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Zeit des Mutes

von Christiane Lind (Autor:in)
392 Seiten

Zusammenfassung

SHORTLIST DEUTSCHER SELFPUBLISHING-PREIS 2019 Eine emotionale Geschichte über zwei starke Frauen aus unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft, die mutig ihren eigenen Weg gehen. Deutschland, 1913: Als es Emmas Eltern endgültig zu viel wird, schicken sie ihre rebellische Tochter nach England, wo sie auf dem Landsitz Hazelwell Manor Manieren lernen und einen Ehemann finden soll. Tatsächlich kann Emma den jungen Lord Percival zur Heirat bewegen, doch diese lieblose Ehe wird für sie zum Gefängnis. In London trifft Emma auf das ehemalige Dienstmädchen Lucy, das inzwischen für die bekannte Frauenrechtlerin Lady Eleanor Ingham arbeitet. Lady Eleanor zeigt Emma den Weg auf, der auch für sie die Befreiung bedeuten könnte: Der Kampf um mehr Rechte für die Frau. Zögernd schließt sich Emma den „Suffragetten“ an, doch dieser Entschluss erfordert ihren ganzen Mut … Ladys und Dienstmädchen kämpfen Seite an Seite für das Wahlrecht – der neue Roman von Bestsellerautorin Christiane Lind Für Fans von "Downton Abbey" und "Das Haus am Eaton Place". Neuveröffentlichung von "Zeit des Mutes"! Das sagen Leserinnen: … Lesestoff, der mitreißt, mitnimmt, Emotionen unterschiedlichster Art hervorruft und bis zur letzten Seite mitfiebern lässt. … spannenden und abwechslungsreichen historischen Roman … sofort in die damalige Zeit eintauchen, die Geschichte genießen und mit den mehr als mutigen Frauen mitfiebern. … ein sehr mutiges und fesselndes Buch … super geschrieben … gut unterhalten, emotional berührt und las sich sehr flüssig … Mutige Charaktere, die sich in dieser Zeit weit entwickeln und unter Einsatz ihres Lebens durchsetzen … Verdiente absolute Leseempfehlung … Die Charaktere sind authentisch , geradeheraus und vor allem lebendig … Das Buch ist spannend und nervenaufreibend und sehr gut recherchiert … von Anfang an gefesselt hat und nicht mehr loslässt … spannende, berührende und lehrreiche Geschichte … ich habe mich mit den Heldinnen gefreut...hab mit ihnen gelitten … wundervolle Lesestunden Den Frauen gewidmet, die vor einhundert Jahren das Wahlrecht in England und Deutschland erkämpften.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Dramatis

Personae

Braunschweig

Emma zu Sommerfeldt

Arthur zu Sommerfeldt - Emmas Vater

Dora zu Sommerfeldt - Emmas Mutter

Franz zu Sommerfeldt - Emmas Bruder

Gräfin von Rapp - Emmas Patentante

Bertha - Hausmädchen der Familie zu Sommerfeld

Ida - Köchin der Familie zu Sommerfeldt

Meta - Emmas Zofe

Hazelwell manor

Lucy Marshman - Hausmädchen

Helen Marshman - Lucys Mutter

Bertie Marshman - Lucys Bruder

Whiskers - Lucys Katze

Eunice und Honora Birdwhistle - Lucys erste Herrschaft

Lord Frederick Blakenham - Earl of Ashworth

Lady Clarice Blakenham - Countess of Ashworth

Percival Blakenham

Florence Blakenham

Georgina Blakenham

Millicent Blakenham

Reginald Sutcliffe - Freund von Percival

Ethel - Küchenmädchen

Jessie - Hausmädchen

Katie - Hausmädchen

Kenneth - Zweiter Diener

Leopold - Erster Diener

Maude - Erstes Hausmädchen

Mr Hutchins - Butler

Mr Pratt - Lord Ashworths Kammerdiener

Mrs Griffith - Köchin

Mrs Nichols - Inhaberin des Dorfladens

Mrs Ogden - Hausdame

Mrs Withers - Nurse

Ms. Fernsby - Zofe von Lady Ashworth

Olive - Hausmädchen

Rose - Nursemaid

London

Bessie Wedge - Lucys Tante

Daisy Wedge - Lucys Cousine

Harold Wedge - Lucys Onkel

Nellie Wedge - Lucys Cousine

Winifred Clarke - Wäscherin

Dorothy Barley - Wäscherin und Sozialistin

Alice Rushforth - Suffragette

Emmeline Pankhurst* - Suffragette

Emily Wilding Davison* - Suffragette

Eleanor Ingham - Suffragette

Mr Davies - Butler von Lady Eleanor Ingham

Polly - Emmas Zofe

BERLIN

Johanna Spangenberg - Emmas Freundin, mit der sie eine Wohnung teilt

* reale historische Personen

Kapitel 1

Braunschweig, 1913

Liebes Tagebuch,

nur dir kann ich mich anvertrauen. Niemand sonst wird verstehen, dass mein Herz gebrochen ist, dass mein Leben keinen Sinn mehr hat, dass ich ebenso gut bereits tot sein könnte.

Emma legte den Füllfederhalter zur Seite und stieß einen Seufzer aus. Das Blatt ihres in rotes Leder gebundenen Buches verschwamm vor ihren Augen, weil ihr wieder die Tränen kamen. Dabei hatte sie in den vergangenen Tagen so viel geweint, dass sie ausgetrocknet sein müsste. Sie suchte in der Schublade der Frisierkommode, die ihr als Schreibtisch diente, nach einem Taschentuch und schnäuzte sich ausgiebig. Es war ja niemand hier, der Anstoß daran nehmen konnte.

Nachdem sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte, las sie durch, was sie geschrieben hatte.

»Das verdient er nicht«, murmelte sie und stieß ein Schnauben aus. »Außerdem klingt es furchtbar pathetisch. Später werde ich mich dafür schämen, so etwas formuliert zu haben.«

Sie griff nach dem Blatt, zögerte aber. Sollte sie es wirklich herausreißen? Sollte sie ihre tiefen Gefühle verraten, nur weil diese ihr später – wann immer das auch sein mochte – peinlich sein könnten? Man führte ein Tagebuch, um sich der Wahrheit zu stellen. Also nahm sie den Füllfederhalter wieder auf, holte tief Luft und setzte an.

»Gnädiges Fräulein. Sie wollen bestimmt nicht zu spät zu Tisch kommen.« Meta, das Erste Hausmädchen, das auch als Zofe für Emma arbeitete, trat ins Zimmer. »Die Köchin hat sich heute besonders viel Mühe gegeben.«

»Ich habe keinen Hunger.« Das war nicht gelogen. Seit Tagen verspürte sie keinen Appetit mehr und zwang sich bei Tisch dazu, ein paar winzige Happen zu essen, um nicht den Argwohn ihrer Mutter zu erwecken. Dabei wollte die, dass Emma schlanker wurde, um dem gängigen Ideal einer schönen Frau zu entsprechen.

»Wenn ein Mann mich liebt, dann muss er mich so lieben, wie ich bin«, war stets Emmas Antwort, was ihre Mutter mit einem »Papperlapapp« zur Seite wischte.

»Wenn Sie nicht zum Abendessen kommen, verärgern Sie Ihre Eltern.« Meta, äußerst vorlaut für ein Dienstmädchen, verdrehte die Augen. »Das sollten Sie jetzt wohl besser nicht, oder?«

Selbst die Dienstboten zerrissen sich die Münder über ihre Schande. Am liebsten hätte Emma geschrien oder wäre geflohen, ganz weit weg, doch sie war gefangen. Hier in der hochherrschaftlichen Braunschweiger Villa, gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Bruder. Die einzige Chance auf Freiheit hatte man ihr genommen.

»Sag unten Bescheid, ich bin gleich da.«

»Soll ich Ihre Frisur richten?«

»Nein.« Emma schaute sich im Spiegel an. Ihre dunkelbraunen Haare hatten sich aus der Hochsteckfrisur gelöst, als sie wieder und wieder mit den Fingern hindurchgefahren war, getrieben von bitteren Erinnerungen. »Oder besser doch.«

Während sie im Spiegel beobachtete, wie geschickt Meta die Strähnen zu einer eleganten Haartracht knüpfte, wollten ihre Gedanken erneut wandern, aber Emma verbat es ihnen. Sie hatte schon viel zu viel Zeit und Überlegungen verschwendet. Sie wollte nicht trauern, sondern leben, denn das wäre die beste Rache. Eine neue Liebe finden und glücklich werden. Oder einem weißen Hasen in ein Wunderland folgen. Wer sollte sie schon lieben?

»Bitte schön.«

»Danke. Geh voraus und gib Bescheid, ich habe noch zu tun.«

Sie konnte sie förmlich auf Metas Gesicht ablesen, die Frage, was ein junges Fräulein wie sie schon zu arbeiten hätte, aber das Dienstmädchen schwieg und ging.

Emma hielt eine Brosche an ihr Kleid, entschied sich dagegen, nahm eine Gemme, die ihr auch nicht gefiel. Sie trödelte, obwohl sie wusste, wie sehr ihre Eltern es hassten, wenn sie sich zum Abendessen verspätete. Doch sie ertrug dieses familiäre Beisammensein kaum. Ihre Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt und der Appetit war ihr vergangen, wenn sie daran dachte, was sie erwartete. Vielleicht sollte sie vorgeben, krank zu sein, um wenigstens einen Abend Ruhe zu haben.

»Dafür bin ich zu feige. Wie für so vieles.« Sie schaute in den Spiegel, kniff sich in ihre runden Wangen, damit diese Farbe bekamen, und begab sich auf den Weg zum Speisezimmer.

Was wäre heute Abend wohl das Thema, zu dem ihr Vater seine Meinung zum Besten geben würde? Manchmal konnte Emma es nicht mehr aushalten, ihn schwadronieren zu hören. Immer wieder stellte sie sich vor, wie sie aufsprang und schrie: »Ich ertrage das nicht mehr! Halte einfach den Mund!«

Oft malte sie sich vor dem Einschlafen diese Szene in den buntesten Farben aus. Sie sah es vor sich, wie ihr Vater erst stutzte, dann die Augen aufsperrte, während sein rundes Gesicht hinter dem gewaltigen Schnurrbart rot anlief. Aus seinem aufgerissenen Mund kam kein Ton, sodass er sie an einen der Karpfen erinnerte, die es jedes Jahr zu Weihnachten gab. Der arme Fisch lebte drei Tage in einem Zuber in der Küche, bevor Ida, die Köchin, ihm Heiligabend den Garaus machte.

Doch in der Wirklichkeit fehlte Emma der Mut, genau wie ihrem drei Jahre jüngeren Bruder und ihrer Mutter. Stumm hörten sie sich an, was der Vater zu sagen hatte, und dachten sich ihren Teil. Obwohl sie sich bei Franz nicht sicher war, ob der überhaupt etwas dachte.

»Unglaublich, was in London geschieht.« Der spitze Zeigefinger ihres Vaters durchstach die Luft. »Wilde Weiber, die Bomben legen.«

Auf der Anrichte lag die »Braunschweigische Tageszeitung«, in der er wohl etwas entdeckt hatte, was seinen Zorn erregte. Das konnte vieles sein: Arbeiter, die mehr Rechte forderten; etwas, das Heinrich Jasper, Mitglied der Braunschweiger Stadtverordnetenversammlung und – schlimmer noch – SPD-Mitglied, gesagt hatte; überhaupt alles, was Veränderungen bedeuten konnte. Für ihren Vater war die Welt gut, so wie sie war.

»Das Wahlrecht wollen sie. Was ist dann das Nächste?« Ihr Vater stieß ein Schnauben aus, mit dem er stets ihm abwegig erscheinende Ideen begleitete. »Eine Frau gehört in die Familie. Das ist gottgewollt.«

»Arthur, bitte. Gibt es heute kein passenderes Thema?«

Was hatte das zu bedeuten? Warum griff ihre Mutter ein und versuchte, den Vater von seinem Monolog abzubringen? Sollte sie etwa für das Wahlrecht sein? Emma kniff die Lippen zusammen, damit sie nicht kicherte. Diese Vorstellung war gar zu abwegig.

»England ist kein sicheres Land mehr.«

»Arthur!«

Endlich hatte ihr Vater sich genügend echauffiert und schaufelte Rindfleisch in sich hinein.

»Emma, bitte denk daran«, erklang die helle Stimme ihrer Mutter, wie immer begleitet von einem tadelnden Unterton. »Eine Dame isst wie ein Spatz, nicht wie eine Dogge.«

Sofort ließ Emma das Besteck fallen, das mit hellem Klirren auf dem weißen Porzellan landete. Sie hatte weder bemerkt, wie viel, noch, was sie gegessen hatte. Automatisch hatte sie die Gabel zum Mund geführt, während sie versuchte, die Worte ihres Vaters an sich vorbeifließen zu lassen.

»Entschuldige«, flüsterte Emma. Gierig schaute sie zu, wie ihr Bruder sich das zweite Mal vom Fleisch nahm. Vielleicht würde Ida ihr später eine Stulle mit kaltem Braten machen, wenn Emma sie darum bat. Oder besser noch: ein Stück ihres köstlichen Schokoladenkuchens, dessen schwere Süße so wunderbar tröstlich war. Ja, damit würde sie sich dafür belohnen, dass sie auch heute Abend die brave Tochter gespielt hatte, obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschte, als ihrem Elternhaus zu entfliehen. In die nächste Gefangenschaft, wie sie zu gut wusste. Es gab für sie nur eine Möglichkeit, frei zu sein – sie musste heiraten. Dann allerdings wäre sie dem Willen ihres Ehemanns unterworfen. Ob das wirklich so viel besser war? Männern konnte man nicht trauen, wie sie bitter hatte lernen müssen.

Außerdem würden sich die Heiratskandidaten nicht gerade die Klinke in die Hand geben. Sie war keine Schönheit, das zeigte Emma jeder Blick in den Spiegel. Sie war zu groß, sie war zu dick, ihre dunkelbraunen Haare waren zu fein, ihre Nase zu breit, ihre grünen Augen zu klein – ach, ellenlang war die Liste ihrer Unzulänglichkeiten. Das Einzige, worauf sie hoffen konnte, war ihre Mitgift – und selbst die war nicht so üppig, dass sie Männer anzog wie Honig die Fliegen. Ganz zu schweigen davon, dass sie sich selbst durch ihre Dummheit wohl jede Aussicht auf eine Ehe genommen hatte.

Emma rang nach Luft, als sie erneut die Vision ihrer Zukunft überkam, in der sie weiterhin mit ihren Eltern lebte und diese ewig gleichen Abendessen bis in die Unendlichkeit hinein erdulden musste. Niemals! Sie würde alles unternehmen und irgendeinen Mann heiraten, um ihren Eltern zu entkommen.

»Emma!«

»Ja, Mutter. Entschuldigung.«

Warum lächelte ihre Mutter, obwohl Emma sich weggeträumt hatte und damit wieder einmal die hohen Erwartungen ihrer Mutter nicht erfüllt hatte? Das bereitete ihr beinahe noch mehr Sorge als der Vater, dessen Zeigefinger seine Worte voller Verve begleitete.

»Emma. Wir haben eine wunderbare Überraschung für dich.«

»Ja?« Womit sollte sie so etwas verdient haben? Eigentlich hatte Emma eher mit einer Bestrafung gerechnet. Doch andererseits, konnte sie sicher sein, dass ihr die angekündigte Überraschung wirklich gefiel?

»Du wirst den Frühling in England verbringen.«

»In England?« Sie hasste es, wenn sie sich anhörte wie der Papagei ihrer Patentante, aber zu viele Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. War das die Strafe für ihre Dummheit? Wurde sie verbannt? Oder hofften ihre Eltern, dem Skandal zu entgehen, wenn sie Emma wegschickten?

»Glaubt ihr, in England findet sich ein Mann für sie?« Emma verabscheute es, wenn ihr Bruder über sie redete, als säße sie nicht mit am Tisch. »Warum sollte sich dort einer opfern?«

»Franz! Das ist rüde und deiner nicht würdig.«

Beinahe hätte Emma nicht aufgepasst und das triumphierende Gesicht allzu deutlich gezeigt. Gerade noch rechtzeitig senkte sie den Kopf, damit niemand das Lächeln bemerkte, das ihre Mundwinkel umspielte. Endlich einmal bekam ihr Bruder etwas zu hören, weil er sie schikaniert hatte. Bisher konnte der Wunderknabe ja anstellen, was er wollte. Ihre Eltern beteten den Boden an, auf dem er ging. Dieser Triumph war so gewaltig, dass sie beinahe vergaß, was Franz Böses gesagt hatte.

Ihre Eltern wollten sie nach England schicken. Allein! Der Schrecken war so groß, dass Emma Schluckauf bekam. So sehr sie sich auch wünschte, ihrer Familie zu entkommen, so sehr grauste es ihr vor der Vorstellung, allein in einem fremden Land zu sein, dessen Sprache sie nur unzureichend beherrschte. Hatte ihr Vater nicht das Abendessen mit einem Plädoyer gegen das Land begonnen?

»Aber …«, begann sie mit piepsiger Stimme. »Aber was soll ich denn dort?«

»Du wirst nach Hazelwell Manor reisen. Lady Ashworth ist eine Großcousine von mir. Sei dankbar, dass sie dich eingeladen hat.«

Wieso sollte sie mich einladen? Sie kennt mich ebenso wenig wie ich sie. Sicher hat Mutter ihr einen Brief geschrieben, in dem sie gebeten hat, mich aus Braunschweig zu entfernen. Alles nur, weil ich dumm war.

»Was will Lady Ashworth wohl mit Emma?« Franz schien den Tadel bereits verwunden zu haben und stichelte weiter, etwas, was er perfekt beherrschte. »Hat sie einen Sohn, für den es in ganz England keine Frau gibt, weil er einen Buckel hat und sabbert?«

»Auf dein Zimmer.« Ihre Mutter klang zornig, wie Emma sie bisher noch nie erlebt hatte. »Und versuch nicht, dir nachher in der Küche das Dessert zu holen.«

»Aber, Mutter.« Franz wirkte rechtschaffen und zu Unrecht beschuldigt, doch bevor er ein weiteres Wort sagen konnte, griff ihr Vater ein.

»Keine Diskussion. Tu, was deine Mutter befohlen hat.«

Wütend sprang Franz auf, stieß den Stuhl um und stürmte aus dem Zimmer, ganz der verwöhnte Kronprinz, als den ihre Eltern ihn immer behandelten. Am liebsten hätte Emma ihm die Zunge herausgestreckt, aber das erschien ihr zu kindisch. Außerdem knallte Franz bereits die Tür hinter sich zu. Vater und Mutter wechselten einen Blick, der deutlich erkennen ließ, dass ihr Bruder dieses Mal nicht so einfach davonkommen würde. So sehr sie ihm das gönnte, begann Emma sich zu fragen, was so bedeutend sein konnte, dass ihre Eltern sich ausnahmsweise auf ihre Seite schlugen.

»Emma, dein Vater und ich müssen uns eingestehen, dass wir unseren Teil der Schuld an diesem … an diesem Desaster tragen.« Das Gesicht ihrer Mutter wirkte, als hätte sie in eine Zitrusfrucht gebissen. Ihre Oberlippe kräuselte sich, ein Ausdruck der Verachtung, den Emma hasste. »Wir haben dir zu viele Freiheiten gelassen und deine Erziehung vernachlässigt.«

Vater und du – als hättet ihr euch je um mich gekümmert. Alles, was ich gelernt habe, verdanke ich Frau Rotbusch.

Der Gedanke an ihre geliebte Gouvernante lenkte Emma einen Moment von der unerfreulichen Wendung ab, die das Tischgespräch genommen hatte.

»Äußere dich.«

»Ich kann niemals allein nach England reisen«, griff Emma nach dem ersten Strohhalm, der sich ihr darbot. »Das schickt sich nicht.«

»Selbstverständlich wird Meta dich begleiten.«

Das würde eine wunderbare Reise werden, begleitet von einer Zofe, die sich gern Frechheiten herausnahm.

»Emma.« Ein Hauch Ungeduld schwang im Tonfall mit, was Emma nur zu gut kannte. »Du wirst bald einundzwanzig und bist ohne Aussicht auf eine Ehe. Nicht nach dem, was du dir zuschulden hast kommen lassen. Vielleicht hast du in England ja Glück.«

»Ja, Mutter.« Die Nachspeise, ein wundervoll nach Zimt duftender Apfelstrudel, schmeckte wie Asche, als Emma sich eingestand, dass ihr Bruder recht hatte: Warum sollte ein Engländer sich in sie verlieben?

Kapitel 2

England, Hazelwell Manor 1913

Steh auf, du Langschläferin.« Eine Hand rüttelte an Lucys Schulter. Noch benommen und im Halbschlaf schlug sie nach dem Ärgernis, aber ohne Erfolg. Die Störung blieb bestehen, begleitet von dringlich klingenden Worten. »Komm, Lucy, wir dürfen nicht zu spät kommen.«

»Ich komm ja«, murmelte sie und öffnete die Augen. Jessies Gesicht war so nah, dass Lucy jede Sommersprosse auf der Nase des anderen Hausmädchens erkennen konnte – und das waren viele. Sie passten wunderbar zu der winzigen, koboldhaften Jessie mit den roten Haaren, denen es immer wieder gelang, sich aus dem Knoten zu lösen und sich unter dem weißen Häubchen hervorzustehlen. Wenn Jessie grinste, so wie jetzt, erschien ein tiefes Grübchen auf ihrer linken Wange. Ihre Freundin war all das, was Lucy so gerne wäre: zart, hübsch und absolut unerschrocken. Lucys Haare waren mausfarben und blieben stets brav im Knoten. Korrekt wie Lucy selbst, die sich stets bemühte, sich an alle Regeln zu halten. Was ihr auf Hazelwell Manor schwerfiel, denn es gab unglaublich viele davon, die sie oft nicht verstand. Und das frühe Aufstehen hasste sie, besonders wenn es draußen noch dunkel war.

Lucy richtete sich auf und stieß mit dem Ellenbogen Rules for the Manners of Servants in Good Families herunter. Das Buch lag bereits seit Wochen auf dem schmalen Nachttisch neben der Kerze, die ihr als Leselicht diente. Lucy hatte es fünfmal begonnen und war jedes Mal darüber eingeschlafen, so sehr sie sich auch bemühte. Die Benimmregeln für Bedienstete vermochten sie einfach nicht zu fesseln. Wie viel einfacher war das Leben als Hausmädchen bei den Schwestern Birdwhistle gewesen, wo Lucy vier Jahre in Diensten gestanden hatte.

»Einmal ausschlafen, das wäre himmlisch«, murmelte sie und setzte sich auf. Schlagartig wurde sie wach, als ihre bloßen Füße den eiskalten Holzboden berührten. »Man könnte meinen, es wäre Winter.«

»Dann schlaf halt mit Socken, so wie ich.« Jessie stand vor dem Spiegel und prüfte ein letztes Mal ihre Frisur.

»Und was mache ich dann, wenn es wirklich kalt ist?«

Jessies Antwort bestand aus einem Schulterzucken.

»Ich bringe Mrs Ogden und Ms. Fernsby ihre Tees, aber beeil dich.« Jessie rückte ihr weißes Häubchen zurecht, strich eine Falte an ihrem bedruckten Kleid glatt und schlüpfte aus der Kammer.

»Danke«, rief Lucy ihr hinterher, war aber nicht sicher, ob ihre Freundin sie überhaupt gehört hatte. Dann würde es morgen früh ihre Aufgabe sein, den Tee für Zofe und Hausdame zu kochen. Schwer kämpfte sie gegen die Versuchung an, einfach liegenzubleiben. Immer wieder drohten ihre Lider zuzufallen, aber es half nichts. Ihr Tagwerk musste getan werden.

Nachdem ihre Freundin die Tür zur Dachkammer hinter sich geschlossen hatte, spürte Lucy den Sog der warmen Bettdecke, aber sie widerstand. So wie jeden Morgen. Schließlich trug sie Verantwortung für ihre Familie und konnte daher nicht einfach im Bett herumlümmeln, so gern sie das auch getan hätte. Manchmal, an Morgen wie diesen, wenn ihr kalt war und die Müdigkeit einfach nicht weichen wollte, fragte sie sich, warum die Welt so ungerecht war. Warum sie kurz nach Sonnenaufgang aufstehen musste, um ein prächtiges Haus behaglich zu machen, während Florence und Georgina Blakenham, die Töchter der Herrschaft, sich noch Stunden in ihren feinen Laken aalen durften, um sich dann an einen gedeckten Tisch zu setzen und sich an einem opulenten Frühstück zu laben.

Was sollen diese unnützen Gedanken? Ich muss mich sputen.

Obwohl sie spät dran war, lief Lucy ins Dienstboten-Bad, wo sie kaltes Wasser in eine Kanne füllte. Das goss sie in die Waschschüssel und wusch sich schnell, bevor sie das schwere Nachthemd auszog und in ihre Unterwäsche schlüpfte. Auch heute kämpfte sie mit den Schnüren des Korsetts und wünschte sich, Jessie wäre hier, um ihr zu helfen. Dann musste es eben so gehen. Sie griff nach dem bedruckten Kleid, wie es Hausmädchen für die morgendlichen Reinigungsarbeiten trugen.

Wie immer, wenn sie es eilig hatte, ging alles schief. Erst stieß sie mit dem Ellenbogen gegen die Kante des Messingbettes, was sie mit einen Schmerzenslaut kommentierte, froh, dass niemand sie hören konnte. Dann riss das Schnürband an ihrem linken Schuh. Mühsam verknotete sie es, weil ihr keine Zeit blieb, einen neuen Senkel einzuziehen. Ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen, lief sie aus ihrer Kammer. Mit geschürztem Rock flitzte sie den langen Flur entlang, wobei sie im Stillen betete, dass weder der gestrenge Butler noch die ebenso resolute Hausdame sie erwischten, wie sie rannte.

Sie sprang die Hintertreppen hinab, wobei sie zwei Stufen auf einmal nahm, und dann hatte sie endlich das Herz des Dienstbotentrakts erreicht: die Küche. Immerhin war es dort behaglich warm. Der gewaltige eiserne Herd bullerte; von dem Kocher, in dem heißes Wasser brodelte, stieg Hitze auf.

Nur wenig Morgenlicht fiel durch die kleinen Fenster, die weit oben angebracht waren. Ethel, das Küchenmädchen, hatte bereits die Gaslampen entzündet und scheuerte den schweren Holztisch, auf dem Fleisch und Gemüse geschnitten wurden.

»Guten Morgen, Lucy.« Ethel nickte ihr zu. Obwohl sie schon seit 4:00 Uhr morgens auf den Beinen war und die Küche hatte aufräumen müssen, summte sie leise vor sich hin. Ethel war immer zufrieden, selbst wenn die Köchin sie antrieb oder sie vor den Ohren aller anderen beschimpfte, weil sie angeblich einen Fehler gemacht hatte.

»Mir geht es hier gut. Ich bekomm mehr zu essen, als ich je in meinem Leben gesehen habe«, hatte sie Lucy einmal gesagt. »Ich hab ’n Bett für mich und verdien Geld. Was will ich mehr?«

Ob es wohl schon einen Tee gab, der Müdigkeit und Kälte vertrieb? Bevor Lucy sich danach umschauen konnte, hörte sie, wie jemand ihren Namen rief.

»Wo bleibst du denn?« Maude, das Erste Hausmädchen, war zwar nur zwei Jahre älter als Lucy, aber hielt sich für etwas Besseres, weil sie seit fünf Jahren auf Hazelwell Manor diente. »Soll ich etwa die Kamine säubern?«

»Mein Schnürsenkel ist gerissen«, murmelte Lucy.

Erneut sputete sie sich, um Jessie zu helfen, die sicher bereits im Drawing Room mit der Arbeit begonnen hatte.

Gemeinsam mit ihrer Freundin öffnete sie die schweren Vorhänge des Salons, bevor sie den Kamin säuberte. Jessie verteilte feuchte Teeblätter auf dem Teppich, die den Staub aufnehmen sollten. Gemeinsam räumten sie Gläser ab, die die Familie gestern Abend hatte stehen lassen. Während ihre Freundin die Teeblätter auffegte, entzündete Lucy ein Feuer, das ihr Gesicht erhitzte. Jessie schüttelte die Kissen aus und ordnete sie auf dem Sofa an, sodass Lucy die Gläser zum Spülen in die Küche brachte. Obwohl Ethel ihr einen Tee anbot, widerstand Lucy der Versuchung, sich einen Moment auszuruhen. Schließlich mussten noch viele Zimmer in Ordnung gebracht werden, bevor die Familie aufstand.

Als sie ins Esszimmer kam, entdeckte sie Jessie im Gespräch mit Leopold, dem Ersten Diener. Der hochgewachsene schlanke Mann hielt locker den Korb in der Hand, mit dem er Kohlen und Feuerholz heraufgetragen hatte.

»Leopold, du darfst gar nicht hier sein.« Lucy blickte über ihre Schulter. »Wenn Mrs Ogden uns zusammen sieht, bekommen wir einen Haufen Ärger.«

»Ich habe auf euch gewartet.« Obwohl der Lakai Kohlen nach oben getragen hatte, war sein dunkler Anzug makellos. »Sonst kann ich immer nur unter Aufsicht mit euch reden.«

»Was ist so wichtig, dass du uns in die Bredouille bringst?«, blaffte Lucy ihn an. »Schnell, sag es und dann verschwinde.«

»In drei Wochen ist Kirmes im Dorf. Ich wollte euch fragen, ob ihr mich begleitet.«

»Auf jeden …«, setzte Jessie an, aber Lucys Ellenbogenstoß in ihre Rippen ließ sie verstummen.

»Wir überlegen es uns und sagen dir demnächst Bescheid. Und jetzt geh.«

Er warf ihnen zwei Luftküsse zu und ging davon. Die schweren Kohleeimer schwenkte er, als würden sie gar nichts wiegen.

»Warum hast du mich geboxt?« Jessie schlug Lucy auf den Oberarm. »Natürlich gehen wir mit ihm auf die Kirmes.«

»Leopold sieht nicht nur gut aus, er weiß das auch.« Lucy zuckte mit den Schultern. »Er versucht sein Glück bei jeder Frau.«

»Außer bei Mrs Ogden. Obwohl ich das zu gern sehen würde.« Jessie kicherte. »Aber du musst zugeben, Leopold und Kenneth wirken beeindruckend in ihren dunklen Anzügen und weißen Hemden.«

»Jeder Mann macht etwas her, wenn man ihn in so eine Uniform steckt«, wiegelte Lucy ab, die sich nicht eingestehen wollte, wie ausnehmend gut aussehend sie Leopold fand. Sie wollte keine weitere Trophäe für ihn sein. Außerdem trug sie Verantwortung für ihre Mutter und Bertie. Deren Leben würde sie nicht für einen Windhund wie Leopold aufs Spiel setzen, mochte er noch so wundervoll dunkle Augen haben und schön mit Worten umgehen können. »Beeil dich!«

»Fertig!« Jessie richtete sich auf und griff mit der Hand an den Rücken. »Endlich Frühstück.«

Als ihr Magen vernehmlich knurrte, sputete sich Lucy, voller Vorfreude auf die Mahlzeit. Sie setzte sich auf ihren Platz und sandte ein »Guten Morgen« in die Runde. Wie jeden Tag saßen diejenigen, die nicht für den Kamindienst und das Putzen zuständig waren, bereits an dem großen Tisch aus hellem Holz, der vom vielen Scheuern rau und unansehnlich geworden war. Mr Hutchins, der Butler, thronte wie immer am Kopfende und schaute kurz auf. Automatisch glitt Lucys Hand zu ihrem Häubchen, um zu prüfen, ob es auch richtig saß. Mr Hutchins machte sie nervös, obwohl sie bereits ein halbes Jahr hier arbeitete. In seinem schwarzen Anzug mit dem stets blütenweißen Hemd wirkte er so hoheitsvoll, dass sie sich immer wie ein Bauerntrampel vorkam.

»Guten Morgen, Lucy, du siehst aus wie das blühende Leben.« Leopold zwinkerte ihr zu. Sie antwortete ihm nicht, weil sie nie wusste, ob er sich über sie lustig machte oder es ernst meinte.

Mrs Griffiths, die Köchin, beantwortete ihren Gruß mit einem kurzen Nicken und drückte ihr eine Tasse Tee in die Hand, der so heiß war, dass sie sich fast die Zunge verbrannte. Lucy konnte es kaum erwarten, Porridge mit Sahne und Zucker zu essen. Oder sollte sie mit dem duftenden, noch warmen Brot beginnen, das Ethel gebacken hatte?

Viel zu schnell endete die Mahlzeit, als der Gong ertönte, der das gemeinsame Morgengebet in der großen Halle ankündigte. Nachdem Lord Ashworth den Psalm gelesen hatte, ging die Familie frühstücken. Für Maude, Jessie und Lucy das Zeichen, nun die Schlafräume der Herrschaft zu reinigen und die Betten zu machen.

Als all das erledigt war, blieb nur noch eine Aufgabe für den Morgen: das Fegen der eleganten, geschwungenen Treppe. Normalerweise übernahm Maude diese Aufgabe, aber sie wollte sich heute den Blumengestecken widmen, wie sie es nannte, sodass Lucy und Jessie gemeinsam die Arbeit erledigten.

Dann hieß es wieder, die vielen Treppenstufen bis zu ihrer Kammer unter dem Dach hinaufzulaufen, um sich für den Nachmittag umzuziehen. Lucy streifte das gemusterte Kleid über den Kopf, um das schwarze anzuziehen, das sie mit einer weißen Schürze trug.

»Warum wird von uns erwartet, dass wir die Kleidung wechseln?«, fragte sie zum wiederholten Mal. »Uns sieht doch sowieso niemand von den feinen Herrschaften. Wir sind und bleiben unsichtbar.«

»Wieso musst du immer so viele Fragen stellen?« Jessie gähnte. »Es ist, wie es ist. Basta.«

Erst am Nachmittag kehrte etwas Ruhe ein, natürlich nur für die Hausmädchen. Die Küchenmädchen und die Köchin waren lautstark damit beschäftigt, den Afternoon Tea zuzubereiten. Einen Moment hatte Lucy überlegt, ob sie in ihre Kammer gehen und sich hinlegen sollte, aber sie entschied sich dagegen. Die Vorstellung, all die Treppenstufen nach oben und dann wieder hinabsteigen zu müssen, schreckte sie ab. Also suchte sie sich eine Näharbeit aus dem Korb, der in der Dienstbotenstube stand, und fädelte einen Faden ein. Mit halbem Ohr lauschte sie den Gesprächen, die zwischen den anderen Hausmädchen verliefen und sich, wie so oft, um deren Zukunft drehten. Keine von ihnen wollte auf Hazelwell alt werden. Maude hoffte auf eine Heirat, Katie wünschte sich eine Anstellung in London oder Manchester und Jessie wollte Zofe werden.

Wenn ich nicht für meine Familie sorgen müsste, was für eine Zukunft würde ich mir vorstellen? Darf ich so etwas überhaupt denken? Es fühlt sich wie ein Verrat an Mum an. Aber Bertie könnte endlich anfangen, Geld zu verdienen, sodass ich nicht alles allein schultern muss.

Bevor sie sich in ihren Gedanken verlieren konnte, erwarteten sie bereits weitere Aufgaben. Manchmal erschien es Lucy, als fänden die Tage nie ein Ende. Als wäre sie gefangen in einer Tretmühle ewig gleicher Tage mit ewig gleichen Tätigkeiten. Aber es ging ja nicht nur ihr so, auch auf die Diener, die Küchenmädchen, ja selbst auf den Butler, die Hausdame und die Zofe warteten Aufgaben, die ihnen vorgegeben waren. Den Upper Servants ging es nach Lucys Ansicht schlechter als ihr, weil sie ständig für ihre Herrschaft zur Verfügung stehen mussten, während Hausmädchen und Küchenmädchen festen Abläufen folgten.

Lucys Magen knurrte vernehmlich, ein sicheres Zeichen, dass es bald Dinnerzeit war. Sehr schnell hatte sie sich an die festen Essenszeiten gewöhnt, auch wenn sie die Rituale der Mahlzeiten immer noch etwas albern fand. Bei den Schwestern Birdwhistle war die Nahrungsaufnahme ein notwendiges Übel gewesen, das die beiden Damen von dem abgelenkt hatte, was sie eigentlich interessierte: ihre Muschel- und Büchersammlung. Lucy hatte mit der Köchin und dem Küchenmädchen in einem kleinen Raum neben der Küche gegessen, wann es den Birdwhistles passte.

Hier auf Hazelwell Manor war sogar das Dinner der Dienstboten eine äußerst formelle Angelegenheit, von der auf keinen Fall abgewichen werden durfte. Kaum hatte sie diesen Gedanken gefasst, läutete bereits die Glocke, die anzeigte, dass gleich die Pug’s Parade bevorstand. Die Upper Servants wie der Butler und die Hausdame hielten sich für etwas Besseres, was ihnen von den Lower Servants wie Jessie und Lucy den Spitznamen Pugs eingebracht hatte. Jessie hatte damit begonnen, sie hatte es von einer Freundin gehört, die in einem großen Londoner Haus in der Küche arbeitete. Ob die oberen Dienstboten wohl wussten, dass man sie heimlich Möpse nannte, weil sie so hochnäsig und ihre Mundwinkel stets herabgezogen waren?

Wie jeden Abend hatten sich die Upper Servants in Mrs Ogdens Räumen versammelt und marschierten nun, mit ernster, ihrer Bedeutung angemessener Miene, in den Speiseraum. An der Spitze befand sich natürlich Hutchins, der äußerst elegant aussah in seinem schwarzen Frack. Ein unwissender Mensch, so wie Lucy, als sie nach Hazelwell Manor gekommen war, hätte ihn für seine Lordschaft halten können.

Wie ebenfalls jeden Abend warteten die Lower Servants, bis die Pugs ihre Plätze eingenommen hatten. Mrs Ogden saß an einem Kopfende, der Butler am anderen. Dazwischen saßen die Dienstboten, die Männer rechts, die Frauen links.

Lucys Blick fand den von Jessie, die spöttisch ihre Augen verdrehte, darauf bedacht, dass keiner der Upper Servants dies bemerkte. Schon oft hatten die beiden Freundinnen sich über dieses aufgeplusterte Gehabe lustig gemacht, aber natürlich nur untereinander.

Lucy musste zugeben, dass es ihr schmeichelte, wenn einer der Diener ihr die Platte mit dem Fleisch reichte. Für eine kurze Zeit konnte sie sich fühlen, als wäre sie ein Teil der Herrschaft und nicht das Hausmädchen, das deren Dreck wegputzte.

Kapitel 3

Hazelwell Manor 1913

Vor Aufregung war Lucy heute Morgen noch vor Jessie aufgewacht. Denn es war Sonntag und sie würde endlich ihre Familie wiedersehen. Selbst Maude, die sonst unfreundlich und von oben herab war, lächelte ihr zu.

»Sie trifft sich nach dem Kirchgang mit dem Gärtner«, flüsterte Jessie Lucy hinter vorgehaltener Hand zu. »Sie soll bloß aufpassen, dass sie nicht erwischt wird.«

Jeder im Haus wusste, dass das Erste Hausmädchen für den Gärtner schwärmte und er für sie. Jedes Mal, wenn er Blumen ins Haus brachte, hatte er einen kleinen Strauß für Maude dabei. Zierlicher und bescheidener als die Gestecke, die im ganzen Haus verteilt auf die Tische gestellt wurden, aber Lucy dachte immer, man sähe dem Gebinde für Maude an, dass es mit Liebe gemacht war.

»Ob die beiden wohl heiraten werden?« Es erschien Lucy romantisch, sich vorzustellen, wie Maude mit dem Gärtner durchbrannte und ein besseres, ein freieres Leben mit ihm führte. »Wenn sie nicht schnell genug ist, sucht er sich eine andere.«

»Wenn Maude so dumm wäre, sich auf die Liebschaft einzulassen, verliert sie ihren Job.« Jessie schüttelte sich, als hätte ihr jemand Schnee in den Nacken gesteckt. »Du weißt doch: No Follower

Ob Mrs Ogden ernsthaft fürchtet, eine von uns würde ein Techtelmechtel mit einem der Diener anfangen?

Das hatte sich Lucy bereits am ersten Tag gefragt, als ihr gezeigt wurde, dass die männlichen und die weiblichen Dienstboten weit entfernt voneinander schliefen. Es gab sogar getrennte Eingänge, als wäre einer von ihnen nach einem langen harten Arbeitstag noch darauf aus, eine Liebelei anzufangen.

»Ja.« Lucy seufzte. Das hatte ihr Mrs Ogden mehrfach gesagt. Ein Hausmädchen darf keinen Freund haben. »Außerdem, wie soll unsereins einen Mann kennenlernen? Wir sind doch fast immer unten oder unsichtbar.«

»Maude hat es auch geschafft und wir sind viel hübscher als sie.«

»Glaubst du, sie würde alles hier aufgeben?«

Lucy ging auf die Knie, wobei ihr das Korsett in den Bauch pikste. Mit dem Handfeger kehrte sie die Asche aus dem Kamin in den gusseisernen Behälter. So wie jeden Morgen. Inzwischen hasste sie den feinen Staub, der sich auf Hände, Gesicht und Kleidung legte, auch wenn sie noch so vorsichtig zu Werke ging.

»Pass doch auf!« Jessie stieß Lucy an, die so in ihre Gedanken versunken war, dass die Hälfte der Asche neben dem Eimer gelandet war. »Wir haben sowieso schon zu viel zu tun, wegen der Gäste. Gib dir also Mühe, sonst schaffen wir unsere Arbeit nicht.«

»Entschuldige.« Eilig fegte Lucy die Asche zusammen und gab sie vorsichtig in den Behälter. »Hat schon eines der Hausmädchen geheiratet?«

»Bist du verliebt?«

»Nein.« Lucy wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und verteilte sicher noch mehr Asche auf ihrem Gesicht. »Ich frage mich nur, ob es nicht noch ein anderes Leben für uns gibt.«

»Komm, die Kamine säubern sich nicht von selbst.« Jessie hatte Holz aufgestapelt und entzündete ein Feuer, das bald behagliche Wärme verbreiten würde. Auch wenn die Tage inzwischen frühlingshaft waren, blieben die Nächte empfindlich kalt. »Für solche wie dich und mich gibt es nur Arbeit. Wenn dir das Hausmädchenleben nicht gefällt, geh nach London.«

»London.« Lucy schloss einen Moment die Augen. »Wünschst du dir nicht, dass sie dich einmal zur Season mitnehmen?«

Obwohl Lucy sich vor der Größe Londons fürchtete, wäre sie gern einmal Teil der Season gewesen, der Zeit der Debütantinnenbälle, der Kunstausstellungen, der Pferderennen, selbst wenn sie nur eine Nebenrolle gespielt hätte.

Abrupt blieb Jessie stehen. Ihr Gesichtsausdruck war so ernst, wie Lucy ihn bisher nie gesehen hatte. Ihre Stimme klang dunkler als sonst, als sie die Worte ausspuckte: »Ich will nichts mit ihnen zu tun haben. Ich bin froh, meinen Platz zu haben. Glaub mir, für sie bedeuten wir nichts.«

Bevor Lucy ihre Freundin fragen konnte, was sie damit meinte, hörte sie Mrs Ogden nach ihnen rufen. Die Hausdame sollten sie besser nicht warten lassen.

»Beeil dich.« Lucy wippte von den Zehenballen auf den Hacken und wieder zurück. Jessie polierte ihren Schuh, als ob sie sich darin spiegeln wollte. »Ich will meinen freien Tag genießen.«

»Pfft«, antwortete Jessie. »Genießen. Du wirst ihn mit deiner Familie verbringen. Wie abenteuerlustig du doch bist.«

»Ich vermisse sie. Hast du nie Heimweh?«

»Nach Irland?« Jessie zog den Lappen ein letztes Mal über das Leder und richtete sich auf. »Nein, mir geht es hier besser. Meistens.«

Endlich schien der Schuh ihren Ansprüchen zu genügen. Nachdem Lucy und Jessie sich zweimal über die Schulter geblickt hatten, ob niemand anders zu sehen war, hüpften sie die Hintertreppe hinab wie übermütige Fohlen bei ihrem ersten Weidegang im Frühling.

Arm in Arm schlenderten sie die Landstraße entlang. Die zwei Meilen ins Dorf zogen sich hin, obwohl der Tag es gut mit ihnen meinte und eine sanfte Sonne auf sie herab schien.

»Du kannst wirklich mit zu meiner Familie kommen«, bot Lucy erneut an. Der schwere Korb rutschte wieder aus ihrer Ellenbogenbeuge und sie entzog Jessie ihren Arm, um den Korb wieder hochzuschieben.

»Nein, ich käme mir vor wie das fünfte Rad am Wagen. Außerdem will ich etwas erleben.«

»In Westbury. Das dürfte fast so aufregend sein wie ein Tag in London.« Ein Stich des Neids begleitete Lucys Worte. Manchmal wünschte sie sich, sie könnte ihr weniges Geld verprassen, so wie Jessie es tat. »Hast du keine Angst, allein mit dem Zug dorthin zu fahren?«

»Wer sagt, dass ich allein reisen werde?« Jessie zwinkerte ihr zu. »Da du Leopold nicht wolltest, habe ich meine Chance genutzt.«

»Pass nur auf, dass dich niemand sieht.« Ohne Jessie wäre das Leben auf Hazelwell Manor langweilig und einsam. »Und erlaube ihm keine Frechheiten.«

»Himmel, du hörst dich an wie die Gouvernante von Florence und Georgina. Die immer so vornehm tut.« Ein Schatten zog über Jessies Gesicht. »Mach dir keine Sorgen. Ich kann mich meiner Haut wehren.«

Nachdem sie sich von ihrer Freundin verabschiedet hatte, die es kaum erwarten konnte, zu Leopold zu kommen, eilte Lucy so schnell ans andere Ende von Bownham, wie es die Schicklichkeit zuließ. Nicht auszudenken, wenn ein Dorfbewohner sie rennen sah und bei Mrs Ogden anschwärzte. Also mäßigte sie sich zu einer Gangart, die einer jungen Dame anstand, obwohl sie es kaum erwarten konnte, endlich nach Hause zu kommen.

Als sie das schmale Häuschen aus hellem Sandstein sah, fiel ihr als Erstes ins Auge, dass Bertie den Garten noch immer nicht in Ordnung gebracht hatte, obwohl sie es ihm am letzten Sonntag gesagt hatte. Zwischen dem Gemüse wucherte das Unkraut, die Hecke sprießte in alle Richtungen. Was würden die Nachbarn denken, wenn der kleine Flecken Grün vor dem Haus so verwilderte?

Sie holte tief Luft und versuchte, ihren Ärger herunterzuschlucken, damit Mum ihn nicht auf der Stirn ablesen konnte. Erst nachdem sich ihr Lächeln echt anfühlte, öffnet sie die Tür des kleinen Cottages.

»Lucy, Liebes, wie gefällt es dir im Herrenhaus?« Bereits die wenigen Schritte, um sie zu begrüßen, hatten die Wangen ihrer Mutter rot anlaufen lassen. Sie keuchte, als wäre sie einen Berg hinaufgerannt und nicht nur bis zur Tür gegangen. »Hast du genug zu essen? Du bist so dünn.«

»Ich habe sogar etwas zu essen für uns mitgebracht.« Lucy schwenkte den Korb, in dem sich die Leckereien verbargen, die die Köchin ihr zugesteckt hatte. Reste des Abendessens der Herrschaft, aber so viel besser als alles, was Lucy je zuvor gesehen hatte. Stolz stellte sie die Lebensmittel auf den Küchentisch. »Hier. Brot, französischer Käse und Obstpasteten.«

»Das soll man essen können.« Bertie, ihr drei Jahre jüngerer Bruder, schnupperte an dem Käse und wandte sich dann mit angeekelter Miene ab. »Warum kannst du nicht etwas Vernünftiges wie eine Fleischpastete mitbringen?«

»Weil die Herrschaft das nicht isst.«

»Weil die Herrschaft das nicht isst«, äffte er sie nach. »Tu nicht so vornehm.«

»Genug, Bertie. Es ist ausnehmend nett von Lucys Herrschaft, so großzügig zu uns zu sein.«

»Eigentlich war es die Köchin. Kann ich dir helfen? Die Wäsche waschen?«

»Das habe ich schon erledigt. Bild dir nicht ein, wir brauchen dich. Nur wenn du sonntags für einen Nachmittag nach Hause kommst.«

»Bertie!« Sofort nach dem scharf ausgesprochenen Wort begann ihre Mutter zu husten. Lucy goss ihr Wasser aus dem Krug ein, der auf der alten Spüle stand.

Wütend schnaubte ihr Bruder auf und stürmte hinaus, wobei er die Tür hinter sich zuknallte.

»Hat Dr. Culpepper dir neue Medizin verordnet?«

Ihre Mutter setzte das Glas Wasser erneut an.

»Mum?«

»Ich kann sie nicht bezahlen.«

»Ich habe Geld mitgebracht. Meinen Lohn.«

»Davon muss ich Essen für Bertie und mich kaufen.«

»Er könnte arbeiten. Alt genug ist er.«

»Der Junge ist nicht verkehrt und hilft, wo er kann. Aber er soll zur Schule gehen, damit er es später einmal besser hat.«

Ich hätte gerne weiter gelernt, viel lieber und besser, als Bertie es je können wird, aber ich musste zu den Birdwhistles gehen. Vielleicht hätte ich sogar Lehrerin werden können. Klug genug dafür bin ich, hat Mr Hopgood immer gesagt.

Sofort schämte sie sich für die bitteren Gedanken. Ihre Mutter hätte sicher gewünscht, dass Lucy länger zur Schule ginge, aber es war nicht möglich. Nicht nach Dads Tod, der ihnen den Ernährer genommen hatte. Erst recht nicht nach dem Ausbruch von Mums Krankheit, die sie ans Haus fesselte und so sehr schwächte, dass sie nicht einmal mehr Wäsche oder Näharbeiten annehmen konnte.

Das schlechte Gewissen traf Lucy mit Macht. Wie konnte sie ihren Bruder beneiden, wusste sie doch, wie sehr ihre Mutter darunter litt, dass sie der Tochter kein besseres Leben geben konnte. Wenn Bertie es wenigstens zu schätzen wüsste, dass er noch zur Schule gehen und lernen durfte, dass er eine Zukunft vor sich hatte, die mehr beinhaltete, als den Dreck reicher Menschen wegzukehren und für ihren Komfort zu sorgen. Stattdessen beschwerte er sich bei jeder Gelegenheit – und ihre Mutter stellte sich immer auf seine Seite. Ob es daran lag, dass Bertie dem Vater so ähnlich sah? Oder hatten es Jungen einfach immer besser im Leben?

»Mum, setz dich hin. Ich kümmere mich um das Essen.« Lucy packte die Mitbringsel aus, verstaute sie in der Speisekammer und deckte den Tisch.

»Wo ist Whiskers?« Suchend blickte sie sich um. Normalerweise kam die Kätzin sofort angelaufen, wenn Lucy nach Hause kam. Es kam ihr vor, als vermisste das Tier sie genauso wie sie es. Lucy hatte Whiskers vor sechs Jahren in einem Straßengraben gefunden. Das schwarze Kätzchen war winzig und hatte gerade erst die Augen geöffnet. Mit viel Liebe und Ziegenmilch war es Lucy gelungen, das Tierchen durchzubringen. Obwohl es damals schon knapp bei ihnen war, hatte ihre Mutter nie Einwände dagegen erhoben, dass Whiskers bei ihnen lebte. Nachdem sie ausgewachsen war, zeigte sich die Katze als veritabler Mäusefänger und hing voller Liebe an Lucy, als wüsste sie, dass das Mädchen ihr das Leben gerettet hatte. Bertie ging sie aus dem Weg und der Mutter gegenüber blieb Whiskers freundlich. Ihre Katze zurückzulassen, als sie die Stelle als Dienstmädchen antrat, hatte Lucy beinahe das Herz gebrochen. Aber es musste sein und sie war sicher, dass ihre Mutter sich gut um Whiskers kümmerte.

Allerdings nahm die Katze es Lucy übel, dass sie sie verlassen hatte. Bei ihrem ersten Besuch hatte Whiskers Lucy angefaucht und war davongelaufen, sobald Lucy versuchte, sich ihr zu nähern. Beim zweiten Besuch allerdings schien die Katze verstanden zu haben, dass Lucy sie nicht im Stich gelassen hatte, und kuschelte sich wieder auf ihrem Schoß ein.

»Sag, wie gefällt es dir?«

»Ach, Mum, es ist immer das Gleiche. In Jessie habe ich eine wundervolle Freundin gefunden. Bei den Birdwhistles war es besser, aber …«

Was hatte es für einen Zweck, der ersten Anstellung nachzutrauern. Nachdem Miss Eunice mit 66 Jahren gestorben war, hatte Miss Honora, die ältere Schwester, den Lebensmut verloren und war im Hospital gestorben. Zu Lucys Glück hatte sie die Anstellung auf Hazelwell Manor bekommen, was viel näher an Bownham lag.

»Lucy, es tut mir leid. Ich habe wieder Näharbeiten angenommen.«

»Nein, Mum, das musst du nicht.«

»Erzähl mir von dir.«

Während Lucy ihrer Mutter das Leben im Herrenhaus als eine Ansammlung lustiger Anekdoten mit freundlichen, leicht verschrobenen Menschen schilderte, wurde ihr Herz schwer. Wenn Mum trotz ihrer Schwäche wieder Näharbeiten verrichtete, mussten sie klammer sein, als Lucy befürchtet hatte.

Zum Essen war auch Bertie wieder da. Lucy verspürte einen Stich aus Neid und Eifersucht, als Whiskers ihrem Bruder in den Schoß sprang. Aber so konnte sie sicher sein, dass es ihrer Katze gut ging, selbst wenn sie im Herrenhaus war. Weh tat es trotzdem.

»Ich muss los.«

»Bleib doch noch.«

»Um 21:00 Uhr schließt Mr Hutchins die Haustür. Wer dann nicht auf Hazelwell Manor ist, muss mit Strafe rechnen.«

Auch ihr kam es vor, als wäre der Tag viel zu schnell vergangen. Sie umarmte ihre Mutter, klopfte Bertie auf die Schulter und kraulte Whiskers unter dem Kinn. Den Weg nahm Lucy kaum wahr, weil Tränen ihren Blick verschleierten. Wo sollte sie nur mehr Geld bekommen, um Mums Medizin bezahlen zu können?

Kapitel 4

Hazelwell Manor 1913

Riechst du es schon?« Jessie schloss die Augen und reckte ihre Nase in die Höhe. Ihre Nasenflügel blähten sich, als sie vorgab, etwas zu erschnuppern. »Der wunderbare Duft von Porridge am Morgen.«

»Es macht satt. Und mit Butter und Honig schmeckt es nicht schlecht.«

»Baah.« Jessie schüttelte sich. »Hallo Leopold.«

Als Lucy hinter Jessie die schmale Stiege zur Küche hinabging, kam ihr Leopold entgegen, der ein Tablett balancierte. Obwohl das Essen unter einer silbernen Haube verborgen war, lief Lucy das Wasser im Mund zusammen, so verführerisch duftete es, als der Diener sich an ihr vorbeidrängte. So würzig wie der Geruch war, gab es heute wohl Kedgeree, ein Gericht, das Lucy bereits aus dem Haushalt der beiden Schwestern Birdwhistle kannte. Miss Eunice und Miss Honora waren weit gereist und trieben ihre Köchin mit ihren exotischen Wünschen oft zur Verzweiflung. Kedgeree, die aus Indien stammende Speise aus geräuchertem Schellfisch, Reis, Butter und gekochten Eiern, gehörte zu den gewöhnlicheren Vorlieben der Schwestern.

»Jessie.« Ein Lächeln erschien auf seinem kantigen Gesicht. »Lucy.«

»Hast du schon einmal dieses Ketteridge probiert?«, fragte Jessie, als wollte sie Lucy von Leopolds Lächeln ablenken.

»Es heißt Kedgeree. Ja, ich kenne es. Mir hat es geschmeckt.«

Allerdings war das Essen in dem kleinen, mit Souvenirs vollgestopften Haus der Birdwhistles eher spartanisch, wenn auch ungewöhnlich, gewesen. Von dem, was in Hazelwell Manor allein zum Frühstück gereicht wurde, hätte Lucys frühere Herrschaft eine Woche lang gelebt. Die Ashworths aßen Porridge, Toast, Schinken, Nieren, geräucherten Fisch und kalten Braten zum Frühstück. Es gab Marmeladen, die Mrs Griffiths selbst kochte, und, und, und …

Obwohl Lucy nie Hunger litt, verspürte sie allzu oft Verwunderung und auch ein bisschen Neid über die Massen, die der Herrschaft serviert wurden. Auch wenn Ethel sehr gut kochte, waren die Mahlzeiten für das Personal weitaus bescheidener als die, die Mrs Griffiths für die Familie Blakenham zauberte.

»Wo ist Mr Hutchins?« Suchend blickte Lucy sich um. »Eine Lampe in der Bibliothek brennt nicht richtig.«

»An seinem Lieblingsort.« Kenneth, der Zweite Diener, zwinkerte ihr zu, was sie ignorierte, um ihn nicht noch zu bestätigen. »Im Weinkeller.«

»Sagst du ihm bitte Bescheid?« Lucy ließ sich auf ihren Platz fallen und wünschte sich, die Beine hochlegen zu dürfen. »Ich muss gleich wieder nach oben, die Zimmer der Herrschaft sauber machen.«

Er nickte und ging. Lucy schloss die Augen und wünschte sich, einen Moment der Ruhe zu genießen, aber das war unmöglich.

»Nun beeil dich ein bisschen.« Jedes Mal, wenn die Köchin die Küchenmädchen antrieb, war Lucy unendlich dankbar, als Hausmädchen zu arbeiten. Nicht, dass ihre Aufgaben leicht gewesen wären, aber ihr Leben erschien ihr einfacher als das der armen Mädchen, die unter der launischen Mrs Griffiths zu leiden hatten. Vor allem, wenn große Dinner mit vielen Gästen anstanden, war die Köchin kaum zu ertragen. Tadel gab es ständig von ihr, Lob oder gar Dank nur selten. Aber kochen konnte sie, das musste Lucy ihr lassen. Insbesondere die Desserts, die Mrs Griffiths zauberte, hatten es ihr angetan und sie hoffte jeden Abend, dass die Herrschaft nur wenig davon essen würde.

»Heute muss ich schon wieder mit ihr zu einem dieser Basare.« Überrascht öffnete Lucy die Augen. Normalerweise ließ sich Ms. Fernsby, die Zofe von Lady Ashworth, nie dazu herab, mit ihr zu reden.

»Warum ärgern Sie sich darüber?«

»Wie soll ich dann meine Arbeit schaffen?« Die Zofe schürzte verächtlich die Lippen. »Ich werde niemals den Hut umändern können, wie sie es mir aufgetragen hat, wenn wir so viel unterwegs sind.«

»Aber es ist doch großherzig von Lady Ashworth, wie sehr sie sich für arme Menschen einsetzt«, sagte ein Küchenmädchen, das seine roten, aufgesprungenen Hände mit einem Balsam einrieb, den Mrs Ogden herstellte. »Andere Ladys sitzen nur zu Hause und tun rein gar nix.«

»Großzügig?« Die Zofe stieß ein Schnauben aus. »Eines der Kleider von Worth kostet mehr, als die Basare einbringen. Sie könnte ja das Geld mal spenden.«

»Nicht an meinem Tisch.« Obwohl Mrs Ogden sehr leise gesprochen hatte, zuckten alle zusammen. Keine von ihnen hatte die Hausdame kommen gehört. »Wenn es Ihnen bei uns nicht gefällt, können Sie sich jederzeit eine bessere Anstellung suchen, Ms. Fernsby. Und du, Lucy, geh gefälligst nach oben.«

»Mrs Ogden hat gerade Ms. Fernsby gemaßregelt«, musste sie Jessie sofort berichten, die in Miss Georginas Zimmer auf Lucy wartete.

Man merkte deutlich, dass Lady Ashworth die Einrichtung der Zimmer ihrer Töchter bestimmt hatte. Schwere weiße Teppiche lagen auf dem Boden von Miss Georginas Raum, was Lucy hasste, weil sie unglaublich schwer zu reinigen waren. Die Prägetapeten an den Wänden trugen sanfte, weibliche Farben. Die Gemälde in den goldenen Rahmen zeigten fröhliche Szenen: Schäferinnen auf zartgrünen Wiesen mit glücklich wirkenden Lämmern, deren Weiß mit dem der Teppiche konkurrierte.

»Würdest du gern Zofe sein?« Diese Frage hatte Jessie ihr bestimmt schon hundertmal gestellt, aber Lucy konnte nur allzu gut verstehen, warum ihre Freundin etwas suchte, um sich wegzuträumen. Weg von der kalten Asche, weg von dem schmerzenden Rücken, weg von der Müdigkeit, die einen den ganzen Tag verfolgte.

»Glaubst du wirklich, Ms. Fernsby hat ein besseres Leben als du und ich? Sie darf auch nur reden, wenn sie angesprochen wird.«

»Sie muss nicht so früh aufstehen und keine Teppiche fegen. Sie bekommt schöne Kleider von Lady Ashworth geschenkt und begleitet sie auf allen Reisen.«

»Dafür muss sie die Seidenwäsche waschen und nähen.« Lucy dachte noch einen Moment nach. »Und diese ständige Umzieherei. Unsere Arbeit hat wenigstens einen Sinn. Alles ist sauber, aber Lady Ashworth fünfmal am Tag beim An- und Ausziehen zu helfen … Nein, für mich wäre das nichts.«

»Willst du immer Hausmädchen bleiben?«

»Ich brauche das Geld, das weißt du doch. Was soll ich sonst machen?«

»Kannst du schon das Zimmer von Miss Florence machen?« Jessie verzog den Mund. »Hier liegt so viel Wäsche, das braucht Zeit.«

Lucy nickte und ging in den nächsten Raum, der noch prächtiger war als der von Miss Georgina. Was für leuchtende Farben der Teppich hatte! Lucy konnte sich an dessen Schönheit nicht sattsehen. Ob Miss Florence diese Pracht überhaupt noch bemerkte oder war sie so sehr daran gewöhnt, dass sie keinen Blick daran verschwendete? Bevor sie die Nachtwäsche aufsammelte, arrangierte Lucy den Blumenstrauß, den der Gärtner heute Morgen geliefert hatte, neu. Die Bluebells und weißen Narzissen standen etwas zu dicht, was ihre Schönheit nicht glänzen ließ.

»Heute Nachmittag kommen sie an.«

»Weiß man schon, wann?« Lucy spürte Aufregung in sich aufsteigen. Seit Tagen gab es kein anderes Thema mehr bei den gemeinsamen Essen in der Küche. Da sie erst ein halbes Jahr auf Hazelwell Manor arbeitete, hatte sie Mr Percival, den einzigen Sohn von Lord und Lady Ashworth, bisher noch nicht gesehen. Erst hatte er sein Studium in Oxford beendet, dann war er auf eine Reise durch Europa gegangen. Und Weihnachten hatte die ganze Familie bei den Eltern von Lady Ashworth in Schottland verbracht. Eine Reise, auf die nur Kammerzofen und Hausdiener mitkamen, die Lucy glühend um dieses Abenteuer beneidete. Sie war mit der Köchin, den anderen Hausmädchen und den Dienern zurückgeblieben, um sich um Hazelwell Manor zu kümmern.

»Seit den furchtbaren Automobilen kann man das nicht mehr sagen.« Mr Hutchins warf ihr einen finsteren Blick zu, schließlich gehörte es sich nicht, dass ein Lower Servant wie Lucy ungefragt plapperte. »Früher, als alle mit dem Zug fuhren, konnte man Besuche noch vernünftig planen.«

Lucy wartete, bis sich die Upper Servants zu ihrem Kaffee zurückgezogen hatten, bevor sie es wagte, den Mund wieder aufzumachen. Wie jedes Mal ging eine Welle der Erleichterung durch die Gruppe der Lower Servants, die nun miteinander scherzten und redeten, wie sie wollten, ohne auf eine Aufforderung warten zu müssen.

»Wie ist der junge Herr?«, fragte sie Jessie, die sich überraschenderweise nur wenig um die Aufregung und das Durcheinander scherte. Sobald jemand den Namen Percival erwähnte, stand sie auf und ging davon. »Kennst du ihn?«

»Mehr als mir lieb ist«, antwortete ihre Freundin. »Du solltest ihm besser aus dem Weg gehen.«

»Ich … er wird mich nicht sehen.« Auf was für Ideen Jessie kam. »Entweder bin ich in der Küche oder putze. Nichts davon zieht die Aufmerksamkeit eines Gentlemans auf sich.«

»Er ist kein Gentleman«, platzte Jessie heraus. Gleich darauf verschloss sie sich wie eine Auster, sodass Lucy sich wunderte, welche Laus ihr über die Leber gelaufen war. Seitdem es geheißen hatte, dass der junge Herr zu Besuch käme und einen Freund mitbrächte, schien Jessie wie verwandelt. Sie sang nicht mehr, lächelte kaum noch und selbst ihre widerspenstigen Haare hingen glatt und leblos herab. Lucy konnte sich keinen Reim auf diese Veränderung machen, wagte aber auch nicht mehr, ihre Freundin danach zu fragen, nachdem sie Lucy eines Nachts harsch abgekanzelt hatte.

Bevor sie etwas sagen konnte, kam Leopold zurück in die Küche. Auch wenn er sich bemühte, gelassen und arrogant wie immer zu wirken, konnte Lucy ihm ansehen, dass er sich von der allgemeinen Begeisterung hatte anstecken lassen.

»Sie sind gleich da. Wir sollen uns dann oben aufstellen.«

Lucy verspürte einen Anflug von Enttäuschung, nachdem Mr Percival Autofahrkappe und Brille abgesetzt hatte und sie ihn erstmals sah. Irgendwie hatte sie ihn sich attraktiver vorgestellt, eine Art männliches Gegenstück zu seinen wunderschönen Schwestern. Doch Mr Percival kam mehr nach seinem Vater als nach seiner Mutter. Lady Ashworth hatte in ihrer Jugend als eine der schönsten Debütantinnen des Landes gegolten, während Lord Ashworth neben ihr eher langweilig wirkte. Das Beste an dem jungen Gentleman war die Fülle dunkler Haare, die er etwas länger trug, als es die Mode gebot. Die Nase war schmal und spitz, so wie auch die seiner Vorfahren, deren düster blickende Porträts überall im Haus hingen. Überraschend eisblaue Augen schauten unter elegant geschwungenen Brauen die Reihe der Dienstboten entlang. Als er Jessie entdeckte, verzog sich sein schmaler Mund zu einem Lächeln, das Lucy nicht deuten konnte, das ihr aber keinesfalls gefiel.

»Was für ein Prachtbau!«

Erst dieser Ausruf zog Lucys Aufmerksamkeit weg von Mr Percival hin zu dem zweiten Mann, der nun aus dem Auto stieg. Bei ihm allerdings sah es aus, als klappte er sich auf wie ein Regenschirm, der schon bessere Tage gesehen hatte. Nachdem er sich endlich aus dem Wagen gewunden hatte, begrüßte er seine Lordschaft und ihre Ladyschaft, bevor er sich Miss Georgina und Miss Florence zuwandte.

»Percy hat nicht übertrieben, als er sagte, dass seine Schwestern die schönsten Rosen Englands sind.«

Beide Mädchen kicherten. Aber neidlos musste Lucy eingestehen, dass er recht hatte. Miss Georgina und Miss Florence waren ausnehmend gutaussehend mit ihrer hellen Haut, den veilchenblauen Augen und den blonden Haaren. So musste Lady Ashworth vor 20 Jahren ausgesehen haben. Auch jetzt war sie noch eine schöne Frau, aber das Alter ließ sich nicht verbergen.

»Das habe ich nicht gesagt, Sutcliffe, alter Junge.«

Mr Percivals Begleiter erinnerte Lucy an ein übergroßes Fohlen – nur Beine und spitze Knochen. Sein Kopf mit dem wilden Busch brauner Haare wirkte viel zu groß für den schmalen Körper, was sicher auch an seinem eckigen, unverhältnismäßig breiten Kinn lag. Auch die Nase war für den schmalen Hänfling sehr breit und zog Lucys Blick auf sich, sodass sie seine schönen tiefbraunen Augen erst beim zweiten Hinsehen entdeckte. Er zwinkerte ihr zu, als er bemerkte, dass sie ihn musterte. Sofort senkte sie den Blick und spürte, wie Ohren und Wangen heiß wurden. Sicher lief sie rot an und verriet ihm so, wie peinlich es ihr war, beim Starren ertappt worden zu sein. Hoffentlich zog er keine falschen Schlüsse …

Kapitel 5

Braunschweig 1913

Weil ihre Mutter Wert darauf legte, dass Emma den Zug gewiss erreichte, waren sie viel zu früh am Bahnhof angekommen. Während Meta und ihre Eltern vorausgingen, trödelte Emma ein wenig. Auf einmal war der Tag der Abreise da gewesen, obwohl sie gehofft hatte, dass ihre Eltern es sich anders überlegten und sie in Braunschweig bleiben könnte. Aber dermaßen entschlossen, wie ihre Familie auf den Bahnsteig zustrebte, war damit nicht zu rechnen.

Emma seufzte und wollte ihnen gerade folgen, als sie etwas sah, was ihr zutiefst ins Herz schnitt. Dann mussten ihre Mutter und ihr Vater sich eben noch etwas gedulden, erst musste sie hier eingreifen.

»Hören Sie sofort auf damit!« Emma hasste es, wenn ihre Stimme sich vor Aufregung überschlug, aber sie konnte den Anblick, der sich ihr bot, einfach nicht ertragen. »Das arme Tier ist völlig erschöpft. Da können Sie noch so sehr auf es einschlagen.«

Der Kutscher, ein hagerer alter Mann, der ebenso abgekämpft aussah wie der struppige Braune, der mit hängendem Kopf vor dem Wagen stand und das Peitschen über sich ergehen ließ, schaute sie an. Zorn spiegelte sich in den wässrig-blauen Augen unter grauen Brauen.

»Was geht es Sie an? Lassen Sie einen ehrlichen Mann seine Arbeit tun.«

»Emma, wo bleibst du?« Im Tonfall ihrer Mutter schwang Ungeduld mit, aber dieses Mal würde Emma nicht nachgeben. Wenn sie es schaffte, nach England zu reisen, würde es ihr auch gelingen, dem armen Pferd zu helfen.

»Wie viel Geld brauchen Sie, damit Sie dem Tier für heute Ruhe gönnen?« Mit zitternden Fingern nestelte sie ihre Geldbörse hervor und warf einen Blick über die Schulter, in Sorge, dass ihre Mutter sich einmischen würde. Doch Dora stritt mit dem Mann, der Emmas Gepäck in dem Eisenbahnwaggon verstauen sollte.

Meta, die Zofe, stand daneben und schmollte. Ihre Begeisterung, eine derart lange Reise auf sich zu nehmen, hielt sich in Grenzen. Bestimmt zehnmal hatte sie in den vergangenen Tagen auf das Schicksal der Titanic hingewiesen. Emmas Antwort, dass sich voraussichtlich kein Eisberg in den Ärmelkanal verirren würde, hatte Metas Schmollen nur verstärkt.

Auch Emma war sich nicht sicher, ob sie seefest genug für die Überfahrt nach England war. Warum mussten ihre Eltern sie ausgerechnet auf eine Insel verbannen?

Diese Frage war obsolet, jetzt galt es, das Dilemma zu beheben, das direkt vor ihr lag. Bevor der Kutscher antworten konnte, fischte Emma ein paar Münzen aus ihrer Börse, die sie ihm hastig überreichte. »Bitte gönnen Sie dem Pferd heute etwas Ruhe. Und sich auch.«

Eilig wandte sie sich um, um zu ihrer Mutter zu gelangen, bevor diese zu ihr kam. Die Dankesworte des Mannes folgten ihr, als sie mit leicht angehobenem Rock zu ihrer wartenden Familie trippelte. Hoffentlich hatten weder ihre Mutter noch ihr Vater gesehen, was Emma eben getan hatte. Ihre Eltern würden ihr nur eine fehlgeleitete Sentimentalität vorwerfen und den Kopf darüber schütteln, wofür sie ihr Geld verschwendete. Doch das Glück war ihr nicht gewogen.

»Warum hast du dem Mann Geld gegeben?« Ihr Vater baute sich vor Emma auf, die automatisch einen Schritt zurücktrat. »Wir haben einen eigenen Kutscher.«

Konnte er nicht einmal heute freundlich zu ihr sein? Sicher, sie hatte einen großen, einen furchtbar dummen Fehler begangen, aber würde ihr Vater ihr das ewig vorhalten? Gab es für ihn wirklich nur Etikette und preußisches Pflichtbewusstsein? Kannte er keinerlei Gefühle für seine einzige Tochter?

»Ich … ich … er …«, stammelte Emma, nicht in der Lage, dem Vater gegenüber Stärke zu zeigen. »Er hat das Pferd geschlagen.«

»Dann wird der Gaul es verdient haben.« Sein Kopfschütteln zeigte überdeutlich, wie wenig er von ihrem Verhalten hielt. »Bist du wirklich so naiv zu glauben, er wird das Tier nicht mehr prügeln?«

Ja, ich bin überzeugt davon, dass in jedem Menschen ein guter Kern steckt, wollte sie antworten, aber sie wagte es nicht, die Worte auszusprechen, ahnte sie doch, was seine Antwort wäre. Wie kam es nur, dass ausgerechnet sie diese Eltern haben musste? Ob ihr Bruder niemals darunter litt, wie kalt Vater und Mutter waren?

»Emma! Arthur! Wo bleibt ihr denn? Soll das Mädchen den Zug verpassen?« Ganz undamenhaft hatte ihre Mutter die Stimme erhoben, ein deutliches Zeichen, wie angespannt sie war. »Es ist alles gebucht.«

Emma nutzte die Gelegenheit, sich an ihrem Vater vorbeizuschlängeln. Er folgte ihr, wobei er etwas über Geldverschwendung und Dummheit murmelte. Sie entschied sich dafür, vorzugeben, seine Worte nicht verstanden zu haben.

»Warte«, sagte ihr Vater. »Ohne Fahrkarte wirst du nicht auf den Bahnsteig gelangen.«

Er drückte ihr das Papier in die Hand, während er für sich selbst eine Bahnsteigkarte am Schaffnerhäuschen löste.

»Danke.« Emma spürte die Wärme in ihren Wangen. Hätte sie nicht selbst daran denken können?

Mit gesenktem Kopf eilte sie am stehenden Zug entlang zu ihrer Mutter, die in eine zischend geflüsterte Diskussion mit der Zofe verwickelt war.

»Meta, du kannst ja zurückkehren, wenn es dir auf Hazelwell Manor überhaupt nicht gefällt.« Obwohl die Worte freundlich klingen sollten, begleitete ihre Mutter sie mit einem Seufzer und einer bitteren Miene. »So, wie wir es vereinbart haben.«

Unter normalen Umständen hätte ihre Mutter sich niemals dazu herabgelassen, mit dem Personal darüber zu streiten, was dessen Aufgaben waren. Aber dank Emmas Fehltritt musste man mehr Rücksicht auf die Dienstboten nehmen, die alle davon wussten. Das hatte ihre Mutter Emma mehr als einmal vorgehalten. Manchmal kam es Emma vor, als trüge sie Schuld am Unglück der Welt, wenn man ihren Eltern zuhörte.

»Begebt euch jetzt in euer Abteil.« Täuschte Emma sich oder schwang Erleichterung im Tonfall ihres Vaters mit? Freude darüber, dass seine Tochter nun für eine lange Zeit aus dem Blickfeld verschwinden würde? Nur, weil sie sich in einen unpassenden Mann verliebt hatte, wurde sie verbannt.

»Auf Wiedersehen.« Meta knickste vor Emmas Eltern und stieg in den Waggon, der sie zur nächsten Etappe ihrer Reise bringen würde. Erst fuhren sie per Eisenbahn, dann per Schiff, um schließlich wieder in einen Zug zu steigen, der sie nach Bownham führen sollte, dem Dorf, das zu dem Herrensitz Hazelwell Manor gehörte. Viel Zeit würden Meta und sie gemeinsam verbringen. Emma hoffte, dass dies dazu beitragen würde, in der Zofe eine Verbündete im fremden Land zu finden. Sie beneidete Meta glühend darum, dass diese nach Braunschweig zurückkehren durfte, wenn es ihr gefiel, während Emma sich nach den Vorgaben ihrer Eltern zu richten hatte.

Emmas Mutter hatte eine Agentur beauftragt, die sich um alle Formalitäten und Verbindungen gekümmert hatte, sodass Emma und Meta entspannt reisen konnten. Jedenfalls, soweit es ihr möglich war, dieses Abenteuer zu genießen, begleitet von einer unwirschen Zofe und mit der Aussicht auf ein Dasein als aufgedrängter Gast in einem fremden Land.

Nun nahte der Abschied. Obwohl sie sich so oft gewünscht hatte, endlich ihre Familie verlassen zu können, verspürte sie plötzlich eine tiefe Wehmut. Ihr Vater und ihre Mutter konnten ja nichts dafür, dass sie waren, wie sie nun einmal waren. Sicher war es für die beiden auch nicht einfach gewesen, eine Tochter wie Emma zu haben. In einem Anflug von Überschwang wollte sie ihre Mutter umarmen, doch die hielt Emma auf Abstand.

»Versuche, uns keine weitere Schande zu bereiten.« Auf dem Gesicht ihrer Mutter ließ sich nicht ablesen, ob diese Emma vermissen würde. »Wenn sich ein passender Ehemann für dich findet, wäre das gut. Clarice wird dich bei der Suche unterstützen.«

In dem Moment durchschaute Emma das bittere Spiel. Es war nicht die Idee der englischen Verwandten gewesen, sie einzuladen, sondern ihre Mutter hatte gewiss darum gebeten, dass die unbekannte Großcousine dafür sorgte, dass Emma endlich einen passenden Mann fand. Nicht nur, dass ihre Eltern den Skandal vermeiden wollten, nein, ihnen schien es am liebsten zu sein, wenn Emma für immer in England bliebe, damit nur ja niemand von ihrem Fauxpas erführe.

Franz hat recht gehabt, die ganze Zeit, ging es Emma durch den Kopf. Ihre Wangen brannten vor Scham. Wie sollte sie mit ihren ihr unbekannten Verwandten unbefangen sprechen und umgehen können? Nun, wo sie wusste, dass dieser Besuch nur einem Ziel diente: Emma endlich angemessen zu verheiraten.

Niemals!, dachte sie und ballte ihre Hände zu Fäusten. Ich werde mich nicht diesem gemeinen Spiel unterwerfen. Es muss andere Möglichkeiten für eine Frau geben, wie sie frei leben kann. Studieren möglicherweise.

Doch kaum waren diese rebellischen Gedanken aufgetaucht, verklangen sie auch schon wieder. Studieren – was stellte sie sich nur vor? Für eine Frau wie sie gab es nur die Wahl zwischen den Eltern oder dem Ehemann; mehr Möglichkeiten, wie sich ihre Zukunft gestaltete, fielen Emma nicht ein.

»Wir wollen nur dein Bestes.« Ihr Vater konnte ihr nicht einmal in die Augen sehen, als er diese Abschiedsworte von sich gab. »Schicke uns ein Telegramm, wenn du in England angekommen bist.«

»Ja«, konnte sie nur antworten. Jedes weitere Wort hätte entweder Tränen oder unschicklichen Zorn hervorgerufen. Daher wandte sie sich ohne ein weiteres Abschiedswort um und stieg in den Waggon. Weil ihr Tränen in den Augen brannten, blinzelte Emma, damit sie nicht über ihren Rock stolperte oder das Abteil verpasste, in dem Meta bereits auf sie wartete. Als sie die Tür aufschob, gab Emma sich ein Versprechen.

Ich werde nie wieder zurückkehren. Nicht zu einer Familie, der ihr guter Ruf mehr wert ist als mein Glück. Ganz gleich, was ich in England auf mich nehmen muss, um eine passende Partie zu finden, ich werde es tun.

Kapitel 6

Hazelwell Manor 1913

Schnell, schnell, Lucy«, drängte Maude, die sich gern aufführte, als wäre sie Mrs Ogdens verlängerter Arm. »Miss Florence und Miss Georgina wollen heute ausreiten. Es bleibt uns nicht viel Zeit, ihre Zimmer in Ordnung zu bringen.«

Nachdem sie die Wäsche eingesammelt, die Teppiche gekehrt und Staub gewischt hatten, widmete sich Jessie der Reinigung des Bades, während Lucy die vielen Treppenstufen hinabeilte, um das schwere Bündel nach unten in die Wäschekammer zu bringen. Als sie an der Küche vorbeikam, hörte sie die Köchin leise vor sich hin schimpfen. Anscheinend gefiel ihr das Gemüse nicht, das der Gärtner vorbeigebracht hatte.

»Lucy!«, rief Mrs Griffiths. »Komm sofort her, Mädchen!«

Derart unvermutet angesprochen, brach Lucy der Schweiß aus, ihr Herz pochte so laut, dass die Köchin es sicher hören musste. Was konnte sie nur angestellt haben? Lucy ging im Kopf den Vormittag durch und konnte keine Verfehlung erkennen. Außerdem hatte Mrs Griffiths ihr genau genommen nichts zu sagen.

»Ja?« Sie musste sich mit der Köchin gut stellen, wollte sie nicht die Lebensmittel einbüßen, die ihr Mrs Griffiths großzügig für ihre Mutter mitgab.

»Der Gärtner hat mir Beeren gebracht, die verrottet sind. Lauf schnell nach Bownham in den Dorfladen. Ich schreibe dir eine Liste.«

»Ich gebe Maude und Jessie Bescheid.« Lucy bemühte sich, sich ihre Freude nicht anmerken zu lassen. Wie viel schöner war es, ins Dorf zu gehen, als die Zimmer zu putzen.

Wie wundervoll es wäre, sich einmal, wirklich nur einmal, etwas für sich zu gönnen. Lucy sah sich im kleinen Dorfladen um. Sicher, die Auswahl hier war überschaubar, aber sie kannte es nicht anders. Maude hatte von den großen Kaufhäusern in London erzählt, die sich über mehrere Stockwerke erstreckten und alles boten, was es auf der Welt gab. Selbst unter Aufbietung ihrer gesamten Fantasie konnte Lucy sich das nicht vorstellen.

»Mrs Nichols, hier ist die Einkaufsliste.« Lucy hielt das Papier, beschrieben in der großflächigen Schrift der Köchin, über den Tresen.

»Warte, ich suche dir alles zusammen.« Die Ladenbesitzerin, die Lucy ihr ganzes Leben lang kannte, nickte ihr zu. Es kam Lucy vor, als veränderte sich Mrs Nichols kaum. Vielleicht hatte sich ein bisschen Grau in ihr blondes Haar eingeschlichen, womöglich war sie etwas runder geworden, die Falten ein wenig tiefer – aber sie sah immer noch aus wie das erste Mal, als Lucy etwas bei ihr eingekauft hatte.

Lucy nutzte die Gelegenheit, sich im Laden weiter umzuschauen. Nahezu magisch zog es sie zu den hohen Gläsern, in denen die Zuckerstangen und Süßigkeiten präsentiert wurden. Wie jedes Kind im Dorf hatte sie diese Leckereien mit sehnsuchtsvollen Augen betrachtet, aber nur zu besonderen Gelegenheiten wie zu ihrem Geburtstag oder Weihnachten etwas davon bekommen. Und auch nur damals, als ihr Vater noch lebte. Lucy seufzte, was die Ladenbesitzerin mit einem Lachen quittierte.

»Ich verschenke nichts«, sagte Mrs Nichols mit gelassener Stimme. »Wenn ich einem Kind etwas gebe, dann kommen bald alle und ich bin arm.«

Wie oft Lucy diesen Spruch schon gehört hatte. Gestern hatte sie ihren Lohn bekommen und das Geld fühlte sich in ihrer Tasche an, als wollte es ein Loch hineinbrennen.

Gib mich aus. Gönn dir etwas. Du arbeitest so schwer, schien es ihr zuzuflüstern. Es muss ja nur eine Kleinigkeit sein. Denk einmal an dich.

Nein! Ich muss Mum unterstützen. Lucy wandte sich von den Verführungen ab und schaute die Gläser mit Konserven an, die weniger interessant waren.

»Was wollen wir hier?«, hörte sie eine Männerstimme, die ihr vage bekannt vorkam, vor der Tür des Ladens. »Was wird es hier schon geben?«

»Zuckerstangen, mein Bester.« Die Stimme erkannte sie sofort. Mr Percival – wie kam es nur, dass er sich ins Dorf verirrte? Und warum ausgerechnet heute? Lucy schaute an sich herab. Ihr Kleid und ihre Schürze unter dem braunen Mantel waren zum Glück makellos sauber, sie würde Hazelwell Manor also keine Schande machen. Schnell strich sie sich die Schürze glatt, als auch schon die Tür aufging.

»Ich kenne dich.« Mr Percival blieb vor ihr stehen und musterte sie von oben bis unten. »Du arbeitest auf Hazelwell.«

»Ja, als Zimmermädchen.« Sie knickste und spürte das bekannte Brennen in ihren Wangen, wenn diese rot anliefen. Sie hätte nicht sagen können, warum es ihr unangenehm war, aber es fühlte sich falsch und ungut an.

Sein Blick verweilte auf ihren schmalen Brüsten. Instinktiv ballte Lucy die Hände zu Fäusten, aber da drehte er sich bereits um.

»Such dir etwas aus, Sutcliffe. Ich spendiere dir, was du willst.«

»Was wünschen die jungen Herren?« Mrs Nichols, die wohl ein gutes Geschäft witterte, tauchte aus dem Dunkel der Vorratsräume auf. »Ich habe gestern Lakritze und Anisbonbons hereinbekommen.«

Lucy leckte sich die Lippen, als sie die Namen der wunderbaren Süßigkeiten hörte.

»Wir nehmen von allem.«

»Willst du dem Mädchen nicht etwas anbieten?«, fragte Mr Percivals dürrer Freund, der sich bereits eine Zuckerstange in den breiten Mund geschoben hatte. »Sicher gönnt sie sich das nicht oft.«

Er lächelte ihr zu, was Lucy zaghaft erwiderte. Wie großartig wäre es, von den Süßigkeiten zu kosten.

»Nein.« Der junge Herr schaute sie an, grinste und schüttelte den Kopf. »Sie bekommt auf Hazelwell genug zu essen. Da muss ich ihr nicht noch etwas spendieren.«

Diese Worte trafen sie wie ein Schlag. Lucy reckte sich und sah ihn an.

Von Ihnen will ich nichts haben, wollte sie ihm entgegenschleudern, hielt sich aber rechtzeitig zurück. Sich eine Frechheit gegenüber dem einzigen Sohn der Blakenhams herauszunehmen, war der sicherste Weg, ihre Stelle zu verlieren. Und wer sollte dann das Geld für ihre Mum und Bertie verdienen? Hier im Dorf gab es keine anderen Arbeitsmöglichkeiten für Frauen. Und die Vorstellung, ihre Heimat noch einmal verlassen zu müssen, war für Lucy ein Grauen.

Als sie schwer bepackt mit ihren Einkäufen zurückkehrte, herrschte erneut große Aufregung in der Küche. Ein sicheres Zeichen, dass weiterer Besuch erwartet wurde.

»Hier sind die Einkäufe.« Lucy stellte die Körbe und Taschen auf den Küchentisch. Normalerweise hätte Mrs Griffiths sofort die Qualität der Waren geprüft und sicher etwas zu meckern gefunden. Heute jedoch wirkte die Köchin abgelenkt. Sie hielt den Rührlöffel wie einen Zeigestock in der Hand und nutzte ihn, um ihre Worte zu unterstreichen.

»Schneller! Schneller! Schneller!«

Kam es Lucy nur so vor oder scheuchte Mrs Griffiths die Küchenmädchen heute noch mehr als üblicherweise?

»Das Dinner wird niemals fertig, wenn ihr weiter so trödelt.«

Die Köchin hatte niemals gute Laune. Lucy erinnerte sich nicht daran, sie jemals lachen gehört zu haben. Selbst wenn Lady Ashworth extra in die Küche kam, um Mrs Griffiths’ Kochkunst zu loben, hoben sich die Mundwinkel der Köchin nur für einen winzigen Moment. Man musste schon sehr genau hinsehen, um es überhaupt zu bemerken. Am schlimmsten war es vor dem Dinner – dann lagen die Nerven von Mrs Griffiths blank und kein Küchenmädchen war vor ihrem Zorn sicher. Selbst die Hausmädchen und Diener mussten aufpassen, ihr nicht in den Weg zu geraten.

Bis zum Dinner blieb jedoch noch viel Zeit, was also brachte die Köchin so in Rage?

»Eine Deutsche.« Mrs Griffiths verzog ihre fleischige Oberlippe, was ihrem runden Gesicht einen äußerst missmutigen Ausdruck verlieh. »Was soll ich für die denn kochen?«

Obwohl Mrs Ogden die Mädchen immer wieder dazu anhielt, nicht vorlaut zu sein, sondern brav im Hintergrund zu bleiben, musste Lucy ihrer Neugier nachgeben.

»Was für eine Deutsche?«, flüsterte sie Jessie zu, die Mrs Griffiths’ Monolog mit glänzenden Augen verfolgte.

»Lady Ashworth hat Mrs Ogden heute mitgeteilt, dass ein Gast aus Deutschland kommt. Wohl, um hier einen Mann zu finden.«

»Das hat Mrs Ogden gesagt?«

»Natürlich nicht.« Jessie kicherte, was ihr einen zornigen Blick der Köchin einbrachte. »Das hat Maude erzählt. Und Mrs Griffiths regt sich auf, weil sie nicht deutsch kochen will. Komm, erzähl mir, was es Neues im Dorf gibt.«

Als Lucy ihrer Freundin in die Dienstbotenhalle folgte, wo Tee und Kekse bereitstanden, sah sie, dass sie nicht allein waren. Leopold und Kenneth streckten ihre langen Beine unter den Tisch und scherzten mit Rose, der Nursemaid, die ihnen ab und zu Gesellschaft leistete. Jessie verzog das Gesicht und setzte sich möglichst weit von Leopold weg.

»Hast du etwas Süßes mitgebracht?«

»Ich hatte kein Geld und Mr Percival wollte mir nichts schenken.«

Noch immer fühlte es sich an, als hätte er sie geohrfeigt mit seinen bösen Worten.

»Sei froh, du hättest sicher einen Preis dafür zahlen müssen.«

»Was meinst du?«

Ein schrilles Geräusch zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Obwohl nachmittags bis zum Afternoon Tea meist Ruhe herrschte und die Dienstboten sich eine Pause gönnten, ließ keiner von ihnen das Klingelbrett aus den Augen, das die schmalere Wand der Dienstbotenhalle beherrschte. Über jeder Klingel stand der Name des Zimmers, zu dem sie gehörte, sodass jeder Dienstbote sofort erkennen konnte, ob der Ruf ihm galt. Schon oft hatte Lucy dieses Brett verflucht, hatten die Glocken doch die unangenehme Angewohnheit, immer dann zu schellen, wenn sie ihren schmerzenden Rücken streckte und es wagte, die Füße hochzulegen. Das war selbstverständlich nur möglich, wenn Mrs Ogden und Mr Hutchins nicht in der Nähe waren.

»Ich bin so müde.« Jessie legte ihren Kopf an Lucys Schulter. »Wenn ich nur einen Tag ausschlafen oder wenigstens früher als halb elf ins Bett gehen könnte.«

»Dafür gibt es Urlaub.« Lucy versteckte ihr Gähnen hinter der Hand. »Wird es nicht ruhiger, wenn die Season ansteht?«

»Wie gern würde ich London einmal sehen. Allerdings ohne die Herrschaften. Nur ich allein.« Jessie schien in Träumen versunken zu sein. »Vielleicht auch mit dem richtigen Mann.«

»Mir wäre London zu groß.«

»Interessiert die Stadt dich gar nicht? Der Tower, die Themse, Selfridges, Harrods …«

»Die Schwester meiner Mutter lebt dort. Sie sieht nicht glücklich aus, wenn sie zu Besuch kommt.«

»Ich würde dort glücklich sein.«

»Lucy, Jessie, auf, die Arbeit erledigt sich nicht von selbst.«

»Ja, Mrs Ogden.«

Es hängt mir so zum Hals raus, immer brav Ja sagen zu müssen, dachte Lucy, als sie hinter Jessie die Treppen zu den Wohnräumen der Herrschaft hochstieg. Jeden Abend muss ich die Kleidung anderer Menschen einsammeln, ihnen die Nachtwäsche bereitlegen und ihre Zimmer angenehm machen. Zum Glück war sie heute für die Bereiche von Lady Ashworth und Miss Florence verantwortlich, die viel ordentlicher waren als Miss Georgina.

Sorgsam strich Lucy die Bettdecke glatt, bevor sie ans Fenster trat, um die Vorhänge zuzuziehen. Sie nahm sich die Zeit, den Ausblick zu genießen. Vor ihr erstreckte sich im sanften Licht der untergehenden Sonne der unglaublich große Park. Der marmorne Springbrunnen mit der gruseligen Statue eines Mannes, der mit Schlangen kämpfte, bildete den Eingang zu den Gärten und zog ihren Blick auf sich. Er war gewaltig, beinahe größer als das Cottage, in dem ihre Familie lebte. Gab es ein deutlicheres Symbol für den Reichtum Hazelwell Manors?

Nach einem letzten Blick zog sie die Vorhänge zu, schüttelte die Bettdecke und die Kissen auf und legte Nachtwäsche für Miss Florence auf die Überdecke des Bettes.

Ihr Tagwerk war getan. Nun konnte sie sich ausruhen, falls Mrs Ogden oder Mrs Griffiths nicht noch eine Aufgabe für sie fanden.

»Was ist das?« Obwohl sie wusste, dass die Köchin es nicht gern sah, wenn die Hausmädchen in ihrem Reich herumlungerten, war Lucy fasziniert von den unglaublichen Speisen, die Mrs Griffiths zubereitete. Selbst nach einem halben Jahr im Dienst auf Hazelwell Manor gab es noch Neues zu entdecken. So wie heute: Ethel, das Küchenmädchen, dem die Köchin am meisten zutraute, dekorierte halbierte gekochte Eier mit winzigen leuchtend orangefarbenen Perlen.

Neugierig geworden, waren auch Maude und Jessie in die Küche gekommen und schauten Ethel über die Schulter.

»Feinster Beluga-Kaviar. Steht mir nicht im Weg.«

»Hast du das schon mal probiert?« Neugierig trat Lucy einen Schritt näher. Vielleicht blieb von der unbekannten Köstlichkeit ja etwas übrig und sie könnte später etwas bekommen, wenn Ethel guter Stimmung war.

»Ist nur salzig. Hummer mag ich lieber.«

Das waren seltene Momente, in denen Lucy überlegte, als Küchenmädchen zu arbeiten, aber dieser Wunsch verschwand sofort, nachdem sie Mrs Griffiths brüllen hörte: »Mein Pfirsich Melba soll sich mit dem von Escoffier messen können. Also halt ihn nur kurz ins Wasser, dumme Trine.«

»Wer ist dieser Es…Eskoffer?«, flüsterte Lucy Ethel zu, die nun die Möhren für das Abendessen der Dienstboten säuberte. »Und was ist Melba?«

»Escoffier ist der französische Koch, dem alle anderen nacheifern. Melba ist irgendeine Opernsängerin, für die er das Dessert erfunden hat.«

»Das ist ja romantisch«, mischte sich Maude ein. »Stell dir vor, ein berühmter Mann macht so etwas für dich und dein Name wird unsterblich.«

»Die Kartoffel Maude, das wäre ein passender Name«, neckte Jessie sie.

»Habt ihr nichts zu tun?« Mr Pratt, der Kammerdiener von Lord Ashworth, stand in der Tür. »Hier, Lucy. Du weißt, was deine Aufgabe ist. Gib sie mir morgen wieder.«

Der Kammerdiener drückte ihr einen Haufen Münzen in die Hand. Lucy nickte und nahm das Geld, um es zu waschen. Automatisch begann sie, es zu zählen. Von den Münzen, die die Hausgäste achtlos hatten herumliegen lassen, könnte ihre Familie eine, nein sogar zwei Wochen gut leben. Was für eine Versuchung es war, dieses Geld, das die Gäste anscheinend nicht benötigten, für sich zu behalten. Warum es gewaschen werden musste, nur damit die Münzen schimmerten, wenn der Kammerdiener sie der Herrschaft überreichte, das wollte Lucy einfach nicht in den Kopf. Aber wie bei so vielen Dingen hatte sie gelernt, ihre Gedanken für sich zu behalten und ihre Arbeit so zu tun, wie man es von ihr verlangte.

Kapitel 7

Hazelwell Manor 1913

Bereits auf der Zugfahrt nach Bownham hatte Emma die Schönheit der englischen Landschaft bewundert, an der ihr Weg sie entlangführte. Sanft geschwungene Hügel, hellbraune Felder und tiefgrüne Wälder wechselten sich ab; die typischen viereckigen Kirchtürme waren das erste Zeichen, dass sie sich kleinen Dörfern näherten, deren pittoreske Cottages aus den für diese Region typischen gelblich-braunen Steinen erbaut waren.

Hier zu leben, muss wunderbar sein. Diese Landschaft streichelt die Seele und beruhigt selbst verletzte Herzen wie meines.

Auf einmal erschien ihr die Aussicht, hier etliche Wochen verbringen zu müssen, gar nicht mehr so düster. Selbst Metas Klagen über ihre Seekrankheit konnten Emmas gute Stimmung nicht trüben.

Da nur ihre Zofe und sie an dem kleinen Bahnhof ausstiegen, wartete der schlanke Mann in Chauffeursuniform wohl auf sie. Als Erstes fiel ihr die gewaltige Brille auf, die er auf den Rand seiner dunklen Mütze geschoben hatte. Fesch sah er aus mit den gewienerten schwarzen Stiefeln und der dunkelgrünen Uniform, von der sich goldene Knöpfe abhoben. Nur sein mürrischer Gesichtsausdruck passte nicht zur Eleganz seiner Kleidung.

»Sind Sie Miss zu Sommerfeldt?«

Es fiel ihm hörbar schwer, den deutschen Namen auszusprechen. Emma nickte, weil ihr vor Aufregung kein einziges englisches Wort einfallen wollte.

»Ich soll Sie abholen.«

»Danke. Thank you.«

Der Chauffeur gab dem Kofferträger ein Trinkgeld, nachdem dieser Emmas und Metas Gepäck auf dem Wagen verstaut hatte. Dann öffnete er ihnen die Tür des Automobils, ließ sie einsteigen und knallte die Tür zu.

»Was für ein unhöflicher Geselle«, raunte Meta ihr zu, die hin und her rutschte, um es sich bequem zu machen. »Hoffentlich sind die nicht alle so.«

Die Sorge, wie die englischen Dienstboten sie behandeln würden, war nach der Seekrankheit das zweite Thema, von dem Meta nicht lassen mochte.

Emma lehnte sich zurück, roch das Leder der Sitze und schloss die Augen, als wollte sie schlafen. Das Rütteln des Automobils auf der Landstraße fühlte sich an, als würde jemand sie in den Schlaf wiegen. Emma hob ihre Hand zum Mund und gähnte verstohlen.

»Gleich sind wir da.«

Sofort öffnete Emma die Augen und beugte sich ein wenig nach vorn, um einen ersten Blick auf das Haus zu werfen. Die baumbestandene Allee, die zu Hazelwell Manor führte, kam ihr unendlich lang vor. Das lag sicher an der Mischung aus Neugier und Aufregung, die angewachsen war, seitdem sie aus dem Zug gestiegen waren.

Das Herrenhaus der Blakenhams war weitaus prächtiger und größer, als Emma es sich vorgestellt hatte, mit unzähligen Erkern und Türmchen. Aber es wirkte ein wenig … heruntergekommen war nicht das passende Wort, alt ebenfalls nicht, aber Hazelwell Manor sah aus, als hätte es schon bessere Tage gekannt.

Vielleicht war es nur ein Versuch, die Nervosität kleinzureden, die sie mit Macht überkommen hatte, je näher sie dem Landsitz kamen. Eine prächtige, mit Kies bestreute Auffahrt führte dorthin. Die Reifen des Autos knirschten auf dem Sand.

»Was für ein gewaltiges Haus«, flüsterte Meta andachtsvoll. »Sie müssen sehr reich sein.«

Während der Fahrt vom Bahnhof hatte die Zofe kein Wort gesprochen. Wahrscheinlich nahm sie es Emma immer noch übel, dass sie ihretwegen diese Reise auf sich nehmen musste. Wenn es nach Meta gegangen wäre, würden sie noch immer im heimischen Braunschweig weilen. Emma war sich sicher, dass die Zofe so schnell wie möglich nach Deutschland zurückkehren würde.

»Über Geld spricht man nicht«, zischte Emma ihr zu. Was würden Lord Ashworth und seine Familie von ihr halten, wenn sich ihre Zofe so daneben benahm. Das Wenige, was Emma sich über England angelesen hatte, ließ sie vermuten, dass man hier noch viel mehr Wert auf Etikette legte als zu Hause.

Werde ich dem nie entfliehen können? Werde ich je frei sein? Werde ich immer darauf achten müssen, was ich sage, wie ich mich benehme, wie ich mich kleide?

Bevor Meta etwas antworten konnte, meldete sich der Chauffeur zu Wort, der bisher ebenso schweigsam wie Meta gewesen war.

»Sie müssen wichtig sein. Es sind alle angetreten.«

»Wie bitte?« Erstaunlich, dass ein Dienstbote sich so freimütig äußerte. Wahrscheinlich war dem Mann bewusst, wie wenig Chauffeure es gab, sodass er sich ein paar Frechheiten herausnahm.

»Für weniger bedeutende Gäste lässt der Butler nicht alle Spalier stehen.« Mit dem Kopf deutete er nach vorne.

Emmas Blick folgte seiner Geste und dann sah sie, was er meinte: Neben der gewaltigen Haustür standen Dienstboten aufgereiht wie Perlen auf ihrer Kette. Links die Männer in eleganten schwarzen Anzügen, zwei von ihnen überragten alle anderen. Rechts die Frauen. Die meisten trugen schlichte schwarze Kleider und weiße Schürzen mit ebenso weißen Häubchen auf dem Kopf. Die gestreng blickende Dame mit dem gewaltigen Schlüsselbund am Gürtel war sicher die Hausdame. Neben ihr stand eine Frau in einer derart eleganten Garderobe, dass Emma sie gewiss für Lady Ashworth gehalten hätte, würde sie nicht bei den Dienstboten stehen. Das war wohl die Zofe der Lady, die ein abgelegtes Kleid ihrer Herrschaft trug.

Gut, dass diese Sitte bei uns nicht so verbreitet ist. Ich möchte mir Meta nicht in einem meiner abgelegten Kleider vorstellen.

Emma leckte sich die trockenen Lippen. »Contenance«, würde ihre Mutter sagen, »bewahre die Contenance.« Also lehnte Emma sich zurück und sagte sich, dass sie eine zu Sommerfeldt war und daher nicht befürchten musste, bei ihren englischen Gastgebern nicht willkommen zu sein. Selbst wenn ihre Mutter wahrscheinlich alles bemüht hatte, damit Emma Braunschweig verließ, bevor es zu einem Skandal gekommen war, so wussten ihre britischen Gastgeber sicher nichts davon. Wie hatte Emma nur auf ihren Zeichenlehrer und dessen Versprechungen von ewiger Liebe hereinfallen können?

Als das Automobil zum Halten kam, öffnete sich die Haustür und sechs Menschen traten heraus, drei Frauen und drei Männer. Als Emma die hochgewachsenen, schlanken Damen in ihren eleganten Kleidern sah, fühlte sie sich sofort unwohl und vollkommen unpassend gekleidet. Sie hatte gedacht, dass ihr Reisekleid modisch genug war, um einen guten Eindruck zu machen, aber das erwies sich nun als Trugschluss.

Ihr Blick glitt weiter zu dem älteren Mann in dem eleganten Anzug, das war sicher Lord Ashworth. Welcher der beiden jüngeren Männer war sein Sohn? Es konnte nur der elegante Gentleman sein, der sich so gerade hielt und eine unglaubliche Selbstsicherheit ausstrahlte. Obwohl Emma der Liebe abgeschworen hatte, fühlte sie ihr Herz schneller schlagen.

Als ihre Mutter ihr die Namen der Blakenhams aufgelistet hatte, hatte Emma kichern müssen. Percival – das klang wie der Held eines Schnulzenromans. Jetzt jedoch, wo sie ihn das erste Mal sah, fragte sich Emma, wie sie sich nur je über seinen Namen hatte mokieren können.

Die Begrüßung stand sie wie in einem Traum durch, gefangen von Percivals Augen, gehindert durch ihr stammelndes Englisch, das er in ihr hervorrief. Sie fühlte sich, als hätte sie sich zu lange in einem Kreis gedreht und würde gleich schwindelig zu Boden fallen. Glücklicherweise erkannte Lady Ashworth ihre Not.

»Lasst unseren Gast sich erst einmal frisch machen. Wir können uns beim Dinner unterhalten.«

Dankbar lächelte Emma sie an und folgte einem der hochgewachsenen Diener, der ihre Koffer trug. Zu Sommerfeldt stand in eleganter geschwungener Schrift auf einer kleinen Karte in einem schmalen Messingschild neben der Tür zu ihrem Schlafzimmer. Welche Funktion das wohl erfüllte, fragte sich Emma. Sicher, Hazelwell Manor war beeindruckend groß und verwinkelt, aber verlaufen würde sie sich im Wohntrakt sicher nicht. Oder – und dieser Gedanke raubte ihr schier den Atem – diente das etwa als Hinweis für andere Gäste, wo sie zu finden war? Wer würde sie schon besuchen wollen?

Emma hatte sich nur kurz ausruhen wollen, als plötzlich ein lauter Gong ertönte. Kurze Zeit später betrat Meta das Zimmer, einen wunderschönen Raum mit zarten Landschaftsaquarellen und zierlichen Möbeln.

»Es gibt gleich Essen. Alle versammeln sich im Drawing Room, was immer das auch ist.«

»Schnell, hilf mir in ein Kleid und mach mir die Haare.«

Hoffentlich blieb ihr noch Zeit, sich umzuziehen und frisieren zu lassen, bevor sie Percival entgegentrat. Nachdem Meta ihr in ein hellblaues Kleid, das Emmas Augen betonte, geholfen hatte, setzte sich Emma vor den Frisierspiegel. Oh nein, auf ihrer Wange zeichneten sich Abdrücke des Kissens ab, auf dem sie gelegen hatte. Warum musste nur immer alles schiefgehen?

»Es gefällt mir nicht bei den Dienstboten. Die sind so unglaublich steif und machen sich über mich lustig, in dieser komischen Sprache«, klagte Meta ungefragt. »Ich will zurück nach Hause.«

»Warte doch noch ein oder zwei Tage. Bestimmt sind sie freundlicher, wenn du sie besser kennst.«

»Ihre Mutter hat es versprochen.«

»Ich werde heute Abend mit unseren Gastgebern reden.«

Wenn sich eine Gelegenheit ergibt. Ich werde mich nicht blamieren, indem ich die Wünsche meiner renitenten Zofe anspreche.

Beim Abendessen saß Emma neben Percival, was sie so verwirrte, dass sie sich den Mund vollstopfte, um nicht allzu viel Konversation betreiben zu müssen. Aber seine Nähe und ihre gestammelten Antworten ließen für sie alles wie Milchbrei schmecken.

»Du heißt wirklich Emma.« Florence oder Georgina – es fiel Emma schwer, die Mädchen auseinanderzuhalten, obwohl sie keine Zwillinge waren – kicherte, was Emma nicht nachvollziehen konnte. »So heißen nur Kammerzofen oder Hausmädchen.«

»In Deutschland ist das ein normaler Name. Ich heiße nach meiner Patentante, der Gräfin von Rapp.«

Das beeindruckte das Mädchen überhaupt nicht, stattdessen nickte Florence auffällig-unauffällig ihrer Schwester zu und deutete mit dem Kopf in Emmas Richtung. Georgina schaute sie an und kicherte.

»Florence! Georgina!« Eine deutliche Schärfe schwang in Lady Ashworths Stimme mit. »Es ist unhöflich, sich über einen Gast zu belustigen.«

Emma verschluckte sich an der Suppe, die sie gerade zu sich nahm, und bekam einen Hustenanfall, den sie mit einem Schluck Wein herunterspülen wollte, was es nicht besser machte. Der Husten war so hartnäckig, dass sie die Serviette vor ihren Mund hielt aus Sorge, Suppe und Wein über den Tisch zu spucken. Tränen traten ihr in die Augen, ob aus Scham oder aufgrund des Hustens, das hätte sie nicht sagen können. Endlich – nach einer Zeitspanne, die ihr unendlich vorkam – ebbte der Husten ab und sie tupfte sich mit der Serviette die Augen- und Mundwinkel ab.

»Geht es Ihnen gut?« Percivals Frage brachte die Tränen zurück. Emma wäre es lieber gewesen, wenn die Familie stillschweigend über ihren Fauxpas hinweggegangen wäre.

»Danke«, flüsterte sie und richtete ihren Blick auf den Teller, als könnte sie verbergen, wie plump sie war.

»Florence, bist du bitte so freundlich, Ms. zu Sommerfeldt zu erklären, was dich so amüsiert hat.«

»Es tut mir leid, Mutter«, flüsterte Florence, was es Emma beinahe wert erschien, sich dermaßen blamiert zu haben.

»Entschuldige dich nicht bei mir, entschuldige dich bei unserem Gast.«

»Es tut mir leid.« Der Blick, mit dem Florence ihre Worte begleitete, strafte diese Lügen. »In England trinken wir Suppe von der Seite des Löffels.«

Wieder eine der Tischsitten, die für Emma wie Stolpersteine waren, die jemand ihr in den Weg geworfen hatte. Sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten: Was mussten ihre Gastgeber nur von ihr denken? Alles hier kam ihr unglaublich fremd vor, als wäre sie eine Reisende, die ihren Baedeker zu Hause vergessen hatte.

Kapitel 8

Hazelwell Manor 1913

Das Leben auf Hazelwell Manor verlief völlig anders, als Emma es sich vorgestellt hatte. Während der langen Reise mit Eisenbahn und Schiff hatte sie sich ausgemalt, was sie erwartete, hatte Gartenfeste, Fuchsjagden und Picknicks vor sich gesehen. Eine Zeit voller Aufregung, anregender Gespräche und interessanter Menschen hatte sie sich erhofft.

Stattdessen fühlte sie sich wie das fünfte Rad am Wagen und langweilte sich seit ihrer Ankunft unglaublich. Sicher, sie kannte es von zu Hause, von Dienstboten umgeben zu sein und keine Aufgabe zu haben, aber in England schien sich das ganze Leben nur um die Mahlzeiten zu drehen, die Struktur und Ordnung gaben. Allerdings begann der Tag mit einer Psalm-Lesung, die jeden Morgen Punkt 9:15 Uhr vorgenommen wurde, was sie am Anfang irritiert hatte. Inzwischen war es zu einem vertrauten Ritual geworden, das ihr die Gelegenheit gab, alle Mitglieder des Hauses in der Haupthalle versammelt zu sehen. Unglaublich, wie viele Dienstboten es gab, die zumeist unsichtbar blieben, vor allem die Frauen. Den Butler und die Footmen, wie man die Lakaien nannte, kannte sie von den Mahlzeiten, aber die meisten der jungen Frauen, die müde und erschöpft wirkten, sah sie immer nur während der morgendlichen Psalm-Lesung. Nur eine von ihnen kannte sie – Jessie oder Jenny, die Lady Ashworth ihr als Zofe zugeteilt hatte, nachdem Meta nach Braunschweig zurückgereist war. Die anderen waren wohl Haus- und Küchenmädchen, die im Hintergrund wie eine gut geölte Maschine arbeiteten, damit im Vordergrund alles reibungslos und leichtgängig funktionierte.

Oder sie sind die Bühnenarbeiter, die dafür sorgen, dass die Schauspieler leuchten können und alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

»Was denkst du nur für einen Blödsinn?«, würde Mutter bestimmt sagen, sollte sie solche Überlegungen jemals ihr gegenüber äußern. »Eine Dame macht sich keine Gedanken über das Personal.«

Volltönend klang der Bariton von Lord Ashworth, der die letzten Worte des heutigen Psalms sprach. Die Dienstboten eilten davon, während Emma Florence und Georgina folgte, die ins Frühstückzimmer gingen.

Auf der Anrichte standen viele Köstlichkeiten unter Servierhauben verborgen. Da sie sich von Florence und Georgina beobachtet fühlte, nahm sich Emma von den Leckereien nur sehr wenig.

Die Zeit zwischen den Mahlzeiten verbrachten die Herren mit Ausritten und Jagden, während die Damen Tee tranken und sich gepflegt unterhielten. Bei den nachmittäglichen Zusammentreffen im kleinen Salon hatte Emma immer das Gefühl, dass sich Georgina und Florence über sie lustig machten, über ihren deutschen Akzent, über ihre Garderobe, die nicht unbedingt dem Londoner Standard entsprach, wie ihn die Schwestern auch nach Hazelwell Manor brachten. Lady Ashworth beteiligte sich nur selten an den nachmittäglichen Gesprächen. Sie verbrachte viel Zeit im Garten, der ihr anscheinend wichtiger war als ihre Familie.

Nach den Nachmittagen, die sie mit Georgina und Florence verbrachte, konnte Emma nur zu gut verstehen, warum Lady Ashworth die stummen Pflanzen ihren Töchtern vorzog. Am Anfang hatte Emma versucht, mit ihren Gastgeberinnen über etwas zu sprechen, das sie alle interessieren könnte, doch Georgina und Florence lasen keine Romane, sondern nur Lady’s Pictorial und Woman’s Weekly.

Wie hatte ihre Mutter nur glauben können, dass Emma sich auf Hazelwell Manor einpassen könnte? Lady Ashworth behandelte sie mit gleichgültiger Höflichkeit, Lord Ashworth schien sie kaum wahrzunehmen und Florence und Georgina verbrachten wohl nur Zeit mit ihr, weil sie es mussten. Die Einzige, die ihr wirklich freundlich begegnete, war das Nesthäkchen Millicent, ein entzückendes vierjähriges Kind, dessen tiefblaue Augen voller Freude und Lebenslust in die Welt schauten.

Jeden Abend, wenn die Kleine von der Nanny oder der Nursemaid zum gemeinsamen Treffen mit der Familie in die Bibliothek gebracht wurde, leuchtete der Tag ein wenig. Emma hätte nicht erwartet, dass sie Kinder so sehr mochte. Möglicherweise lag es auch nur an Millicent, die ausnehmend liebenswert war.

Und dann gab es natürlich ihn – Percival. Wäre er nicht, würde Emma ihren Aufenthalt in Hazelwell Manor als furchtbare Zeitverschwendung betrachten. Seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte, malte sie sich im Kopf aus, wie sie elegant mit ihm parlierte oder mit ihm gemeinsam durch die Wälder ritt, die Hazelwell Manor umgaben. Niemals hätte sie gedacht, noch einmal in ihrem Leben so tief für jemanden empfinden zu können. Nach ihrer unglücklichen Liebe in Braunschweig hatte sie sich geschworen, nie wieder einem Mann romantische Gefühle entgegenzubringen. Und nun schmachtete sie nach Percival Blakenham wie eine der Heldinnen in den Romanen von E. Marlitt. Nein, selbst diese Frauen waren vernünftiger als sie.

Emma fieberte den gemeinsamen Mahlzeiten entgegen und fürchtete sie gleichzeitig, denn bisher war es ihr nicht gelungen, unbefangen mit Percival zu reden. Sobald er das Wort an sie richtete, lief sie rot an, stotterte und gab nur dummes Zeug von sich, in einem furchtbar holprigen Englisch mit ausgeprägtem Akzent.

Doch heute wollte sie das ändern. Generalsstabmäßig würde sie sich auf das heutige Dinner vorbereiten, würde in der Bibliothek Zeitungen und Zeitschriften studieren, auf der Suche nach einem Thema, das ihn interessieren könnte.

Ihr blieben drei Stunden bis zum Lunch. Zeit, die sie mit Lesen verbringen wollte. Nach dem Lunch gab es wieder eine kurze Pause, bis der Afternoon Tea serviert wurde, den Emma liebte, weil die Köchin eine unglaubliche Auswahl an köstlichen Küchlein und Sandwiches zauberte. Dafür nahm sie selbst die Anwesenheit von Florence und Georgina in Kauf.

Die Dinner hingegen waren so übertrieben vornehm, dass Emma ständig das Gefühl hatte, sich unangemessen zu benehmen.

Genug davon, jetzt blieb Zeit für sich, die sie auszunutzen gedachte, bevor Florence und Georgina sie wieder einmal dazu überreden wollten, mit ihnen einen Ausritt zu unternehmen.

Die Bibliothek war ihr der liebste Raum in Hazelwell Manor. Kurz nach ihrer Ankunft hatte sie den hohen Raum mit einer Vielzahl von dunklen Holzregalen entdeckt und schüchtern darum gebeten, sich ein Buch ausleihen zu dürfen, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern.

»Oh, sei nicht albern«, hatte Lady Ashworth gesagt. »Nimm dir jedes Buch, das dir gefällt. Die Dinger sind schließlich dafür da, gelesen zu werden.«

Emma konnte ihr Glück kaum fassen und las und las und las. Es fiel ihr schwer, eine Auswahl zu treffen, zu verführerisch lockten sie Autoren und Titel.

Oh, könnte ich nur meinen Aufenthalt hier bis in alle Ewigkeit verlängern. Das muss der Himmel sein – eine ausnehmend gut gefüllte Bibliothek und unendlich viel Zeit, die ich hier verbringen kann.

Es hatte Emma verwundert, wie üppig und vielfältig die Auswahl an Büchern war, die hier in hohen Regalen aus dunklem Holz standen. Weder Lady noch Lord Ashworth kamen ihr vor wie große Leser. Auch Florence und Georgina interessierten sich höchstens für Zeitschriften. Daher hatte Emma wenig erwartet, als sie den großen Raum das erste Mal betreten hatte. Doch in den deckenhohen Regalen entdeckte sie immer wieder Überraschungen, sodass die Zeit dort viel zu schnell verflog.

Zu ihrer Verblüffung gab es in der Bibliothek nicht nur Sachbücher über die Jagd und Landwirtschaft, sondern eine faszinierende Auswahl an Romanen. Wer mochte diese Pracht wohl angeschafft haben? Gern hätte sie geglaubt, dass es Percival gewesen war, aber selbst in ihrer Schwärmerei musste sie eingestehen, dass er nicht jemand war, der Wiedersehen in Howards End von E. M. Foster oder Edith Whartons Das Haus der Freude las. Beides Romane, von denen sie viel gehört hatte und auf die sie sich freute.

Percival entsprach eher dem Ideal des englischen Landedelmannes, der sich körperlich ertüchtigte, jagte und um die Pächter kümmerte. Es würde schwer werden, ein Thema zu finden, das ihnen beiden gefiel.

In der Mitte des Raumes standen ein Samtsofa und zwei Sessel mit hohen Lehnen um einen runden Tisch, auf dem eine bunte Mischung an Magazinen und Zeitschriften lag. Country Life lag neben The Times, halb verdeckt von The Daily Sketch. The Strand Magazine teilte sich den Tisch mit The Gentlewoman: An Illustrated Weekly Journal for Gentlewomen und The Lady. Emma nahm ein Magazin und blätterte es durch, aber nichts fand ihr Interesse, sodass sie sich den Regalen zuwandte.

Mit dem Finger strich Emma an den Buchrücken entlang und stutzte. Ja, dort standen, etwas versteckt, zwei Romane der als verrucht geltenden Elinor Glyn, traulich vereint neben den Scarlet-Pimpernel-Geschichten von Baroness Orczy, mit der Emma den Vornamen teilte. Vorsichtig zog sie einen Band heraus und blickte sich um, ob auch niemand sie sehen konnte, wie sie etwas derart Frivoles las. Aber die Gefahr war gering, denn tagsüber gehörte der Raum nahezu ausschließlich Emma.

Sofort nach dem Frühstück war sie heute hierhergeeilt, bevor Florence und Georgina auf die Idee kamen, sie zu einem Ausritt oder schlimmer noch einem der langweiligen Besuche bei entfernten Nachbarn einzuladen. Warum man stundenlang fuhr, um dort nur eine Tasse Tee zu trinken, vermochte Emma nicht zu begreifen. Wie viel schöner war es doch, mit einem Buch im Sessel zu sitzen und sich in eine andere Welt zu träumen.

Sie war so versunken in der Geschichte, dass sie nicht bemerkte, dass jemand den Raum betrat. Erst als sie eine Männerstimme hörte, erkannte Emma, dass sie nicht mehr allein war. Panisch rutschte sie tiefer in ihren Sessel, obwohl sie nicht einmal einen Roman von Elinor Glyn las.

»Die dicke Deutsche kann ihre Augen nicht von dir wenden.« Ein lautes Lachen begleitete die Worte. »Wenn du nicht aufpasst, macht sie dir noch einen Antrag.«

»So hoch kann ihre Mitgift gar nicht sein.« Das war eindeutig Percivals Stimme.

Emmas Herz drohte stehen zu bleiben. Nachdem sie die bitteren Worte vernommen hatte, hielt sie den Atem an.

»Die dicke Deutsche« – ihre Wangen brannten vor Scham, während ihr Blick über ihren Bauch wanderte, der sich trotz des einschnürenden Korsetts unter ihrem Kleid abzeichnete. Tränen traten ihr in die Augen und sie biss sich auf das Innere ihrer Wange, damit sie keinen Laut von sich gab. Was wäre peinlicher – wenn die beiden Männer, die sich über sie lustig machten, sie entdeckten oder wenn Emma sich weiter anhören musste, wie sie sich über sie mokierten? Warum hatten sie ausgerechnet die Bibliothek für ihr Gespräch gewählt? Warum hatte sie das Buch nicht mit auf ihr Zimmer genommen und wäre so davon verschont geblieben, zu einer Lauscherin zu werden?

»Mit der richtigen Mitgift würdest du es dir also überlegen?« Täuschte sie sich oder kamen Stimmen und Schritte direkt auf sie zu? Emma versuchte, sich noch mehr zurückzuziehen, zuppelte panisch an ihrem Kleid, damit das nicht hinter dem Sessel hervorschaute und sie verriet. Nicht auszudenken, wenn Reginald Sutcliffe oder Percival sie entdeckten. Vor Scham wünschte sie sich, in einem Kaninchenbau verschwinden zu können wie die Titelheldin von Alice’s Adventures in Wonderland, dem Buch, das sie liebte.

»Als ob ich mich für sie interessieren könnte.«

»Sie hat schöne Augen.«

»Das ist dir aufgefallen?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739448756
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Herrenhaus Downton Freundinnen Abbey England London Frauenwahlrecht Cotswold Suffragette

Autor

  • Christiane Lind (Autor:in)

Christiane Lind hat sich immer Geschichten ausgedacht, die sie ihren Freundinnen erzählte. Zur Jahrtausendwende verfiel sie dem Schreibvirus. Seitdem hat sie bei den Verlagen Rowohlt, Thienemann, Knaur und Aufbau veröffentlicht. Seit 2016 begibt sie sich als Selbstverlegerin auf die Spur starken Frauen. Sie teilt sich eine Wohnung mit unzähligen und ungezählten Büchern, einem Ehemann und drei Musekatern und sammelt Ideen beim Ausreiten.
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Titel: Zeit des Mutes