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Sherlock Holmes - Neue Fälle 07: Sherlock Holmes und die Drachenlady

von Klaus-Peter Walter (Hrsg.) (Autor:in)
182 Seiten

Zusammenfassung

Acht bislang unbekannte Fälle, aus dem Nachlass des Dr. Watson aufgezeichnet von sechs ausgewiesenen deutschsprachigen Sherlock-Holmes-Romanautorinnen und -autoren, zeigen den Meisterdetektiv aus der Baker Street 221B auf der Höhe seines Könnens und lassen ihn in die düsteren Abgründe des Verbrechens im viktorianischen Zeitalter blicken. Der verschwundene Diplomat von Peter Jackob Das Glas mit dem Magenbitter von Wolfgang Schüler Die zweiundvierzig Napoleons von Christian Endres Schraubenflächen mit geneigter Erzeugungslinie von Klaus-Peter Walter Dornröschenschlaf von Franziska Franke Der Rheingauer Prinzenraub von Karsten Eichner Die Drachenlady von Klaus-Peter Walter Die Riesenratte von Sumatra von Franziska Franke Die Printausgabe umfasst 256 Buchseiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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INHALT

 

Vorrede von Dr. Watson

Der verschwundene Diplomat – Peter Jackob

Das Glas mit dem Magenbitter – Wolfgang Schüler

Die zweiundvierzig Napoleons – Christian Endres

Schraubenflächen mit geneigter Erzeugungslinie – Klaus-Peter Walter

Dornröschenschlaf – Franziska Franke

Der Rheingauer Prinzenraub – Karsten Eichner

Die Drachenlady – Klaus-Peter Walter

Die Riesenratte von Sumatra – Franziska Franke

Für immer 1895 – Nachwort des Herausgebers – Klaus-Peter Walter

Die Autoren

 

 

 

Zur Erinnerung an meine liebe, gute Tante Icke

(Frieda Habermehl, 1893-1983)

VORREDE VON DR. WATSON

 

Im Englischen wie im Griechischen und vor allem im Deutschen ist der Tod männlichen Geschlechts. Als Death, Thanatos oder Sensenmann mäht er uns Menschen mit roher Kraft nieder, sichelt uns grausam hinweg aus unserem Dasein, trennt uns von unseren Lieben, ob wir es wollen oder nicht. Um wie viel sympathischer sehen ihn die romanischen und slawischen Völker! Bei ihnen ist der Tod eine Frau und heißt mors oder la muerte beziehungsweise smertj. Smertj! Kaum ein Wort könnte weicher, ja zärtlicher klingen als dieses.

Vor vielen Jahren – oder besser Jahrzehnten – sah ich einmal Reproduktionen von Gemälden des polnischen Symbolisten Jacek Malczewski. Auf ihnen ist der Tod stets eine schöne Frau, eine Tödin sozusagen, mit langem Zopf und einer Sichel in der rechten Hand. Mit einer hypnotischen, liebkosenden Geste der Linken bringt sie dem Müden und Beladenen den ersehnten ewigen Schlaf.

Meine Tödin wartet schon lange auf mich. Ich spüre es, sie umschreitet jede Nacht gelassen, ohne Eile oder Ungeduld, das Haus. Es liegt in London und gehört meiner Tochter und ihrem Mann. Noch zögert meine Tödin, es zu betreten, noch blickt sie nur aus dem Hof wartend zu meinen beiden Fenstern empor, hinter denen trotz der späten Stunde noch das Licht brennt, denn ich finde kaum mehr Schlaf.

„Lassen wir den alten Doktor noch ein wenig schreiben“, mag sie denken, „damit die Welt noch ein paar allerletzte Sherlock-Holmes-Geschichten bekommt. Dann mag er für immer die Feder niederlegen und sich ausruhen.“

Ich hoffe, dass ich bei ihrem Eintreten noch die Kraft besitze, mich höflich zu erheben. Alles andere wäre eines Gentlemans nicht würdig. Ich möchte im Stehen sterben.

Bis sie also klopft (Oder wird die wahre Herrscherin der Welt ohne Klopfen eintreten? Ich weiß es nicht!) – also, bis es so weit ist, werde ich noch ein paar Fälle meines Freundes Sherlock Holmes zusammenstellen, über die ich bislang noch nicht berichtet habe. Nicht immer konnte er seine Fälle, wie etwa den des verschwundenen britischen Diplomaten Lionel Preston, einem erfolgreichen Ende zuführen. Manchmal lag sogar überhaupt kein wirkliches Verbrechen vor wie im Falle der zweiundvierzig Napoleons. Meine kleine Sammlung ist jedoch einmal mehr dazu angetan, dem Charakter des größten Detektivs, den die Welt je besaß, die eine oder andere unbekannte Facette hinzuzufügen.

Diesmal wird es mir gleichgültig sein, ob die Welt schon reif für diese Fälle ist oder nicht, oder ob die Diskretion gebietet, den Mantel des Schweigens über sie zu breiten. Ich lasse mir von niemandem mehr dreinreden. Denn wenn sie meiner Leserschaft zugänglich sein werden, werden alle Beteiligten – Holmes, Sir Mycroft, Inspektor Lestrade, meine Wenigkeit und alle anderen – längst zu dem Staub zerfallen sein, aus dem wir dereinst erschaffen wurden.

Ich muss schließen, ich höre Schritte auf der Treppe. Vielleicht ist es nur meine Tochter mit dem Kamillentee. Vielleicht ist es auch sie. Vorsichtshalber werde ich versuchen aufzustehen.

 

Gottes Segen allen Lesern dieser Zeilen!

John H. Watson, M. D.

London, im Juli 1929

DER VERSCHWUNDENE DIPLOMAT

Peter Jackob

 

 

Schon seit Tagen lag sengende Hitze über London, weshalb ich früh aufstand und am offenen Fenster unseres gemeinsamen Wohnraums die Kühle des Morgens genoss. Ganz allmählich erwachte das städtische Treiben. Erste Kutschen fuhren vorüber, die Zeitungsverkäufer bezogen ihre Standorte, und mehr und mehr Menschen bevölkerten die Bürgersteige der Baker Street.

Ich sah auf meine Uhr. Jeden Moment würde mich Mrs Hudson mit meinem Frühstück versorgen. Wie schon die Tage zuvor, lag Sherlock Holmes wohl noch in den Federn. Er schien mit einem neuen Fall beschäftigt zu sein, denn er verließ stets abends gegen halb sieben unser Domizil und kam erst im Laufe der Nacht zurück.

Als ich ihn einmal darauf ansprach, gab er mir wie gewöhnlich nur spärlich Auskunft: „Eine äußerst vertrackte Geschichte, Watson. Gedulden Sie sich noch etwas. In ein paar Tagen präsentiere ich Ihnen die wesentlichen Fakten des Falls.“ Und nach einer kurzen Denkpause setzte er hinzu: „Wissen Sie, je kleiner das fehlende Detail, desto größer die Herausforderung.“

Mehr war nicht aus ihm herauszubekommen.

Ich hatte gerade die Tür zu meinem Zimmer geöffnet, als jemand unser Wohnzimmer betrat.

„Guten Morgen, Misses Hudson!“, grüßte ich. „Einen Augenblick bitte, ich hole nur schnell meine Brille für die Morgenzeitung.“

Mein Gruß wurde nicht erwidert. Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, empfing mich der Geruch frischen Kaffees. Ich war ein wenig erstaunt, dass unsere Vermieterin, die gute Seele der Baker Street 221B, gleich wieder gegangen war. Auch lag der Daily Telegraph nicht wie sonst neben dem Tablett auf dem Tisch. Ich wollte mich bereits auf den Weg nach unten machen, um die Zeitung zu holen, als mich die Stimme meines Zimmergenossen überraschte.

„Guten Morgen, Watson! Wie ich sehe, genießen Sie die angenehme Kühle der frühen Morgenstunden. Gibt es etwas Schöneres, als während dieser Hitzewelle nach getaner nächtlicher Arbeit noch ein wenig am offenen Fenster zu entspannen, bevor man sich zurückzieht?“

Es dauerte einen Augenblick, bis ich meinen Freund und Gefährten entdeckte. Er saß mit dem Rücken zu mir an seinem Experimentiertisch.

„Ein klassisches Beispiel für selektive Wahrnehmung, mein Lieber“, dozierte er in seiner schulmeisterlichen Art. „Sie konnten mich nicht sehen, weil …“

„… weil ich nicht erwartet hatte, Sie zu sehen“, schnitt ich ihm das Wort ab. „Das ist nun wirklich nicht der Rede wert, Holmes. Ist es das, was Sie derzeit fesselt? Selektive Wahrnehmung?“ Ich setzte mich und schenkte mir Kaffee ein. „Möchten Sie vielleicht auch eine Tasse?“, fragte ich nicht ohne ironischen Unterton. „Allerdings, so kurz vor dem Schlafengehen …“

„Einen Augenblick! Ihnen fehlt die Zeitung zum Kaffee.“ Er griff auf den neben ihm stehenden Hocker und warf sie mir zu.

Ich legte den Daily Telegraph auf den Esstisch, biss in meinen mit Schinken belegten Toast und aß eine Gabel Rührei.

„Ziemlich deftige Kost in Anbetracht der derzeitigen Hitze, würde ich meinen.“

„Mir steht eben der Sinn danach, Holmes. Wollen Sie mir nicht noch ein wenig Gesellschaft leisten? Ich war gestern übrigens in meinem Club.“

Er stand auf und blieb vor mir am Esstisch stehen. Seine stechenden Augen musterten erst mich und dann den Raum gründlich.

„Sie haben Billard gespielt, und zwar durchaus erfolgreich, wie sich unschwer erkennen lässt. Anschließend haben Sie noch ein wenig gefeiert, waren also bester Dinge.“

„Holmes, keine Spielchen! Ja, ich habe tatsächlich Billard gespielt. Was hat mich dieses Mal verraten? Die blaue Kreide des Queues?“

„An Ihrem Jackett.“ Er deutete auf das Kleidungsstück, das an der Garderobe hing. „Und unter Ihrem Fingernagel des rechten Daumens finden sich ebenfalls Partikel dieses unverkennbaren Blautons. Man sieht es natürlich nur, wenn man danach Ausschau hält.“

„So viel zur selektiven Wahrnehmung. Und Sie haben natürlich die gestapelten Münzen auf dem Sekretär gesehen“, kam ich ihm zuvor.

„Ich habe mir zudem erlaubt, kurz Ihren Gewinn zu überschlagen.“

Ein flüchtiges Grinsen umspielte seine Lippen, als er zum Kamin ging und seine Meerschaumpfeife vom Sims nahm. Er schien jetzt bereit, so gut kannte ich ihn mittlerweile, Einzelheiten seines neuen Falls zu berichten.

Mrs Hudson brachte das Frühstück für meinen Freund. Demnach war sie ihm bei seiner Heimkehr im Hausflur begegnet. „Mister Holmes, den Daily Telegraph haben Sie ja bereits mitgenommen. Im Eingang steht aber noch dieser Koffer. Was haben Sie damit vor? Ich meine, er sollte nicht länger dort herumstehen.“

„Danke, Misses Hudson. Ich kümmere mich darum.“ Er leerte seine Tasse und war auch schon aus der Tür. „Bin gleich zurück, Watson!“, rief er uns von der Treppe aus zu.

Nur wenige Augenblicke später stand er mit einem edlen, mittelgroßen Lederkoffer im Wohnraum. Er setzte sich wieder neben mich, goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein und wartete, ohne einen Bissen seines Frühstücks anzurühren oder ein weiteres Wort zu verlieren, bis ich meine Morgenmahlzeit beendet hatte.

„Sie sind jetzt so weit?“, fragte er mich und schob das Geschirr zur Seite. Dann stellte er den Koffer auf den Tisch, öffnete den Deckel und machte eine ausladende Geste.

„Soll das wieder einmal eine Demonstration Ihrer deduktiven Fähigkeiten werden?“

„Nein. Ich stehe lediglich zur Verfügung, wenn Sie etwas übersehen sollten.“

„Was wollen Sie damit demonstrieren? Dass ich weniger genau beobachte als Sie? In Gottes Namen, Holmes!“ Die leichte Verärgerung in meiner Stimme war sicherlich nicht zu überhören.

„Ich erinnere mich noch gut an den Hut von Henry Baker und den Gänse-Club“, sagte ich knapp und musste ob der Erinnerung an diese Episode doch schmunzeln.

Holmes war aufgestanden, besah mit seiner Lupe eine der Ecken des Koffers und begann in der ihm unverwechselbaren Art zu dozieren: „Dies ist übrigens der einzige Hinweis auf den verschwundenen Regierungsbeamten Lionel Preston. Er sollte letzten Montag in einer wichtigen diplomatischen Mission nach Paris reisen. Heute ist Freitag, und der Mann scheint wie vom Erdboden verschluckt. Nur diesen leeren Lederkoffer hat man im Zug von London nach Dover am Fuße seines reservierten Platzes gefunden. Misses Preston hat mittlerweile bestätigt, dass es sich um den Koffer ihres Mannes handelt. Scotland Yard ist ratlos. Mycroft hat mich übrigens gleich am Dienstagmorgen eindringlich darum gebeten, mich unverzüglich in den Dienst des Empires zu stellen. Es hänge nicht weniger als die Sicherheit unseres Landes und halb Europas vom Inhalt des verschwundenen Schreibens ab.“

„Was genau war denn Prestons Auftrag in Paris?“

„Nun, er hatte eine schriftliche Stellungnahme unserer Regierung zu den neuesten Richtlinien der Bündnispolitik auf dem Kontinent bei sich. Ein versiegeltes Dokument, das es der französischen Regierung zu überbringen galt. In den falschen Händen könnte es unabsehbare Folgen haben. Außer ein paar der führenden Köpfe unserer Regierung kannte niemand den Auftrag des Diplomaten, geschweige denn den Inhalt des Briefes.“

„Das klingt nach einer Katastrophe europäischen Ausmaßes, Holmes!“

„Da haben Sie zweifellos recht. Es erinnerte mich auf Anhieb an den leidigen Vorfall mit dem Flottenvertrag. Sie wissen doch, Ihr Schulfreund Percy Phelps. Die Lage schien damals ebenso aussichtslos.“

Ich nickte. „Das heißt, Sie haben noch Hoffnung.“

„Das wäre eine Übertreibung, Watson. Dennoch, der Koffer bietet einige hochinteressante Hinweise, die wiederum ein gewisses Maß an Hoffnung zulassen.“

Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch dieser Lederkoffer erschien mir so wenig außergewöhnlich wie damals der Hut von Henry Baker.

„Unser Objekt“, berichtete Holmes währenddessen weiter, „stand, wie ich ja schon erwähnt habe, in Prestons Abteil. Man hat versucht, Fahrgäste ausfindig zu machen, die den Diplomaten gesehen haben, aber ohne Erfolg. Die Fähre nach Frankreich hat er wohl nicht bestiegen. Scotland Yard überprüft jedes Hotel an der Südküste und führt zudem Kontrollen durch.“

„Wollen Sie etwa andeuten, dass uns der Koffer auf die rechte Spur bringen wird, Holmes?“

Er sah mich an und verzog die Mundwinkel zu einem leichten Lächeln. „Versuchen Sie es, Watson. Ich werde mir jede Art von abfälligen Bemerkungen verkneifen.“

„Kommen Sie. Ihre Eitelkeit kennt in solchen Momenten keine Grenzen“, erwiderte ich. Dennoch näherte ich mich dem Gepäckstück und untersuchte zuerst, ob es irgendwelche Schäden gab.

„Eine Abschürfung am Deckel, hinten links“, unterbrach mich Holmes. „Sonst ist der Koffer unversehrt, bis auf …“

„Holmes! Wenn Sie mich schon zu Versuchszwecken benötigen, dann schweigen Sie wenigstens, bis ich mit meiner Begutachtung fertig bin.“ Ich öffnete den Deckel und besah das mit feinem Stoff in Paisleymuster ausgeschlagene Innere. „Das hier, Holmes …“ Ich deutete auf eine erbsengroße, bräunliche Verfärbung. „Das scheint mir getrocknetes Blut zu sein.“

„Ausgezeichnet, mein Lieber! Ja, das ist in der Tat getrocknetes Blut.“

„Etwa von Preston?“, fragte ich.

„Eine interessante Annahme.“ Holmes ging zum Fenster, breitete die Arme aus und gähnte.

Weiterhin stellte ich fest, dass es zwei leere Innentaschen gab. Bei einer war das Futter leicht eingerissen. Aber der Koffer verbarg noch mehr, wie mir schien. „Man hat am Griff etwas entfernt, denn dort ist das Leder etwas heller. An dieser Stelle war wohl das Adressschild befestigt.“

„Bravo, Watson! Und was sagt Ihnen das?“

„Dass die Identität des Eigentümers verheimlicht werden sollte.“

Holmes schüttelte resigniert den Kopf. „Bitte, Watson … Natürlich stimmt das, aber man tut gut daran, auch über das Offensichtliche hinauszudenken. Ein klein wenig mehr Esprit ist an diesem Punkt schon vonnöten.“

„Das Namensschild“, startete ich einen weiteren Versuch, „und alle weiteren Indizien wurden von seinen Entführern entfernt, um keinen Hinweis auf Prestons Verbleib zu hinterlassen.“

„Von seinen Entführern? Haben Sie einen Hinweis darauf gefunden, dass Preston entführt wurde? Hätte man dann nicht auch den Koffer verschwinden lassen?“

Ich begann, meinen womöglich voreiligen Schluss noch einmal zu überdenken, und antwortete mit einer Gegenfrage: „Gibt es denn überhaupt noch etwas zu entdecken, Holmes?“

„Ich würde Sie wohl kaum weitersuchen lassen, wenn Sie das entscheidende Indiz schon gefunden hätten. Nur so viel: Das entfernte Namensschild spielt tatsächlich eine wichtige Rolle. Allerdings übersehen Sie das Eigentliche.“

Nach einer ausgedehnten Untersuchung fiel mir doch noch etwas auf, allerdings erschien mir der Tatbestand eher nebensächlich. „Es fehlt ein kleiner Nagel am Beschlag des Deckels.“

„Ausgezeichnet, mein Lieber! Und was folgern Sie daraus?“

Ich konnte mir nicht im Entferntesten vorstellen, warum dies ein wichtiges Indiz sein sollte. Ich starrte wie gebannt auf den Koffer, schüttelte schließlich den Kopf und entschloss mich, die Flucht nach vorn anzutreten. „Holmes, wenn ich mich recht entsinne, bin ich Arzt, aber kein Detektiv. Und ich würde meinen, dass ich bereits einiges aus diesem leblosen Kasten herausgelesen habe.“

„Das haben Sie, werter Doktor, das haben Sie. Aber wie so häufig sind es nur Spekulationen. Nicht eine sinnvolle Verknüpfung von zwei gemachten Beobachtungen ist Ihnen gelungen. Außerdem haben Sie in keinerlei Weise die Informationen, die ich Ihnen über Preston gab, mit einbezogen.“

Ich hob abwehrend die Hände. „Dann zeigen Sie mir eben, dass Sie es besser können.“

Die Schärfe in meiner Stimme ließ ihn aufhorchen, denn obwohl er bereits vor dem Koffer stand, brach er ab und wandte sich mir zu. „Entschuldigen Sie meine Ungeduld, Watson. Also, was können Sie mir noch über den verschwundenen Lionel Preston sagen?“

„Er ist wohlhabend und gewissenhaft, denn ein solcher Koffer kostet eine Menge Geld. Er bedarf der sorgfältigen Pflege, sonst sieht ein solches Stück schnell recht mitgenommen aus.“

„Aha, sehr gut. Und was noch?“

Ich fühlte mich ob der Zustimmung meines Freundes beflügelt. „Ich bleibe dabei, dass man Preston entführt hat. Der Koffer wurde als Lebenszeichen zurückgelassen.“

„Entführt, sagen Sie … Soll demnach unsere Regierung erpresst werden?“

Die leichte Ironie in seiner Stimme kannte ich nur zu gut. Ich hielt mich jedoch nicht mit seiner Bemerkung auf und führte meinen Gedanken weiter aus. „Ich denke, man hat das Adressschild entfernt, um Zeit zu gewinnen. Man wollte wohl nur in die Mission eingeweihte Personen aus Regierungskreisen auf die Entführung aufmerksam machen.“

„Nicht uninteressant, mein Lieber. Nur, warum einen Koffer zurücklassen, wenn man ohnehin mit den entsprechenden Stellen in Kontakt treten wird?“

Es fiel mir schwer, etwas dagegen vorzubringen.

„Watson, Sie haben die Fakten in eine von Ihnen vorab in Gedanken formulierte Idee hineingezwängt. Ihre Folgerungen sind nicht ohne logische Konsequenz, rein formal gesehen, aber Sie lassen die wahren Gegebenheiten außer Acht. Sie arbeiten nicht wirklich deduktiv, sondern induktiv, soll heißen …“

„Ich weiß, was das heißt, Holmes!“ Ich war selbst überrascht ob meines recht brüsken Tons und fuhr fort: „Es gibt da eine Sache, die ich Ihnen schon lange einmal sagen wollte.“

Er sah mich fragend an. „Ja?“

Ich stand vom Tisch auf, ging ein paar Schritte in Richtung Zimmermitte und drehte mich mit einem Mal zu ihm um.

„Watson, jetzt sagen Sie schon, was Ihnen offenkundig bereits seit geraumer Zeit auf der Seele brennt.“

„Ich möchte nicht harsch erscheinen, Holmes, aber Ihr Gerede über Fakten, genaue Beobachtung und all das … na ja, das ist Augenwischerei, keine wirkliche Deduktion.“

„Watson!“

Er schien wirklich aufgebracht, weshalb ich versuchte, ein wenig zu beschwichtigen. „Natürlich arbeiten Sie auch deduktiv, aber sind Hypothesen und Vermutungen nicht unvermeidlich? Sie denken nicht anders wie jeder andere, nur sind Sie unendlich viel genauer in Ihren Beobachtungen, Analysen und den Schlüssen, die Sie daraus ziehen. Und das ergibt dann die perfekte Symbiose aus induktivem und deduktivem Denken, mit einer besonderen Affinität für die Deduktion.“

Holmes stand da, den Mund leicht geschürzt, und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, was eine gewisse Erregung verriet. Minutenlang geschah nichts. Schließlich blickte er erst den Koffer, dann mich an und sagte: „Vielleicht kommen wir jetzt wieder zum eigentlichen Gegenstand unseres Interesses. Hören Sie einfach nur zu, mein Lieber.“

Er ging um den Tisch herum und blieb dahinter stehen. Dann hielt er seine Hände fast beschwörend über den Koffer und deutete auf die Abschürfung an der linken Ecke des Deckels. „Hinweis Nummer eins. Das sind frische Kratzer, nicht älter als ein paar Tage. Das können Sie unschwer an den Fasern des Leders erkennen, die noch abstehen.“ Er hielt mir seine Lupe hin, doch ich winkte ab. „Im Zug sind diese Spuren nie und nimmer entstanden. Das heißt, der Koffer fiel und wurde für einen kurzen Moment über den Boden gezogen. Können Sie mir folgen?“

Er sprang gänzlich unvermittelt auf, eilte zu seinem Experimentiertisch, griff eine Pinzette und kam wieder zurück. „Und wenn Sie genauer hinsehen, finden wir geringe Reste Erde. Es handelt sich einwandfrei um sandige, rote Erde. Kaum zu erkennen, aber sehen Sie selbst. Diesen Erdtyp findet man nur in einem Teil von ganz London.“

„Im Nordwesten, hier ganz in der Nähe.“ Natürlich erinnerte ich mich an einen unserer ersten gemeinsamen Fälle: Das Zeichen der Vier.

„Ganz genau, Watson. Wir wissen, dass Lionel Preston den Zug um 7.10 Uhr am Montagmorgen von der Victoria Station aus genommen haben soll.“

„Haben soll? Was wollen Sie damit andeuten?“, hakte ich nach, doch wie so häufig, wenn er in einen Gedanken vertieft war, bekam ich keine Antwort auf die gestellte Frage.

„Wieso also befand sich der Koffer von Lionel Preston im Nordwesten Londons?“, sprach Holmes einfach weiter. „Diese Frage ist von wesentlicher Bedeutung. Preston wohnt südlich des Bahnhofs in der High Street, nicht weit von der Victoria Station entfernt. Es macht doch auf den ersten Blick keinen Sinn, dass sich der Koffer noch vor seiner Abreise ein ganzes Stück weiter nordwestlich befunden hat. Was sagt Ihnen das?“

„Na, da bleibt einem doch nur, eine Vermutung anzustellen und intuitiv mit den gesammelten Fakten zu arbeiten“, erwiderte ich.

Holmes grinste mich wissend an, ignorierte jedoch meine Bemerkung. „Sehen Sie sich das hier bitte noch einmal an. Es dürfte der entscheidende Hinweis auf den Verbleib des Diplomaten sein.“ Er legte den Finger direkt neben die Stelle, wo sich der Nagel befunden hatte, der wohl im Laufe der Zeit aus dem Beschlag herausgefallen war. Ich griff nach seiner Lupe und versuchte etwas – irgendetwas – zu erkennen, aber bis auf ein paar wenige Kratzer am Rand des Beschlages war absolut nichts zu entdecken. Holmes trat mit einem Skalpell in der Hand zu mir.

„Was wollen Sie dann damit?“, fragte ich ihn.

„Passen Sie auf!“, entgegnete er, schob die Klinge unter den Messingbeschlag und hebelte diesen mit zwei schnellen Bewegungen vom Koffer. Darunter kam ein zusammengefalteter Zettel zum Vorschein.

Ich traute meinen Augen nicht. „Woher wussten Sie, dass sich etwas darunter verbergen würde?“

„Watson, was genau sagt uns dieser Zettel?“

„Dass Preston weiß, was er tut?“, mutmaßte ich.

Holmes hob den Zeigefinger und nickte.

„Aber was ist mit dem Blutfleck?“, wollte ich wissen.

„Er muss sich beim Entfernen des Beschlages verletzt haben.“

Ich versuchte, die Fakten ein weiteres Mal durchzugehen. Preston war also im Zug von London nach Dover verschwunden. Nur den Koffer hatte man gefunden. „Bevor Preston entführt wurde … oder besser gesagt, verschwunden ist, hat er einen Hinweis auf einen Zettel geschrieben und unter dem Beschlag versteckt?“

„Das scheint auf den ersten Blick naheliegend, erweist sich aber bei genauerer Überlegung als unsinnig.“

Ich kam nicht weiter. Holmes hatte in der Zwischenzeit das Papier geöffnet.

„Was steht auf dem Zettel, Holmes?“

„Das sieht nach einem Gepäckaufbewahrungsschein aus, Watson“, bemerkte er knapp.

Es dauerte einen Moment, bis ich den Sinn seiner Worte erfasst hatte und antworten konnte. „Aber wieso denn ein Gepäckaufbewahrungsschein? Steht nichts Handschriftliches darauf, keine Anweisung?“

„Nein, keine Silbe.“

Ich überlegte. Wieso hatte Preston den Koffer in der Gepäckaufbewahrung deponiert und dann wieder abgeholt? Wie lange hatte der Koffer dort gelegen? Bedeutete das womöglich, dass der Diplomat etwas geplant hatte, noch bevor er die Reise nach Paris antrat? Mir schwirrte der Kopf Holmes fingerte unterdessen Tabak aus seinem persischen Pantoffel und stopfte eine seiner Pfeifen. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass er genau wusste, welches die nächsten Schritte sein mussten. Am liebsten hätte ich ihm zu verstehen gegeben, seine Spielerei auf der Stelle zu beenden, aber meine Neugierde war zu groß.

„Ich denke, wir sollten aufbrechen“, meinte er unvermittelt.

„Zur Gepäckaufbewahrung?“, fragte ich, ohne zu wissen, welcher Bahnhof gemeint sein könnte.

„Manchmal sind die Dinge genauso offensichtlich, wie sie aussehen. Auf zur Victoria Station!“

Wir brachen per Kutsche in Richtung Bahnhof auf. Dort angelangt, durchschritten wir die herrschaftliche Halle und kamen durch eine Tür zur Gepäckaufbewahrung. Holmes legte den Gepäckschein auf den Tisch. Der Bahnbeamte, ein etwas schwerfälliger älterer Mann, musterte ihn kurz, nickte und verschwand zwischen den langen, tief ins Innere des Bahnhofs reichenden Gepäckregalen. Schließlich kam er mit einem Lederkoffer zurück, der dem in der Baker Street bis auf die Größe auf das Genaueste zu gleichen schien. Ich war sprachlos.

„Ich müsste wissen, wann das Gepäckstück hier deponiert wurde“, sagte Holmes.

Der Mann griff zu einem Registerband. „Moment … hier hab ich es. Letzten Sonntag, am späten Nachmittag. Genau um halb sechs Uhr, Sir.“

Diese Information schien sich mit den Erwartungen meines Freundes zu decken.

„Darf ich Sie noch nach Ihrem Namen fragen?“

„Kippler, Sir. Jonathan Kippler.“

„Ich danke Ihnen, Mister Kippler.“

„Nichts zu danken, Sir.“

„Holmes, wollen Sie ihn nicht nach dem Aussehen des Mannes fragen, der den Koffer hier deponiert hat?“, bemerkte ich einigermaßen verwirrt.

„Es besteht nicht der geringste Zweifel, Watson, dass es Lionel Preston selbst war, der das Gegenstück zu unserem Koffer hier aufgegeben hat. Es ist ein klarer Hinweis darauf, dass der Diplomat noch lebt und sich versteckt hält.“

„Also wurde er nicht entführt?“

„Wie ich Ihnen schon sagte, ganz sicher nicht! Watson, wieder einmal ist Ihnen das Naheliegende entgangen. Preston selbst hat sein Verschwinden inszeniert, und zwar aus Angst davor, dass man ihn entführen oder ermorden könnte. Er ist seinen Widersachern offensichtlich zuvorgekommen. Das bedeutet jedoch, dass es nicht um den Brief ging, denn diesen hätte er noch rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Dies wiederum lässt eigentlich nur eine Deutung zu, auch wenn sie im ersten Moment recht ungewöhnlich zu sein scheint.“

„Wie sagen Sie immer, Holmes?“, unterbrach ich ihn. „Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.“

Er nickte und führte seinen Gedanken weiter aus. „Preston muss etwas erfahren haben, das ihn von der einen auf die andere Sekunde zu einem gefährlichen Mitwisser machte. Ein Mann in seiner Position erfährt häufiger, als es ihm lieb sein kann, Dinge, die sein Leben gefährden. Er versucht uns – und auf diesem Wege die britische Regierung – darüber zu informieren.“

Ich verstand mittlerweile gar nichts mehr.

„Der Gepäckschein, der auf den zweiten Koffer verweist“, setzte mein Gefährte ein zweites Mal an. „Wer außer Preston sollte einen Grund dafür haben, ein solch kompliziertes Versteckspiel zu betreiben? Sie wissen, warum der verschwundene Diplomat all diese Anstrengungen unternommen hat?“

„Ich hatte wirklich angenommen, dass er die Papiere schützen wollte.“

„Wie gesagt, es geht natürlich auch um die Papiere, aber das war gewiss nicht der entscheidende Grund für all diese Mühen. Ich würde sogar behaupten wollen, dass es ihm nicht einmal um seine eigene Sicherheit ging. Und doch scheint sein Überleben von maßgeblicher Bedeutung.“

Ich konnte mich nur darüber wundern, wie Holmes zu dieser geradezu aberwitzigen Bemerkung kam, dem Diplomaten sei es zwar nicht um die eigene Sicherheit, wohl aber um sein Überleben gegangen. Das schien mir blanker Unsinn zu sein. Preston hatte doch ganz offenkundig den versiegelten Brief mit den Instruktionen der Regierung geschützt.

Als wir die Victoria Station verließen und auf den weitläufigen Vorplatz traten, fragte ich: „Holmes, sollten wir uns nicht erst einmal den Inhalt dieses Koffers ansehen?“

„Zweifelsohne werden wir darin verschlüsselte Hinweise finden. Und es dürfte sich wohl kaum um den abgeschnittenen Daumen des Diplomaten handeln.“ Er konnte sich ein kurzes Auflachen nicht verkneifen.

„Wie überaus amüsant, Holmes!“

„Und doch müssen wir uns beeilen, denn wir sind ganz sicher nicht die Einzigen, die Preston auf der Spur sind.“

„Sind wir nicht?“

„Nein, natürlich nicht. Wieso, denken Sie, wäre Preston sonst verschwunden? Wie gesagt, der versiegelte Brief kann nicht der Grund gewesen sein.“

„Weil er den zweiten Koffer schon am Sonntag vor seiner Abreise deponiert hat“, entgegnete ich.

„Exakt, Watson. Er hätte zu diesem Zeitpunkt noch genügend Möglichkeiten gehabt, den Brief einem Regierungsbeamten zukommen zu lassen, um damit jedes Risiko zu vermeiden, dass das Schriftstück in die falschen Hände gerät.“

„Das leuchtet ein.“

„Preston muss an eine äußerst wichtige Information gelangt sein, die er wohl nur lebendig überbringen kann, wenn ich das einmal so ausdrücken darf.“

„Sie meinen also, er hat irgendetwas gesehen.“

„Oder gehört. Deshalb hat er sich versteckt und hofft, dass jemand die Hinweise auf sein Versteck richtig deutet.“

„Und dieser Jemand sind Sie, Holmes?“

„Davon gehe ich aus.“

„Na, dann …“

Wir nahmen eine Kutsche zurück zur Baker Street. Mein Gefährte klopfte auf den Koffer und sah mich an. „Ich denke, wir werden in Kürze erheblich klarer sehen.“

„Das wäre wünschenswert. Brauchen Sie mich denn überhaupt noch? Oder fungiere ich nur als Claqueur für Ihre ausgeprägte Selbstherrlichkeit?“

Die Kutsche hielt und wir stiegen aus. Die angenehme Wärme der ersten Morgenstunden hatte sich in eine schwüle Hitze verwandelt, weshalb wir in aller Eile unsere Räume aufsuchten. Nachdem die Fenster verdunkelt waren, widmeten wir uns dem zweiten Koffer, der wie der kleinere Bruder des ersten wirkte.

Holmes deutete auf den Beschlag links hinten auf dem Deckel und sagte: „Hier fehlt kein Nagel.“ Er betrachtete mit genauem Blick den Messingbeschlag, öffnete den Koffer und gab mir zu verstehen, dass keine Kratzspuren auf dem Metall zu sehen seien. „Folglich findet sich dort auch kein Papier.“

Im Koffer fanden wir einen schmalen Streifen einer Buchseite, auf der nur ie sieben Wei zu lesen war.

„Es handelt sich ohne jeden Zweifel um das Stück eines Vorsatzblattes eines Buches. Preston hat den Rest entfernt. Offenkundig vertraut er auf unsere Allgemeinbildung. Enttäuschen wir ihn also nicht.“

Obgleich ich darauf brannte, diesen Fall so rasch wie möglich zu einem guten Ende zu bringen, konnte ich mir eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen, als Holmes sich nach einer Weile in seinen Lehnstuhl vergrub, die Beine anzog und an seiner Pfeife schmauchte. Plötzlich jedoch funkelten seine Augen. Er richtete sich auf, hob die rechte Hand, als müsse er sich Gehör verschaffen, und holte tief Luft.

„Holmes, Sie sprechen nicht vor dem britischen Oberhaus!“, fuhr ich dazwischen. „Etwas weniger Theatralik würde nichts schaden.“

„Die sieben Weisen, Watson!“, rief er aus.

Ich sah ihn erstaunt an.

„Das erste seiner zehn Bücher. Sie stimmen mir doch zu?“

„Ich glaube, Sie verlieren allmählich den Verstand.“

„Kommen Sie, Doktor! Sie kennen den Autor des Buches.“

Ich überlegte. Die sieben Weisen. Der Titel kam mir tatsächlich bekannt vor. „Ein klassischer Text“, vermutete ich.

Mein Gefährte nickte mehrfach.

„Wahrscheinlich das Werk eines griechischen Philosophen oder Historikers“, sinnierte ich weiter. Mit einem Mal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Diogenes!“

„Diogenes. Exakt, Watson. Ein Hinweis auf meinen werten Bruder, der ja sein halbes Leben im Diogenes Club verbringt. Das Foreign-Office. Hier liegt die Verbindung zu meinem Bruder und zu mir.“ Er rieb sich vergnügt die Hände, er war in seinem Element. „Preston wusste also, dass ich seiner Spur nachgehen würde.“

„Klingt plausibel“, sagte ich.

„Ist plausibel“, verbesserte er mich. „Preston muss Zeuge von etwas geworden sein, das sein Leben von der einen auf die andere Sekunde aus der Bahn warf. Sein Widersacher scheint zu allem entschlossen. Allerdings hat er unterschätzt, wie schnell der Diplomat die Gefahr erkennen und darauf reagieren würde.“ Holmes fischte, über den Koffer gebeugt, eine Streichholzschachtel aus einer der Innentaschen und reckte sie wie eine Trophäe in die Höhe. „Aus der Bar des Criterion, Watson!“

„Dort habe ich doch damals Stamford getroffen, der mir davon berichtete, dass Sie einen Zimmergenossen suchen würden. Ist das aber ein Zufall!“

„Das ist natürlich kein Zufall, alter Junge. Es ist vielmehr die Bestätigung dessen, was ich Ihnen eben gesagt habe. Preston weiß, dass wir auf der Suche nach ihm sind. Ihnen ist sicherlich aufgefallen, dass sich die Wichtigkeit der Indizien nach der Schwierigkeit richtet, sie zu finden. Der erste Hinweis lag offen im Koffer, der zweite Hinweis in einer der Innentaschen. Ich bin überzeugt davon, dass es noch einen dritten, und zwar den entscheidenden Hinweis gibt.“ Holmes untersuchte jede Ecke des Koffers auf das Sorgfältigste – vergeblich. Schließlich griff er zu seiner Lupe. „Das kann nicht sein. Er muss uns noch einen Hinweis hinterlassen haben, sonst würde das alles keinen Sinn ergeben.“

„Vielleicht müssen wir uns im Diogenes Club oder in der Bar des Criterion umsehen“, gab ich zu bedenken.

Holmes' Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. „Nein, keine Chance, Watson“, meinte er schließlich und schüttelte den Kopf. „Möglicherweise müssen wir Mycroft hinzuziehen. Er kennt Preston besser als wir. Wenn er allerdings …“ Er unterbrach sich, klappte den Koffer zu, stellte ihn auf und überlegte. „Natürlich, was denn sonst?“, sagte er plötzlich und deutete auf das lederne Adressschild, das bei dem anderen Koffer fehlte. „Ist es tatsächlich so einfach, wie ich vermute?“

Behände zog er das weiße Papier mit den vorgedruckten Linien für Name, Straße und Stadt hervor und drehte es um. Zu meiner Verblüffung stand dort 221B Baker Street, Mittag, sowie das heutige Datum. Ich sah auf meine Uhr. Es war zehn vor zwölf. „Jetzt heißt es warten und dann strategisch geschickt vorgehen, damit wir den Diplomaten nicht durch eine Unachtsamkeit in Gefahr bringen“, bemerkte Holmes, zog eine Zigarette aus seinem silbernen Etui und bot mir ebenfalls eine an.

„Soll das etwa heißen, Preston kommt hierher?“

„Angesichts der Tatsache, dass sein Widersacher ein äußerst gefährlicher Mann sein dürfte, wäre das wohl keine sonderlich gute Idee. Warten wir einfach noch einen Moment ab, dann wird sich der Nebel fraglos lichten.“

Um drei Minuten nach zwölf klingelte es. Kurz darauf kam Mrs Hudson mit zwei Telegrammen zur Tür herein.

Holmes las beide und pfiff durch die Zähne. „Wundern Sie sich nicht, mein Lieber. Eines ist von Mycroft. Und das andere …“ Er streckte mir das Papier hin. „… ist ein nicht unspektakuläres, aber lösbares Rätsel, würde ich meinen. Oder was denken Sie, Watson?“

„Jona. Zur selben Zeit“, las ich laut vor. „Ein lösbares Rätsel, Holmes? Ist das Ihr voller Ernst?“

„Denken Sie daran, dass es an uns gerichtet ist und demnach etwas sein muss, dass nur wir beide verstehen sollen. Denn nur wir haben die Koffer.“

„Die Koffer“, wiederholte ich laut. „Aber was hat das mit dem Aufenthaltsort von Preston zu tun?“

„Er befindet sich … oder kommt … an einen Ort, den wir bereits kennen. Und es muss ein Ort sein, der mit den Ereignissen der letzten Tage zu tun hat. Nur so viel, mein Lieber: Es sind nicht der Diogenes Club oder die Bar des Criterion.“

„Jona … Jona? Das ist doch aus dem Alten Testament“, redete ich vor mich hin. „Ist dieser Jona nicht geflohen, weil er sich geweigert hatte, einen Auftrag Gottes zu erfüllen?“

„Das beschreibt doch Prestons Situation ganz ausgezeichnet, oder finden Sie nicht?“ Holmes amüsierte sich offensichtlich. „Dieser Mann hat Format, Watson. Erst der Hinweis mit dem Diogenes-Buchtitel und jetzt das Alte Testament. Aber wir müssen konkret denken, denn wir suchen einen ganz bestimmten Ort.“

„Wird Jona nicht ins Meer geworfen und von einem riesigen Fisch verschlungen, in dessen Bauch er drei Tage ausharrt?“

„Und er betet“, fügte Holmes schmunzelnd hinzu.

Ich fand seinen Scherz einigermaßen unpassend, was ich ihm auch zu verstehen gab.

„Der Bauch des großen Fisches, der Bauch der Stadt. Was könnte damit gemeint sein? Alles steht in Zusammenhang mit einem Koffer.“

„Ein Bahnhof!“, rief ich aus. „Mit etwas Phantasie könnte man eine Bahnhofshalle mit einem Bauch vergleichen.“

„Sie erreichen in bestimmten Momenten eine gewisse Meisterschaft, die mir Respekt abverlangt, mein Lieber. Ja, ich denke, dass dies summa summarum die einzig schlüssige Lösung sein dürfte. Nur der Bahnhof ist der Ort, von dem wir sicher wissen, dass Preston ihn aufgesucht hat. Und die Worte zur selben Zeit legen nahe, dass wir wissen, wann Preston dort war.“

Holmes ging zum Fenster und lugte seitlich an der Jalousie vorbei auf das Treiben unten in der Baker Street. Dann lief er mehrfach in unserem Wohnzimmer auf und ab und blieb schließlich unvermittelt stehen. „Also Victoria Station, die Gepäckaufbewahrungsstelle. Und zwar um halb sieben heute Abend. Ich muss noch ein paar Telegramme schreiben und verschiedene Maßnahmen einleiten. Wenn Sie mich bitte für die kommenden Stunden gänzlich ignorieren könnten, wäre ich Ihnen dankbar.“

Ich ging, um einige Besorgungen zu machen. Unter anderem musste ich meinen zur Neige gehenden Vorrat von Nagy-Cut-Tabak aufstocken. Als ich gegen halb sechs Uhr wieder unser Wohnzimmer betrat, saß Holmes im Schneidersitz auf einem großen Kissen. Ich konnte gerade noch seine Umrisse erkennen, denn er war fast zur Gänze in dunkle Nebelschwaden gehüllt. Er hatte die Augen geschlossen, die Hände lagen auf seinen Oberschenkeln. Grußlos ging ich weiter in mein Zimmer und kam erst wieder heraus, als er mich rief und mir verkündete, dass wir in den nächsten fünf Minuten aufzubrechen hätten, wollten wir Preston rechtzeitig zu Hilfe kommen.

„Sie haben Ihren Revolver?“, fragte Holmes.

„Selbstverständlich!“

„Gut, dann lassen Sie uns aufbrechen. Lestrade wird uns mitnehmen. Mycroft wird übrigens ebenfalls zugegen sein. Er wird tatsächlich seinen geliebten Diogenes Club einmal verlassen, schon allein das zeigt die Bedeutung dieser Rettungsaktion.“

Als wir auf die Baker Street hinaustraten, fuhr eine Polizeikutsche vor. Inspektor Lestrade begrüßte uns, und im nächsten Moment waren wir auf dem Weg zur Victoria Station.

„Haben Sie meine Instruktionen befolgt, Lestrade?“

„Keine Sorge, Holmes, es wurden alle Anweisungen ausgeführt. Und Sie meinen, dass dieser verschwundene Diplomat mitsamt dem Brief dort auftauchen wird?“

Sherlock Holmes nickte und schloss die Augen. Lestrade sah mich ein wenig irritiert an, doch ich gab ihm zu verstehen, dass er ihn am besten nicht ansprechen solle.

Während wir uns allmählich dem Bahnhof näherten, wiederholte Holmes mit geschlossenen Augen nochmals seine Anweisungen und sagte dann: „Es wird nicht einfach sein, Preston in Sicherheit zu bringen. Die mutmaßlichen Täter sind gut informiert und dürften wissen, dass er sich im Bahnhof aufhält.“

„Und der Mann, der hinter dieser kriminellen Machenschaft stecken soll, heißt Professor James Moriarty?“, fragte Lestrade. „Ich habe noch nie etwas von ihm gehört.“

„Kennen Sie das Buch Die Dynamik eines Asteroiden? Ein außergewöhnliches, geradezu brillantes Werk der abstrakten Mathematik. Es stammt von Professor Moriarty. Ein genialer Kopf, möchte man meinen, nur mit seinen moralischen Prinzipien ist es nicht allzu gut bestellt. Es muss uns einfach gelingen, Preston vor seinen Häschern zu retten. Er hat sein Schicksal in unsere Hände gelegt. Ganz abgesehen davon wäre es ein erster Schritt, um dem Professor näher zu kommen. Er sitzt unbeweglich wie eine Spinne in seinem Netz und zieht die Fäden von langer Hand.“

„Woher wissen Sie denn das, Holmes?“, wollte der Inspektor wissen.

„Sein Name ist mir im Laufe der letzten Zeit immer wieder begegnet, aber ich konnte bislang noch nie eine direkte Verbindung zwischen ihm und einem Verbrechen herstellen. Moriarty ist ein wahrer Meister, wenn es darum geht, seine Spuren zu verwischen. Wie ich übrigens mittlerweile herausgefunden habe, war Preston am Samstagmorgen auf einem Wohltätigkeitsdinner eingeladen. Moriarty war ebenfalls unter den geladenen Gästen. Ein Blick auf die Gästeliste und die Sitzordnung …“

Die Kutsche hielt. Holmes schickte den Inspektor und einen weiteren Beamten ins Bahnhofsgebäude; sie sollten die Eingangshalle im Auge behalten. Wir stiegen kurz nach ihnen aus und liefen in Richtung Hintereingang. Plötzlich zog mich Holmes in eine der Nischen des Gebäudes, wo wir unbeobachtet waren.

„Watson, denken Sie bitte nicht, ich würde übertreiben“, sprach er mit ernster Stimme auf mich ein. „Eigentlich kann niemand den Diplomaten aufgespürt haben, so vorsichtig wie dieser vorgegangen ist. Und doch bin ich davon überzeugt, dass die Bande um den Professor exakt in dieser Minute den Bahnhof genau beobachtet, nur darauf wartend, dass Preston sich zeigt. Es muss uns gelingen, sie mit einer Finte zu verwirren.“

Ich lauschte gespannt Holmes' Ausführungen, wunderte mich aber über die Eindringlichkeit seiner Worte und den Eifer, mit dem er mir die Situation erläuterte.

„Was soll ich jetzt tun, Holmes?“

„Gehen Sie zu dem Mann in der Gepäckaufbewahrung.“

„Jonathan Kippler?“

Holmes nickte bestätigend. „Fragen Sie nach seinem Kollegen Randolf Dissing, der Ihr verloren gegangenes Gepäckstück wiederbeschaffen soll. Kippler weiß Bescheid, dass Sie kommen. Ich habe ihn informiert. Da sein Kollege Dissing heute nicht da ist, kann Kippler das fehlende Gepäckstück natürlich nicht finden. Ich möchte, dass Sie laut und ungehalten werden. Fordern Sie, dass sich die Polizei um die Sache kümmert. Verursachen Sie einen Aufstand, Watson. Ich brauche genau vier Minuten.“

Was auch immer Holmes im Sinn hatte, es schien mir geradezu aberwitzig. Dennoch versprach ich ihm, seine Instruktionen genauestens zu befolgen. Er gab mir einen Gepäckaufbewahrungsschein und wies mich noch an, unbedingt den Haupteingang zu benutzen und erst um Punkt halb sieben am Schalter zu sein.

Nachdem mein Freund verschwunden war, schlenderte ich noch ein wenig umher. Da ich von Haus aus kein guter Schauspieler bin, versuchte ich mir auszumalen, wie ich reagieren würde, hätte die Aufbewahrungsstelle tatsächlich ein wichtiges Gepäckstück von mir verloren. As meine Uhr drei Minuten vor halb sieben zeigte, betrat ich angespannt den Bahnhof, durchquerte die Halle und ging nach rechts zur Gepäckaufbewahrung.

Eine ältere Dame hatte Kippler gerade ihren Schein gegeben, und der Bahnhofsbedienstete verschwand in einem der langen Gänge zwischen den Regalen. Ich stellte mich zu der grauhaarigen, sehr dünnen Frau, die in regelmäßigem Abstand immer wieder ihre Handtasche und dann mich mit argwöhnischem Blick musterte. Eigentlich hätte ich sie ansprechen und beruhigen wollen, doch ich war viel zu sehr darauf bedacht, mich auf meinen kommenden Auftritt zu konzentrieren. Ich beobachtete, wie die Zeiger der Uhr über dem Schalter auf halb sieben umsprangen. Glücklicherweise erhielt die Dame just in diesem Augenblick ihren Koffer und entfernte sich. Ich begann meine Vorstellung, wählte schon mit den ersten Worten einen erbosten Tonfall und redete mich schnell in Rage. Kippler spielte das Spiel perfekt mit. Wahrscheinlich musste er gar nicht improvisieren, denn ich war sicherlich nicht der erste Kunde, der sich wegen eines fehlenden Gepäckstücks beschwerte.

Im Augenwinkel erkannte ich einen älteren Herrn mit Monokel, der in unserer Nähe an einer Informationstafel stand und offenkundig etwas zu entziffern versuchte. Indessen wurde ich dem armen Kippler gegenüber noch fordernder und beschwerte mich lauthals über den desaströsen Service. Ein kurzer Blick auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand verriet mir, dass bereits die Hälfte der von Holmes geforderten vier Minuten verstrichen war, als mit einem Mal mehrere Personen an mich herandrängten. In kürzester Zeit entstand ein allgemeiner Aufruhr, und man verstand sein eigenes Wort nicht mehr. Ich hielt jedoch an der Vorgabe fest und stritt weiter mit Kippler, der mir in der Zwischenzeit einen Brief in die Hand gedrückt hatte. Plötzlich begannen die Menschen wie von Geisterhand auseinanderzulaufen, was ich als Zeichen wertete, ebenfalls zu verschwinden. Ich verließ den Bahnhof, wie ich gekommen war, durch das Hauptportal und kehrte in ein Kaffeehaus auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes ein. Dort setzte ich mich an einen der kleinen, runden Tische, bestellte zur Beruhigung einen Brandy, riss den Brief auf und las.

Mein lieber Watson,

sollten Sie diesen Brief in den Händen halten, ist der erste Teil meines Plans aufgegangen. Ich muss Sie bitten, erst nach Einbruch der Dunkelheit in die Baker Street zu kommen. Es gibt noch eine Menge zu tun. Ich hoffe, dass ich Sie heute Abend wohlbehalten in unseren Räumlichkeiten begrüßen kann.

Ihr SH

 

Den Rest des Nachmittags verbrachte ich in meinem Club. Obwohl es doch gute Nachrichten gewesen waren, beschäftigte mich die ganze Zeit über dieser merkwürdige Vorgang am Schalter der Gepäckaufbewahrung. In gespannter Stimmung kehrte ich schließlich in die Baker Street zurück, wo mich Mrs Hudson bereits an der Tür erwartete.

„Doktor Watson, ich bin so froh, dass Sie endlich da sind!“

Ich war ein wenig verwirrt ob der Worte unserer Wirtin, wollte aber unter keinen Umständen alarmiert oder gar besorgt klingen. Also versicherte ich ihr, dass sie sich keine Sorgen um Sherlock Holmes zu machen brauche.

„Sie haben gut reden, Doktor! Na, dann hoffe ich sehr, dass der Spuk bald vorbei ist.“

Ich drückte ihre Hand und machte mich auf den Weg nach oben. Als ich unseren gemeinsamen Wohnraum betrat, lag dieser im Dunkeln. Holmes konnte ich nirgendwo entdecken. War er etwa ausgegangen? Nein. Also musste er sich in sein Zimmer zurückgezogen haben. Leisen Fußes betrat ich es und konnte unschwer seine Gestalt auf dem Bett entdecken. Er war noch vollständig angezogen, nicht einmal der Schuhe hatte er sich entledigt und schien, wie ein Stein zu schlafen. Wie mir mein medizinisch geschulter Blick verriet, war er unverletzt. Ich wollte mich gerade wieder zurückziehen, als er mich leise ansprach. „Watson, sind Sie das?“

„Aber natürlich. Erwarten Sie denn noch jemanden?“

Er schwieg eine Weile, als würde er darüber nachdenken müssen, dann folgte ein knappes Nein. Ich ging in unseren Wohnraum und kehrte kurz darauf mit zwei Gläsern Brandy zurück.

„Kommen Sie, Holmes, trinken Sie einen Schluck. Das wird Ihnen guttun.“

Er setzte sich auf und nahm das Glas, das ich ihm hinhielt.

„Wie fühlen Sie sich?“

„Es geht, Watson, es geht.“

Seine zögerlich klingende Stimme ließ mich aufhorchen. Offensichtlich war nicht alles so verlaufen, wie er sich das vorgestellt hatte. Seine Augen schienen merkwürdig leer, und er machte einen regelrecht verstörten Eindruck. Er ließ sich von mir aufhelfen und setzte sich auf einen Stuhl, der neben seiner Schlafstätte stand, während ich selbst mit seiner Bettkante vorliebnahm. Holmes leerte sein Glas und bat mich um einen weiteren Brandy. Ich holte vorsichtshalber die ganze Karaffe.

„Ich war blind, Watson … blind wie ein Maulwurf.“

„Wie geht es Preston? Konnten Sie ihn ungesehen aus dem Bahnhof schleusen?“

„Das müssten Sie doch am besten wissen. Sie haben schließlich die ganze Zeit über mit ihm geredet, bis er in den Tiefen des Bahnhofs verschwunden ist.“

„Ich habe mit ihm … Wieso? War Kippler etwa Preston?“

„Schon bei unserem ersten Besuch.“

„Nicht zu fassen! Aber woher wussten Sie das?“

„Sie hätten sich nur einmal die exakt manikürten Hände des Mannes ansehen müssen, die hellen Hautstellen, wo er kurz zuvor noch Ringe getragen hat. Überhaupt, die perfekt geschnittenen Haare, die Schuhe. Sein Schwager hat ihn dort untergebracht. Er besitzt eine leitende Funktion bei der Bahn und hat den diensthabenden Beamten für ein paar Tage beurlaubt.“

„Doch davon wussten Sie noch nichts bei Ihrem ersten Besuch im Bahnhof?“

„Nein. Aber sobald ich Jonathan Kippler gesehen hatte, war mir alles klar. Ich habe ihm, von Ihnen unbemerkt, eine kleine Notiz zugeschoben und war am heutigen Nachmittag noch einmal dort, um den Ablauf seiner Flucht abzusprechen. Sie erinnern sich an die rote Erde am Koffer? Kippler, also Preston, muss zur Baker Street gegangen sein. Vielleicht hatte er erst vorgehabt, uns aufzusuchen. Oder er hat die Adresse überprüft, damit uns seine Nachricht auf jeden Fall erreicht.“

„Und warum dieser Streit?“

„Die beste Art, um von ihm abzulenken, schien mir, einen Menschenauflauf zu inszenieren. Nur ein kurzes Risiko im allerersten Moment.“ Er lachte in sich hinein, dann stockte er, schüttelte seinen Kopf und murmelte etwas vor sich hin.

„Was genau ist denn dann passiert, Holmes?“

Er trank einen weiteren Brandy, holte tief Luft und hielt sie lange an, bis er endlich wieder ausatmete. „Nun, die Finte hat wunderbar funktioniert“, sprach er langsam weiter. „Ich war natürlich die ganze Zeit über in Ihrer Nähe und durfte Ihren misstrauischen Blicken standhalten.“

„Der Mann mit dem Monokel!“, rief ich aus. „Wie konnten Sie sich nur so schnell maskieren?“

„Das Blumengeschäft von Misses Bentley am Nebeneingang. Sie ist mir wohlgesonnen, seit ich sie einmal aus einer recht prekären Situation gerettet habe. In ihrem privaten Aufenthaltsraum lag alles für mich bereit.“

„Und dann sind Sie mir an den Schalter gefolgt und haben, nachdem der Aufruhr wieder abebbte, Preston alias Kippler über einen Nebenausgang aus dem Bahnhof hinausgeschleust.“

„Sehr gut, Watson. Es gibt tatsächlich einen Notausgang im Gepäckbereich. Wir sind dann zu Mycroft in die Kutsche gestiegen, der exakt um sechs Minuten nach halb sieben an ebendiesem Ausgang gewartet hatte. Anschließend haben wir uns mit Lestrade im Diogenes Club getroffen.“

„Und war es so, wie Sie vermutet haben, Holmes? Befand sich Preston tatsächlich in Lebensgefahr?“

„Das will ich meinen. Er war am Samstagmorgen auf einer Benefizveranstaltung eingeladen. Sie erinnern sich sicherlich, was ich Ihnen auf dem Weg zur Victoria Station berichtete. Mein Blick auf die Gästeliste hatte mir den rechten Hinweis gegeben. Preston saß neben dem Professor und bestätigte mir, dass ihm durch einen unerhörten Zufall eine höchst brisante Nachricht in die Hände gefallen war. Es handelte sich um den Auftrag zur Ermordung eines hochrangigen französischen Diplomaten. Der Auftraggeber war kein anderer als Professor Moriarty. Preston verließ daraufhin sofort und ohne Aufsehen zu erregen die Veranstaltung. Seine langjährige Erfahrung als Diplomat und seine außergewöhnliche Intelligenz ließen ihn die Situation richtig einschätzen. Er wusste, dass sein Vorgesetzter, mein Bruder Mycroft, einen nicht gänzlich unbedeutenden Detektiv in der Familie hatte, der die Hinweise, wo er sich zu verstecken gedachte, richtig würde deuten können.“ Mit einem Mal wirkte Holmes völlig niedergeschlagen. „Wie in aller Welt konnte ich nur so blind sein!“, sagte er in verzweifeltem Ton.

Ich spürte, dass es zu einem schweren Zwischenfall gekommen sein musste und wartete schweigend ab, bis er seine Worte wiederfand.

„Ich hätte es wissen müssen, dass Moriarty Informanten innerhalb der Polizei hat. Ich habe einen schweren, einen unverzeihlichen Fehler begangen, Watson.“

„Aber was genau ist passiert, Holmes?“

„Nachdem ich mit dem Diplomaten im Besucherzimmer meines Bruders im Diogenes Club gesprochen und er mir die Namen zweier Personen genannt hatte, die für das Attentat vorgesehen waren, ließ ich Preston mit Lestrade und drei weiteren Beamten gehen. Sie wollten zu Scotland Yard. Ich hatte den Inspektor noch ausdrücklich gewarnt, höchste Vorsicht walten zu lassen und Moriarty auf keinen Fall zu unterschätzen. Er versicherte mir, dass keinerlei Risiko bestünde, denn er habe alle Straßenecken mit seinen besten Beamten besetzt.“

Holmes stockte. Eine bleierne Schwere lag in Raum.

„Und?“, fragte ich endlich.

„Preston wurde von einem Mann in Polizeiuniform erschossen … just in dem Moment, als er in die Kutsche steigen wollte. Lionel Preston hatte“, fuhr Holmes mit kaum hörbarer Stimme fort, „sein Leben in meine Hände gelegt. Watson, ich bin müde. Sehr müde.“

Dann schwieg Holmes eine Weile. Wenn es so etwas wie ein lautes, wütendes Schweigen gäbe, wäre es das gewesen. Man konnte seinen Racheschwur förmlich spüren. „Es wird eine lange und aufreibende Jagd werden. Und ich werde ihn zur Strecke bringen, Watson. Koste es, was es wolle! Moriarty hat dieses Mal eine kurze Unachtsamkeit genügt, um mich zu schlagen. Warum nur habe ich Preston mit Lestrade gehen lassen? Warum nur? Der Diplomat hat mir zwei Namen genannt. Einer davon ist Colonel Sebastian Moran. Ich werde diesen Moriarty … Er wird mir nicht entkommen, und wenn es das Letzte ist, was ich tun werde. Eine Spinne … gefangen in ihrem eigenen Netz … so wird er untergehen!“

Holmes' Kopf fiel zur Seite, er war eingeschlafen. Ich zog ihn vom Stuhl hoch und schaffte ihn ins Bett.

Wie sehr diese erste Begegnung mit James Moriarty unser weiteres Leben in Mitleidenschaft ziehen würde, war an jenem Juliabend im Jahre 1890 noch nicht abzusehen. Holmes war erstmals auf seinen ärgsten Widersacher gestoßen, den Napoleon des Verbrechens, wie er ihn später immer wieder bezeichnete. Es sollte nicht ihr letztes schicksalhaftes Aufeinandertreffen gewesen sein.

DAS GLAS MIT DEM MAGENBITTER

Wolfgang Schüler

 

 

„Ich brauche Informationen, Watson.“

„Aber das Mädchen, Holmes?“

Er zuckte mit den Schultern.

Arthur Conan Doyle,

Charles Augustus Milverton

 

Lange Zeit scheute ich mich, den folgenden Kriminalfall zu Papier zu bringen. Der Grund dafür war einfach. Manchmal ist es besser, die Toten ruhen und die Hunde nicht von der Kette zu lassen. Ich habe mich nun doch noch zu einem Bericht darüber entschlossen. Zum einen, weil er zeigt, wie durch ein einziges schwaches Glied eine gesamte Kette reißen kann; zum anderen, weil die Geschichte einige äußerst interessante Aspekte aufweist, die es wert sind, publik gemacht zu werden.

Am späten Vormittag des 10. März 1889 (dieses Datum lag zwischen den von mir bereits niedergeschriebenen Fällen Das verhüllte Gesicht und Das Haus bei den Blutbuchen) saßen Holmes und ich in unserem gemeinsamen Wohnzimmer in der Baker Street beim Frühstück. Vor uns stand ein Mahl der einfacheren Art. Wir begnügten uns jeder mit drei Spiegeleiern auf Toast, gebratenem Speck, kleinen Würstchen und gegrillten Tomaten. Überbackene Lammnierchen und Black Pudding hatten wir ebenso weggelassen wie gewässerte Dörrpflaumen oder die obligate Schüssel mit Porridge. Der Grund für unsere Mäßigung war simpel, nur wer ab und an enthaltsam lebt, kann den Überfluss genießen.

Es ging auf elf Uhr zu. Dies war die beste Zeit, den Tag zu beginnen – jedenfalls für einen Gentleman, der das Privileg besaß, ein selbstbestimmtes Leben führen zu dürfen. Ich hatte in dieser Woche weder Patienten zu versorgen noch sonstigen dringenden persönliche Verpflichtungen nachzukommen. Meine Hochzeit mit der überaus liebreizenden Mary Morstan war erst für den ersten Mai geplant. Unsere Trauung in der St. Mark's Church in Camberwell lag also noch in weiter Ferne. Meine Verhandlungen mit dem alten Mr Farquhar über die Übernahme seiner Arztpraxis in Paddington waren zwar zur beiderseitigen Zufriedenheit abgeschlossen worden, Brief und Siegel mussten jedoch noch ausgefertigt werden. Die Schlüsselübergabe konnte logischerweise erst danach stattfinden. Bei mir herrschte also Ruhe vor dem großen Sturm, und ich genoss die besinnlichen Stunden in vollen Zügen.

Da Holmes die Times las, musste ich mich mit dem konservativen und deshalb recht langweiligen Daily Telegraph zufriedengeben. Auf der Titelseite stand ein großer Artikel über Benjamin Harrison, der als 23. Präsident der USA seinen Amtsvorgänger Grover Cleveland abgelöst hatte. (Grover Cleveland wiederum sollte Benjamin Harrison vier Jahre später den Rang ablaufen und zum zweiten Mal in seinem Leben US-Präsident werden. Aber das ist eine andere Geschichte). Darauf folgte ein Bericht über sensationelle Bodenfunde in der Gegend um Harrow on the Hill, wo Kobalt entdeckt worden war. Dieses chemische Element wurde zur Erhöhung der Verschleiß- und Wärmefestigkeit der verschiedensten Stoffe verwendet. Am bekanntesten war es in der Verarbeitung als Kobaltglas. Ah! Ganz genau solche Themen wünscht sich der Leser auf Seite eins seines Journals vorzufinden. Ich drohte gleich einzuschlafen.

Ein seltsames Geräusch ließ mich aufhorchen. Als ich aufsah, rieb sich Holmes glucksend die Hände. Die letzten Tage hatte er in Ermangelung neuer Aufträge bleichgesichtig und missgelaunt in seinem Sessel am Kamin gehockt, dicke Rauchschwaden aus seiner Pfeife ausgestoßen und sich nach einer sinnvollen Aufgabe gesehnt. Nun waren auf wundersame Weise die Farbe und die Lebenslust in sein asketisches Gesicht zurückgekehrt.

„Mein lieber Watson, alter Knabe, gleich kommt Arbeit auf uns zu. Des einen Leid ist des anderen Freud.“

Ich ahnte nicht im Mindesten, was diese plötzliche Veränderung bei ihm hervorgerufen haben könnte.

„In der heutigen Ausgabe der Times steht ein Artikel über einen Mord in Greenford. Der bekannte Unternehmer und Fabrikbesitzer Sir William Arthur Gore wurde in der Nacht zum siebten März ermordet.“

„Wie wurde er ermordet?“, wollte ich wissen. „Erschlagen mit einer Bodenvase aus Kobaltglas?“

„Was? Wie kommen Sie denn darauf, mein Bester? Nein, ganz konventionell durch einen Dolchstich mitten ins Herz. Das Stilett steckte noch in der Leiche. Es gehörte zur berühmten Waffensammlung des Toten. Aber das wertvollste Exponat, ein Schnellfeuergewehr des österreichischen Büchsenmachers Johann Kravogl, fehlt. Über weitere Verluste ist noch nichts bekannt. Niemand hat etwas gehört oder gesehen. Scotland Yard steht vor einem Rätsel. In Ermangelung eines besseren Einfalls wurde der Butler verhaftet.“

„Höchst bemerkenswert, in der Tat. Auf welche Weise kommen wir nun ins Spiel?“

„Der Ermordete war Witwer. Sein Bruder, Sir Patrick Jonathan Gore, ist sein einziger näherer Verwandter. Er wird uns in wenigen Augenblicken einen Besuch abstatten oder nach uns schicken, da bin ich mir ganz sicher. Ich kenne ihn vom Studium am Christ Church College in Oxford her. Auf meine Veranlassung hin ist er mit mir an das Caius College in Cambridge gewechselt. Pattys Hauptfach war Chemie. Später hat er sich mit dem Hüttenwesen beschäftigt.“

In diesem Moment klopfte es an der Tür.

Holmes sah mich triumphierend an und rief: „Herein!“

Mrs Hudson erschien. „Hier ist eine junge Dame für Mister Holmes. Wollen Sie sie empfangen?“

Holmes runzelte die Stirn, sagte aber: „Wir lassen bitten.“

In unser Zimmer trat eine brünette, schlanke Frau von Anfang zwanzig. Sie war in einen fast bodenlangen, schwarzen Mantel gehüllt und trug eine lederne Reisetasche von jener Art in der Hand, wie sie gemeinhin Landärzte verwenden.

„Wer von Ihnen ist Mister Holmes?“

„Das bin ich. Und dies hier ist mein guter Freund und Kollege Doktor Watson. Sie können unbesorgt vor ihm sprechen, er ist verschwiegen wie ein Grab. Darf ich Ihnen Ihren Mantel abnehmen, Misses …?“

„Miss, wenn ich bitten darf. Elizabeth Wolverham, aus Sudburry. Sehr freundlich von Ihnen.“

„Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Eine Tasse Tee vielleicht?“

„Sehr liebenswürdig, gerne. Die strapaziöse Reise hierher hat mich doch ziemlich erschöpft, wenngleich sie von der Anzahl der Meilen eigentlich recht kurz war. Hinzu kommt natürlich die Aufregung. Ich bin ja schließlich nicht zu meinem Vergnügen hier.“

„Wo haben Sie Ihren kleinen Hund gelassen, Miss Wolverham?“, erkundigte sich Holmes und brachte unsere Besucherin damit sichtlich aus dem Konzept.

„Woher wissen Sie von meinem treuesten Freund?“, fragte sie verblüfft. „Können Sie meine Gedanken lesen?“

„Nein, nur die Spuren an Ihrer Kleidung“, erwiderte Holmes lächelnd.

„Da bin ich aber gespannt.“

„Bei dem Hund handelt es sich höchstwahrscheinlich um einen Terrier …“

„Ein Jack Russel, um es ganz genau zu sagen.“

„Er ist weiß …“

„Mit einem braunen Fleck über jedem Auge und über der Schwanzwurzel, nicht größer als ein Penny.“

„Ein paar dieser weißen Haare hängen an Ihrem Mantel. Im oberen Drittel sind einige unbedeutende Kratzspuren im Stoff zu sehen. Sie deuten darauf hin, dass der Hund zwar klein ist, aber aus dem Stand sehr hoch springen kann.“

Miss Wolverham schluckte. „Das ist wirklich sehr erstaunlich. Was wissen Sie noch über mich?“

„Sie haben einst in guten materiellen Verhältnissen gelebt, müssen jedoch jetzt den Gürtel enger schnallen. Sie reisen selten und nehmen kaum am gesellschaftlichen Leben teil.“

„Unsinn!“, meinte die junge Frau schnippisch.

„Nun, Ihr Mantel ist von ausgesuchter Qualität. Er war einmal sehr teuer. Ich würde seinen Preis auf mindestens zwei Pfund schätzen. Er ist jedoch schon seit einigen Jahren aus der Mode gekommen. An seinem Saum sind einige Schmutzspritzer zu sehen. Sudburry hat keine eigene Bahnstation. Der nächste Haltepunkt der Northwestern Railway befindet sich meines Wissens in Wood End. Sie sind nicht mit einer Kutsche gefahren, sondern mussten einen beschwerlichen Fußmarsch auf sich nehmen. Die Galoschen befinden sich sicherlich in Ihrer gepflegten braunen Ledertasche, deren einstigen Preis ich gut und gerne mit zehn Shilling bewerten würde. Es gibt jedoch noch einen weiteren Hinweis auf Ihre angespannte finanzielle Lage.“

„Heraus damit!“, forderte unser Gast energisch.

„Ich will Ihnen wirklich nicht zu nahe treten, Miss Wolverham.“

„Papperlapapp! Ich bin nicht aus Zucker.“

„Nun gut“, seufzte Holmes. „Zum Frühstück haben Sie ein Zwiebelomelett verspeist. Ein wenig Eigelb ist auf den Kragen Ihrer hellblauen Bluse getropft. Die Zwiebeln hatten Sie selbst geschält und geschnitten. Woher ich das weiß? Nun, mit Verlaub, ich kann es selbst aus zwei Metern Entfernung noch sehr gut riechen. Ergo gibt es in Ihrem Haushalt keine weitere Köchin außer Ihnen selbst. Quod erat demonstrandum. Sie müssen an allen Ecken und Enden sparen.“

„Sehr gut, ganz ausgezeichnet! Nun sind noch die beiden Punkte Verreisen und gesellschaftliches Leben offen.“

„Jetzt wird es äußerst delikat.“

„Nur zu!“

„Nun, kein verständiger Mensch würde unmittelbar vor einer Reise ein Zwiebelomelett zu sich nehmen – aus Angst vor den sich höchstwahrscheinlich ergebenden Komplikationen, die nur mit reichlich Kümmel zu bekämpfen wären. Der zweite Punkt ergibt sich quasi aus dem ersten, vermehrt um die olfaktorischen Wahrnehmungen dritter Personen.“

„Nun weiß ich mit Bestimmtheit, dass ich hier an der richtigen Adresse bin. Doch nun genug der Schmeicheleien. Ich will Sie rasch mit den wichtigsten Einzelheiten meines Falles bekannt machen. Meine Mutter starb an der Schwindsucht, als ich noch ein kleines Mädchen war. Mein herzensguter Vater ist vor etwas mehr als einem Jahr bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. Nach seinem Tod stellte sich heraus, dass er hoch verschuldet war. Ich musste so gut wie alles von Wert verkaufen und das gesamte Personal entlassen. Nur unser Landsitz in Sudburry gehört mir noch, aber ich weiß beim besten Willen nicht, wie lange ich ihn noch halten kann. Vermutlich werde ich dieses mir lieb gewordene Fleckchen Erde demnächst veräußern müssen.“

„Haben Sie keine weiteren Verwandten mehr?“

„Doch, meinen Bruder George. Ich liebe ihn sehr, auch wenn er mitunter ziemlich jähzornig werden kann. Kurz vor dem Tod unseres Vaters hatte er großen Ärger bei einer Wirtshausschlägerei in Preston Green. Er konnte sich freikaufen, indem er sich freiwillig zu den Northumberland-Füsilieren meldete, aber …“

„Das sind gute Jungs, Miss Wolverham“, unterbrach ich sie. „Ich selbst habe im Fünften Regiment gedient.“

„Sie waren sicherlich ein Offizier, mit einem eigenen Burschen und einem ganzen Sack voller Privilegien.“ Sie sah mich voller Verachtung an. „Mein Bruder schleppt diesen Sack. Er ist als Offiziersbursche in Afghanistan.“

„Dort war ich auch.“

„Sie besaßen augenscheinlich das seltene Talent, heil zurückzukommen“, meinte sie mit anklagend erhobener Stimme. „Mein Bruder muss noch etliche Monate abdienen. Ich bete jeden Tag zu Gott, dass er lebend und bei guter Gesundheit heimkehren möge.“

Ich enthielt mich jeglichen Kommentars und ließ tunlichst meine Kriegsverletzung unerwähnt, um nicht noch weiteres Öl ins Feuer zu gießen.

Unser Gast hatte sich indes wieder gefangen und fuhr fort: „Doch nun zu meinem eigentlichen Problem. Gestern ging ich mit meinem kleinen Hund Codger auf der Wiese vor dem Wald spazieren, an dessen Rand mein Vater auf solch tragische Weise ums Leben gekommen war. Codger ist von einer beispiellosen Unerschrockenheit und Ausdauer. An einem Dachsbau, in dessen Nähe wir als Kinder gerne Verstecken spielten, weil dort riesengroße Findlinge liegen, riss er mir die Leine aus der Hand und verschwand in dem Erdloch. Sein wütendes Kläffen wurde leiser und leiser. Schließlich hörte ich nur noch ein Winseln. Offensichtlich hatte sich der Strick an einer Wurzel verfangen. Mein armer Hund hing in der kalten Dunkelheit fest. Lange rief ich nach ihm. Vergebens. Schließlich ging ich ins Dorf, um Hilfe zu holen. Zwei Arbeiter waren so freundlich, mich zu begleiten. Sie brauchten mehrere Stunden, um Codger freizuschaufeln. Mein Hund war pechschwarz von der morastigen Erde und ganz verstört. Sonst ist ihm nichts passiert.“

„Aber es geschah etwas anderes“, stellte Holmes ganz sachlich fest.

„Genau. Die beiden Männer legten beim Ausschachten der Grube eine versiegelte Blechdose frei. Ich öffnete sie und fand darin mehrere goldene Münzen und einige Geschmeide, darunter zwei Ohrringe.“

Miss Wolverham holte den Schmuck aus ihrer Tasche. Es handelte sich um zwei handwerklich gut gemachte Stücke. Um je einen blassblauen Aquamarin zog sich ein Kreis blitzender Diamantsplitter.

„Ich war erfreut und verblüfft zugleich. Erfreut, weil der wertvolle Fund auf meinem Grund und Boden ans Tageslicht befördert worden war und ich mich daher mit Fug und Recht als die rechtmäßige Eigentümerin betrachten darf Verblüfft, weil ich vor langer Zeit zwei ebensolche Ohrringe von meiner Großmutter geerbt hatte.“ Sie stockte.

„Nur zu, Miss Wolverham“, ermunterte sie Holmes. „Fahren Sie fort!“

„Ich entlohnte die beiden Männer ordnungsgemäß und kehrte mit dem Hund an der Leine und der Blechdose in der Hand nach Hause zurück. Im ehemaligen Arbeitszimmer meines seligen Vaters öffnete ich den Safe, um die Ohrringe miteinander zu vergleichen.“

„Doch der Geldschrank war leer“, stellte Holmes trocken fest.

„Woher wissen Sie das nun schon wieder?“

„Eine andere Möglichkeit wäre kaum in Betracht gekommen. Was Preziosen anbelangt, haben Frauen in der Regel ein wesentlich schärferes Auge als jeder Mann. Die Wahrscheinlichkeit, auf zwei völlig identische Ohrringpaare von dieser seltenen Machart zu stoßen, liegt unter einem Prozent. Sie wurden Ihnen gestohlen und anschließend vom Täter in der Wiese vergraben. Dafür muss es einen triftigen Grund geben. Ihn herauszufinden dürfte nicht allzu schwer sein. Cui bono – wem nützt es? Wurde der Tresor gewaltsam geöffnet?“

„Nein, das ist ja das Verwunderliche. Er war wieder sorgsam versperrt worden, ansonsten hätte ich den Diebstahl schon viel früher bemerkt. Der Geldschrank ist in die Wand eingemauert und wird von einem Gobelin verdeckt. Ich pflege regelmäßig am Schreibtisch davor meine Post zu ordnen. Mein Vater hatte den einzigen Schlüssel in dem Maul eines ausgestopften Wildschweinkopfs verwahrt, der über dem Kamin hängt. Der Schlüssel befindet sich noch immer dort.“

„Was fehlte außerdem?“

„Sämtliche Besitzurkunden vom Haus. Das ist es, was mir ernstliche Sorgen bereitet. Wer diese Papiere vorlegt, kann legitime Eigentumsansprüche auf Sudburry anmelden.“

„Hegen Sie einen Verdacht, wer Sie bestohlen haben könnte?“

„Vor einigen Wochen stellte sich ein junger Deutscher namens Jürgen von Trebitsch-Holstein bei mir vor, um vorübergehend als mein Privatsekretär in meine Dienste zu treten. Er konnte ein Empfehlungsschreiben meiner Cousine Ethel McMahon aus Glasgow vorweisen und verlangte nur einen Hungerlohn. Von Trebitsch-Holstein verfügte über ausgezeichnete Manieren und eine hohe Bildung. Seine Familie war verarmt, deshalb wollte er in England Fuß fassen, und ich sollte ihm ein Sprungbrett bieten. Natürlich fühlte ich mich geehrt. Aber der junge Mann hatte nicht mit der modernen Technik gerechnet. Meine Cousine in Glasgow besitzt einen dieser sogenannten Fernsprechapparate. Ich bin zum Postamt in Wood End gefahren und habe mich mit ihr verbinden lassen. Sie kannte keinen Jürgen von Trebitsch-Holstein, das Empfehlungsschreiben war also gefälscht. Ich setzte den jungen Mann sofort auf die Straße.“

„Verdächtigen Sie ihn als den Dieb?“

„Er ist der Einzige, der dafür infrage kommen könnte. Andererseits war er nur wenige Stunden in meinem Haus und hätte somit sehr rasch und äußerst entschlossen vorgehen müssen. Im Übrigen konnte er keinesfalls damit rechnen, dass ich ihm dermaßen rasch auf die Schliche kommen würde.“

„Üblicherweise liegen Tresorschlüssel oben auf dem Schrank. Bestenfalls werden sie im Umkreis von drei, vier Yards versteckt, so sagt jedenfalls die Erfahrung geschickter Einbrecher. In der Regel braucht ein Profi nicht länger als eine Viertelstunde, um den passenden Schlüssel zu finden. Wie weit ist der Wildschweinkopf vom Tresor entfernt?“

„Etwa zwanzig Yards. Er hängt genau gegenüber auf der anderen Seite des Raums. Darüber hinaus stehen im Arbeitszimmer zahlreiche Bücherregale. Es gäbe also Hunderte anderer Versteckmöglichkeiten, denn selbst solch ein großer Geldschrankschlüssel würde sich sehr leicht hinter einem dicken Buch verbergen lassen.“

„Damit ist Ihr Bericht aber noch längst nicht zu Ende, nicht wahr, Miss Wolverham?“

„Nein. Wie soll ich es sagen … Unser Nachbar, Sir William Arthur Gore, hat mehrfach den vergeblichen Versuch unternommen, uns das Landgut abzukaufen. Zuerst meinem Vater, später dann mir.“

Holmes reagierte überrascht, und auch ich staunte nicht schlecht.

Die junge Dame achtete offensichtlich nicht darauf, sondern fuhr fort: „Aber bei mir stieß er ebenso auf Granit wie vormals bei meinem alten Herrn. Doch Sir Gore kommt als Täter nicht infrage. Er ist tot. Er wurde jüngst von einem Einbrecher erdolcht.“

Die Unlogik dieser typisch weiblichen Gedankenkombination fiel sogar mir auf, obwohl ich im Bereich der Deduktion wahrlich keine große Leuchte bin. Selbstverständlich hätte Sir Gore sogar noch am Abend des sechsten März den Schmuck und die Papiere stehlen können, um sich nach getaner Arbeit ins Bett zu legen und anschließend dort umbringen zu lassen.

„Meines Wissens wohnte der Ermordete in Greenford“, hakte Holmes sofort nach. „Was sollte Sir William Arthur Gore mit einem Landgut in Sudburry anfangen?“

„Greenford und Sudburry sind lediglich die Namen der Verwaltungseinheiten, also des jeweiligen Sprengels. Tatsächlich stoßen die Ländereien von jeweils mehreren Hundert Quadratkilometern Größe direkt aneinander.“

„Nun gut, doch was war der eigentliche Grund für das Ansinnen von Sir Gore? Gibt es bei Ihnen Teiche mit wertvollem Fischbestand? Soll demnächst eine Eisenbahnlinie oder eine Fernverkehrsstraße über Ihren Grund und Boden gebaut werden?“

Die junge Frau zuckte mit den Schultern. „Mir ist nichts dergleichen bekannt.“

„Aber ausschließen können Sie es natürlich auch nicht. Das bringt mich noch auf einen anderen Gedanken: Hat es sich damals beim Tod Ihres Herrn Vaters tatsächlich um einen Jagdunfall gehandelt, oder vermuten Sie dies bloß?“

„Wir hegten alle starke Zweifel. Kurz zuvor hatte es eine Auseinandersetzung zwischen meinem Vater und Sir Gore gegeben. Es war natürlich um das leidige Thema gegangen. Aber an dem betreffenden Tag fand bei uns in der Gegend tatsächlich eine große Fuchsjagd statt, und mein Vater war als Treiber mit dabei. Der Todesschütze wurde nie ermittelt. In seiner amtlichen Untersuchung erkannte der Coroner auf Tod durch Unfall, weil sich nichts Gegenteiliges beweisen ließ. Dabei wussten alle Nachbarn, dass Sir Gore einen Rochus auf uns hatte und ein seltenes Gewehr von großer Reichweite besaß.“

Holmes sprang von seinem Stuhl auf. „Wir dürfen keine Zeit verlieren! Die Jagd beginnt! Zunächst fahren wir mit dem Zug, das geht am schnellsten. Sie begleiten uns selbstverständlich, Miss Wolverham. In Wood End leihen wir uns eine Kutsche. Für die Unkosten kommen wir auf. Sie können Ihre Schuld irgendwann später begleichen.“

Holmes griff nach seinem Stockdegen und nickte mir zu. Ich verstand, ging zu meinem Schreibtisch, öffnete die Schublade und steckte mir den alten Armeerevolver, ein Andenken an den Afghanistan-Krieg, in die Tasche.

 

Mir brach fast das Herz, als ich das Landhaus in Sudburry sah. Überall zeigten sich sichtbare Spuren des Verfalls. Zwischen den Steinen auf dem gepflasterten Hof wucherte das Gras. Mehrere Dachziegel waren herabgefallen und nicht wieder durch neue ersetzt worden. Die Balken verlangten dringend nach einem neuen Anstrich. Alle Fenster im Westflügel waren blind von Staub und Schmutz. Nur wenige Jahre weiterer Vernachlässigung würden das einst ansehnliche Gebäude in eine Ruine verwandeln.

Wir hatten uns der Vorderfront noch nicht richtig genähert, als drinnen in der Halle wütendes Hundegebell ertönte. Miss Wolverham sperrte die Tür auf. Einer Kugel gleich kam ein weißer Wirbelwind hervorgeschossen und umkreiste uns geifernd. Unsere Klientin sprach beruhigend auf ihn ein, woraufhin er davon abließ, uns weiter zu bedrängen. Stattdessen sprang er seiner Besitzerin mehrfach gegen die Brust. Sie lobte und streichelte ihn, dann drehte sich der kleine Hund freudig wie ein Kreisel und versuchte vergeblich, sich in den eigenen Schwanz zu beißen.

„Wie viele Zimmer werden noch bewohnt?“, fragte Holmes unsere Klientin.

„Nur noch einige wenige im Ostflügel. Der Westflügel ist komplett geschlossen.“

„Mir schien soeben, als hätte ich dort drüben im zweiten Stock einen Schatten bemerkt. Wer könnte das gewesen sein, wenn sie kein Personal mehr haben?“

„Es muss sich um einen Lichtreflex gehandelt haben, Mister Holmes. Das Sonnenlicht bricht sich in den Bäumen. Solange sich Codger bei mir befindet, bin ich völlig sicher. Im gesamten britischen Empire ist es noch kein einziges Mal vorgekommen, dass ein Einbrecher unbemerkt in ein Haus eindringen konnte, in dem ein Jack Russel wachte.“

Holmes ließ es dabei bewenden und nahm das Arbeitszimmer des verstorbenen John Wolverham in Augenschein. Mit dem Tresor hielt er sich eine gute halbe Stunde lang auf, fand aber nichts, was ihm auch nur im Entferntesten weitergeholfen hätte. Als Nächstes gingen wir mit einem Spaten bewaffnet hinaus auf die Wiese. Die Arbeiter hatten die Grube wieder zugeschaufelt. Nun musste der Boden noch verdichtet und glattgeharkt werden.

Holmes schritt mehrfach die aufgewühlte Fläche ab. Mir war nicht klar, wonach er suchte. Schließlich war der Hund schon längst befreit worden, und der Dachs benötigte sicherlich keine fremde Hilfe. Dann, ohne jede Vorwarnung, zog Holmes blank. In kurzen Abständen stieß er die Klinge seines Stockdegens in den Rasen. Plötzlich gab es ein dumpfes Geräusch. Mein Freund begann zu graben und hatte bald darauf eine zweite Blechschachtel freigelegt. Er öffnete sie. Sie enthielt, fein säuberlich in Wachspapier gehüllt, die verschwundenen Dokumente.

„Woher wussten Sie, dass auch die Besitzurkunden hier verscharrt waren?“, fragte Miss Wolverham und starrte ungläubig auf die Papiere.

„Das Versteck konnte nur hier sein. Ein anderer Ort hätte keinen Sinn ergeben“, erklärte Holmes in seiner gewohnt kryptischen Art, die mehr Fragen aufwarf, als sie beantwortete. Ich wusste, dass es keinen Zweck hatte, weiter in ihn zu dringen. Er folgte einer Spur, die Nase dicht am Boden wie ein Jagdhund. Dabei klammerte er alles aus, was ihn in irgendeiner Weise hätte ablenken können.

„Und nun werden Doktor Watson und ich nach Greenford aufbrechen“, sagte er, „und dort den Stammsitz der Gores besuchen. Sie, Miss Wolverham, bleiben hier und halten die Stellung. Ich fürchte, die Ereignisse werden sich bald überschlagen.“

 

Greenford Hall war von einer ganz anderen Art als das vergleichsweise kleine Anwesen unserer Klientin. Bereits anhand der sorgsam beschnittenen Alleebäume entlang der kiesbestreuten Zufahrt ließ sich erkennen, dass hier im Gegensatz zu Sudburry an gut geschultem Personal kein Mangel herrschte. Das viergeschossige Herrenhaus mit seinen bestimmt einhundert Fenstern war von Efeu überwuchert. Vom Dachfirst starrten in Stein gehauene dämonische Wesen und Teufelsfratzen weit ins Land hinaus. Den Tod freilich hatten selbst sie nicht fernhalten können.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957192066
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Detektiv Krimi Spannung Sherlock Holmes Ermittler

Autor

  • Klaus-Peter Walter (Hrsg.) (Autor:in)

Klaus-Peter Walter, 1955 in Michelstadt im Odenwald geboren, lebt heute mit Frau, Sohn und viel zu vielen Büchern in Bitburg in der Eifel. Studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Philosophie in Mainz. Seit der Promotion 1983 freier Publizist.
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Titel: Sherlock Holmes - Neue Fälle 07: Sherlock Holmes und die Drachenlady