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Sherlock Holmes - Neue Fälle 05: Sherlock Holmes und der Teufel von St. James

von J. J. Preyer (Autor:in)
128 Seiten

Zusammenfassung

Wir schreiben das Jahr 1897. Dr. Watson liest mit Begeisterung den gerade erschienenen Roman Dracula von Bram Stoker. Als wenig später in London eine blutleere Leiche gefunden wird, glaubt Watson an Vampire. Und dann begegnet ihm im Londoner Nebel ein Werwolf. Gemeinsam mit Sherlock Holmes, dem messerscharf deduzierenden Meisterdetektiv aus der Baker Street, begibt sich Watson auf eine phantastische Irrfahrt. Die Printausgabe des Buches umfasst 224 Seiten Die Printausgabe umfasst 242 Buchseiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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KAPITEL 1

 

Henry Laval war sich bewusst, dass seine rechte Hand zitterte, als er das Gesicht der jungen Schönheit mit einer Schicht fein parfümierter Creme versah. Sibyl Narborough war für den Wachskünstler die perfekte Verkörperung der Herzogin von Malfi, wie sie John Webster in seinem Drama für die Bühne porträtiert hatte. Monsieur Laval hatte die Schauspielerin auf der Bühne des Drury Lane Theaters erlebt. Ihre Darstellung des Todes der unglücklichen Herzogin hatte ihn im Zentrum seines Wesens berührt, ja erschüttert, sodass er nicht geruht hatte, bis sie sich bereit erklärte, Modell für die Figur der Herzogin von Malfi zu stehen.

Die Szene der Hinrichtung hatte sein Leben verändert. In dem Moment, als der Henker der Herzogin den Strick um den Hals legte, um sie zu Tode zu würgen, und Sibyl Narborough mit vor Todesangst weit aufgerissenen blauen Augen, die ihn an die Fluten des Seine-Flusses seiner Kindheit erinnerten, in seine eigenen Augen blickte, war ihm klar geworden, was er eigentlich wollte, was er in vielen verwirrten Träumen erlebt hatte: Er wollte nicht mehr leblose Wachspuppen für sein Museum fertigen, sondern Leben und Sterben in entscheidenden Momenten einfangen, seinen Figuren Dramatik und Seele einhauchen.

Henry Laval erinnerte sich der letzten Worte der Herzogin, bevor der Henker sie tötete:

Zieh fest, mit aller Kraft, und zieh damit

den Himmel aus der Höh’ auf mich herab.

Doch warte einen Augenblick! Ist nicht

das Himmelstor so niedrig, dass man nur

es kniend im Gebet durchqueren kann?

An diesem Punkt des Stücks hatte sich die Schauspielerin vor das Publikum hingekniet, den Strick des hinter ihr stehenden Henkers um den schmalen Hals.

Nun komm, gewalt’ger Tod, lass mich nicht warten.

Geleite mich wie Alraun in den Schlaf.

Und dann der große Moment, der für Monsieur Laval einen Liebesakt darstellte, den er selbst wegen seiner körperlichen Verunstaltung nie erlebt hatte. Voll männlicher Kraft zog der Henker am Strick, die Herzogin streckte dem Publikum die Hände entgegen, als wollte sie sich mit ihm vereinen, und glitt entseelt zu Boden.

 

Henry Laval bemerkte den wohligen Schauder, der durch den Körper der Schauspielerin lief, als er ihren Hals eincremte. Sie wehrte sich auch nicht gegen den blauen Seidenschal, der mit der Farbe ihrer Augen harmonierte und den er mit einem so kräftigen Ruck über ihrem schmalen Hals zusammenzog, dass sie, bevor sie das Bewusstsein verlor, einen Schrei des Erstaunens ausstieß.

Er drückte einen sanften Kuss auf ihre leicht geöffneten Lippen, denen keine Atemluft mehr entwich. Der Ausdruck des Gesichts der Herzogin von Malfi war perfekt. Es zeigte Überraschung, Angst, aber auch Ekstase. Als ob sie ihren Tod als letzten, extremen Liebesakt empfunden hätte.

Jetzt musste Monsieur Laval rasch handeln, ihren noch biegsamen Körper entkleiden, ihn mit der Salbe versehen, die der Haut den erwünschten Seidenschimmer schenkte, bevor mehrere Schichten warmen Wachses der Figur Haltbarkeit und Dauer verliehen. In einem halben Jahr, wenn er zügig arbeitete, würde die Szene, welche die Hinrichtung der Herzogin von Malfi nachstellte, zur Hauptattraktion seines Wachsmuseums werden.

Er schälte die Wachsmaske von seinem Gesicht, um bei der heiklen Arbeit nicht behindert zu werden, und erschrak wie so oft, wenn er beim Reinigen der Hände im Spiegel sein von heißem Wachs versengtes Gesicht sah. Er hatte den Unfall, der ihn zu einem Monster werden ließ, jahrelang beklagt, hatte sich töten wollen, empfand nun aber seine Auswirkungen als Segen. Der Verlust äußerer Attraktivität hatte es ihm ermöglicht, sich völlig auf die Kunst, auf seine Arbeit zu konzentrieren und die Technik der Herstellung von Wachsfiguren so sehr zu verfeinern, dass ganz London in sein Wachsmuseum strömte und Zeitungen in Tönen höchsten Lobes über jede neue Attraktion schrieben.

Wie froh, wie glücklich war Henry Laval, dass ihm nun der endgültige Durchbruch zur Spitze seiner Zunft gelungen war.

 

Martha Hudson legte das Heft mit dem bunten Umschlag beiseite. Sie musste auf eine weitere Lektüre des Romans Geheimnis des Wachsmuseums vorderhand verzichten und sich den Vorbereitungen zur Teestunde widmen, zu der sie ihre Freundinnen Dorothy, Mabel, Gertrude und Molly eingeladen hatte. Die Frauen trafen einander jeden Montag in einem der Häuser der fünf tüchtigen Witwen, die ihren Lebensunterhalt durch Vermietung von Zimmern und die Bereitstellung von Mahlzeiten für ihre Herren bestritten, wie sie die unverheirateten Männer nannten, welche mütterliche Betreuung mehr oder minder zu schätzen wussten. Und dieses Mal war Baker Street 221 an der Reihe.

Obwohl Martha Hudson wissen wollte, wie der Roman weiterging, obwohl sie die Frage beschäftigte, wie viele weitere Menschen Monsieur Laval zum Opfer fielen und ob dieser seiner gerechten Strafe zugeführt werden würde, widmete sie sich der Zubereitung von frischem Malzbrot und Tee.

 

„Der Doktor ist einmalig“, lobte Mrs Hudson einen ihrer beiden Mieter, als sie sich mit ihren Freundinnen über die Ereignisse der letzten Woche und die jeweiligen Untermieter austauschte. „Ein Muster an Menschlichkeit und beruflichem Können und Wissen. Noch etwas Tee?“

„Wo, sagtest du, ist Doktor Watsons Praxis?“, fragte Molly Easton.

„In Paddington. Aber Bekannten hilft er bereitwillig auch außerhalb seiner Dienstzeiten hier im Haus.“

„Und der andere, der große Schlanke mit dem stechenden Blick?“, erkundigte sich Mabel Hiller. „Er ist mir irgendwie unheimlich. Der Mann sieht dich nicht an, er blickt durch dich hindurch.“

„Er ist ein Genie“, verteidigte Martha Hudson den ersten und einzigen Consulting Detective Englands. „Mister Holmes löst die schwierigsten Rätsel und Kriminalfälle.“

Die vier Damen schwiegen kurz, als wollten sie ihrer Gastgeberin nicht widersprechen, obwohl sie deren positive Einschätzung des abweisenden Mannes ganz offensichtlich keineswegs teilten. Es schien, als fürchteten sie um Martha Hudsons Leib und Leben, die sie durch Person und Beruf ihres Mieters gefährdet sahen.

„Wenn er auf seinem Gebiet so gut ist, wie du behauptest, Martha, dann solltest du mit ihm reden“, wandte sich Dorothy Aimsworth an ihre Gastgeberin.

„Wegen deines Untermieters?“

„Wegen des unheimlichen Monsieur Blanchard“, bestätigte sie.

„Dann musst du mir schildern, was an ihm so merkwürdig …“

„Unheimlich“, verbesserte Dorothy ihre Freundin.

„Was an ihm so unheimlich ist“, beendete Mrs Hudson ihren Satz. Es war nicht leicht, mit den Damen kultivierte Konversation zu machen. „Mister Holmes wird schnell ungeduldig, wenn nicht alles, was man ihm berichtet, Hand und Fuß hat.“

„Du lässt dich doch von diesem arroganten Blender nicht tyrannisieren?“, meldete sich Gertrude Sassoon zu Wort.

„Wo denkst du hin!“, erwiderte die Gastgeberin und machte ihre Freundin auf einen Kuchenkrümel an ihrer linken Wange aufmerksam.

„Dein Malzbrot ist unvergleichlich! Du musst mir unbedingt das Rezept verraten.“

„Also, kann ich jetzt endlich erzählen, was mich an Monsieur Blanchard so beunruhigt, oder wollt ihr euch weiterhin oberflächlichem Teetratsch widmen?“, unterbrach Dorothy Aimsworth ungeduldig.

„Wer ist Monsieur Blanchard?“, fragte Gertrude Sassoon.

„Ach, vergiss es! Es hat keinen Sinn, mit euch über irgendetwas zu reden, das über den üblichen Alltagskram hinausgeht.“

„Wir sind doch ganz Ohr“, gab sich Molly Easton interessiert.

„Gut, dann versuche ich es ein letztes Mal. Ihr wisst doch, dass mir Monsieur Blanchard schon immer etwas unheimlich war. Was ich aber am Sonntag gesehen habe, hat mir buchstäblich den Atem geraubt.“

„Möchte noch jemand etwas Tee?“, fragte Martha Hudson, die das theatralische Gehabe ihres Gastes störte. Aus jeder Mücke machte sie einen Elefanten, um wieder einmal im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Einmal hatte sie Zahnschmerzen, die sie fast umbrachten, ein anderes Mal schrie sie laut auf, weil der Tee zu heiß war. Und dieses Mal versuchte sie es mit einer Schauergeschichte über ihren Untermieter. Dabei waren ihre eigenen Hausgenossen wesentlich interessanter. Aber sie übte sich in nobler Zurückhaltung, während Dorothy über ihren unheimlichen Mieter auspackte.

„So, jetzt reicht es aber, Martha! Ich gehe, und ihr seht mich nie wieder. Das ist ja die Höhe. Während ich …“

„Ich habe es doch nur gut gemeint“, entgegnete Martha Hudson beschwichtigend. „Erzähl doch einfach weiter. Ich erinnere mich, dass du des Öfteren von den unbewegten Gesichtszügen deines Mieters erzählt hast, von seinem Pokerface, wie du es genannt hast, dem keine Gefühlsbewegung abzulesen ist, und dass sich dieser Mann scheinbar über nichts freuen oder ärgern kann.“

„So ist es. Es überrascht mich, dass du dich daran erinnerst, Martha. Manches Mal könnte man meinen, niemand hier hört einem zu.“

„Und dann hast du am vergangenen Sonntag eine Entdeckung gemacht, die …“

„Woher weißt du das, Martha? Jetzt wirst auch du mir unheimlich. Wie auch immer, Monsieur Blanchard hatte offenbar vergessen, das Badezimmer abzuschließen, und ich wusste nicht, dass er sich rasierte, also öffnete ich die Tür und sah … die Erinnerung daran schnürt mir die Kehle zu. Könntest du mir etwas Tee reichen, Martha?“

„War der Mann unbekleidet?“, fragte Molly Easton mit morbidem Interesse. „Also ich … man sollte eigentlich nicht darüber reden, aber ich sah Mister Cronstable unlängst so, wie Gott ihn geschaffen hat. Ein fürchterlicher Anblick, das könnt ihr mir glauben!“

„Nein. Das war es nicht“, meldete sich Dorothy Aimsworth mit belegter Stimme wieder zu Wort. „Ich habe sein Gesicht gesehen, und es sah ganz anders aus als sonst. Eine Fratze. Rot, verbrannt, teuflisch.“

„Das heißt …“

„Das heißt“, setzte Dorothy ihre Erzählung fort, „dass Monsieur Blanchard eine Maske trägt. Er verbirgt sein verunstaltetes Gesicht unter einer Maske aus Wachs.“

„Wo, sagtest du, ist er beschäftigt?“

„Bei Madame Tussauds, im Wachsmuseum. Er ist ein Monster. Ich traue ihm alles zu.“

„Du solltest ihm kündigen.“

„Das wäre mein Todesurteil. Ich würde dann wie alle anderen bei Madame Tussauds landen.“

„Was heißt das, wie alle anderen?“, zeigte sich die Gastgeberin beunruhigt. „Was meinst du damit?“

„Ich habe ein Buch gelesen, das im Detail die Schreckenstaten eines Monsieur Laval beschreibt. Das Geheimnis des Wachsmuseums. Es ist ganz eindeutig die Geschichte meines Monsieur Blanchard, auch wenn er einen anderen Namen trägt.“

„Das ist aber interessant“, fand Martha Hudson. „Ich lese diesen Roman ebenfalls. Edwin J. Brett ist ein wunderbarer Schriftsteller. Seine Geschichten sind mir am liebsten. Sie enthalten alles, was man sich als Leser wünscht. Man kann sich so gut in seine Gestalten hineindenken, auch in die Mörder.“

„Aber Martha, was sagst du denn da! Ich bin der Meinung, man sollte seine kostbare Zeit nicht mit nutzlosen Tätigkeiten wie Lesen vergeuden“, gab sich Mabel Hiller streng.

„Ach, das sagst du doch nur, weil du nicht lesen kannst“, warf ihr Molly Easton vor.

„Unsinn. Ich werde es euch beweisen“, erwiderte diese und bat Martha Hudson um den besagten Roman. Dann begann sie mit triumphierender Stimme laut vorzulesen. „Henry Laval war bewusst, dass seine rechte Hand zitterte, als er das Gesicht der jungen Schönheit mit einer Schicht fein parfümierter Creme versah. Sibyl Narborough war für den Künstler seines Faches die perfekte Verkörperung der Herzogin von Malfi, wie sie John Webster in seinem Drama für die Bühne porträtiert hatte. Monsieur Laval hatte die Schauspielerin auf der Bühne des Drury Lane Theaters erlebt. Ihre Darstellung des Todes der unglücklichen Herzogin hatte ihn im Zentrum seines Wesens berührt, erschüttert, sodass er nicht geruht hatte, bis sie sich bereit erklärte, Modell für die Figur der Herzogin von Malfi zu stehen.“

Es war still geworden im Salon, aus dessen Fenstern man auf die belebte Baker Street sah, in der schon die ersten Gaslampen brannten. Es wurde schnell finster im November, und der dichte Nebel, der sich mit dem Rauch aus den Schornsteinen vermischte, tat sein Übriges, um die Stadt zu verdüstern.

Martha Hudson entzündete das Gasmantellicht in der Mitte des gemütlichen Raumes und schloss die Vorhänge. Das Feuer im offenen Kamin spendete zusätzliches Licht und angenehme Wärme.

„Könntest du nicht mit deinem Detektiv über Monsieur Blanchard sprechen?“, wandte sich Dorothy Aimsworth wieder an ihre Freundin.

„Die Tatsache, dass der Mann eine Wachsmaske trägt, genügt nicht, um Mister Holmes zu belästigen“, wehrte diese ab.

„Aber es ist nicht allein die Maske. Bei Madame Tussauds stehen Figuren, die sehr lebensecht wirken, zu echt, könnte man beinahe sagen. Wenn du verstehst, was ich meine.“

„Du deutest an, dass Monsieur Blanchard Menschen tötet und dann mit Wachs überzieht, so wie Monsieur Laval in diesem Roman.“

„Ich bin mir beinahe sicher, dass es so ist. Der Schriftsteller …“

„Edwin J. Brett.“

„Mister Brett schreibt, dass der Roman auf Tatsachen beruht. Frag bitte deinen Detektiv! Mehr als nein sagen kann er nicht.“

„Ich weiß gar nicht, ob Mister Holmes zu Hause ist“, versuchte es die Gastgeberin mit einer Ausflucht. „Möglicherweise weilt er gar nicht in London.“

„Das Gaslicht flackert“, bemerkte Gertrude Sassoon. „Das bedeutet, dass noch jemand hier im Haus das Licht aufgedreht hat. Und ich höre Schritte über uns.“

„Wie unheimlich“, fand Mabel Hiller. „Das erinnert mich an den Roman Gaslicht, in dem der Mörder im Haus nach Juwelen sucht. Sobald er das Licht aufdreht, flackern die Lampen der armen Alice. Du solltest vorsichtig sein, Martha.“

„Wenn ich eure Ratschläge befolge, müsste ich einerseits Mister Holmes ersuchen, ein Verbrechen aufzuklären“, stellte die Angesprochene fest, „andererseits jedoch soll ich ihn Scotland Yard ausliefern, weil er mich aus irgendwelchen Gründen töten will.“

Nach einer Minute des Schweigens bat Gertrude Sassoon, die Angelegenheit zumindest mit dem Doktor, dem Freund des Detektivs, zu besprechen, da dieser nach Marthas Worten viel zugänglicher wäre.

„Gut. Das werde ich tun“, nahm sie den Vorschlag an. „Vielleicht kann ich euch nächste Woche Neues berichten.“

 

Nachdem die Damen gegangen waren und Martha Hudson wieder in ihre Alltagskleidung geschlüpft war, das Zimmer aufgeräumt und das Geschirr gespült hatte, wartete sie auf die Rückkehr von Doktor Watson, der meist gegen halb acht von Krankenbesuchen nach Hause kam. Als sie hörte, wie jemand die Haustür aufschloss, eilte sie auf den gemeinsamen Flur des Hauses und erschrak, als sie den Detektiv vor sich stehen sah.

„Guten Abend, Mister Holmes“, grüßte sie den Eintretenden und wollte rasch in der Küche verschwinden.

„Sie wollten mit dem Doktor reden?“, fragte der Detektiv. „Er befindet sich in seinem Zimmer. Es ist beleuchtet. Ich werde ihm Bescheid geben.“

„Ach, es eilt nicht. Eine unbedeutende Angelegenheit.“

„Die im Zusammenhang mit dem Besuch Ihrer Freundinnen am Nachmittag steht.“ Holmes blickte seiner Vermieterin in die Augen, bis diese verlegen den Blick abwendete. „Nur heraus damit!“

„Darf ich Sie auf eine Tasse Kaffee in den Salon bitten, Mister Holmes?“

 

Während Mrs Hudson in der Küche mit der Kaffeekanne hantierte, entfernte Sherlock Holmes einen Stapel Romanhefte von dem gepolsterten Sessel, in dem er Platz nehmen wollte. Mit einem Lächeln auf seinem sonst so ernsten Gesicht studierte er die Titel der Penny Dreadfuls, die offenbar zur bevorzugten Lektüre Mrs Hudsons und ihrer Freundinnen zählten. Die Verbrechen des Spring-Heeled Jack, Gaslicht, Der Vampir von Lancaster, Der Werwolf von Edinburgh und Das Geheimnis des Wachsmuseums lauteten nur einige der Titel, die alle von demselben Autor, einem gewissen Edwin J. Brett, stammten, wobei der Roman über das Wachsmuseum die stärksten Abnutzungserscheinungen zeigte, also bei den Damen offensichtlich besonders gut ankam.

Nachdem der Detektiv mit Kaffee und Malzbrot versorgt worden war, meinte er: „Sie selbst, liebe Mrs Hudson, verzichten wohl einer ungestörten Nachtruhe wegen auf dieses anregende Getränk.“

„Sie haben wie immer recht, Mister Holmes. Ich kann nicht schlafen, wenn ich am Abend Kaffee trinke.“

„Und Sie wollten nicht mit mir, sondern mit dem Doktor reden, wollten ihn als Vermittler einschalten, weil Sie nicht sicher sein konnten, wie ich auf Ihr Anliegen reagieren würde.“

„Ach, Mister Holmes … Es ist nur, weil ich es einer Freundin versprochen habe. Ich weiß, dass Sie sich nicht mit solchen Lappalien abgeben.“

„Oh doch! Wachsmuseen und die damit verbundenen Geheimnisse sind durchaus nicht uninteressant.“

„Ich finde es irgendwie beunruhigend, Mister Holmes, dass Sie so direkt in mich hineinblicken können …“

„Alles simple Deduktion, Mrs Hudson. Meine magischen Kräfte sind hiermit erschöpft. Den Rest müssen Sie mir selbst erzählen.“

Zögernd, immer wieder auf die Reaktionen des Detektivs achtend, berichtete Martha Hudson von Dorothy Aimsworths Verdacht gegen deren Untermieter Monsieur Blanchard.

„Und Ihre Freundin befürchtet, dass dieser Mann französischer Herkunft Menschen dahinmeuchelt, sie mit Wachs überzieht und bei Madame Tussauds ausstellt.“

„So, wie Sie das sagen, Mister Holmes, klingt es natürlich lächerlich. Es tut mir leid, dass ich mich dazu habe hinreißen lassen, Sie mit diesem Gerücht zu belästigen.“

„Man müsste nur klären, ob es genügt, eine Leiche mit Wachs zu überziehen, um sie zu konservieren. Ich zweifle daran, werde es aber mit einem Versuchstier in meinem Labor ausprobieren. Wahrscheinlich müsste man das tote Wesen vorher einbalsamieren. Ich vermute, mit Garstin’scher Flüssigkeit. Ein spannender Gedanke.“

„Bitte, töten Sie kein Tier, Mister Holmes! Auch wenn es sich nur um eine Maus handelt.“

„Oder mit einer Lösung aus Arsen und Glycerin“, überlegte der Detektiv weiter, ohne auf die Worte seiner Vermieterin zu achten. „Wobei …“ Sherlock Holmes unterbrach sich selbst. „Mrs Hudson, ich möchte mich bei Ihnen für den interessanten Fall, den Sie an mich herangetragen haben, bedanken und verspreche Ihnen, mich darum zu kümmern. Sie werden bald von mir hören und können Ihren Freundinnen nächsten Montag von der Lösung berichten. Ach, und würden Sie mir den Roman bis … sagen wir … nächsten Sonntag leihen? Ich benötige ihn als Studienobjekt.“

„Aber natürlich, Mister Holmes. Ich danke Ihnen für Ihre große Freundlichkeit.“

„Die Sie nicht von mir erwartet haben, Mrs Hudson, geben Sie es ruhig zu. Das Malzbrot war übrigens hervorragend. Allerdings mag ich keine Rosinen. Sie erinnern mich an tote Fliegen.“

 

Nachdem sich der Detektiv in die Räume im ersten Obergeschoss begeben hatte, dachte Martha Hudson noch lange an tote Fliegen, bis sie Doktor Watson heimkehren hörte. Ihre Nerven waren angespannt, vermutlich durch den vielen Tee, den sie im Verlauf des Nachmittags konsumiert hatte. Beunruhigt überlegte sie, was wohl das Flackern des Gaslichtes ausgelöst hatte, obwohl weder der Doktor noch Sherlock Holmes zu Hause gewesen waren. Und hatte sie nicht deutlich die Schritte eines Menschen vernommen?

Sie würde sich wieder einmal durch eine schlaflose Nacht quälen müssen.

 

Der Detektiv saß vor dem Feuer am offenen Kamin und las im Schein des Gaslichts in dem Roman, der Mrs Hudsons Freundin verstört hatte. Er war so vertieft in die Lektüre, dass er nicht einmal aufblickte, als Doktor Watson den gemeinsamen Wohnraum betrat, sich mit einem Glas Portwein in seinem gepolsterten Armsessel niederließ und die kalten Füße in dem auf dem Boden ausgebreiteten Bärenfell vergrub.

Eineinhalb Stunden später war Holmes auf der letzten Seite des Romanheftes angelangt, auf der das Erscheinen eines weiteren sensationellen Werks des Autors Edwin J. Brett mit dem Hinweis angekündigt wurde, Der Teufel von St. James würde Anfang Dezember bei gut sortierten Zeitungshändlern und im Abonnement erhältlich sein.

„Sagen Sie mir, Watson“, wandte sich Holmes an seinen Mitbewohner, der vor dem Feuer eingenickt war. „Warum versuchen Sie die Anwesenheit einer Frau in dieser Wohnung sowohl vor Mrs Hudson als auch vor mir zu verbergen?“

„Wie? Was? Welche Frau?“, gab sich der Doktor verwirrt.

„In Ihrem Zimmer befindet sich eine Frau, die unsere Wohnung auf bemerkenswert effektive und liebevolle Weise aufgeräumt und verschönert hat. Das Gaslicht ist heute schwächer als sonst, also wird ein zusätzlicher Raum beleuchtet. Noch nie hatten wir in der alten Vase Blumen, doch heute, mein lieber Watson, zieren die letzten Rosen dieses Herbstes das Gefäß. Es liegt ein leichter Duft von Zitronen in der Luft, der von einem feinen und angenehmen Damenparfüm stammt.“

„Hören Sie doch auf, Holmes! Das sind Hirngespinste, ausgelöst durch Ihre unmögliche Lektüre.“

„Soso … Miss Melmoth ist also ein Hirngespinst, das sowohl Mrs Hudson als auch meine Wenigkeit befallen hat?“

„Holmes, Sie sind mir unheimlich. Woher wissen Sie, wie die Frau heißt?“

„Lenken Sie nicht ab, Doktor. Aus welchem Grund verheimlichen Sie die Anwesenheit der jungen Dame?“

„Sie ist sehr scheu, und …“ Bei diesen Worten senkte Watson seine Stimme zu einem Flüstern. „Sie hat große Angst. Gestatten Sie, Holmes, dass ich mich zurückziehe und die Angelegenheit nicht weiter diskutiere.“

„Ich gestatte“, erwiderte der Detektiv und machte eine wegwerfende Handbewegung in Richtung seines Freundes, der den gemeinsamen Wohnraum verließ.

Holmes nahm noch einmal den Roman zur Hand und grübelte über das Ende, bei dem nicht, wie sonst bei derlei Romanen üblich, das Gute über die Mächte des Bösen siegte. Edwin J. Brett ließ doch tatsächlich seinen Helden am Ende des Heftes sterben.

Kensington drückte ab. Die Kugel traf ihr Ziel, Lavals Körper vollführte eine Pirouette en dedans, eine Drehung nach innen, und ging mit einem seltsam anmutenden Geräusch zu Boden, wobei ihm die Wachsmaske vom Gesicht rutschte und die Fratze eines Monsters enthüllte.

Der Lord verstaute befriedigt seine Pistole im Halfter. Auch dieser Fall war gelöst, obwohl er sich als einer der schwierigsten seiner Laufbahn erwiesen hatte. Doch was war das? Eine Hand ergriff seinen Kopf von hinten, eine zweite drückte ihm ein übel riechendes Tuch gegen Mund und Nase. Der Detektiv ahnte, dass er einer Täuschung zum Opfer gefallen war, dass er nicht Laval, sondern lediglich eine Wachsfigur des großen Verbrechers erschossen hatte.

Henry Laval war vom Gesichtsausdruck seines Gegners begeistert. Lord Kensingtons Miene zeigte Entschlossenheit und leichtes Staunen. Laval hoffte, dass der nun nötige Stich durch Kensingtons Herz keinerlei Veränderung der Gesichtszüge des Detektivs herbeiführen und der Mann ihn in seiner tiefen Betäubung nicht spüren würde. Lord Kensington würde zu den größten Attraktionen des Wachsmuseums zählen.

Angesichts des Todes des Detektivs fand Holmes die Ankündigung eines weiteren Romans umso bemerkenswerter. Wer würde diesen Fall lösen? Wollte der Autor eine neue Hauptfigur, einen neuen Detektiv, erfinden?

Holmes ahnte, dass hinter all diesen Fragen mehr steckte, als ein oberflächlicher Betrachter zu erkennen vermochte, also hieß es, der Sache methodisch auf den Grund zu gehen. Der Detektiv witterte Abenteuer und Gefahr. Er wollte zu seiner Violine greifen, um seinen Kopf freizubekommen und den Gedanken, die ihn beschäftigten, Rhythmus und Energie zu verleihen, entschied aber aus Rücksicht auf Watson und die Dame im Nebenzimmer, auf das Musizieren zu verzichten. Er wollte die ersten zarten Bande, die ihn letztlich von seinem Mitbewohner befreien würden, nicht stören. Die Arbeit lief für Holmes derart befriedigend, dass er sich die Wohnung auch allein leisten konnte, und das hätte, vom vergrößerten Platzangebot abgesehen, auch andere Vorteile. Holmes dachte daran, einen Butler zu engagieren, dessen Tätigkeit ihm den Alltag erleichtern würde.

Der Detektiv entschloss sich zu einem Spaziergang durch das nächtliche London, der ihn zur Marylebone Road führte, in die vor zwei Jahren Madame Tussauds Wachsmuseum vom Baker Street Bazaar übersiedelt war. Das neu errichtete Gebäude lag, mit Ausnahme eines Fensters im obersten Stockwerk, im Dunkeln. Der Schatten eines Mannes bewegte sich dahinter unaufhörlich auf und ab. Ein Mensch, der innerlich sehr aufgewühlt war, schloss Holmes und erinnerte sich an Gerüchte, dass es um die Finanzen des Museums nicht allzu gut bestellt war. Joseph Randall, der Enkel der Gründerin der Ausstellung, so hieß es, habe sich durch den Neubau in Schulden gestürzt, die ihn nun trotz des Erfolgs seines Etablissements bei den Londonern in den Abgrund zu reißen drohten. Wäre es möglich, überlegte Holmes, dass diese schwierige Situation den Besitzer und seine Mitarbeiter zu verzweifelten Handlungen verleitete und dass jener Schriftsteller von Heftromanen davon Wind bekommen und sich zu seinem Schauerroman hatte inspirieren lassen?

Holmes wusste, dass am Anfang jedes Falles Fragen standen. Fragen, denen man keine Grenzen setzen durfte, denn sie warfen Licht auf das Geschehen, das noch beinahe vollständig im Dunkeln lag. Im Dunkeln – bis auf das Zimmer im zweiten Stock des Gebäudes, in dem ein Mensch keine Ruhe fand.

KAPITEL 2

 

Sherlock Holmes suchte das Wachsmuseum am nächsten Tag gegen halb elf Uhr Vormittag auf, erstand eine Eintrittskarte und bewegte sich langsam durch die muffig riechenden Hallen, in denen die Figuren wichtiger Staatsmänner und Monarchen Europas ausgestellt waren. Vor Königin Viktoria, Prinz Albert und den übrigen Mitgliedern der königlichen Familie beugten die Besucher unwillkürlich die Köpfe, so echt erschienen ihnen die Nachbildungen. Mehr Neugier als Respekt erweckten die Figuren von Zar Alexander von Russland, Ludwig XVI. von Frankreich und Marie Antoinette, dem Kaiser von Mexiko, Garibaldi, Graf Bismarck und den amerikanischen Präsidenten Lincoln und Johnson.

„Haben Sie schon die Chamber of Horrors besucht, Mister Holmes?“, wandte sich ein Mann, der keinen Mantel trug, also zum Personal des Museums gehören musste, an den Detektiv. „Sie müsste Ihren beruflichen Interessen entgegenkommen. Aber entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit … Ich wurde von unserer Mitarbeiterin an der Kasse vom Eintreffen eines Prominenten verständigt. Es ist mir eine Ehre, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Ich bin Joseph Randall.“

„Der Enkel Marie Tussauds“, stellte Holmes fest.

„Darf ich Sie durch unser Etablissement führen?“

„Sehr liebenswürdig von Ihnen, doch ich würde es vorziehen, allein meinen Gedanken, Ihre interessanten Ausstellungsstücke betreffend, nachzugehen. Allerdings wäre ich für ein Gespräch nach Beendigung meines Rundgangs dankbar.“

„Wie Sie wünschen, Mister Holmes. Wenden Sie sich an einen unserer Wärter, wenn Sie so weit sind. Er wird Sie dann zu mir führen. Aber jetzt möchte ich nicht weiter stören. Ich wünsche Ihnen einen anregenden Aufenthalt.“

Holmes wanderte vorbei an den Königen und Königinnen Englands in ihren prächtigen Roben, an den Dichtern Voltaire, Lord Byron und Sir Walter Scott. Neben Charles Dickens war eine Szene aus seinem Roman Oliver Twist aufgebaut, in der der kleine Oliver als Kaminfeger dargestellt wurde.

Und dann stand Holmes vor dem Raum, auf den ihn der Besitzer des Wachsmuseums hingewiesen hatte, vor der Chamber of Horrors, deren Eingang mit einem schwarzen Vorhang vom Rest der Ausstellung abgetrennt wurde. Ein Wärter achtete darauf, dass keine Kinder und Jugendlichen in diesen Teil des Museums gelangten, und er wies jeden der Eintretenden darauf hin, dass ihn Fürchterliches und noch nie Gesehenes erwarte.

„Sie benötigen starke Nerven, Sir“, meinte der Wärter zu Holmes. „Wenn Sie die nicht haben, empfehlen wir, die Kammer des Schreckens zu meiden.“

Holmes ignorierte den Mann, betrat die nur schwach beleuchtete Halle im Kellergeschoss des Museums und sah sich mit Mörderinnen und Mördern konfrontiert, die lange vor seiner Zeit ihrem unwürdigen Gewerbe nachgegangen waren. Mit eher geringem Interesse betrachtete er die Wachsfiguren von Frederick Manning und seiner Frau Marian, die den Liebhaber Marians bei einem Abendessen in ihrem Haus ermordet und unter dem Küchenboden vergraben hatten, und von James Greenacre, der gemeinsam mit einer Freundin seiner Verlobten Hannah Brown den Kopf abgeschnitten hatte.

Da sich außer Holmes niemand in dem Raum aufhielt, näherte er sich der Figur Marian Mannings, die ihm besonders lebensecht erschien, entnahm dem Futter seines Mantels eine etwa acht Zoll lange, dünne Metallnadel und stieß diese an dem mit Haaren bedeckten Hinterkopf in die Figur. Da die Nadel auf keinen Widerstand stieß, schloss der Detektiv, dass der Kopf zur Gänze aus Wachs bestand.

Daraufhin verließ Holmes die düstere Halle und fragte den Wärter nach Joseph Randall. Der Mann führte ihn zu den Werkstätten im Hinterhof des Museums, in denen es angenehm warm war. In einem Kupferkessel, der über einer Gasflamme platziert war, wurde Wachs geschmolzen.

Randall stand mit einem zweiten Mann an einem Tisch, auf dem Zeichnungen ausgebreitet waren, die Details des Gesichtes einer Frau enthielten, die Holmes bekannt war. Es handelte sich dabei um die junge Schauspielerin Sarah Melmoth, jene Frau also, die sich seit Kurzem des Öfteren in Watsons Zimmer aufhielt. Wiggins von den Baker Street Boys, der für Holmes immer wieder Aufträge übernahm, war der jungen Dame von Mrs Hudsons Haus bis zu ihrem Arbeitsplatz im Drury Lane Theater gefolgt und hatte so ihre Identität geklärt.

„Monsieur Gerard Blanchard“, stellte Joseph Randall dem Detektiv seinen Mitarbeiter vor. „Er stammt aus dem Land meiner Großmutter, der Gründerin unseres Museums.“

Blanchard schüttelte Holmes die Hand. Sein Gesicht blieb dabei maskenhaft unbewegt, nur seine dunklen Augen wirkten überaus lebendig. Sie betrachteten Holmes eingehend und mit Interesse. Mit sehr großem Interesse, wie Holmes fand.

„Unser Museum befindet sich in einer heiklen Phase, seitdem wir die neuen Räume bezogen haben. Zwar kommen viele Londoner, um zu sehen, wie die bedeutenden Männer und Frauen der Welt aussehen …“

„Monarchen, Politiker, Verbrecher“, bemerkte Holmes trocken.

„Und deren Jäger“, ergänzte Randall. „Wir müssen noch mehr Leute in unser Etablissement locken, damit sich die enormen Investitionen amortisieren.“

„Aus diesem Grund“, setzte Blanchard, der mit leichtem französischem Akzent sprach, die Rede seines Chefs fort, „haben wir ein großes Anliegen an Sie, Mister Holmes. Ganz London … ach, was sage ich, ganz England spricht von Ihren Taten, von der wunderbaren Lösung verworrenster Kriminalfälle.“

„Sie wollen mich als Wachsfigur ausstellen, meine Herren?“

„So ist es“, erwiderte Joseph Randall. „Wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns dies gestatten.“

Holmes überlegte kurz, wobei er mit seiner Zunge die Oberlippe entlangfuhr. Die Prozedur wäre zwar zeitraubend, würde ihm aber im Gegenzug die Möglichkeit geben, weiter in diesem Fall vorzustoßen, in dem er sich noch ganz am Anfang, erst an der Oberfläche, befand. Und die Wachsfigur, verbunden mit Berichten in den Zeitungen, würde ihm neue Klienten zuführen, die seine Hilfe benötigten. Eine Möglichkeit, sich noch rascher von seinem Wohnungsgenossen zu befreien. Andererseits ähnelte das Wachsmuseum trotz seiner nunmehrigen Sesshaftigkeit billigen Jahrmarktsattraktionen, für die er sich eigentlich zu gut sein sollte.

„Meine Antwort auf Ihr interessantes Angebot, meine Herren“, befand der Detektiv schließlich, „ist folgende: Ich stelle mich gerne dafür zur Verfügung, sobald ich den Fall, an dem ich gerade arbeite, abgeschlossen habe. Um dies zu beschleunigen, habe ich einige Fragen an Sie.“

„Das heißt, dass wir Teil Ihres Falles sind“, schloss Randall.

„Nur am Rande“, versicherte der Detektiv. „Mein berufliches Interesse gilt dem Werk eines Schriftstellers, der sich unter anderem mit einem Wachsmuseum beschäftigt hat.“

„Brett“, sagten Blanchard und Randall beinahe gleichzeitig, und der Direktor des Wachsmuseums fuhr fort: „Edwin J. Brett hat sich bei uns intensiv umgesehen und dann meinen armen Freund und Mitarbeiter als verzweifelten Mörder porträtiert. Also, wenn Sie zu uns gekommen sind, um herauszufinden, ob unsere Figuren in Wahrheit ermordete Menschen sind, kann ich Sie beruhigen, Mister Holmes. Das ist natürlich nicht der Fall. Und Monsieur Blanchard trägt seine Maske nicht, weil heißes Wachs sein Gesicht zerstört hat, sondern …“

„… weil ich seit meiner Kindheit ein Feuermal habe, das sich über den Großteil meines Gesichts erstreckt“, erklärte der Wachskünstler und entfernte die Maske.

Der Detektiv betrachtete sein Gegenüber interessiert und meinte schließlich: „Ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir durch diese Offenbarung entgegenbringen, Monsieur Blanchard. Ich kann Ihre Entscheidung, eine Maske zu tragen, zwar verstehen, halte dies jedoch für völlig übertrieben. Dieses Feuermal beeinträchtigt Ihr Aussehen nur minimal. Für mich ist es ein Kennzeichen, das Ihnen Unverwechselbarkeit und Identität verleiht.“

Blanchard dankte Holmes für seine offenen Worte und verzichtete darauf, die Maske wieder anzulegen.

„Mister Brett sah sich also bei Madame Tussauds um, lernte Monsieur Blanchard kennen und schrieb dann seinen Schauerroman“, rekapitulierte der Detektiv.

„Glücklicherweise!“ Randall lächelte zufrieden. „Seit der Roman erschienen ist, hat sich die Zahl unserer Besucher zumindest verdoppelt. Es ist zwar nicht angenehm, unter Mordverdacht zu stehen …“

„Aber es nützt dem Geschäft“, ergänzte Holmes und versprach: „Ich werde gerne meinen Beitrag leisten, um die Popularität Ihres Museums weiter zu steigern.“

„Immerhin sind wir Nachbarn.“

„Zumindest beinahe“, präzisierte Holmes. „Kennen Sie vielleicht die Adresse dieses Schriftstellers?“

„Ich möchte nicht neugierig sein“, sagte Gerard Blanchard, „aber gestatten Sie mir die Frage, worum es in Ihrem Fall geht, wenn nicht um den Verdacht, dass doch etwas Wahres an der Geschichte vom Wachsmuseum sein könnte, die Mister Brett verfasst hat.“

„Nun, dieser Aspekt ist geklärt. Die Ermittlungen, die mich zu Ihnen geführt haben, stehen in Zusammenhang mit einigen noch ungelösten Fragen, mit Menschen und Vorgängen, die sich nicht im Lot befinden, mit einer jungen Schauspielerin und meinem Gespür für Dunkles, das wie eine Wolke über der Stadt lastet.“

„Was Sie da sagen, klingt enorm aufregend und spannend“, fand Joseph Randall und bot Holmes Freikarten für das Museum an, die der Detektiv nach kurzer Überlegung akzeptierte.

 

Holmes nahm eine Droschke zum Haymarket im Londoner Stadtteil St. James. Im Gegensatz zu den übrigen Straßen und Gassen des an sich noblen Distrikts, in dem sich auch die berühmtesten der Gentlemen’s Clubs befanden, hatte der Haymarket, der Tavernen, Theater und Bordelle wegen, die sich auf diese Straße konzentrierten, einen üblen Ruf.

Holmes ignorierte zwei stark geschminkte Frauen, die vor ihm ihre Hüften und Handtaschen schwangen, und eilte in den Hinterhof eines dreistöckigen Hauses. Es roch so abscheulich nach verrottenden Lebensmitteln und Abfällen, dass er ein Taschentuch über Mund und Nase legte, bis er über eine abgetretene Außentreppe zu einem überdachten Eingang gelangte. Ein verschmiertes Metallschild unter einem Glockenzug trug den Namen E. J. Brett.

Der Detektiv betätigte die Klingel und vernahm kurz darauf eine weibliche Stimme, die Komme gleich! rief. Es dauerte jedoch eine geraume Weile, bis tatsächlich geöffnet wurde. Die Frau trug einen abgewetzten Schlafrock und blinzelte mit müden Augen in das helle Tageslicht.

„Ist Mister Brett zu Hause?“, erkundigte sich Holmes.

„Wer will das wissen?“, fragte die Frau mürrisch.

„Holmes. Sherlock Holmes. Detektiv. Ich beschäftige mich mit den Schriften Ihres Mannes.“

„Ich bin Alina Brett. Mein Mann schläft noch. Kommen Sie später wieder.“

„Das ist nicht möglich“, entgegnete Holmes und schob sich an der Frau vorbei in den dunklen Flur der Wohnung, wo er stehen blieb und die Frau von oben bis unten kritisch betrachtete, bis sie verlegen wurde.

„Sie müssen wissen, Mister Holmes“, begann sie sich zu rechtfertigen, „dass die chaotischen Arbeitszeiten meines Mannes leider auch mich in Mitleidenschaft ziehen. Ed und ich sind ein eingespieltes Team, was das Berufs- und Privatleben betrifft.“

„Das heißt, Sie arbeiten gemeinsam an den Romanen.“

„Ed denkt sich die Geschichten aus und schreibt einen ersten Entwurf. Diesen diktiert er mir, und ich erstelle eine erste Reinschrift. Dabei diskutieren wir so manche Passage. Die letzte Korrektur übernimmt er wieder selbst“, zeigte sich die Frau mit einem Mal gesprächig.

„Ich kenne einen der Romane Ihres Mannes, über den ich mit ihm sprechen will. Das Geheimnis des Wachsmuseums.“

„Sie können auch mit mir darüber reden.“

„Sehr gern, doch ist mir auch Mister Bretts Meinung wichtig“, ließ Holmes nicht locker.

„Dann kommen Sie bitte weiter!“ Alina Brett führte den Detektiv in eine Art Wohnzimmer, dessen ungemütliche Kälte und Düsternis verrieten, dass sich die Bewohner äußerst selten darin aufhielten. Sie öffnete die Vorhänge. „Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?“

Holmes bejahte, obwohl er das Lieblingsgetränk der meisten Engländer nicht besonders schätzte. Immerhin war man damit in einer Stadt, deren Trinkwasser aus der Themse kam, in die auch die Abwässer flossen, auf der sicheren Seite. Teewasser wurde gekocht und damit von den schlimmsten Keimen befreit, sofern Mrs Brett das Geschirr in heißem Wasser reinigte.

„Was ist los? Wer ist da?“, tönte die tiefe Stimme eines Mannes aus einem der angrenzenden Räume. „Ist es Hogarth? Hat es sich der alte Hasenfuß doch noch anders überlegt?“

„Es ist ein Mister Holmes, Darling. Er sagt, er ist Detektiv.“

„Oh, wirklich? Sherlock Holmes persönlich? Welche Ehre! Ich bin in einer Minute bei euch.“

Kurz darauf erschien der Schriftsteller, ein großer, an die 240 Pfund schwerer Mann mittleren Alters, dessen Wangen und Nase bläulich-rote Äderchen bedeckten und dessen Morgentoilette offenbar darin bestanden hatte, seinen Körper großzügig mit einem nach Moschus riechenden Duftwasser einzusprühen. Holmes räusperte sich, so sehr beeinträchtigte ihn das schwere, süße Aroma.

Edwin J. Brett begrüßte den Detektiv enthusiastisch. „Mein lieber Mister Holmes! Ich freue mich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Bring etwas Sherry, Ali, und zünde den Gasofen an. Was soll Mister Holmes von uns denken! Er könnte meinen, er sei bei armen Leuten zu Besuch.“

„Das heißt, Ihre Geschäfte gehen gut“, stellte Holmes freundlich fest.

„Man liest gern meine Bücher“, bestätigte der Schriftsteller.

Das Geheimnis des Wachsmuseums scheint Ihr letzter Roman zu sein. Ein interessanter Text.“

„Sie haben das Buch gelesen, Mister Holmes?“

Der Detektiv bestätigte mit einem Nicken. „Ich habe die Nähe zur Realität beachtlich gefunden. Ich meine damit die Darstellung der Räumlichkeiten sowie der Person des Künstlers, der die Wachsfiguren anfertigt.“

„Das Verbrechen, das in diesem Roman abgehandelt wird, ist allerdings frei erfunden“, bemühte sich Brett um eine Klarstellung.

„Das klingt beruhigend. Sie kennen Mister Randall und Monsieur Blanchard?“

„Sie sind mir Modell gestanden für zwei der Figuren meines Romans, wobei ich natürlich Veränderungen vorgenommen habe.“

In diesem Moment betrat Mrs Brett, voll angekleidet und mit Make-up versehen, mit einer Flasche Sherry und drei Gläsern den Raum. Der Wein war überraschend gut und fand rasch seinen Weg in Mr und Mrs Bretts Magen, während Holmes nur sehr bedächtig davon trank.

„Am Ende dieses Romans kündigen Sie ein Werk an, das mich besonders interessiert. Sie sprechen vom Teufel von St. James, und ich vermute, auch dafür gibt es ein reales Vorbild.“

Der Schriftsteller leerte hastig sein Glas und goss rasch nach. „Sie haben mich an einem wunden Punkt erwischt, Mister Holmes. Genau das ist das Problem. Hogarth … Harmsworth Hogarth, mein Verleger … hat kalte Füße bekommen. Er hat Angst, den Roman zu veröffentlichen, und mich gebeten, einige Passagen zu ändern. Aber das machen wir nicht, oder, Ali? Wir haben unseren Stolz.“

„Und wer bezahlt die Rechnungen?“, zeigte sich Mrs Brett keineswegs gleicher Meinung wie ihr Mann und wandte sich, um Verständnis heischend, an Sherlock Holmes: „Wir sind auf die monatlichen Einkünfte meines Mannes angewiesen, um finanziell über die Runden zu kommen. Ich möchte nicht im Arbeitshaus enden.“

„Davon kann doch überhaupt nicht die Rede sein!“, korrigierte sie Brett. „Wir können ein halbes Jahr von unseren Ersparnissen leben. Und wenn Hogarth das Buch nicht will, veröffentliche ich es eben unter einem Pseudonym bei einem oder einer anderen.“

„Aber du bist vertraglich verpflichtet, Hogarth jeden Monat einen einwandfreien Text zur Verfügung zu stellen. Er wird den Vertrag kündigen, wenn …“

„Könntest du dich um den Haushalt kümmern, während ich mich mit Mister Holmes unterhalte?“

Alina Brett füllte ihr Glas nach und verließ schweigend den Raum. Die Heftigkeit, mit der sie die Tür hinter sich schloss, verriet allerdings ihren bewegten Gemütszustand.

Der Schriftsteller lächelte dem Detektiv zu und meinte: „Sie ist die Ängstlichere von uns beiden. Ein Vorteil, wenn es um die Wirkung der Texte geht. Wenn sich Alina beim Diktieren fürchtet, weiß ich, dass ich richtig liege.“

„Ich wäre sehr daran interessiert, Ihr Manuskript zu lesen“, ließ sich Holmes von seinem Anliegen nicht ablenken.

„Grundsätzlich gern, Mister Holmes, aber erst nach der Publikation. Dieser Roman ist etwas ganz Besonderes. Er weicht von den übrigen ab und wird eine große Veränderung in meiner Karriere bringen.“

„Weil er das Rätsel um drei ungeklärte Mordfälle löst“, sagte Sherlock Holmes ernst. „Mir ist nicht entgangen, Mister Brett, dass in dem Stadtteil, in dem Sie leben, im letzten halben Jahr drei Männer auf dem Heimweg oder der Heimfahrt von ihrem Club getötet wurden … und zwar auf ungewöhnlich grausame Weise.“

„Indem ihnen die Eingeweide aus dem Leib gerissen wurden. Eine fürwahr bizarre Art, jemanden zu ermorden“, bestätigte der Schriftsteller.

„Von den abgetrennten linken Armen ganz zu schweigen. Und Sie, Mister Brett, bieten in Ihrem Manuskript eine Lösung des Falls an, die so verstörend ist, dass der bisherige Herausgeber Ihrer Werke davor zurückschreckt, das Buch zu veröffentlichen.“

Edwin J. Brett blickte Holmes überrascht in die hellen Augen, dann wandte er sich, wie von der Sonne geblendet, ab. „Ich möchte keine weiteren Details verraten, solange der Roman nicht publiziert ist. Immerhin leben Ali und ich von meiner Arbeit.“ Er kratzte sich verlegen an seiner voluminösen Nase. „Aber ich verspreche Ihnen, Mister Holmes, dass ich Ihnen sofort nach Erscheinen ein Exemplar mit Widmung zukommen lassen werde.“

Holmes nickte schweigend.

„Und ich hoffe, dass dieser erste Kontakt der Beginn einer wunderbaren Zusammenarbeit zwischen Ihnen und meiner Wenigkeit sein wird.“

Holmes schwieg weiter.

„Ich würde sehr gerne über die Fälle berichten, die Sie auf so einzigartige Weise bearbeiten und lösen. Das würde Ihnen einerseits vermehrt Klienten zuführen, andererseits …“

„Wir werden sehen, Mister Brett“, sagte Holmes und erhob sich. „Grüßen Sie bitte Ihre Frau von mir.“

„Ich werde Ihnen Details zu den St. James-Morden zukommen lassen, sobald es irgendwie möglich ist.“

„Das sagten Sie bereits“, meinte Holmes. „Den Worten müssen Taten folgen.“

 

„Du hast bei der Beobachtung von Miss Melmoth hervorragende Arbeit geleistet“, lobte der Detektiv den Anführer der Baker Street Irregulars, einen sommersprossigen, rothaarigen, vierzehnjährigen Jungen.

„Danke, Sir. Sie hat wieder eine Kutsche zum Drury Lane Theater genommen.“

„Ich verstehe. Was spielt sie dort?“

„Ach, das habe ich vergessen, Sir. Tut mir leid. Auch ihren wahren Namen habe ich noch nicht herausgefunden, Sir.“

„Ich bin mit dir zufrieden, Wiggins“, beruhigte Holmes den ihn ängstlich anblickenden Jungen. „Wenn du so weitermachst, wird noch ein großer Detektiv aus dir.“

Holmes wollte dem Jungen das gewohnte Honorar von einem Shilling auszahlen, als der Junge zu einer Rede anhob, die er wohl mehrfach geprobt haben musste: „Ich habe eine große Bitte an Sie, Mister Holmes, Sir. Wäre es möglich, mich als Lehrling auszubilden? Ich würde wirklich gerne Detektiv werden. Und da Sie mit meiner Arbeit nicht unzufrieden sind, Sir …“ Nun schien den Jungen der Mut zu verlassen, und er blickte verlegen auf die Spitzen seiner zerrissenen Schuhe.

In diesem Moment der Stille betrat Watson das gemeinsame Wohnzimmer und ließ sich, sichtlich erschöpft von den ersten Krankenbesuchen des Nachmittags, in seinen Armsessel fallen. Billy Wiggins grüßte ehrerbietig, und Watson winkte dem Jungen freundlich zu und sagte: „Lassen Sie sich durch mich nicht stören, Holmes.“

„Ein hochinteressanter Vorschlag, Wiggins“, meinte daraufhin der Detektiv. „Du hast recht, ich bin mit deiner Arbeit und der deiner Freunde zufrieden, und es wäre nicht ohne Reiz, einen Lehrling auszubilden. Allerdings müsstest du erst den Beweis erbringen, dass du nicht nur Kraft in deinen Beinen hast, mit denen du Verdächtige verfolgst. Es kommt in meinem Beruf auch darauf an, einen scharfen Verstand zu entwickeln.“

„Ich werde mir alle Mühe geben, Sir.“

„Du wirst bis nächste Woche, sagen wir bis Donnerstagmittag, eine Aufgabe lösen, die in Zusammenhang mit einigen mysteriösen Morden in St. James steht.“

Watson hob, aufmerksam geworden, seinen Kopf und suchte Holmes’ Blick, doch dieser reagierte nicht auf ihn.

„Aus diesem Grund“, setzte der Detektiv fort, „beauftrage ich dich, alle Zeitungsberichte darüber durchzuarbeiten und alle wichtigen Fakten zusammenzufassen.“ Holmes erhob sich, entnahm dem Wandschrank eine schwarze Mappe und reichte sie dem Jungen. Dieser griff nach dem Material und schaute den Detektiv verzweifelt an.

„Was ist? Du kannst gehen“, sagte Holmes.

Plötzlich begann Billy Wiggins, still vor sich hin zu weinen.

„Merken Sie denn nicht, dass den Jungen etwas quält, Holmes?“, mischte sich nun der Doktor in das Gespräch ein.

„Bewundernswert, Watson. Ohne Ihren Adlerblick wäre ich buchstäblich hilflos“, entgegnete der Detektiv mit Schärfe in seiner Stimme, bevor er den Jungen freundlich aufforderte, ihm mitzuteilen, wo das Problem liege.

„Ich war“, sagte der Junge mit kaum hörbarer Stimme, „nie in einer Schule.“

„Lesen und Schreiben ist aber eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Arbeit eines Detektivs“, stellte Holmes sachlich fest. „Ein Analphabet kann kein Detektiv sein. Ich muss dich daher als Lehrling ablehnen.“

Der Junge wollte Holmes die schwarze Mappe zurückgeben, als dieser sagte: „Außer du lernst es.“

„Ich kann ja schon lesen und schreiben, aber nicht sehr gut. Ich werde mir alle Mühe geben, mich zu verbessern“, schöpfte Billy Wiggins Hoffnung und drückte die Mappe fest an seinen Oberkörper.

„Also dann, bis Donnerstag in einer Woche.“

Nachdem Billy Wiggins die Tür hinter sich geschlossen hatte, erhob sich Watson von seinem Sessel und ging im Zimmer auf und ab.

„Sie wollen mir Vorwürfe machen, wagen es aber nicht“, wandte sich der Detektiv an seinen unruhig gewordenen Mitbewohner. „Ist es nicht so, Doktor? Nur heraus damit!“

„Sie sind ein harter Mensch, Holmes. Mit Ihrer unerbittlichen Konsequenz zerstören Sie eine mögliche positive Zukunft des Jungen. Ist es nicht eine wunderbare Sache, dass er sich vertrauensvoll an Sie wendet mit der Bitte, ihn als Detektiv auszubilden?“

„Genauso sehe ich es. Wo liegt das Problem, Watson?“

„Dass Sie ihn so streng behandeln. Er hat Probleme mit dem Lesen und Schreiben, und Sie fordern von ihm einen Bericht.“

„Wenn er etwas taugt, wird er das schaffen. Er hat jetzt ein Ziel“, sagte Holmes und wechselte zu einem anderen Thema. „Wie geht es Miss Melmoth? Sucht sie noch immer Ihre Nähe, um ihre Angst zu bewältigen?“

Der Detektiv wusste, dass er mit der Erwähnung der jungen Schauspielerin den Doktor verärgern und ihn zum Rückzug drängen würde. Watson verließ tatsächlich den gemeinsamen Wohnraum Richtung Schlafzimmer, dem, als er die Tür öffnete, der feine Geruch von Zitronen entströmte. Also hielt sich Sarah Melmoth doch tatsächlich am späten Nachmittag in Watsons Zimmer auf. Ein an sich unhaltbarer Zustand, den Holmes nur mehr kurze Zeit dulden würde, bis er das Rätsel um die Angst der jungen Schauspielerin gelöst hatte, über die der Verfasser der Schauerromane geschrieben hatte und von deren Gesicht der Wachskünstler bei Madame Tussauds Skizzen angefertigt hatte. Miss Melmoth hatte irgendwie mit mysteriösen Vorgängen zu tun, deren Konturen sich hinter einer Wand aus Nebel abzuzeichnen begannen.

Der Fall, fand Sherlock Holmes, brauchte Zeit zum Reifen. Er hatte bereits früh in seiner Laufbahn als Consulting Detective die Bedeutung des richtigen Timings erkannt, das in Geduld am Anfang der Ermittlungen und der Bereitschaft zu totalem und blitzschnellem Einsatz in der Lösungsphase bestand. Er würde sich in den nächsten Tagen mit anderen Fällen beschäftigen und warten, wie sich die Dinge entwickelten.

 

„Er kommt um zwölf Uhr“, erinnerte Watson Holmes beim Frühstück.

„Wer?“, fragte der Detektiv, der gerade in der Times las.

„Billy. Billy Wiggins von den Baker Street Irregulars.“

Sherlock Holmes legte die Zeitung beiseite. „Ihnen ist der Junge sehr wichtig, Watson.“

„Ich bin Arzt. Es zählt zu meinen Aufgaben, Menschen zu helfen.“

„Wie Sie meinen.“

„Ich habe Mrs Hudson gebeten, etwas mehr zu kochen, damit Billy endlich einmal satt wird.“

„Dann essen Sie doch gleich selbst mit ihm.“

„Das ist leider nicht möglich. Um zwölf bin ich noch in der Praxis.“

Holmes murmelte etwas Unverständliches und zog sich in sein Schlafgemach zurück.

 

Pünktlich um zwölf klopfte Mrs Hudson an die Tür zu Holmes’ Räumen. „Ein Master Wiggins möchte mit Ihnen sprechen, Mister Holmes.“

„Schicken Sie ihn herein!“

„Darf ich das Essen, das Doktor Watson bei mir bestellt hat, gleich auftragen oder …?“

„Das hat noch Zeit, Mrs Hudson. Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn es so weit ist.“

Die Vermieterin zog sich zurück, und Billy Wiggins betrat den Raum, die schwarze Mappe unter den rechten Arm geklemmt.

„Nimm Platz und berichte!“, forderte Holmes den Jungen auf.

„Ich habe beim Lesen der Zeitungen herausgefunden, dass sich im Stadtteil St. James im letzten halben Jahr drei ungeklärte Morde ereignet haben.“

„Genauer, Wiggins! Seit wann?“

„Seit dem 14. Mai. Da sind Sir Enoch Lambeth, sein Kutscher und zwei Pferde, die die Droschke gezogen haben, auf fürchterliche Weise ums Leben gekommen, Sir.“

Fürchterliche Weise. Das ist doch Weibergeschwätz, Wiggins. Wo hast du nur diese merkwürdige Formulierung her, die mehr verhüllt als enthüllt?“

„Aus dem Daily Telegraph, Sir.“

„Also gut. Aber was steckt hinter dieser Formulierung? Bist du nicht neugierig geworden, als du das gelesen hast?“

„Ich habe gehört, dass ein dämonisches Wesen dahintersteckt. Die Menschen nennen es den Teufel von St. James. Es hat mit seinen Klauen den Männern und den Pferden die Eingeweide aus dem Leib gerissen und den linken Arm abgetrennt.“

„Nur den Männern. Pferde haben keine Arme. Exzellent, Wiggins. Das ist tatsächlich gute Arbeit. Berichte weiter! Berichte über den zweiten und bisher letzten derartigen Vorfall!“

„Die Times schreibt, dass ein weiterer Mann von dem Ungeheuer zerrissen wurde, ein Sir Vincent Bonair. Die Pferde sind mit der Kutsche durchgegangen. Sie wurden am Ufer der Themse, bei der Westminster Bridge, aufgefunden. Der Kutscher war auch dort, ganz verstört.“

„Wunderbar, mein lieber Wiggins! Ich bin sehr zufrieden mit dir. Dein Freund und Wohltäter Doktor Watson hat ein Mittagessen für dich bei Mrs Hudson bestellt, das du in der Wohnung im Erdgeschoss einnehmen kannst. Ich werde dich zu ihr führen. Und zum Dank erhältst du zwei Freikarten für das Wachsmuseum.“

Wiggins bedankte sich mit einer Verbeugung. „Da ich Ihren Auftrag doch zu Ihrer Zufriedenheit ausgeführt habe, Mister Holmes, Sir … werden Sie mich nun als Lehrling aufnehmen?“

Holmes legte die schwarze Mappe mit den Zeitungsausschnitten in den Schrank und blickte den Jungen überrascht an. „Die Frage, mein lieber Wiggins, ist doch, wie weit der mildtätige Doktor daran beteiligt war, ob er dir das alles vorgelesen hat oder ob du tatsächlich lesen kannst.“

„Ich kann lesen, Sir!“, sagte der Junge mit fester Stimme. „Ich kann es beweisen.“

„Darauf verzichten wir. Du schreibst bis nächsten Donnerstag eine Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen der Zeitungsartikel, dann sehen wir weiter. Und du bekommst, weil du so gute Arbeit geleistet hast, einen Guinea extra.“

 

„Sie sind ein ausgezeichneter Lehrer, Watson“, begrüßte Holmes den Doktor überraschend freundlich. „Wiggins kann lesen, und wenn Sie bis nächste Woche das Wunder schaffen, auch sein Schreiben zu perfektionieren, übernehme ich den Rest seiner Ausbildung. Mich wundert nur, dass der Junge nie in einer Schule war, obwohl wir doch in unserem einigermaßen kultivierten Land die Schulpflicht haben.“

„Seine Eltern arbeiten Tag und Nacht, um eine Einweisung in das Arbeitshaus abzuwenden, der Vater als Hufschmied, die Mutter als Dienstmädchen. Dennoch können sie sich das Schulgeld für die drei Kinder nicht leisten. Und sie haben kaum Zeit, sich um die Kinder zu kümmern. Das hat Billy als der Älteste übernommen.“

„Und weil Sie sich so vorbildlich verhalten haben, mein lieber Watson, lade ich Sie heute Abend ein. Ich habe Theaterkarten besorgt.“

„Ich bin eigentlich zu müde und muss morgen früh aufstehen.“

„Das Theater wird Ihren Geist und Ihre Seele erfrischen. Sie wollen doch auch sehen, wie sich Miss Melmoth auf der Bühne macht. Wir werden der Herzogin von Malfi einen Besuch abstatten, um zu sehen, was die Schauspielerin so sehr verstört, dass sie, so oft es geht, Zuflucht bei Ihnen sucht.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957192042
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Detektiv Spannung Sherlock Holmes Krimi Ermittler

Autor

  • J. J. Preyer (Autor:in)

J. J. Preyer wurde 1948 in Steyr, Österreich geboren. Mitarbeit an der Kinderzeitschrift "KLEX" von Peter Michael Lingens. 1996 gründete Josef Preyer den Oerindur Verlag, einen Verlag für lesbare Literatur und Krimis. Seit 2010 schreibt der Autor für die Romanserie JERRY COTTON im Bastei-Verlag.
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Titel: Sherlock Holmes - Neue Fälle 05: Sherlock Holmes und der Teufel von St. James