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Sherlock Holmes - Neue Fälle 03: Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand

von Ronald M. Hahn (Autor:in)
132 Seiten

Zusammenfassung

1880, Dunwich, Massachusetts Der junge Sherlock Holmes besucht seinen ehemaligen Studienfreund Basil Bishop. Im Landhaus der Bishops tauchen am ersten gemeinsamen Abend höchst merkwürdige Gäste auf, die schier unglaubliche Ereignisse hervorrufen. Der zukünftige Meisterdetektiv gerät unversehens in seinen ersten Fall, der absolut unlösbar scheint. Die Printausgabe umfasst 192 Buchseiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Prolog

 

1880, Dunwich, Massachusetts

Aller Tage Abend

 

Zwei Minuten, bevor die Kutsche um die letzte Ecke bog, schlug Holmes die Broschüre auf, die er in der Universitätsbibliothek von Arkham hatte mitgehen lassen. Dort stand: Schlägt der Reisende im nördlichen Massachusetts an der Kreuzung der Aylesbury-Überlandstraße direkt hinter Deans Corner die falsche Richtung ein, gerät er in eine einsame und sonderbare Gegend. Der Boden steigt an, die von Dornengestrüpp überwachsenen Steinmauern nähern sich immer mehr dem Verlauf der staubigen und kurvenreichen Straße. Die Bäume zahlreicher Haine erscheinen einem zu hoch. Büsche, Sträucher und Gras erreichen eine Dichte, die man in besiedelten Gebieten kaum findet. Gleichzeitig werden die Felder seltener und wirken unfruchtbarer, während sich die verstreut liegenden Gebäude auf wundersame Weise in Alter und Verfall immer mehr ähneln. Man zögert, ohne genau zu wissen warum, die verhutzelten Gestalten, die man hier und da vor den Türschwellen sieht, nach dem Weg zu fragen. Sie erscheinen so schweigsam und heimlichtuerisch, dass man glaubt, sich irgendwie verbotenen Dingen gegenüber zu sehen, mit denen man lieber nichts zu tun haben möchte …

Holmes schüttelte sich. Dann schob er den Kopf aus dem Fenster. Die Monotonie des Hufschlags drohte ihn schon seit geraumer Zeit einzuschläfern. Er hatte die Broschüre in dem Versuch aufgeschlagen, konzentriert und wach zu bleiben, doch als der kalte Fahrtwind sein Gesicht peitschte, wurde ihm bewusst, dass seine Müdigkeit keine Folge der Reisestrapazen, sondern eine Nachwirkung des abscheulichen Krauts war, das er am Abend zuvor geraucht hatte. Seit er in die Kutsche gestiegen war, hatten ihn merkwürdige Visionen heimgesucht, in denen ziegengesichtige, sabbernde Gestalten von Gicht geplagte, knotige Finger nach ihm ausstreckten.

Frische Luft, so meinte er, konnte seinem Hirn nur Gutes bringen. Doch der ihm um die Ohren pfeifende Wind zwang ihn, sich schnell wieder ins Innere der Kutsche zurückzuziehen. Als die ersten Lichter auftauchten, änderten sich die Geräusche der Wagenräder. Der Weg wurde steiler, die Landschaft weißer. Schon knirschten die Räder über Schnee.

Holmes steckte die Broschüre ein und reckte neugierig den Hals. Die meisten Häuser, an denen die Kutsche vorbeifuhr, waren finster. Über ihren Kaminen stand kein Rauch. Nur hier und da brannte hinter einem Fenster Licht. Die meisten Gebäude waren zweistöckig und schienen sich vor kahl in den Himmel ragenden Bäumen zu ducken.

So sehr sich Holmes auch bemühte, er sah kein einziges Menschenwesen, und als die Kutsche wenige Minuten später vor einem klobigen Gasthof anhielt, fragte er sich, wer eigentlich darauf aus war, in dieser Gegend Bekanntschaften zu machen. Während er nach einem Schild ausspähte, das ihm den Namen der Lokalität verriet, hörte er den Kutscher fluchen und mit einem heftigen Satz vom Bock zu Boden springen.

„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Holmes.

Die Antwort des Mannes war ein dumpfes Knurren, das so bedrohlich klang, dass Holmes sich vornahm, seine Nase künftig nur in Dinge zu stecken, die ihn persönlich betrafen. Die Kutschentür quietschte erbärmlich. Holmes betrat einen hölzernen Gehsteig. Der Schnee verschluckte das Geräusch. Holmes schaute kurz auf und erkannte dicke weiße Flocken vor einem riesengroß am Himmel stehenden Mond. Dann flog ihm seine Reisetasche entgegen, traf seinen Brustkorb und warf ihn nach hinten. Bevor sie auf den Gehsteig fallen konnte, packte Holmes zu. Er erwischte sie noch in der Luft. Der Kutscher schwang sich sogleich wieder auf den Bock, seine Peitsche knallte. Die vier schwarzen Gäule, die zuvor nur geschnaubt und durch die Nüstern weißen Dampf ausgestoßen hatten, setzten sich wieder in Bewegung. Die Kutsche knirschte und knarrte. Holmes stand fassungslos vor dem Gasthof, und als er sich fragte, ob er noch bei Sinnen war, zu dieser Jahreszeit hierherzukommen, bog die Kutsche zwischen zwei Gebäuden ab und ward nicht mehr gesehen. Holmes wandte sich um und begutachtete das Haus, in dem er sich telegrafisch angemeldet hatte. Über der Tür stand: Zum Raben. Im Parterre brannte hinter einer bunten Butzenscheibe Licht.

Holmes trat an den Eingang. Die Tür war verschlossen. Er klopfte. Nichts rührte sich. Er klopfte noch einmal. Erfolglos. Schließlich stellte er seine Reisetasche auf dem Boden ab und versuchte es mit der geballten Faust. Dies schien zu helfen. Kurz darauf drang durch die verschlossene Tür eine quäkende Stimme an sein Ohr, die sich nach seinem Begehr erkundigte.

„Mein Name ist Holmes“, sagte er daraufhin. „Ich habe Ihnen vor zwei Tagen aus Arkham telegrafiert und für heute Nacht ein Zimmer reserviert.“

„Kenne keinen Holmes“, kam die Antwort. „Hau ab!“

Holmes runzelte die Stirn. „Sherlock Holmes“, erklärte er. „Vom Sasanoff-Tournee-Theater aus London, England. Wir gastieren derzeit in Arkham, und …“

„Ist geschlossen!“

Holmes hörte Schritte, die sich entfernten. Während er mit offenem Mund in der Kälte stand und der fallende Schnee sich anschickte, seinen Deerstalker und seinen Mantel unter einer weißen Schicht zu begraben, erlosch in dem Haus, in dem er eigentlich die Nacht hatte verbringen wollen, das Licht.

„Sie belieben zu scherzen, Sir!“ Holmes schlug mit der Faust gegen die Tür. „Wo bin ich hier? Doch nicht bei den Kaffern in der Wildnis!“ Hilflos und wütend schaute er sich um. „Oder etwa doch?“

Plötzlich gewahrte er auf der anderen Straßenseite eine Gestalt, die so schief dastand und deren Miene so sehr an eine Ziege erinnerte, dass er seinen ersten Impuls, sie um Hilfe zu bitten, auf die lange Bank schob und sich stattdessen schüttelte. Als sei dies für das ziegengesichtige Ding ein Signal, stieß es einen meckernden Laut aus und setzte seinen Weg fort, bis es, von Schneeflocken eingehüllt, mit der Landschaft eins wurde.

„Der Teufel soll mich holen“, murmelte Holmes. „Was tun?“ Er begutachtete die Umgebung. Von den etwa zehn Häusern, die er im Schneetreiben zu beiden Seiten der Straße sehen konnte, war nur eins erhellt: Eine Buchhandlung! Wenn das kein gutes Omen war! Dort gab es gewiss gebildete Menschen, die einen Briten mit ausgezeichneten Umgangsformen und Intelligenz zu schätzen wüssten. Sie würden ihm erklären, wie man hier in dieser winterlichen Landschaft eine kalte Nacht überleben konnte. Holmes nahm seine Reisetasche und überquerte die Straße. Da ihm inzwischen ziemlich kalt geworden war und er sich auf die Wärme eines Ofens freute, gönnte er dem Schaufenster des Lädchens nur einen beiläufigen Blick. Dass eine Türglocke sein Erscheinen ankündigte, erinnerte ihn an seine nebelverhangene europäische Heimat. Dass jedoch bei seinem Eintreten statt einer hübschen Buchhändlerin ein hübscher Buchhändler den Kopf hinter einem Regal hervorschob, empfand er als leicht enttäuschend.

„Guten Abend, Sir“, sagte der junge Mann. Er sah mit seiner hellblonden Mähne wie ein Rauschgoldengel aus. „Womit kann ich Ihnen dienen?“ Er sprach, wie die meisten Bürger des Staates Massachusetts, ein Englisch, das so gepflegt war, dass Holmes sich fast heimisch fühlte. Er schätzte den Buchhändler auf vielleicht zwanzig oder einundzwanzig Jahre. Seine Haut war ganz und gar ebenmäßig, und nicht das geringste Barthaar zierte seine Oberlippe.

„Mein Name ist Holmes.“ Holmes deutete eine Verbeugung an. „Sherlock Holmes.“

„Ich heiße Aylesbury.“ Der Rauschgoldengel kam nun gänzlich hinter dem Regal hervor und breitete die Arme aus. „Mir gehört dieses …“ Er hüstelte. „… Unternehmen.“ Seine hellblauen Augen musterten seinen Besucher mit großem Interesse. „Ich helfe Ihnen gern, Sir, wenn ich kann.“

„Danke.“ Holmes schaute sich um und sah mehrere tausend Bücher in zwei bis drei Dutzend Regalen. Er fragte sich, wie man hier, am Ende der Welt, mit so einem Laden seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. „Ich bin derzeit beruflich in Arkham tätig“, erläuterte er. „Und ich wollte ein freies Wochenende dazu nutzen, einen Studienfreund zu besuchen, der hier in Dunwich lebt.“ Er zwinkerte Mr Aylesbury zu. „Da ich ihn überraschen wollte, habe ich mich nicht angemeldet, sondern telegrafisch im örtlichen Gasthof Quartier genommen. Leider hat man dort mein Telegramm offenbar nicht erhalten, und der Besitzer sagt, er hätte sein Gasthaus geschlossen.“

Aylesbury nickte. „Der Besitzer des Gasthofes ist vor einigen Monaten verstorben. Der Mann, mit dem Sie gesprochen haben, ist nur jemand, der das Haus bewacht, bis es einen neuen Besitzer gefunden hat.“ Er seufzte. „Er ist nicht von hier, aber …“ Er zögerte. „Ich hege die Vermutung, dass er weder lesen noch schreiben kann und darüber hinaus nicht ganz bei Sinnen ist.“ Aylesbury deutete mit dem Zeigefinger auf seine Schläfe. „Sind Sie jetzt etwa ohne Bleibe, Sir?“

Holmes nickte. „Es sei denn, Sie können mir sagen, wo ich meinen Freund finde. Er heißt Basil Bishop. Er lebt hier bei seinen Eltern.“ Ein Lächeln legte sich auf Holmes’ Miene. „Ich wette, er wird mich nicht im Freien übernachten lassen.“

„Basil Bishop?“ Die hellblauen Augen des Buchhändlers blitzten auf. „Na, so ein Zufall! Da kommt er gerade!“

1. Kapitel

Düstere Träume

 

Violet erwachte in der Dämmerung eines eiskalten Morgens. Das neben dem Fenster an der Wand befestigte Thermometer war unter Null gesunken. Also konnte ihre innerliche Hitze nur von dem unheimlichen Traum herrühren. Noch im Halbschlaf machte sie einen Versuch, wieder ins Land der Träume zu entschwinden. Vergebens. Ihre Sinne waren hellwach. Eigentlich war es gut so, denn auf die unheimlichen Bilder konnte sie gut und gerne verzichten. In ihrem Kopf war ein hohles Gefühl. Das Grauen hatte sich aufgelöst. Sie drehte sich auf den Rücken, blickte an die Decke und versuchte sich an den Alb zu erinnern.

Grässliche Schattengestalten unter einem fremdartig grünen Himmel. Bestien …

Violet schüttelte sich. Dann richtete sie sich auf und schaute aus dem Fenster.

Das Landhaus der Bishops, deren Gast sie seit gestern war, stand auf einem bewaldeten Hang im oberen Drittel einer Erhebung namens Sentinel Hill. Die Kuppe dieses Hügels zierte ein Kreis aus gigantischen Steinen. Es gab Menschen, die der Meinung waren, dass es sich dabei um Überreste einer uralten Ruine handelte. Andere behaupteten gar, dass dort, wo die Steine lagen, einst eine Feste gestanden hatte. Beweise dafür gab es allerdings nicht. Doch Violet fand die Vorstellung inspirierend genug, um in Erwägung zu ziehen, ihre nächste Erzählung genau dort spielen zu lassen – in alter Zeit. In prähistorischer Zeit. Noch fehlte ihr ein fesselnder Plot. Um ihn zu finden, war sie hier. Sie hob den Blick. Über Nacht hatte sich eine jungfräuliche Schneedecke auf den Hügel gelegt.

Eigenartig, dass sich ihr Traum um das Thema gedreht hatte, das sie hier verarbeiten wollte. Sie war durch die finsteren nächtlichen Gassen einer mittelalterlichen Siedlung geschritten; über ihr ein Schwarm krächzender Vögel mit schwarzem Gefieder. Das Rascheln der Schwingen hatte sie noch im Ohr. Im Traum hatte sie alles ganz deutlich gesehen. Nun, im Tageslicht, löste sich alles auf. Falls man von Tageslicht überhaupt reden konnte.

Violet seufzte. Schade. Man konnte nicht alles haben. Hoffentlich stimmte die alte Weisheit nicht, dass das, was man in fremden Betten träumte, irgendwann Wirklichkeit wurde. Vermutlich hatten die Bücher aus Onkel Harrys Bibliothek zum Entstehen ihres Traums beigetragen. Violet hatte sich am Abend zuvor drei Glas Tee mit Rum gegönnt und in alten Werken geblättert. Vielleicht waren ihr das krause Geschreibsel und die bizarren Zeichnungen zu Kopf gestiegen.

Beim Zubettgehen hatte sie sich fast fiebrig gefühlt. Sie erinnerte sich noch an die magisch klingenden Satzfetzen in uraltem Englisch. Die Wirklichkeit ist euren Augen verborgen … Ihr seht nur, was die Geschöpfe der Finsternis euch sehen lassen wollen … Noch ist die Zeit nicht reif … Noch muss die Pforte geschlossen bleiben.

Die Warmwasserheizung fing an zu rattern. Violet nahm es freudig zur Kenntnis. Das hochmoderne Gerät würde dennoch eine Weile brauchen, um das Landhaus zu erwärmen. Trotzdem stand sie mutig auf und bewunderte die Eisblumen am Fenster.

Esther, die junge Schwester ihrer Mutter, schepperte in der Küche. Das Wasser im Gästebad war eiskalt. Als die Frau mit der Morgentoilette fertig war, vernahm sie das Knirschen der Asche, die im Parterre aus dem Kamin in einen Eimer geschaufelt wurde. Nun ja, Massachusetts war nicht New York. Hier lebte man nicht viel komfortabler als im Wilden Westen.

Als Violet in die Wohnküche kam, war diese gerade im Begriff, sich langsam zu erwärmen. „Was für eine grässliche Kälte.“ Der Traum spukte noch immer in Violets Kopf herum. „Wo ist Onkel Harry?“

„Er kümmert sich um die Heizung.“ Esther lächelte. Sie war fünfundvierzig, rothaarig, hatte grüne Augen und war so hübsch, wie Violet es gern gewesen wäre. Die Jahre sah man ihr nicht an. Harry, ihr Mann, war Kunstmaler. Er hatte sie vor fünfundzwanzig Jahren an einer Hotelrezeption in New York kennengelernt. Dass er ein Künstler war, bewiesen sein Bart, seine Pfeife und seine Baskenmütze. Außerdem führte er das Leben, das bei Künstlern typisch war, er stand spät auf, so gegen neun Uhr, saß stundenlang am Frühstückstisch, trank abends Rotwein und wanderte zweimal in der Woche den Hügel hinab nach Dunwich, wo er mit Pastor Peabody und einigen Honoratioren pokerte. Wirtschaftliche Not kannte er nicht. Seine Eltern hatten ihm ein Vermögen hinterlassen, von dessen Zinsen er lebte. „Geh doch mal runter und ruf ihn …“

„Und Basil?“, fragte Violet sofort.

„Der ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen. Ich nehme an, der starke Schneefall war daran schuld.“

Violet nickte, dann ging sie ein Stück die Kellertreppe hinab und rief Onkel Harry zum Frühstück.

„Gleich!“, rief dieser. „Sobald diese elende Erfindung der Neuzeit macht, was sie machen soll!“

Als Violet in die Küche zurückkehrte, war diese angenehm warm. Sie schaute aus dem Fenster. Ein dunkler Fleck wanderte durch die weiße Landschaft auf Bishop Mansion zu. Violet dachte spontan an den attraktiven jungen Mann, mit dem Esther gestern in der Küche Tee getrunken hatte.

„Wer war eigentlich der Bursche, der dich gestern besucht hat?“, fragte sie scheinheilig. „Der Postbote?“

„Der blonde Gentleman?“

Violet nickte gespannt.

„Er heißt Algernon Aylesbury.“

„Aylesbury?“ Violet zog die Nase kraus. „Wie die Ortschaft?“

Esther zuckte die Achseln. „Seine Vorfahren haben den Ort, glaube ich, gegründet. Und auch die Zeitung, die dort erscheint.“ Sie kicherte. „Er ist ziemlich verschroben.“ Sie deutete zur Tür. „Ein Bücherwurm mit abseitigen Interessen. Wenn er hier ist, steckt er seine Nase oft in Harrys Folianten. Er wohnt in Dunwich. Sein Großvater hat ihm einige Häuser vererbt. Er ist Antiquar und handelt mit alten oder seltenen Büchern, die er per Post an Kunden in aller Welt verschickt. Er interessiert sich auch für den Steinhaufen auf dem Sentinel Hill und meint, da oben hätte schon vor Columbus eine Burg oder so etwas gestanden.“

Violet runzelte die Stirn. „Und wer hat sie gebaut? Die Apachen? Es wäre ziemlich untypisch für sie.“

Esther zuckte die Achseln. „Algernon meint, auch vor den Indianern hätten hier schon Menschen gelebt. Er ist ein Spürhund, immer auf der Suche nach Geheimnissen aus alter Zeit.“

„Ich habe gestern Abend in Onkel Harrys Büchern geschmökert“, gestand Violet. „Und ich glaube, ich hatte ihretwegen einen Albtraum.“

„Wundert mich nicht.“ Esther lachte. „Die sind ja auch voll mit Bildern von Hexen, Satansbraten und Teufelsfratzen.“

„Die geflügelten Schlangen und monströsen Köter nicht zu vergessen.“ Violet schüttelte sich. „Interessiert Onkel Harry sich auch für diesen Kram?“

„Nicht im Geringsten.“ Esther seufzte. „Ich wünschte, er würde sich wenigstens für das interessieren, was er beruflich zu tun vorgibt: Kunstgeschichte.“

„Was er beruflich zu tun vorgibt?“ Violet setzte eine verblüffte Miene auf. „Wie darf ich das verstehen, Tante Esther?“

„Lass die Tante, mein Schatz. Ich bin eine Frau in der Blüte ihrer Jahre. Und du bist jetzt erwachsen.“ Esther hüstelte vornehm. „Sag bloß, du hast noch nicht gemerkt, dass Harry nur ein wohlhabender Tagedieb ist? Er malt höchstens ein Bild im Jahr.“ Sie seufzte. „Und nicht einmal das verkauft er. Er verschenkt es.“

Die junge Frau lachte. „Warum verkauft er diese alten Schwarten denn nicht?“

„Das würde Harry nie tun.“ Esther schüttelte den Kopf. „Diese Dinge sind seit hundert Generationen im Besitz seiner Familie.“

Violet schmunzelte. „Oh, dann hat es sie ja schon vor dem Beginn der Zeitrechnung gegeben.“

Esther nickte. „In seiner Familie wird auch seit hundert Generationen bei jeder Gelegenheit kräftig übertrieben.“

Der Teekessel fing an zu pfeifen.

„Wenn diese Folianten so alt sind, sind sie vielleicht eine Million Dollar wert“, sagte Violet nachdenklich. „Da könnte man doch vielleicht …“ Dann fiel ihr ein, dass Onkel Harry kaum Interesse an einer Million hatte. Er besaß ja schon eine. Oder zwei. Vielleicht sogar drei?

2. Kapitel

Ein undurchsichtiger Gentleman

 

Nach dem Frühstück entpuppte sich der schwarze Fleck, den Violet in der Landschaft gesichtet hatte, als Mensch. Esther räumte gerade das Geschirr ab, als der Mann, einen Schlapphut auf dem Kopf, ein dunkles Cape über den Schultern und eine Reisetasche in der Hand, durch den Schnee auf das Haus der Bishops zu stiefelte.

Violet betrachtete ihn. Ihr erschien er uralt, so um die fünfzig. Er hatte ein eckiges Kinn, buschige Brauen und einen stechenden Blick. Uhhh. Seine Hosen waren nass bis an die Knie, er trug keine Stiefel, lediglich Halbschuhe. Der Fremde musterte das Anwesen der Bishops, dann wanderte sein Blick zum Sentinel Hill und den Steinen hinauf, von denen man hier unten nur wenig sah.

In Violets Magengrube breitete sich plötzlich ein ungutes Gefühl aus. Der Mann wirkte wie ein Vertreter auf sie, wie ein Mensch, der einen Fuß zwischen die Tür unwilliger Kunden klemmte, weil ein Nein für ihn keine akzeptable Antwort war.

„Erwartest du Besuch?“, fragte sie ihre Tante.

Esther warf einen schnellen Blick aus dem Fenster. „Das ist Mr Whateley aus Arkham. Ja, er hat sich vor einer Woche angekündigt. Habe ich es nicht erwähnt? Lass ihn bitte rein.“

„Gern.“ Violet verließ die Wohnküche und öffnete dem Fremden die Haustür. „Guten Tag, Sir“, begrüßte sie ihn. „Ich bin Violet Armitage, die Nichte der Bishops.“

Whateley musterte sie eingehend und lüftete seinen Hut. Seine Augen waren grün-grau und blickten stechend. „Guten Tag, Miss Armitage. Ich habe schon von Ihnen gehört. Sie leben in New York, nicht wahr? Sie sind Schriftstellerin?“

Violet errötete. Hatte Esther wieder mit ihr angegeben? Eigentlich war sie nur Sekretärin in der Redaktion der Zeitschrift Argosy. Seit Mr Munsey, ihr Chef, ihre erste Erzählung angenommen hatte, wurde sie in der Familie wie eine Künstlerin behandelt. „Ich bemühe mich, Sir, aber … Ich würde mich selbst nicht als Schriftstellerin bezeichnen.“

„Sondern?“

„Schreibkraft.“ Violet erklärte Mr Whateley, womit sie hauptsächlich ihre Brötchen verdiente. „Ich bin kaum mehr als eine Amateurin …“

Esther tauchte in der Küchentür auf und winkte dem Besucher zu. „Hallo, Mr Whateley. Ich habe nicht erwartet, dass Sie bei diesem scheußlichen Wetter kommen.“

„Ich bin ein Mann mit Prinzipien.“ Whateley setzte seinen Hut wieder auf.

„Das muss man an einem solchen Tag wohl auch sein.“ Esther winkte ihn ins Haus.

Whateley folgte den Frauen. Vor dem Eingang zur Küche nahm Violet Whateley den Mantel ab und hängte ihn auf.

„Nehmen Sie in der Küche Platz“, sagte Esther. „Da werden Sie wieder trocken. Und eine Tasse Tee wird Ihnen sicher auch nicht schaden.“

„Danke, Mrs Bishop.“

Whateley stellte seine Reisetasche ab und nahm auf einem Stuhl am Herd Platz. Violet musterte ihn aus den Augenwinkeln. Was hatte den Mann zu dieser Jahreszeit hierher verschlagen? Der jungen Frau fiel ein, dass ihre Tante am Abend zuvor erwähnt hatte, dass schon mal ein Gentleman bei ihnen gewohnt hatte, der an der Miskatonic University in Arkham tätig war und in dieser Gegend völkerkundliche Studien trieb. Er hatte sich schon öfter auf dem Sentinel Hill herumgetrieben.

„Sie konnten ja nicht ahnen, wie es heute hier aussieht, nicht wahr, Mr Whateley?“

„Schnee macht mir nichts aus.“ Whateley lachte. Sein Lachen klang hohl, fast unheimlich. „Ich musste das Wochenende einfach nutzen, Mrs Bishop. Ich habe nämlich eine interessante Entdeckung gemacht.“

„Tatsächlich?“ Esther runzelte die Stirn.

Je länger Violet den unheimlichen Gast musterte, umso mehr kam sie zu dem Schluss, dass Whateleys Blick tückisch war. Außerdem war er unstet.

„Schon im Sommer habe ich Erstaunliches entdeckt“, fuhr der Mann fort. „Ich habe Ihnen nur nichts erzählt, weil ich noch einige Fakten abgleichen wollte.“ Er deutete um sich. „Es wird Sie gewiss überraschen, Mrs Bishop, aber auch meine Familie hat früher hier gelebt.“

„Ach, wirklich?“, sagte Esther.

„Wo, hier?“, fragte Violet. „Hier im Haus?“

„Oben auf dem Hügel“, erwiderte Whateley lächelnd. „Es ist aber sehr lange her.“

„Die Bishops wohnen hier schon seit zweihundert Jahren“, erwiderte Esther. „Jedenfalls behauptet das mein Gatte, und der muss es schließlich wissen.“

„Es ist sehr, sehr lange her“, führte Whateley aus. „Damals gab es Dunwich noch gar nicht. Und hier stand auch noch kein Haus. Meine Familie ist uralt. Sie wird sogar in einem der Bücher aus der Bibliothek Ihres Gatten erwähnt, Mrs Bishop. Meine Ahnen haben die Pforte bewacht.“ Er deutete zum Gipfel des Sentinel Hill hinauf.

Violet nahm an, dass er das Tor der Feste meinte, von dem der schöne Algernon behauptete, sie habe einst auf dem Gipfel gestanden. Whateleys Grinsen gefiel ihr immer weniger. Es wirkte überheblich. Der Mann tat so, als kenne er ein Geheimnis und warte nur darauf, dass sie sich danach erkundigte. Violet konnte Menschen dieser Art nicht leiden. Sie würde lieber vor Neugier platzen, als sich auf das Spiel einzulassen. Wenn der Mann etwas mitzuteilen hatte, sollte er entweder damit herausrücken oder an seinem Wissen ersticken.

Esther dachte wohl ähnlich. „Dann haben Sie Ihre Weisheiten also aus den Büchern meines Mannes?“, fragte sie nur.

„Nicht nur.“ Whateley schüttelte den Kopf. „Auch in der Bibliothek der Universität, in der ich tätig bin, finden sich Schriften, aus denen man einiges über die … Menschen erfahren kann, die hier in grauer Vorzeit …“ Er hüstelte. „Aber das interessiert Sie vermutlich alles gar nicht. Muss ja auch nicht sein.“ Esther stellte eine Tasse Tee vor ihrem Gast ab und er musterte sie wie einen exotischen Vogel. „In diesen alten Folianten stehen Dinge“, murmelte er, „die man in keinem Geschichtsbuch findet.“ Er trank einen Schluck, dann deutete er auf die vor ihm stehende Tasse. „Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich mit der Tasse in Ihre Bibliothek zurückziehe? Ich würde gern noch einige Angaben vergleichen.“

Esther sah ihn freundlich an. „Gehen Sie nur.“

„Danke.“ Whateley nahm die Tasse und verschwand.

Kurz darauf kam Onkel Harry aus seinem Atelier und ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Ich habe euch mit jemandem reden hören“, sagte er. „War es Mr Whateley?“

Esther nickte. „Er ist ein Mann mit Disziplin.“

„Und einem leicht verrückten Geisteszustand“, murmelte ihr Onkel hinter vorgehaltener Hand. „Übrigens schneit es wieder. Wenn es so weitergeht, kann ich morgen nicht in die Kirche gehen.“ Das Komische war, dass er überhaupt nie in die Kirche ging. Er ging immer nur ins Wirtshaus, um mit Pastor Peabody Karten zu spielen und Peabody spielte nur mit ihm, weil er ihn überzeugen wollte, dass ein Atheistenleben nichts wert war.

„Mr Whateley sitzt in der Bibliothek.“

„Soll er.“ Harry kramte in seinen Taschen und zog eine Zigarettenpackung hervor. „Lesen bildet.“

Da Violet sich das Rauchen gerade abgewöhnt hatte, ging sie ins Wohnzimmer, um nicht in Versuchung zu geraten. Dort schaute sie aus dem Fenster und dachte an den schönen Algernon und ihren bizarren Traum. Schließlich hörte sie Mr Whateley gegenüber leise husten. Dann ging sie in die Bibliothek und stellte fest, dass es heute nicht richtig hell werden wollte. Sie entzündete die Wandlampe. „Ist es so besser, Mr Whateley?“

„Oh, ja, danke.“ Whateley, über ein Buch gebeugt, schaute kurz auf.

Violet hatte den Eindruck, dass er sich gestört fühlte, aber ein Anfall von Bosheit brachte sie dazu, im Türrahmen stehen zu bleiben. „Sind diese alten Bücher wertvoll, Mr Whateley?“

„Bestimmt.“ Whateley nickte. „Sehr wertvoll.“

„Wie wertvoll?“

„Einfach unbezahlbar.“ Whateley seufzte.

„Wovon handeln sie?“

„Von alten Zeiten.“

„Ich nehme an, von sehr alten Zeiten.“ Violet deutete auf das Regal, neben dem der unheimliche Gast saß. „Ich hab in das eine oder andere Buch hineingeschaut …“

„Und?“ Whateley blickte auf. „Was haben Sie gelernt?“

„Nichts.“ Violet zuckte die Achseln. „Leider scheinen die meisten in fremden Sprachen abgefasst zu sein.“

Whateley nickte. „So ist es. Vielleicht zum Glück.“ Er seufzte erneut und sein Blick verhieß nichts Gutes. „Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen der Mensch lieber nichts erfahren sollte“, flüsterte er, stellte seine Lektüre ins Regal zurück und schob sich an Violet vorbei, um seine Reisetasche zu holen und sich ins Gästezimmer zu begeben.

Violet schaute hinter ihm her und fragte sich zum zweiten Mal an diesem Tag, ob es eine gute Idee gewesen war, die große Stadt New York zugunsten von Dunwich zu verlassen.

3. Kapitel

Mr Holmes gibt sich die Ehre

 

Teller und Tassen klapperten. Obwohl die Bishops seit 1577 Amerikaner waren, pflegten sie auch heute noch britische Traditionen. Und dazu gehörte natürlich auch der Tee.

Violet hatte im Salon mehrere Stunden mit der Lektüre eines Romans über den Goldrausch in Kalifornien zugebracht und hin und wieder einen Blick auf die verschneite Landschaft geworfen. Nun erst wurde ihr die Einsamkeit, in der die Bishops lebten, richtig bewusst. Ihr altes Landhaus war das Einzige auf dem Sentinel Hill. Was aber nicht bedeutete, dass in Dunwich mehr los war. Der Ort verfiel zusehends. Immer mehr Menschen zogen fort. Viele Gebäude standen leer. Es war nur eine Frage der Zeit, wie lange Vetter Basil seine Anstellung unten im Tal noch hatte; der junge Mann ordnete den Nachlass eines wohlhabenden Dirigenten und Komponisten, dessen Erben weder Noten lesen noch ein Musikinstrument spielen konnten.

Basil hatte sein Studium im letzten Sommer beendet und würde wohl bald in Boston eine Stellung suchen müssen, denn er wollte seinem Vater nicht auf der Tasche liegen. Da auch das Haus des toten Komponisten leer stand, nächtigte Basil im Tal, wenn die Wetterverhältnisse ihm den Aufstieg auf den Sentinel Hill verwehrten.

Violet empfand auch die zunehmende Finsternis als unheimlich. Sie fröstelte. Je dunkler es wurde, umso bedrohlicher erschienen ihr die das Grundstück umgebenden Tannen. Als sie ins Esszimmer kam, war es dort angenehm warm. Onkel Harry saß am Tisch. Vor ihm lag eine Ausgabe des Aylesbury Transcript, der Heimatzeitung, die ihn gelegentlich als bedeutenden Pokerspieler erwähnte. Der Kamin, vor dem sich Mr Whateley die Hände wärmte, war bislang die einzige Lichtquelle. Das Feuer erhellte zwar Tisch und Geschirr, doch die Ecken des Raumes blieben düster.

„Nehmen Sie sich doch einen Stuhl, Mr Whateley“, sagte Harry jovial. „Setzen Sie sich ans Feuer.“

„Gern.“ Whateley schaute sich um. Esther kam aus der Küche und schob dem Besucher einen Stuhl hin. Whateley setzte sich. Harry schaute aus dem Fenster. „Basil kommt zurück.“ Er deutete auf die verschneite Landschaft.

„Er hat jemanden mitgebracht“, stellte Esther fest. Algernon? Violet reckte den Hals. Basil stapfte durch den hohen Schnee den Hang hinauf. Mit seiner Kapuze glich er dem Weihnachtsmann. Wer war da bei ihm? Es war nicht Algernon. Der Fremde war Mitte zwanzig und mehr als gut aussehend. Sie musste schlucken. Wer war das?

Der hellblonde Basil wirkte neben seinem dunkelhaarigen Begleiter wie ein Wikinger. Violet musterte den anderen Mann neugierig. Dann bemerkte er sie und nahm ihr Interesse mit einem Lächeln zur Kenntnis. Violet errötete und wich zurück, ließ ihn aber nicht aus den Augen. Seine Erscheinung war so eindrucksvoll, dass sie auch die Aufmerksamkeit eines flüchtigen Betrachters auf sich ziehen musste. Er war über einen Meter achtzig und hager. Seine Augen blickten scharf und durchdringend, und die schmale Adlernase verlieh ihm einen entschlossenen Ausdruck. Zudem hatte er die perfektesten Zähne, die sie je gesehen hatte, und graue Augen. Die Sommersonne hatte seine Haut gebräunt. Er war ziemlich vornehm gekleidet und strahlte etwas aus, das sie erst noch analysieren musste.

Whateley musterte die eintretenden Männer mit zusammengebissenen Zähnen. Gefiel ihm ihr Auftauchen nicht?

„Guten Tag, Mr Holmes“, grüßte Esther. „Sie sehen genauso aus, wie mein Sohn Sie uns beschrieben hat.“

„Sie haben eine bemerkenswerte Beobachtungsgabe, Mrs Bishop.“

Esther zwinkerte. „Nein, Basil hat mir nur irgendwann die Fotografie gezeigt, die Sie ihm geschickt haben.“

Der Grauäugige schmunzelte, dann küsste er ihre Hand. „Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Er stellte sich Harry und Whateley vor und verbeugte sich vor Violet. „Mein Name ist Holmes.“ Er räusperte sich. „Ich habe zwar auch einen Vornamen, aber alle Welt nennt mich Holmes. Wenn Sie möchten, können Sie es ebenso halten, Miss …“

„Armitage.“ Violet schluckte. Dann streckte sie Holmes die Hand entgegen. „Angenehm. Sehr angenehm.“

„Gleichfalls.“ Holmes nickte.

Violet erkannte, dass er es ehrlich meinte. Er spielte ihr nichts vor.

„Ich habe Holmes gestern Abend in Dunwich getroffen.“ Basil klopfte seinem Begleiter auf die Schulter. „Er wollte mich überraschen; deswegen hat er im Raben telegrafisch ein Zimmer für sich reserviert.“ Holmes verzog das Gesicht und Basil fuhr lachend fort: „Er konnte ja nicht ahnen, dass der Laden nur noch von einem Degenerierten bewohnt wird, der vermutlich nicht einmal weiß, was ein Telegramm ist.“ Er deutete zum Fenster hinaus. „Zum Glück brannte in Aylesburys Antiquariat noch Licht, sodass er nicht erfrieren musste. Und zum doppelten Glück musste ich dort noch eine kleine Besorgung erledigen, so liefen wir uns über den Weg. Wir haben wegen des schauerlichen Wetters in Forsythes Villa übernachtet. Leider ist die Vorratskammer erschöpft, und ich hielt es für eine gute Idee, nach Hause zurückzukehren, damit wir ein anständiges Mahl einnehmen können, bis Freund Holmes wieder nach Arkham zurück muss.“

„Was schon am Anfang der Woche der Fall sein wird.“ Holmes seufzte. „Unser Trupp zieht nach Innsmouth weiter.“

„Holmes ist mit einem Tourneetheater unterwegs“, erklärte Basil. „Sie sind schon seit November letzten Jahres im Lande.“

„Oh, wirklich?“ Esther schaute auf. „Sie sind Schauspieler?“

Auch Harry zeigte nun Interesse. Er musterte seinen Sohn. „Hast du nicht erzählt, dein Studienfreund ist Student der Chemie?“

Basil zuckte die Achseln, doch bevor er etwas sagen konnte, ergriff Holmes das Wort. „Richtig, Sir“, sagte er. „Aber ich habe mein Studium inzwischen abgeschlossen.“ Ein Lächeln legte sich auf seine Züge. Violet hatte plötzlich den Verdacht, dass es ganz allein ihr galt. „Zur Schauspielerei bin ich allerdings gekommen wie die Jungfrau zum Kinde. Ein Freund aus Adelskreisen, dem die Bühne alles ist, meinte, ich sei mimisch begabt.“ Holmes zuckte die Achseln. „Obwohl ich es ganz anders sah, ließ ich es darauf ankommen und nahm an einer Bühnenprobe teil.“ Er lachte. „Der Produzent, Mr Sasanoff, engagierte mich vom Fleck weg und fragte mich nach wenigen Wochen, ob ich Lust hätte, bei einer Amerikatournee dabei zu sein.“ Er schmunzelte. „Ich habe mir gedacht, wenn ich so kostengünstig nach Amerika komme, muss ich die Gelegenheit beim Schopfe packen.“ Sein Blick fiel wieder auf Violet. „Und jetzt, da ich sehe, welch entzückenden Besuch Sie haben, kann ich mich zu meinem Plan eigentlich nur beglückwünschen.“

Violet errötete. Basil applaudierte, und Violet errötete noch mehr.

„Sie können ruhig bei uns übernachten, Holmes“, meinte Harry und zwinkerte. „Eine überzählige Zahnbürste dürfte sich im Notfall wohl auch noch finden.“

„Der entzückende Besuch ist meine Lieblingscousine“, sagte Basil süffisant zu Holmes. „Sie lebt in New York und wird vermutlich bald irgendwelche hoch dotierten Literaturpreise abstauben.“

„Wenn du das noch einmal sagst, Basil, bin ich die längste Zeit deine Lieblingscousine gewesen.“ Violet reichte Holmes die Hand, die der ergriff und schüttelte. „Was soll Mr Holmes denn von mir denken?“

„Nur Holmes, bitte“, beharrte ihr Gegenüber und küsste ihre Hand. „Ersparen Sie mir den Mister.“

„Wie Sie wünschen.“

„Und Sie schreiben also?“, fragte Holmes.

„Ach, sagen wir lieber, ich dilettiere.“ Violet fragte sich, wie sie möglichst schnell von diesem Thema fortkam. Es war ihr unangenehm, vor diesem studierten Menschen bloßgestellt zu werden. Schließlich war sie keine Literatin, sondern nur eine kleine Büroangestellte, die Geschichten schrieb, die sie gern selbst gelesen hätte.

„Holmes ist auch Künstler, denn er musiziert“, führte Basil aus, der nun wohl zu ahnen schien, dass sie lieber über andere Dinge sprach. „Er spielt Violine.“

„Auch ich dilettiere nur.“ Holmes schmunzelte. „Und wenn du mein Freund bleiben willst, Basil, hörst du sofort auf, mit meinen angeblichen Fähigkeiten anzugeben.“

„Haben Sie auch Musik studiert, wie Basil?“, fragte Violet.

Holmes schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Ich bin nur ein interessierter Laie. In London kenne ich sogar ein paar Kunstbanausen, die behaupten, dass ich gar nicht spielen kann.“ Er begutachtete Violet so eingehend, als hätte er vor, sie jemandem in Europa in einem Brief zu beschreiben. Einen Ring trug er, wie sie bereits herausgefunden hatte, nicht. „Während wir uns bemüht haben, den Hügel zu erklimmen, habe ich einiges über Sie gehört, Miss Armitage. Und ich muss sagen, Ihr Vetter hat nicht übertrieben.“

„Du redest über mich, wenn ich nicht dabei bin, Basil?“ Violet blitzte ihren Vetter gespielt empört an. „Ich hoffe, du hast nicht vergessen zu erwähnen, dass die New Yorker Armitages so arm sind wie Kirchenmäuse … um die Mitgiftjäger abzuschrecken.“

Alle lachten. Nur Mr Whateley verzog keine Miene. Er wandte sich dem Fenster zu und schaute hinaus. Der Tag schien sich, kaum dass er begonnen hatte, schon wieder seinem Ende zuzuneigen.

Basil sah sich um. „Ist noch Tee da, Mama?“

„Wir haben mit dem Tee noch nicht angefangen, mein Sohn“, erklärte Esther und wandte sich an Whateley. „Am Wochenende ist bei uns immer einiges los, Mr Whateley. Und das nicht nur zur Sommerzeit. Nein, auch im Winter, wenn es schneit.“

„Das kenne ich irgendwoher“, sinnierte Holmes. Er legte sein Cape ab. „Ich verstau mal eben meinen Mantel.“ Sein Blick fiel auf Violet. „Ich hoffe doch, Sie reisen nicht ab, Miss Violet, während ich die Garderobe suche?“

„Aber nein.“ Violet musste lachen.

Basil und Onkel Harry kicherten. Tante Esther schmunzelte. Mr Whateley schob sein Kinn auf eine Weise vor, die Violet nachdenklich machte.

Irgendwie erweckt er den Eindruck, als hätte er hier das Sagen, dachte sie. Als müsse er sich mit Gewalt zurückhalten, um uns nicht über den Mund zu fahren. Sie schluckte. Wer, um alles in der Welt, ist dieser Kerl? Und was will er hier?

4. Kapitel

Erscheinungen

 

Der Tag war kurz gewesen. Am schwarzen Himmel blinkten die Sterne. Mr Whateley und Basil hatten im behaglich beheizten Salon auf gepolsterten Sofas Platz genommen. Violet und Holmes saßen ihnen gegenüber.

Während Basil über London schwadronierte, das er in nächster Zukunft – spätestens dann, wenn er Geld hatte – wieder besuchen wollte, blätterte Violet in einer alten Ausgabe des Arkham Advertiser. Whateley, der in einem von Onkel Harrys Folianten schmökerte, hob hin und wieder den Kopf und schenkte den jungen Männern einen finsteren Blick. Das Licht der Öllampen malte tiefe Linien auf sein Gesicht.

Holmes war klug, charmant und auf eine köstliche Weise witzig. Männer, die sich selbst auf den Arm nahmen, waren dünn gesät, aber im Lande von Königin Victoria gab es sie wohl in Massen. Am meisten entzückte Violet, dass sie Holmes gefiel. Hin und wieder schaute er sie von der Seite an, als frage er sich, ob es sich lohnte, mit ihr zu schäkern.

„Wie lebt es sich in New York?“, fragte Holmes schließlich, als Basil mit dem Drehen einer Zigarette beschäftigt war. „Ich war ja leider nur zu einigen Vorstellungen dort und habe kaum mehr von der Stadt gesehen als ihre zyklopenhaften Türme und die hunderttausend Droschken, die, wie mir scheint, die Hälfte aller Fuhrwerke dieser Stadt ausmachen.“

„Hektisch.“

„Was machen Sie denn, wenn Sie sich nicht gerade schriftstellerisch betätigen?“

„Ich schreibe Geschäftsbriefe. Das heißt, ich tippe sie mit einer dieser schicken Schreibmaschinen, die Mr Remington vor ein paar Jahren erfunden hat. Manchmal schreibe ich auch in fremden Sprachen.“

„Interessant.“ Holmes schaute auf. „In welchen? Wenn man fragen darf.“

„Man darf.“ Violet strahlte. „Deutsch und Französisch, wenn’s beliebt.“

„Das ist ja noch interessanter!“, sagte Holmes gutgelaunt. „Ich habe einen Teil meiner Kindheit in deutschen Landen verbracht.“

„Sprechen Sie die Sprache noch?“

„Sozusagen.“ Holmes schmunzelte. „Ich lese sie fließend, aber mit dem Sprechen hapert es schon mal.“ Er zuckte die Achseln. „Und Sie?“

„Es geht ganz gut.“ Violet lächelte. „In New York hat man wohl mehr Gelegenheit zum Üben als in London.“

„Wo haben Sie Sprachen gelernt?“

„In Teaneck, New Jersey.“

Holmes lachte. „Mit wo meine ich, an welcher Schule?“

„Meine Großmütter haben es mir beigebracht.“

„Dann sind Sie ja so etwas wie eine Promenadenmischung.“

„Wuff“, machte Violet zustimmend.

„Gefällt es Ihnen hier?“, fragte Holmes weiter. Er zog eine Pfeife aus der Tasche und stopfte sie mit Tabak.

„Meinen Sie hier auf diesem Hügel? Ich bin zum zweiten Mal hier. Voriges Jahr im Sommer hat es sintflutartig geregnet. Diesmal sieht es so aus, als würden wir eingeschneit.“ Sie seufzte. „Offen gesagt, ich konnte mir noch kein richtiges Urteil bilden.“

„Und was schreiben Sie so?“, fragte Holmes. „Ich meine, wenn Sie nicht gerade für Mr Munsey Briefe verfassen?“

„Sie kennen meinen Arbeitgeber?“ Violet runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht erinnern, Holmes gegenüber Mr Munseys Namen genannt zu haben.

„Basil erwähnte den Namen der Zeitschrift, in der Sie debütiert haben. Zufällig lag eine Ausgabe des Blattes in der Lobby des Hotels herum, in dem wir in New York untergebracht waren. Ich habe das Impressum gelesen. Da stand auch der Name des Verlegers.“

„Und den haben Sie behalten?“

Holmes nickte. „Ich merke mir viele unwichtige Dinge.“ Er schmunzelte. „Irgendwann werde ich mit diesem unnützen Wissen vielleicht Geld verdienen.“

Violet lachte leise. „Wenn Sie Argosy kennen, wissen Sie vermutlich auch, dass in dem Blatt ausschließlich spannende Geschichten zum Abdruck gelangen.“

„Ich hab das Exemplar nur durchgeblättert“, gab Holmes zu. „Ich hatte den Eindruck, dass die meisten dort abgedruckten Geschichten von Liebe und Tod handeln.“

„Und von Menschen, die in unheimliche und unerklärliche Machenschaften verwickelt werden.“

„Ah!“ Holmes nickte. „Meinen Sie Menschen, die schauerlichen Gestalten begegnen? Wie dem Kopflosen Reiter?“

Violet nickte. „So ungefähr. Ich hab auch erst vor einem Jahr dort angefangen.“ Sie schaute aus dem Fenster. „Ich dachte, die Landschaft von Massachusetts könnte für mich sehr inspirierend sein.“

„Geschichtsträchtig ist sie auch“, mischte sich Whateley plötzlich ein. „Hier gab es einst mysteriöse Bauwerke, von deren Ursprung man noch immer wenig bis gar nichts weiß.“ Er deutete zum Gipfel des Sentinel Hill hinauf, auf dem sich die klotzigen Steine türmten.

„Ja“, sagte Onkel Harry, der nun im Türrahmen auftauchte. „Hier gibt’s ’ne Menge schauerliche Volkssagen über kopflose Reiter und vermummte Monstrositäten, die den Menschen das Blut aussaugen.“ Er streckte die Zunge heraus, verdrehte die Augen und machte Bu-huuu. Schließlich fiel sein Blick auf den Tabaksbeutel seines Sohnes und er leckte sich die Lippen. Basil blieb sein Sehnen nicht verborgen. Er reichte ihm seufzend den Beutel. Harry verzog sich in eine Ecke und drehte sich eine Zigarette.

„Die Landschaft packt einen unweigerlich“, fuhr Whateley fort, als hätte er Harrys Ulk gar nicht mitbekommen. „Wenn man generationenlang mit ihr verbunden ist, hat man oft das Gefühl …“ Er räusperte sich. „Manchmal glaube ich, ich höre die Stimmen meiner Ahnen.“

„Solange Sie keine Visionen haben“, gab sich Holmes ernst, „erübrigt sich meiner Meinung nach ein Besuch beim Arzt.“

Basil kicherte. Whateley setzte eine ungehaltene Miene auf, sagte aber nichts.

„Die Whateleys haben früher auch hier gewohnt, Harry“, merkte Esther an, die den Kopf hereinschob. „Hast du das gewusst?“

„Ach, wirklich?“ Harry zündete seine Zigarette mit einem Streichholz an und stieß ein Rauchwölkchen aus. „Das muss aber sehr lange her sein.“

Whateley nicke. „Das kann man wohl sagen, Mr Bishop. Unser Clan war einst sehr mächtig.“ Er lächelte geheimnisvoll vor sich hin. „Irgendwann haben andere ihn überflügelt. Wir haben alles verloren und mussten uns wie arme Kirchenmäuse über den ganzen Kontinent zerstreuen.“ Er seufzte traurig. „Aber ich glaube nicht, dass die Whateleys so unbedeutend bleiben, wie sie es momentan noch sind. Mancher Clan hat auch viele Jahrhunderte später wieder Bedeutung erlangt. Irgendwann greift die Welt wieder auf jene zu, die ihr einst treu gedient haben.“

Was redet er da?, dachte Violet. Ist er nicht recht bei Sinnen?

„Finden Sie?“, fragte Esther.

Holmes runzelte die Stirn. Basil zupfte an seinem Ohrläppchen.

„Inspiriert dich das nicht, Violet?“ Onkel Harry schenkte Violet ein spitzbübisches Lächeln. „Ich könnte mir vorstellen, dass jemand, der schreibt, von solchen … Ideen profitieren kann.“

„Von Malern ganz zu schweigen“, wandte Violet ein. „Ich schreibe nur Schauergeschichten. Für einen richtigen dicken Roman fehlt mir die Ausdauer, Onkel Harry.“

Harry runzelte die Stirn. „Hör mal“, sagte er dann. „Tu mir einen Gefallen, sag nicht immer Onkel zu mir. Ich bin doch nicht mal fünfzig. Nenn mich Harry, das tut der Rest der Welt auch, Pastor Peabody und Johnny Rockefeller ebenfalls.“

„Na schön, dann also Harry.“ Violet nickte.

„Unsere Sippschaft lebt hier seit zweihundert Jahren.“ Harry richtete diese Worte an Mr Whateley. „Allerdings mit Unterbrechungen, wie ich zugeben muss. Es gab schon das eine oder andere Jahrzehnt, in dem hier nur unsere Verwalter ansässig waren. Die kamen meist aus der Familie Aylesbury. Der Letzte von ihnen hieß Henry. Seinem Sohn gehört das Antiquariat in Dunwich.“

„Ich bin ihm schon begegnet“, sagte Holmes.

Violet wurde hellhörig.

„Henry ist vor zwanzig Jahren gestorben“, fuhr Harry fort. „Seiner Frau war es hier zu einsam. Sie ist mit dem Jungen nach Dunwich gezogen, wo ihr Vater einigen Grundbesitz hatte und wohl auch Glück im Spiel. Inzwischen ist sie verstorben.“

„Ihr war es hier nicht nur zu einsam, sondern auch zu unheimlich“, fügte Esther hinzu, die inzwischen eingetreten war und neben Violet Platz genommen hatte. „Sie hat gesagt, auf dem Sentinel Hill tummeln sich Geister. Ganz besonders auf dem Gipfel, wo die dicken Findlinge liegen. Manchmal könnte man die Geister da oben winseln und heulen hören.“ Sie schüttelte sich. „Nicht, dass ich diesen Unsinn glaube …“

Basil feixte. „Ja, Mama hat sich nur geschüttelt, weil ihr gerade danach zumute war.“

Whateley schmunzelte. „Geister, hm?“ Er schaute aus dem Fenster.

„Findet ihr nicht auch, dass es windiger geworden ist?“, sagte Harry. „Vielleicht gibt es einen Blizzard. Ich geh noch einmal ums Haus und schau nach, ob alles verriegelt ist.“ Er stand auf und verließ den Raum.

Whateley kniff die Augen zusammen. „Es ist mir ein Rätsel, wie man bei diesem Schneefall seinen Weg findet. Dazu braucht man sicher den Instinkt eines echten Einheimischen.“

„Sowieso.“ Basil setzte sich auf den Stuhl seines Vaters am Feuer. „Sie werden kein schönes Wochenende haben, Mr Whateley.“

Dieser lächelte unergründlich. „Mal sehen.“

Es wurde windiger. Im Haus war es warm und gemütlich. Esther vertiefte sich in den Aylesworth Transcript, und Whateley schob die Nase wieder in sein Buch.

„Am warmen Feuer wird man träge“, sagte Holmes nach einer Weile. „Du lieber Himmel, ich habe meine Sieben-Prozent-Lösung in der Forsythe-Villa vergessen. Ich glaube, wir müssen noch einmal hinunter, Basil.“

„Sieben-Prozent-Lösung?“, fragte Basil verdutzt. „Was soll das sein? Ein Medikament?“

„So ungefähr.“ Holmes stand auf.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957192028
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Detektiv Spannung Sherlock Holmes Historisch Krimi

Autor

  • Ronald M. Hahn (Autor:in)

Ronald M. Hahn (* 20. Dezember 1948 in Wuppertal) ist ein deutscher Schriftsteller, Übersetzer und Autor von Sachbüchern. Schon in seiner Kindheit interessierte sich Ronald M. Hahn für phantastische Literatur. Zunächst machte er eine Lehre zum Schriftsetzer. Von 1972 bis 1974 gab er die Science-Fiction-Reihe "Fischer Orbit" (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main) heraus; von 1982 bis 1988 war er in der gleichen Funktion für den Ullstein Verlag (Berlin) tätig.
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Titel: Sherlock Holmes - Neue Fälle 03: Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand