieser Massimo kann nicht unser Mann sein, denn die tödlichen Verletzungen bei allen drei Opfern stammen von einem Linkshänder, der außerdem noch über profunde anatomische Kenntnisse verfügt.“ Holmes bemerkte den verständnislosen Blick des Straßenjungen und korrigierte sich: „Ich meine, er weiß, wie ein menschlicher Körper aufgebaut ist.“

Wiggins nickte, sodass der Tropfen von seiner Nasenspitze fiel und Mrs Hudsons imitierten Perserteppich benetzte. „Verstehe, Sir. Na ja, im East End laufen viele Gestalten rum, denen die Messerklinge locker sitzt. Aber ich werd’ meinen Boys sagen, dass sie sich nach einem Linkshänder umschauen soll’n.“

Holmes gab Wiggins den Tageslohn für ihn selbst und die übrigen Racker, die auf den trostlosen Gassen des East Ends für den Meisterdetektiv Hinweise sammelten. Der Straßenjunge verabschiedete sich mit einer Verbeugung voller Grandezza, die einer spanischen Hofschranze würdig gewesen wäre, und verschwand zur Tür hinaus. Holmes und ich waren wieder unter uns.

„Sie lassen die Baker Street Irregulars im East End ausschwärmen, aber ehrlich gesagt kommt mir diese Suche vor wie jene nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen.“

„Die Faktenlage ist dürftig, das will ich gerne zugeben, Watson. Noch haben wir sehr wenige äußere Merkmale von Hieronymus Bosch feststellen können.“

„Und warum lassen Sie Ihre Hilfstruppen dann schwerpunktmäßig im East End nach Hinweisen auf den Killer suchen, Holmes? Für mich deutet nichts darauf hin, dass Hieronymus Bosch aus dem kriminellen Lumpenproletariat stammt.“

„Elementar, Watson. Unser Mörder ist zweifellos ein gebildeter Mensch und seine profunden Kunstkenntnisse hat er sich gewiss nicht in einer Fabrikschule angeeignet. Er ist ein solider Bürger, vielleicht Akademiker. Allerdings halte ich ihn nicht für einen Briten, sondern für einen Ausländer.“

„Wie kommen Sie darauf? Weil er Kunstwerke eines holländischen Meisters als Inspiration für seine schändlichen Bluttaten benutzt?“

Holmes schüttelte den Kopf. „Das ist nicht der Kern meiner Überlegungen. Versetzen wir uns für einen Moment in den Täter hinein. Wo befindet sich sein Unterschlupf, in den er sich nach den Morden zurückziehen kann? Wäre er ein britischer Gentleman, dann hätte er gewiss ein Stadthaus hier in London. Ein seriöses Hotel käme als Fluchtburg nicht infrage, denn dort stünde er unter ständiger Beobachtung durch das Personal. Außerdem ist es ein offenes Geheimnis, dass alle renommierten Beherbergungsbetriebe unter Dauerobservierung durch Scotland-Yard-Spitzel stehen. Wenn Sie vor Ihrem geistigen Auge einen Stadtplan Londons entstehen lassen, dann wird Ihnen auffallen, dass von allen drei Leichen-Ablageorten kurze Wege ins East End führen. Dort gibt es genügend verschwiegene Spelunken und skrupellose Vermieter, die der Polizei offen feindselig gegenübertreten. Mit anderen Worten: Die Elendsquartiere sind ein relativ sicherer Rückzugsbereich für unseren Täter.“

Holmes’ Erläuterung hörte sich für mich sehr plausibel an. Dennoch fragte ich mich, ob Wiggins und die anderen Straßenjungen überhaupt einen nützlichen Hinweis auf den Mörder finden konnten. Das East End war eine riesige dunkle Welt für sich, und unsere Informationen über den Gesuchten waren für meinen Geschmack immer noch ziemlich dürftig.

Mrs Hudson klopfte und trat gleich darauf ein. „Ein Bote hat soeben ein Päckchen für Mister Holmes abgegeben“, sagte die gute Seele unseres Hauses und überreichte meinem Freund einen länglichen, in Packpapier eingeschlagenen Gegenstand. Das kleine Paket war zudem noch sorgfältig mit Bindfaden verschnürt. Eine Absenderangabe konnte ich auf der Verpackung nicht erkennen.

„Wer war der Bote, Misses Hudson? Ein Zusteller in Royal-Mail-Livree wohl kaum, denn dann hätte die Sendung ja ordnungsgemäß beschriftet und frankiert sein müssen.“

„Das stimmt, Mister Holmes. Das Päckchen wurde mir von einem zerlumpten kleinen Schmutzfinken überreicht, der sich gleich wieder aus dem Staub gemacht hat. Es ist wirklich unglaublich, was für abenteuerliche Gestalten manchmal …“

„Danke, Misses Hudson.“

Unsere Vermieterin, die mit den Marotten meines Freundes hinlänglich vertraut war, zog sich seufzend zurück.

Holmes griff zu einem Federmesser und durchtrennte sorgfältig die Bindfäden, mit denen das Paket zusammengehalten wurde. Dann entfernte er das Packpapier. Ich schaute dem Detektiv bei seiner Tätigkeit über die Schulter. Doch im nächsten Moment prallte ich unwillkürlich zurück, weil der Schock für mich sehr überraschend kam. Unter dem Packpapier befand sich ein in Baumwollgaze eingewickelter menschlicher Finger!

„Sehr interessant“, murmelte Holmes. „Hieronymus Bosch wirft uns den Fehdehandschuh hin.“

Die Spur führt ins East End

 

Nachdem ich mich von dem ersten Schreck erholt hatte, erwachte sofort mein medizinisches Interesse. „Dieser Finger wurde auf professionelle Art abgetrennt“, stellte ich aufgeregt fest. „Ein Schlachter muss es getan haben, vielleicht sogar ein Feldscher oder Chirurg, aber auch ein Medizinstudent in einem höheren Semester kommt möglicherweise infrage.“

„Zweifellos, mein guter Watson. Können Sie dieser abgetrennten Extremität noch weitere Fakten entnehmen?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957192073
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Detektiv Spannung Sherlock Holmes Krimi Thriller Ermittler

Autor

  • Martin Barkawitz (Autor:in)

Martin Barkawitz wurde am 22. Februar 1962 in Hamburg geboren. Seit 1997 ist er hauptberuflich als Autor tätig. Neben Krimis schreibt er unter verschiedenen Pseudonymen für die Jerry-Cotton-Heftromane, diverse Western-, aber auch Liebesromane.
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Titel: Sherlock Holmes - Neue Fälle 08: Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch