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Tod eines Lords

Ein Fall für Maud und Lady Christabel

von C. L. Potter (Autor:in)
264 Seiten

Zusammenfassung

War der Tod des Lords wirklich ein skandalöser Unfall? England, Frühling 1912. Geplant ist ein erholsames Wochenende auf dem Land, das die junge Lady Christabel von ihrem Kummer ablenken soll. Stattdessen stolpert sie über die Leiche des jüngsten Sohns ihrer Gastgeber. Unterstützt von ihrer weltklugen Zofe Maud begibt sich die begeisterte Leserin von Detektivgeschichten auf die Suche nach Motiv, Mittel und Gelegenheit. Doch wie findet man einen Täter, wenn alle Anwesenden gute Gründe haben, das Opfer zu hassen? Ein spannender Cosy-Crime mit starken Heldinnen, die Upstairs und Downstairs ermitteln.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Das Buch & Die Autorin

Das Buch

England, Frühling 1912. Geplant ist ein erholsames Wochenende auf dem Land, das die junge Lady Christabel von ihrem Kummer ablenken soll. Stattdessen stolpert sie über die Leiche des jüngsten Sohns ihrer Gastgeber.

Unterstützt von ihrer weltklugen Zofe Maud begibt sich die begeisterte Leserin von Detektivgeschichten auf die Suche nach Motiv, Mittel und Gelegenheit.

Doch wie findet man einen Täter, wenn alle Anwesenden gute Gründe haben, das Opfer zu hassen?

Die Autorin

C. L. Potter ist das Pseudonym von Christiane Lind, unter dem sie Landhauskrimis schreibt. Seitdem Christiane das erste Mal nach Südengland reiste, ist sie Herrenhäusern und deren Geheimnissen verfallen.

Figuren

Lentune Hall

Maud Gulliver, Zofe

Christabel Mowgray, Ladyschaft von Maud


Upstairs

Rosalind Mowgray, Countess of Waldeford, Christabels Mutter

Alastair Mowgray, Earl of Waldeford, Christabels Vater

Dahlia Mowgray, Christabels Schwester

Basil Mowgray, Christabels Bruder

Lavinia Mowgray, Christabels unverheiratete Tante

Godfrey Riddington, Christabels Patenonkel


Downstairs

Harold Rowe, Butler

Jessamine Eggerton, Hausdame

Nellie Cramton, Köchin

Leonard Arnold, Chauffeur

Harold Knight, Lakai

Gladys Bannerman, Hausmädchen

Enid Gillinham, Hausmädchen

Lucy-Anne Buxton, Küchenhilfe

Ashburn Abbey

Upstairs

Percy Willmington, Earl of Aylesgrave

Honora Willmington, Countess of Aylesgrave

Dunstan Willmington, ältester Sohn

Georgina Willmington, dessen Ehefrau

Lucian Willmington, jüngerer Sohn

Violet Keat, dessen Verlobte

Unity Willmington, Tochter

Beryl Banfour, deren Freundin


Ernest Pemborough, Gast


Downstairs

Marmaduke Trowbridge, Butler

Eunice Stanhoop, Hausdame

Harriet Pratt, Köchin

Rupert Kendall, Chauffeur

Simon Nott, Lakai

Flossie Hasket, Hausmädchen

Ivy Lovell, Hausmädchen

Dora Mullens, Küchenhilfe

Kapitel Eins

Lady Christabels Mutter wird mir den Hals umdrehen, war der erste Gedanke, der Maud durch den Kopf schoss, als die elegant gekleideten Damen in ihre nicht minder eleganten Handtaschen griffen und Hämmer herausholten. Der Anblick war so überraschend, dass die in Schwarz gekleideten Polizisten ebenso erstarrt verharrten wie Maud. Erschüttert beobachteten sie, wie die Ladys Fenster der piekfeinen Geschäfte an der Bond Street einschlugen. Das Geräusch der klirrenden Scheiben war ohrenbetäubend und übertönte selbst die skandierten »Wahlrecht für Frauen«-Rufe, die die Zerstörung begleiteten. Wie hatte Maud nur in dieses Chaos hineingeraten können?

Ihr Blick irrte von den Ladys hin zu den Bobbys und den Männern am Straßenrand, die nun ihre Chance witterten und mit erhobenen Fäusten auf die Protestierenden zuliefen. Wenn Maud nicht schnell genug wegkäme, würde sie gewiss in eine unerfreuliche Prügelei geraten. Sie drehte den Kopf hin und her, um einen Fluchtweg zu suchen. Dicht an dicht drängten sich die Frauen, wohl, um sich gegen die angreifenden Männer zu wehren.

»Maud? Maud, wo bist du?!«, erklang eine helle Stimme voller Panik, die sie daran erinnerte, warum sie sich hier befand. »Maud, was sollen wir nur machen?«

»Folgen Sie mir.« Maud lief auf die junge Frau zu und ergriff Lady Christabels Arm. »Wir müssen verschwinden. So schnell wie möglich.«

Maud konnte nur hoffen und beten, dass diese Eskapade ihrer Lady nicht zu weitreichenden Konsequenzen führte. Warum gelang es ihr nicht, auf die Vernunft zu hören und sich Lady Christabels Wünschen zu widersetzen? Vor allem, wenn diese vollkommen unvernünftig waren wie heute!

Mehr als einmal hätte sich Maud dafür ohrfeigen können, Lady Christabels Launen nachgegeben zu haben. Wären sie damals nur nicht auf diese vermaledeite Kundgebung der Frauenrechtlerinnen gegangen, dann müssten sie jetzt nicht um ihre Gesundheit und ihr Leben fürchten. Sich für das Wahlrecht einzusetzen, war auch nur eine von vielen Ideen Lady Christabels.

Als gelangweilte Tochter aus gutem Haus suchte und fand sie mit überraschender Regelmäßigkeit etwas Neues, in das sie sich mit immenser Energie stürzte, nur um es nach einem halben Jahr fallen zu lassen. Maud hatte die Malversuche ihrer Lady ebenso überstanden wie deren Begeisterung fürs Gärtnern und die Faszination für das Theater. Daher war Maud davon ausgegangen, auch diese Leidenschaft von Christabel Mowgray wäre ein kurzlebiges Strohfeuer. Als Lady Christabel ihr mit leuchtenden Augen von der Kundgebung dieser sogenannten Suffragetten erzählt hatte, hatte Maud nur mit einem Kopfschütteln geantwortet. Das hatte ihre Ladyschaft tief getroffen.

»Verstehst du nicht, wie wichtig das ist?« Christabel Mowgray stemmte die Hände in die Hüften. Es fehlte nur noch, dass sie wie ein verwöhntes Kind mit dem Fuß aufstampfte. »Ohne Wahlrecht bleiben wir Menschen zweiter Klasse.«

Was weiß jemand wie Sie schon von Armut und Unterdrückung, dachte Maud, aber sie fragte nur: »Wird sich die Welt ändern, wenn Frauen wählen dürfen?«

»Selbstverständlich.« Lady Christabel schüttelte den Kopf über ihre Ignoranz. »Wenn du erst Mrs Pankhurst hast reden hören, wirst du es verstehen.«

Alle weiteren Versuche Mauds, ihre Ladyschaft davon abzubringen, waren ebenso gescheitert. Also hatten sie sich an diesem grauen Novembertag unter einem Vorwand aus dem Stadthaus in Belgravia geschlichen, um Mrs Pankhurst anzuhören und danach an einer Kundgebung teilzuhaben.

Selbst die mit Verve vorgebrachte Rede hatte Maud nicht davon überzeugen können, dass wählende Ladys die Welt verbessern würden. Denn Armut und Elend des Londoner East Ends würde es auch weiterhin geben, wenn Frauen ihre Stimme abgeben durften. Ganz zu schweigen davon, dass viele der Suffragetten das Wahlrecht nur für wohlhabende Damen forderten und arme Frauen weiterhin nicht das Recht bekämen, über ihr Schicksal zu entscheiden.

Trotz dieser Vorbehalte hatte Maud als gute Zofe ihre Lady begleitet und dabei insbesondere die Polizei im Blick gehabt. Sie hatte Übles darüber gehört, wie die Bobbys die Damen behandelten, die für das Frauenwahlrecht kämpften. Wenn die Polizisten schon nicht davor zurückscheuten, ihre Knüppel gegen feine Damen zu schwingen, wie mies würden sie dann erst eine Zofe anpacken?

Also entschied Maud, dass Weglaufen der klügere Teil der Tapferkeit wäre. Als die Ordnungshüter ihre Fassung wiedergewonnen hatten und mit erhobenen Schlagstöcken auf sie zupreschten, zog Maud Lady Christabel hinter sich her und schürzte die Röcke, um davonzurennen. Doch sie hatte nicht mit dem Eigensinn ihrer Ladyschaft gerechnet.

»Kommen Sie, Mylady.« Maud griff Lady Christabels Arm und wollte sie hinter sich her zerren, nur weg von den prügelnden Polizisten und schreienden Frauen. »Wir müssen abhauen, so schnell wir können.«

»Ich lasse meine Schwestern nicht im Stich.« Mit der ihr eigenen Sturheit stemmte Christabel Mowgray die Füße in den Boden und bewegte sich kein Stück. »Ich bin bereit, für meine Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen.«

Manchmal kam es Maud vor, als wäre sie zwanzig Jahre älter als ihre Ladyschaft und nicht nur fünf. Womöglich wäre sie auch derart weltfremd, wenn sie mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wäre wie Lady Christabel. Maud hatte gelernt, sich mit ihrem Platz in der Welt zu bescheiden, aber an Tagen wie diesen verfluchte sie das Schicksal, das sie nach London geführt hatte. Wenn ihre Ladyschaft in dieser bockigen Stimmung war, half nur eines: ehrliche und deutliche Worte.

»Das sagen Sie nur, weil Sie noch nie einen Knast von innen gesehen haben«, zischte Maud. »Dort stinkt es wie in einer Kloake und es ist eisig kalt. Sie müssen sich mit vielen einen winzigen Raum teilen. Kommen Sie!«

Zu Mauds Erstaunen gab Lady Christabel so plötzlich nach, dass Maud ins Stolpern geriet. Nachdem sie sich gefangen hatte, sah sie hoch und entdeckte einen Ausdruck von Verblüffung, gepaart mit Ekel auf Lady Christabels feinen Zügen. Aus verengten Augen musterte ihre Ladyschaft einen elegant gekleideten Gentleman, der sich weder von den Bobbys noch von den kreischenden Damen einschüchtern ließ. Die Polizisten, die eben noch auf Maud zugelaufen kamen, drehten um, um sich einfachere Opfer zu suchen.

Neugierig betrachtete Maud den Gentleman, den sie auf den ersten Blick unerfreulich fand. Möglicherweise hatte sie zu viele Kriminalromane gelesen, in denen die Bösewichte dunkelhaarige Männer mit eingefallenen Gesichtern waren. Aber nein, das war es nicht allein. Es war der Ausdruck von Arroganz und Langeweile, der auf seinen hageren Gesichtszügen lag. Die Mundwinkel waren spöttisch herabgezogen, als wüsste er mehr als die anderen in seiner Umgebung. Wer war das und was verband ihre Ladyschaft mit ihm?

»Christabel Mowgray. Wie überaus überraschend, Sie hier anzutreffen.« Ein süffisantes Lächeln erschien in seinen Mundwinkeln. »Ich hoffe sehr, Sie haben nichts mit dem Getümmel dort hinten zu schaffen?«

»Lucian Willmington.« Maud bemerkte, wie Lady Christabel ihre Nase rümpfte, als würde man sie mit einem verfaulten Stück Fleisch konfrontieren. »Auch ich habe nicht erwartet, Sie hier zu sehen.«

»Mylady«, drängte Maud, die fürchtete, dass ihnen wenig Zeit für höfliches Geplänkel blieb. »Wir sollten uns sputen.«

Weil sie es gewagt hatte, sich in das Gespräch der Herrschaften einzumischen, warf ihr Mr Willmington einen musternden Blick zu. Seine Mundwinkel zogen sich nach unten, aber er würdigte sie keiner weiteren Beachtung. Stattdessen wandte er sich an Lady Christabel.

»Ich hoffe, wir werden bald eine bessere Gelegenheit zum Plaudern finden.« Spöttisch verneigte er sich. »Normalerweise würde ich anbieten, Ihnen sicheres Geleit zu gewähren, doch ich habe einen wichtigen Termin.«

Bevor eine der beiden Frauen etwas erwidern konnte, hatte er sich schon umgedreht. Elegant schlängelte er sich zwischen den Männern hindurch, die eben noch am Straßenrand gestanden hatten und nun bedrohlich näher kamen.

»Was für ein Geck!«, zischte Lady Christabel. »Dass ich ausgerechnet ihm hier begegnen muss. Er wird es bestimmt meinem Vater erzählen.«

Das fehlt mir noch zu meinem Glück, dachte Maud und unterdrückte ein Aufseufzen. Denn wer wird die Schuld dafür bekommen? Hoffentlich erhalte ich nicht die Kündigung. Ihre Eltern sollten wissen, wie Lady Christabel ist, aber dennoch müsste ich die Angelegenheit ausbaden. Tod und Teufel!

In dem Moment erklang ein schriller Schrei, als ein Bobby auf eine am Boden liegende Frau einschlug, die ihre Arme schützend über den Kopf erhoben hatte. Um sie herum nahm Maud ein wildes Durcheinander wahr und erkannte mit Schrecken, wie nahe ihnen die Ordnungshüter inzwischen erneut gekommen waren. Hätte Lady Christabel sich nur nicht mit dem Gespräch aufgehalten. Die ohnehin schmale Lücke, die ihnen eine Flucht ermöglichte, drohte sich zu schließen.

Als Maud spürte, wie die kämpferische Entschlossenheit ihrer Herrin angesichts des Dramas um sie herum weiter ins Wanken geriet, zog sie Lady Christabel hinter sich her. Mit schmerzenden Lungen raste sie auf die schmale Bresche zu, die ihnen den Weg in die Freiheit zeigte. Genau in diesem Moment kamen zwei Polizisten von links auf sie zu gerannt, die Gesichter unter den hohen schwarzen Kappen kaum erkennbar. Mauds Blick irrte umher, aber es gab kein Entkommen. Entweder standen ihnen weinende Frauen, die in Polizeigewahrsam genommen wurden, oder kämpfende Frauen, die mit ihren Handtaschen auf die Polizisten einschlugen, im Weg. Maud blieb stehen, um sich zu orientieren. Als Lady Christabel, überrascht von dem plötzlichen Halt, in sie hineinkrachte, stolperte Maud und schlug sich das Knie auf dem harten Kopfsteinpflaster Londons an.

»Hierher, schnell!«, erklang eine angenehme Stimme links von ihr. »Sputen Sie sich!«

Als Maud ihren Kopf wandte, erspähte sie einen ihr unbekannten Mann, der sie mit der linken Hand zu sich winkte. Die Tintenflecken an seinen Fingern waren das Erste, was ihr an ihm auffiel. Sie und das Notizbuch, das er eilig in die Tasche seines gut geschnittenen, aber abgetragenen Mantels schob, enttarnten ihn als Journalisten. Kurz verhielt sie und überlegte, ob sie dem Fremden vertrauen sollte. Meinte er es wirklich gut mit ihnen oder würde sie am nächsten Tag ein Foto und den Namen ihrer Ladyschaft in der »Daily Mail« lesen?

Besser in der Zeitung als in Holloway! Wenn ich zulasse, dass Lady Christabel im Gefängnis landet, bringt ihre Mutter mich um. Nein, dafür ist die Countess of Waldeford zu vornehm, aber sie wird mich ohne Referenzen entlassen.

Diese Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie waren so beängstigend, dass Maud sich entschloss, ihr Schicksal dem Schreiberling anzuvertrauen. Mit einem kräftigen Stoß schubste sie ihre Herrin in seine Richtung, schlug einen Haken um den Polizisten, der die Hände nach ihr ausgestreckt hatte, und folgte Lady Christabel. Die hatte dem Mann ihre Hand gegeben, was Maud aufstöhnen ließ. Hoffentlich bemerkte niemand, wie unschicklich sich die junge Dame benahm. Jeder Fehler Lady Christabels würde ihrer Zofe angekreidet werden, das wusste Maud nur zu gut.

Galant hielt er ihre Hand, während er unvermutet die Richtung wechselte, um aus der sich anbahnenden Katastrophe zu entkommen. Der Journalist und Lady Christabel liefen so schnell, dass Maud Mühe hatte, ihnen zu folgen. Endlich verlangsamten sie ihre Schritte und bogen in eine der vielen kleinen Nebenstraßen ein.

Dankbar lehnte Maud sich an die roten Ziegel einer Hauswand und rang nach Atem. Nachdem sie wieder Luft bekam, sah sie sofort zu ihrer Ladyschaft und ihrem Retter. Die beiden standen sich gegenüber und er hielt noch immer ihre Hand. Maud verdrehte die Augen. Das würde gewiss kein gutes Ende nehmen.

»Danke«, hauchte Lady Christabel und senkte den Kopf. Zu Mauds Überraschung liefen die Wangen der jungen Frau rot an. »Sie haben uns gerettet. Wie furchtbar gemein diese Polizisten sind.«

So sanft, beinahe schüchtern, hatte Maud ihre Herrschaft bisher nicht erlebt. Das war ihr Anlass und Grund, den jungen Mann, der sie gerettet hatte, gründlich zu begutachten. Er sah ansprechend aus, zweifelsohne, mit seinem braunen Haar und den grauen Augen. Eine klassische Nase, ein sinnlicher Mund und ein schmales Gesicht – alles wohlproportioniert, aber kein Grund zu erröten. Das Einzige, was ihn über die Vielzahl anderer gut aussehender Männer erhob, war die linke Augenbraue, die aussah, als hätte er sie fragend hochgezogen. Das gab seinem Gesicht einen pfiffigen Charme, von dem Maud nicht gedacht hätte, dass er Lady Christabel gefallen könnte.

»Es war mir ein Vergnügen.« Als der junge Mann verunsichert zu Boden sah, wünschte Maud sich einmal mehr, sie hätte verhindert, dass ihre Lady heute an der Kundgebung teilnahm. »Mein Name ist Fleeth. Nicholas Fleeth.«

Er schien mehr sagen zu wollen, aber ihm versagte die Stimme. Es war kein Wunder, dachte Maud, dass ihm die Worte fehlten. Selbst derangiert vom Kampf mit den Polizisten und außer Atem war Lady Christabel das Bild einer englischen Rose. Ihre Wangen, die jetzt gerötet waren, waren zart und ohne Makel, ihre großen Augen von einem exquisiten Graublau. Die etwas zu lange, schmale Nase und der etwas zu volle Mund minderten Lady Christabels Schönheit nicht etwa, sondern fügten sich zu einem Gesamtbild zusammen, das bereits mehreren Galanen das Herz gebrochen hatte.

Einzig die Haarfarbe, nicht blond, aber auch nicht braun, passte nicht perfekt. Bisher widersetzten sich die widerspenstigen Locken allen Versuchen Mauds, sie mit Hilfe von Kamillensud, Honig oder Backpulver aufzuhellen.

»Ich bin Christabel Mowgray«, sagte ihre Ladyschaft schließlich, den Blick weiterhin auf den jungen Mann gerichtet, als gäbe es nichts Wichtigeres.

Doch Maud hörte das Klappern genagelter Schuhe auf dem Straßenpflaster und musste erkennen, dass sie noch lange nicht in Sicherheit waren. Also schürzte sie erneut ihre Röcke, holte tief Atem und lief los. Über die Schulter rief sie den beiden Turteltauben zu: »Kommen Sie, sonst landen wir alle in Holloway!«

Kapitel Zwei

Während Christabel den langen Flur entlang zum Frühstückszimmer ging, kreisten ihre Gedanken nur um die Frage, warum sie noch nichts von Nicholas gehört hatte. Vor seiner Abreise hatte er ihr hoch und heilig versprochen, ihr jeden Tag eine Nachricht zu senden. Doch gestern war kein Telegramm gekommen oder aber – und dieser Gedanke bereitete ihr Sorgen – ihre Eltern hatten es abgefangen.

Auf keinen Fall durfte sie sich etwas anmerken lassen. Wenn sie sich durch Worte oder Gesten verriet, stünde ihre Zukunft auf dem Spiel. Niemals würde ihre Familie zulassen, dass Christabel unter ihrem Stand heiratete. Daher gab es nur eins: Sie musste mit ihrem Geliebten durchbrennen, nach Gretna Green vielleicht. Bei dem Gedanken an eine romantische, heimliche Hochzeit stieg ihre Stimmung und frohgemut öffnete sie die Tür zum Frühstückszimmer.

Wie jeden Morgen fiel ihr Blick auf die imposanten Porträts zweier Vorfahren, die in dem mit dunklem Holz verkleideten Raum hingen. Über dem Kamin war ein düster wirkender Herr in schwarzer Kleidung zu sehen, während an der langen Wandseite ein beinahe lebensgroßes Bild eines Mannes in roter Kleidung mit einem Hermelinkragen platziert war. Christabel mochte das Zimmer nicht, sie fühlte sich von diesen grimmig blickenden Vorfahren beobachtet und beurteilt.

Zu ihrer Überraschung frühstückte ihre Mutter heute nicht im Bett, sondern saß neben ihrem Ehemann am Frühstückstisch. Was mochte das nur zu bedeuten haben? Christabel hatte gelernt, jegliche Abweichung von der täglichen Routine als Bedrohung zu betrachten. Denn zumeist ging damit der Versuch ihrer Mutter einher, Christabel einen passenden Ehemann unterzujubeln. Daher wappnete sie sich innerlich, während sie freundlich lächelte.

Nachdem sie ihrer Familie einen guten Morgen gewünscht hatte, suchte sie sich einige Leckerbissen am Büfett. Verführerisch dufteten Würstchen und Speck, die auf Warmhalteplatten brutzelten. Pochierte Eier, Toast und zwei Scheiben Schinken – mehr gönnte Christabel sich nicht, weil sie sonst einen tadelnden Blick ihrer Mutter geerntet hätte.

Sie setzte sich neben Dahlia, ihre jüngere Schwester, und bestrich eine Toastscheibe dünn mit Butter. Warum nur schwiegen die Mitglieder ihrer Familie? Hatten sie etwa von Nicholas erfahren? Christabel ließ das Messer sinken, um das Zittern ihrer Finger zu verbergen.

»Ich habe Dudley Gillet gestern im Klub getroffen«, sagte ihr Vater betont beiläufig. »Er hat sich nach dir erkundigt.«

Alastair Mowgray schenkte seiner ältesten Tochter ein schmallippiges Lächeln. Jeder Zoll ihres Vaters gab ihn als »Landedelmann« zu erkennen. Seine hochgewachsene Gestalt wirkte sportlich und hager wie die eines Mannes, der viel Zeit auf dem Pferderücken zubrachte. Die kräftige Nase hatten glücklicherweise weder Christabel noch Dahlia geerbt. Das braune Haar trug er akkurat kurz geschnitten, das Kinn und die schmalen Wangen waren glatt rasiert. Langsam schlichen sich erste Strähnen von Grau in seine Haare, was ihm ein noch distinguierteres Aussehen verlieh.

Sie seufzte kaum hörbar. Das Manöver ihres Vaters war einfach zu durchsichtig. Warum nur hatte er sich in Fragen ihrer möglichst baldigen Heirat auf die Seite ihrer Mutter geschlagen? Schlimm genug, dass Rosalind Mowgray Christabel jeden Tag zu einem Besuch bei passenden Familien zerrte, damit sie dort begutachtet werden konnte wie eine Zuchtstute. Sicher, es war ungewöhnlich, dass Christabel bisher jeden Heiratsantrag ausgeschlagen hatte, obwohl einige vielversprechende Kandidaten darunter gewesen waren. Aber konnten ihre Eltern nicht begreifen, dass ihr die Liebe wichtiger war als eine gute Partie?

»Dudley ist ein furchtbarer Langweiler.« Christabel hielt den Blick stur auf ihren Teller gerichtet, weil sie fürchtete, dass ihre Miene sie verraten würde. »Er kann sich nur über Pferde und die Jagd unterhalten.«

Nun schaute sie ihren Vater direkt an und lächelte, um ihre Worte abzumildern, aber das half nichts. Als sie ihm Widerworte gab, kniff er die ohnehin schmalen Lippen zusammen, bis sie einen Strich bildeten. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen vertiefte sich und er verengte die grauen Augen.

»Der junge Gillet ist eine gute Partie«, mischte sich nun, wie zu erwarten, ihre Mutter ein. Hinter Rosalind Mowgrays Lächeln verbarg sich die schlecht verhüllte Absicht, ihre älteste Tochter endlich angemessen zu verheiraten. Schließlich war Christabel bereits 22 Jahre alt und auf dem besten Weg, als alte Jungfer zu enden. Christabels unpassendes Benehmen verschlechterte die Heiratsaussichten für Dahlia, die in dieser Saison ihr Debüt gegeben hatte und nun, ebenso wie Christabel, jeden Tag zu Besuchen geschleppt wurde. Dahlia allerdings genoss den Heiratszirkus und konnte es kaum erwarten, die Ehe zu schließen. Ihr stellte sich nur die Frage, wen sie heiraten wollte, nicht ob.

»Lieber bleibe ich unverheiratet, als mein Leben in tödlicher Langeweile zu verbringen.« Christabel stieß ein undamenhaftes Schnauben aus. Selbst wenn sie nicht in Nicholas ihre große Liebe gefunden hätte, wäre Dudley niemals infrage gekommen. »Tante Lavinia führt ein viel spannenderes Leben als wir.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, was Christabel sehr deutlich machte, wie stark ihre Worte gegen die guten Sitten verstießen. Manchmal hasste sie es unglaublich, eine Angehörige des Adels zu sein, für die Hunderte von Benimmregeln galten. Die meisten von ihnen entstammten dem letzten Jahrhundert und hatten nach Christabels Auffassung nur die Aufgabe, Frauen zu einem langweiligen Leben zu verdammen. Ihre Eltern hingegen sahen darin die Basis des Funktionierens ihrer Gesellschaft, was immer wieder zu Konflikten führte. Weil sie ihre Eltern liebte, bemühte Christabel sich meistens, diese Streitigkeiten zu vermeiden, aber die Vorstellung, mit Dudley Gillet verheiratet zu werden, hatte sie diese Vorsicht vergessen lassen.

»Deine Tante kann sich ihren unkonventionellen Lebensstil nur leisten, weil sie durch das Erbe ihrer Patentante abgesichert ist.« Rosalind kniff die Lippen zusammen. »Wie würdest du dein Leben bestreiten wollen?«

»Wenn ihr mir erlauben würdet zu studieren, fände ich bestimmt etwas, mit dem ich meine Eigenständigkeit sichere.« Obwohl sie dieses Gespräch oder ein ähnliches bestimmt mehr als ein Dutzend Mal geführt hatten, konnte Christabel ihren Mund einfach nicht halten. »Frauen sollten mehr Möglichkeiten haben, als nur zu heiraten.«

Ihre Eltern wechselten einen Blick, wie ihn Christabel nur zu gut kannte. Falls sie nur einen winzigen Funken Hoffnung gehegt hatte, ihre Familie von ihrer Liebe zu Nicholas überzeugen zu können, starb er nun einen schnellen Tod.

»Mit deinen Reden verdirbst du mir jegliche Chance auf eine gute Partie«, mischte sich nun auch noch Dahlia ein. »Du könntest wahrlich etwas rücksichtsvoller sein.«

Wie können wir uns äußerlich nur so ähnlich sehen und uns so sehr unterscheiden, fragte sich Christabel, als die hohe Stimme ihrer Schwester erklang. Dahlia wich niemals vom Pfad der Tugend ab, sondern bemühte sich nach Kräften, das perfekte Bild einer britischen Lady abzugeben. Manchmal kam es Christabel vor, als wollte ihre Schwester ihr auf diesem Weg heimzahlen, dass Christabel eine bessere Fechterin und Reiterin war.

»Du machst unsere Familie noch zum Gespött Londons.« Himmel, musste ihr Bruder ebenfalls seine Meinung kundtun? »Etwas mehr Rücksicht würde dir gut zu Gesicht stehen.«

In diesem selbstgerecht-nasalen Tonfall hatte Basil bereits als Kind gesprochen. Selbst mit gutem Willen konnte man ihn nicht attraktiv nennen. Christabel mit ihrer spitzen Zunge nannte ihren Bruder farblos. Wie seine Schwestern war auch Basil dunkelblond und blauäugig, allerdings wirkten Augen und Haare bei ihm verwaschen oder ausgeblichen. Von seinem Vater hatte er die kräftige Nase geerbt, die sich nach links neigte, als hätte er sie sich bei einer Prügelei gebrochen. Etwas, was ihrem Bruder nicht im Traum einfallen würde. Mit seinem Vater gemeinsam hatte Basil außerdem die schmalen Lippen und die Angewohnheit, diese missbilligend zusammenzukneifen.

Im Unterschied zu Christabel und Dahlia, die das Reiten liebten, scheute ihr Bruder vor Pferden und körperlicher Betätigung zurück. Daher wirkte er trotz seiner zwanzig Jahre schlaksig und ungelenk wie ein Halbwüchsiger.

Christabel, die ohnehin wenig begeistert darüber gewesen war, einen Bruder zu bekommen, hatte es nie geschafft, ihre Abneigung gegen ihn zu überwinden. Wusste er doch immer alles besser und schien seine Bestimmung darin zu finden, Christabel zu tadeln.

»Genug.« Alastair erhob nur leicht die Stimme, aber die Schärfe seines Tons reichte aus, dass die Geschwister sich wieder ihren Mahlzeiten widmeten.

»Wir sind am kommenden Freitag zum Ball bei den Cavenleys eingeladen.« Weder Rosalinds Tonfall noch ihr Gesichtsausdruck ließen vermuten, wie sehr sie sich über die Debatte geärgert hatte. Aber Christabel kannte ihre Mutter gut genug, um zu wissen, wie wenig diese über ihre Ansichten erfreut war. »Christabel, Dahlia, morgen kommt die Schneiderin, um eure Kleider anzupassen.«

Bevor sie antworten konnten, kam ein Lakai herein und flüsterte Alastair Mowgray etwas ins Ohr. Er erbleichte und antwortete dem Bediensteten, bevor er sich erhob. Doch da öffnete sich bereits die Tür und Godfrey Riddington stürmte ins Speisezimmer.

Obwohl Christabels Patenonkel ein erfolgreicher Gutsbesitzer war, erinnerte er sie an einen zerstreuten Professor. Selbst wenn Godfrey sich Mühe gab, fand sich immer ein Makel an seiner Kleidung. Entweder saß die Krawatte schief, sein Ärmel zog einen Faden oder die Tasche war eingerissen, weil er seltsame Fundstücke hineingestopft und sie damit ausgebeult hatte.

Die blauen Augen unter buschigen Brauen blickten ein wenig verwirrt in die Welt, was darüber hinwegtäuschte, was für ein reger Verstand sich hinter ihnen verbarg.

Am auffallendsten war sein Lächeln, das etwas schief geriet, weil der linke Mundwinkel höher war als der rechte.

Christabel war ihren Eltern überaus dankbar, dass sie Godfrey als ihren Patenonkel ausgewählt hatten, weil er ihr wunderbare Geschichten erzählt hatte, als sie klein gewesen war. Später hatte er versucht, sie für die Naturwissenschaften und die Medizin zu begeistern, denen er sich in seiner Freizeit widmete. Aber leider konnte er Christabel nie dafür gewinnen.

Heute jedoch wirkte Godfrey weder fröhlich noch verwirrt, sondern aufgeregt und zutiefst erschrocken.

»Es tut mir leid, euch zu stören.« Ihr Patenonkel schaute in die Runde. Ein winziges Lächeln zog über sein Gesicht, als er Christabel sah, der er zunickte. »Es ist ein furchtbares Unglück geschehen.«

»Godfrey!« Alastairs Stimme klang scharf. »Das ist gewiss kein Thema für die Familie.«

»Sie werden es morgen sowieso erfahren. Die Zeitungen werden keine anderen Schlagzeilen aufweisen.«

Obwohl sie nicht wusste, was ihr Patenonkel Grauenvolles zu berichten hatte, spürte Christabel eine entsetzliche Angst. Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen. Mit einem Klirren fiel die silberne Gabel auf den Teller, was ihr die Aufmerksamkeit aller zuzog.

»Was ist geschehen?«, flüsterte sie. »Onkel Godfrey, du machst mir Angst.«

Ihre ausgeprägte Fantasie gaukelte ihr Bilder von Bränden, Morden oder gar einem Krieg vor. Möglicherweise zogen die Armen des Londoner East Ends rebellierend und plündernd durch die Straßen der Stadt und standen kurz davor, ihr Anwesen zu stürmen.

Alle Blicke richteten sich auf Godfrey Riddington, der sie ebenfalls ansah. Als Christabel entdeckte, wie verdächtig seine Augen glänzten, griff sie an ihre Kehle. Es fühlte sich an, als drückte jemand sie zu.

»Es tut mir leid, den Tag so beginnen zu müssen.« Godfrey holte tief Luft, sein Gesicht zeigte deutliche Anspannung. »Vor wenigen Stunden ist die Titanic gesunken. Das Schiff hat einen Eisberg gerammt und die Kollision nicht überstehen können.«

»Galt sie nicht als unsinkbar?«, hörte Christabel Basil fragen, während ihre Mutter einen Schreckensschrei ausstieß, gefolgt von: »So viele unserer Freunde befinden sich auf dem Schiff«.

Dahlia schluchzte leise, denn zwei ihrer Verehrer hatten auf der Titanic nach New York reisen wollen.

Christabels Gedanken kreisten nur um eins – Nicholas! Ihre zitternden Finger tasteten nach der Tasse, um einen beruhigenden Schluck Tee zu trinken, doch sie konnte das Porzellan nicht halten. Blicklos starrte sie vor sich hin, unfähig, einen anderen Gedanken als den Namen des geliebten Mannes zu fassen.

Erst als ihr Vater fragte: »Wie viele Menschen haben überlebt?«, schöpfte Christabel Hoffnung. Natürlich! Wie hatte sie nur vom Schlimmsten ausgehen können? Die Titanic war das modernste und sicherste Schiff ihrer Zeit. Gewiss hatten alle Passagiere den Zusammenstoß überstanden und befanden sich nun in Sicherheit in New York. Vor Erleichterung kamen ihr die Tränen.

Da ließ sich Godfrey schwer auf einen Stuhl fallen. Auf seinem ausdrucksstarken Gesicht spiegelten sich so viel Schmerz und Elend, dass Christabels Hoffnungen zusammenfielen wie ein Kartenhaus.

»Rowe, bringen Sie eine Tasse und einen Whiskey für Lord Riddington.«

»Es ist entsetzlich. Bisher heißt es, nur etwa ein Drittel der Menschen, die an Bord waren, konnte gerettet werden.«

»Nein! Nein! Nein!« Erst als sie das Wort wieder und wieder hörte, merkte Christabel, dass es ihr Mund war, der diese schrillen Schreie ausstieß. Sie schlug sich mit der Hand vor den Mund, bevor sie in einer gnädigen Ohnmacht versank.

Kapitel Drei

Als sie noch als Hausmädchen gearbeitet hatte, war Maud jedes Mal glücklich gewesen, wenn Mrs Eggerton sie zur Arbeit in der Bibliothek von Lentune Hall eingeteilt hatte. Obwohl Maud damals kaum des Lesens mächtig gewesen war, hatten sie die Holzregale voller in Leder gebundener Bücher beeindruckt. Wenn sie allein in dem taubengrau gestrichenen Raum war, nahm sie sich gern einen Folianten aus dem Regal und fläzte sich auf eines der drei tiefbraunen Ledersofas.

Auch wenn sie damals nur wenig entziffern konnte, liebte sie den Geruch des Papiers und das Gefühl eines Buches in ihren Händen. Wie sehr hatte sie sich als Hausmädchen gewünscht, sie hätte richtig lesen gelernt. Ein Wunsch, den ihr Lady Christabel erfüllt hatte, nachdem Maud ihre Zofe geworden war. Dafür war Maud ihrer Ladyschaft für den Rest ihres Lebens zu Dank verpflichtet. Die Fähigkeit hatte Maud eine völlig neue Welt eröffnet. Sie las alles, was sie in ihre Finger bekam: Detektivgeschichten, die Lady Christabel liebte, aber auch die Groschenromane, mit denen sich die Dienstmädchen ihre Zeit vertrieben. Selbst die landwirtschaftlichen und historischen Fachbücher, die Lord Mowgray gehörten, hatte Maud verschlungen.

Im Londoner Haus der Familie gab es nur eine kleine Bibliothek, überwiegend leichte Unterhaltungsromane und Zeitschriften, um sich die Zeit zwischen den Besuchen und Bällen zu vertreiben. Dennoch zog sich Maud gern dahin zurück, nachdem die Hausmädchen dort sauber gemacht hatten. Natürlich erst, nachdem sie ihre Arbeiten für Lady Christabel erledigt hatte. Für Maud war die Bibliothek ein Ort des Träumens und der Flucht vor dem Alltag.

Buch an Buch zogen sich hohe Regale aus dunklem Holz an den Wänden entlang. An einem Holzpaneel hingen Scherenschnitte, gruppiert um ein Gemälde, das den dritten Earl of Waldeford darstellte. Wenn man dem Porträt glauben konnte, musste der ein grimmiger Zeitgenosse gewesen sein, mit dem sicher nicht gut Kirschen essen gewesen war. Maud kam es immer vor, als würde er sie kritisch beäugen, weil sie als Zofe es wagte, in seine Bibliothek einzudringen.

Vor den Regalen stand ein runder Tisch mit zwei Sesseln, die förmlich dazu einluden, sich mit einem Buch niederzulassen. Heute jedoch hatte Maud dafür keine Zeit und ihr Interesse galt weniger gewichtiger Lektüre.

Auf dem Tisch landeten die Tageszeitungen »The Daily Telegraph« und »The Times«, nachdem die Herrschaften sie gelesen hatten und bevor sie zum Feueranzünden genutzt wurden. Da Maud wusste, wie sehr sich Lady Christabel nach Informationen über die Katastrophe der Titanic verzehrte, blätterte sie eilig die Zeitungen durch. Noch immer gab es keine Namensliste derjenigen, die das Unglück überlebt hatten. Maud seufzte. Für Lady Christabel war diese Ungewissheit unerträglich.

Vielleicht fanden sich andere Nachrichten, die das Interesse ihrer Ladyschaft weckten und sie von der bangen Frage ablenkten, ob Nicholas Fleeth das Desaster überlebt hatte. Wenn sie Glück hatte, Lady Christabels Lieblingsautorin Winifred Ruteledge einen neuen Roman veröffentlicht. Mauds Blick fiel auf eine winzige Meldung über ein Hausmädchen, das sich mit Rattengift umgebracht hatte. Das arme Ding tat ihr leid und sie fragte sich, wie verzweifelt man sein musste, um so einen schmerzhaften Tod zu wählen?

Das war gewiss keine Nachricht, die Lady Christabel aufheitern würde. Vielleicht könnte Maud sie mit dem Bericht über die neueste Suffragetten-Kundgebung ablenken, obwohl Lady Christabel seit dem November vergangenen Jahres wenig Interesse dafür gezeigt hatte. Die Verliebtheit in Mr Fleeth hatte alle politischen Ambitionen verdrängt.

Nein, ich sollte keinesfalls etwas über Suffragetten berichten, das würde sie nur an das erste Zusammentreffen mit Mr Fleeth erinnern. Maud blätterte weiter. Wenn ich Glück habe, gibt es einen neuen Detektivroman; damit kann ich meiner Lady immer eine Freude machen.

»Hier sind Sie also.« Die dunkle Stimme und vor allem der vorwurfsvolle Tonfall waren Maud nur zu bekannt. Zwischen Harold Rowe, dem Butler, und ihr war es Abneigung auf den ersten Blick gewesen. Maud war sicher, dass er vor drei Jahren hatte verhindern wollen, dass sie die Stelle als Hausmädchen bekam, aber Mrs Eggerton hatte sich durchgesetzt. Dafür war Maud ihr unendlich dankbar.

Rowe schaffte es, die Butlern oft innewohnende Arroganz auf eine neue Stufe zu heben. Seine vollen Lippen waren stets missbilligend gekräuselt, seine engen braunen Augen schienen nur auf der Suche nach Fehlern zu sein. Glücklicherweise war die Natur ihm gegenüber nicht freundlich gewesen: Mr Rowe war sehr klein für einen Mann, Maud überragte ihn um einen Kopf, was er durch eine betont gerade Haltung wettzumachen suchte. Seine Haare hatten sich zurückgezogen, was er durch geschicktes Kämmen zu übertünchen versuchte. Wenn er ihr gegenüber nicht so hochfahrend wäre, hätte Maud ihm Tipps geben können, wie er seinen Haarausfall bekämpfen könnte. So jedoch schwieg sie und wünschte ihm eine baldige Glatze, die sicher schlecht zu seinem herrschaftlichen Auftreten passte.

An dem Tag vor knapp einem Jahr, an dem Lady Christabel Maud zu ihrer Zofe gewählt hatte, war Rowe dunkelrot angelaufen, als würde ihn der Schlag treffen. Auch heute noch ließ er Maud bei jedem gemeinsamen Essen der Dienstboten spüren, dass er sie für eine Hochstaplerin hielt, die es nicht verdiente, zu den oberen Dienstboten zu gehören.

Wenn er wüsste, wie richtig er liegt, würde man sein Triumphgeheul bis Westminster hören, hatte Maud manches Mal gedacht.

»Mr Rowe.« Sie nickte und lächelte süßlich. »Ich bin auf der Suche nach einem Buch für Lady Christabel.«

Kaum hatte sie ausgesprochen, ärgerte sie sich darüber, sich dem Butler gegenüber zu erklären. Sie war ihm keinerlei Rechenschaft schuldig, auch wenn Rowe sich das noch so sehr wünschte.

»Das hat Zeit.« Sein Tonfall wurde noch herablassender. »Lady Mowgray und Lady Dahlia erwarten im Drawing Room auf Sie. Sie sollten die Damen nicht warten lassen.«

»Als ob ich das nicht selbst wüsste«, zischte Maud, allerdings so leise, dass der Butler sie nicht verstehen würde. So gerne sie ihm Widerstand geleistet hätte, war Maud zu klug, noch länger in der Bibliothek zu trödeln. Sie drängelte sich eng an Rowe vorbei, damit er zu ihr aufschauen musste.

Auf dem Weg in den kleinen Salon, den Rowe hochtrabend als »Drawing Room« bezeichnete, überlegte Maud, was Lady Christabels Mutter wohl von ihr wünschte. Hatte Lady Mowgray etwa von der Suffragetten-Kundgebung gehört? Oder, schlimmer noch, wusste sie von den heimlichen Treffen zwischen Lady Christabel und Nicholas Fleeth, bei denen Maud als Alibi und Anstandsdame gedient hatte?

»Myladys.« Maud knickste, nachdem sie die Tür zum Salon geöffnet hatte. Lady Mowgray saß aufrecht auf einem der hohen Sessel mit den gestreiften Bezügen, während ihre Tochter danebenstand, eine Hand auf die Lehne gelegt. Beide wirkten, als stünden sie für jemanden Porträt und nicht, als wollten sie mit einer Bediensteten sprechen.

Der »Drawing Room« bildete eine ansprechende Kulisse für dieses Bild. Auf einem zierlichen dunkelbraunen Tisch mit dünnen, hohen Beinen stand eine Vase mit Lilien, die einen betäubenden Duft verströmten. Daneben lagen polierte Äpfel in einer silbernen Schale. Aus den bodentiefen Fenstern, umrahmt von zartroten Vorhängen, fiel Sonnenlicht auf die beiden Frauen und ließ ihre Haare schimmern.

Wie jedes Mal, wenn sie Lady Dahlia sah, staunte Maud über deren frappierende Ähnlichkeit mit Lady Christabel. Allerdings wirkten Dahlia Mowgrays Gesichtszüge schwächer und zarter, so wie auch Lady Dahlia selbst, die oft kränkelte. Maud hegte den Verdacht, dass die junge Frau die Krankheit nur vortäuschte, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es brauchte einen Betrüger, um einen Betrüger zu erkennen.

Lady Dahlias Augen waren von einem so sanften Blau, dass sie grau schimmerten. Ihre Lippen waren schön geschwungen, aber schmal. Da sie, wie auch Vater und Bruder, die unangenehme Angewohnheit hatte, die Lippen missbilligend zusammenzupressen, zeigte sich eine leichte Falte am Mundwinkel. Maud brauchte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie die jüngste Mowgray in fünfzehn Jahren aussehen würde: eine hagere, stets pikiert wirkende Dame.

Ebenso wie Lady Christabels Haare waren die von Lady Dahlia von einer Farbe, die zwischen Blond und Braun schwankte, allerdings von dunklerer Tönung als die ihrer Lady. All das nahm Maud in der kurzen Zeit wahr, in der sie auf eine Antwort von den Damen wartete.

Lady Mowgray winkte sie mit einer Handbewegung näher. Es war unübersehbar, von wem die jungen Ladys ihren Liebreiz geerbt hatten. Rosalind Mowgray war immer noch eine auffallend schöne Frau. Die Köchin hatte Maud erzählt, dass einige junge Herren mit Selbstmord gedroht hatten, sollte Rosalind sie nicht erhören. Wenn man Nellie Cramton glauben konnte, war es für alle überraschend gekommen, als Rosalind sich für Alastair Mowgray entschieden hatte. Angeblich hatte sie deutlich reichere Galane und auch weitaus attraktivere Verehrer gehabt.

Einem großartigen Stammbaum, aber gewiss auch teuren Cremes war es zu verdanken, dass Lady Mowgrays alabasterfarbene Haut kaum Falten zeigte. Nur ihr Hals verriet, dass sie die 40 bereits überschritten hatte.

Von Lady Christabel hatte Maud des Öfteren gehört, wie sehr sie es bedauerte, nicht die auffallend hellgrauen Augen und das hellbraune Haar ihrer Mutter geerbt zu haben. Maud hingegen, ganz loyale Zofe, betrachtete Lady Christabel als die schönste der Damen Mowgray.

»Gulliver.« Lady Mowgray sprach Maud immer mit ihrem Nachnamen an, was diese nicht mochte, obwohl es üblich war. »Sie haben erlebt, wie schwer meine sensible Tochter das tragische Unglück der Titanic nimmt.«

Wusste sie von Nicholas Fleeth und das war ein Versuch, Maud auszuhorchen?

»Gewiss, Mylady.« Innerlich wappnete Maud sich gegen die Vorwürfe, die wahrscheinlich auf sie einprasseln würden. Ob es ihr gelänge, sich aus der Bredouille zu reden?

»Heute wurde die Liste der Überlebenden veröffentlicht«, sprach Lady Mowgray mit leiser Stimme weiter. Lady Dahlia legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es sind entsetzlich viele Menschen unserer Kreise unter den Opfern.«

»Das tut mir leid.« Maud bemühte sich um einen mitfühlenden Tonfall, aber sie konnte nur an die Zahlen denken, von denen sie gehört hatte. Daran, wie viele Menschen der zweiten und dritten Klasse elendig ertrunken waren, während sich die reichen Passagiere in die wenigen Rettungsboote geflüchtet hatten.

»Was meinen Sie, Gulliver, sollten wir Christabel davon erzählen?«

»Mylady?« Maud sah überrascht auf. Bisher hatte die Dame des Hauses sie noch nie um ihre Meinung gebeten.

»Was meine Mutter meint«, stieß Lady Dahlia ungnädig hervor. »Sie kennen meine Schwester gewiss besser als wir. Bringen Sie ihr die schlimme Nachricht schonend bei.«

»Hier.« Lady Mowgray reichte ihr ein Papier, das offiziell aussah. »Ich werde meine Tochter in einer halben Stunde aufsuchen.«

»Gewiss, Mylady.« Maud knickste noch einmal, bevor sie sich auf den schweren Gang begab.

Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, faltete sie sofort das Schreiben auf und suchte nach dem einen Namen, der für Lady Christabel alles bedeutete. Hölle und Hinkebein! Selbst beim dritten Lesen konnte Maud ihn nicht finden. Wie ärgerlich und feige, dass Lady Mowgray ihr die traurige Aufgabe überlassen hatte. So lange sie auch überlegte, Maud wollte nichts einfallen, wie sie Lady Christabel die Nachricht schonend beibringen konnte.

Langsam, als wäre sie um dreißig Jahre gealtert, schlich sie die braune Holztreppe hoch, die zu den oberen Stockwerken führte. An der Wand hingen dicht an dicht Gemälde, die männliche und weibliche Vorfahren der Mowgrays zeigten. Selbst wenn Sonnenlicht durch die Fenster fiel, wirkten die Bilder dunkel und bedrohlich. Maud kam es immer vor, als würden die Ahnen der Mowgrays sie beurteilen und für unwürdig befinden.

Vor Lady Christabels Tür angekommen, hielt Maud an. Ihrer Erfahrung nach gab es keinen leichten Weg, schlimme Neuigkeiten zu überbringen. Es half nichts, um den heißen Brei herumzureden. Am besten würde es sein, ohne falsche Rücksichtnahme die bittere Wahrheit auszusprechen. Sie konnte nur hoffen, dass Lady Christabel die Botin nicht für die Nachricht verantwortlich machte.

Maud atmete einmal tief durch, bevor sie klopfte und ins Zimmer trat. Wie jedes Mal erfreute sie sich an der sanften Schönheit des Zimmers, das viel freundlicher wirkte als der dunkle Flur. Zarte Blautöne dominierten Lady Christabels Räume, und ihre Fröhlichkeit passte gar nicht zu unglücklichen Nachrichten, die Maud überbringen musste. Die Vorhänge schimmerten wie das Meer an einem sonnigen Vormittag, die Wand war in einem sanften Himmelblau gestrichen. Auf die Tagesdecke des mit einem dunklen Holzrahmen umgebenen Bettes waren Hortensien, Vergissmeinnicht und Himmelsschlüssel eingestickt.

Den einzigen Farbklecks bildete ein rot gemusterter Läufer, auf dem der dunkelbraune Frisiertisch stand. Ein Kleiderschrank und eine Kommode aus dem gleichen Holz enthielten Lady Christabels Garderobe. Alles wirkte wie immer – bis auf Lady Christabel, die auf ihrem Bett lag und Maud den Rücken zuwandte. Ihre Schultern bebten vom Schluchzen.

»Sie wissen es schon?« Maud sprach so sanft, wie es ihr möglich war. »Lady Christabel, möchten Sie einen Tee?«

Als sie Mauds Stimme hörte, drehte ihre Ladyschaft sich um und setzte sich auf. Ihre Augen waren rot verquollen, ebenso wie ihre Nase. Die Haare sahen aus, als hätte ein Vogel darin sein Nest gebaut.

»Ich will keinen Tee. Ich will sterben!« Die Stimme von Lady Christabel zitterte. »Er ist dabei. Nicholas gehört zu den …«

Sie konnte die furchtbare Wahrheit nicht aussprechen, aber Maud verstand sie auch so. Lady Christabels geheime Liebe war dem Unglück der »Titanic« zum Opfer gefallen, so wie mehr als 1.700 Menschen. Vor ihr auf dem Ankleidetisch lag »The Times« von heute, in der alle Toten des Schiffsunglücks aufgelistet waren. Daran, die aktuellen Zeitungen zu verbergen, hatte Lady Mowgray nicht gedacht.

Mauds Herz wurde schwer, es erschien ihr unfassbar, dass der so lebendige junge Mann niemals von seiner Reise zurückkehren würde. Wie so viele andere arme Seelen.

»Oh Maud, was soll ich nur machen?« Lady Christabel verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Eine einsame Träne rollte ihre Wange herunter, was sie nicht einmal zu bemerken schien. »Ich kann nicht einfach vorgeben, alles wäre gut. Ich will nicht auf den Ball gehen.«

»Wollen Sie Ihren Eltern etwa von Nicholas erzählen?« Panik schoss in Maud hoch. Bestimmt würden sich der Earl und die Viscountess of Waldeford nach dem ersten Schock fragen, wie es ihrer Tochter gelungen war, einen Journalisten kennenzulernen. Sicher bedurfte es keiner großen Denkleistung, um auf Maud als Schuldige zu kommen.

»Selbstverständlich werde ich darüber schweigen.« Selbst in ihrer Trauer konnte Lady Christabel arrogant klingen. »Ich will mir nicht anhören, was meine Eltern Böses über Nicholas sagen würden.«

»Sie werden darüber hinwegkommen«, sagte Maud weich. »Eines Tages.«

Die Lüge kam ihr glatt über die Lippen. Obwohl sie Patrick vor drei Jahren verloren hatte, kam kein anderer Mann für sie infrage.

»Das verstehst du nicht.« Lady Christabels Blick begegnete Mauds. »Du hast niemals jemanden so sehr geliebt wie ich Nicholas.«

Was wissen Sie schon, dachte Maud. Wie kommt es nur, dass die Herrschaft meint, wir Menschen unten haben kein eigenes Leben? Ich könnte ihr erzählen, was die Liebe aus einem macht, aber sie würde es mir nicht glauben, einfach weil sie sich nicht vorstellen kann, die gute alte Maud hätte ein Leben vor dem Dasein als Zofe gehabt. Ein Leben, von dem ich jeden Tag fürchte, dass es mich einholt.

Kapitel Vier

Verschwinde, Maud, ich will allein sein. Mir geht es nicht gut«, brachte Christabel mit rauer Stimme hervor. Die Tränen hatten sie müde werden lassen und ihrer Stimme einen Klang verliehen, als wäre sie erkältet. Was Christabel nur recht war, denn seit drei Wochen hütete sie das Bett und gab vor, einen Schwächeanfall erlitten zu haben.

Selbst die Mahlzeiten ließ sie sich ans Bett bringen, um nur ja mit niemandem außer ihrer Zofe reden zu müssen. Ihre Schwester hatte kurz vorbeigeschaut, war allerdings sofort aus dem Zimmer geflüchtet, als Christabel demonstrativ gehustet hatte.

Ihre Mutter kam jeden Tag vorbei und hoffte, Christabel dazu überreden zu können, ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen wieder aufzunehmen. Allerdings schien sie nur mit halbem Herzen bei der Sache zu sein. Selbst wenn ihre Mutter geahnt hatte, dass mehr als das übliche Mitgefühl für die Opfer der Katastrophe ihre Tochter niederdrückte, akzeptierte sie deren Trauerphase.

Nur Maud wollte einfach keine Ruhe geben, sondern zwang Christabel dazu, mit ihr zu reden. So auch heute. Obwohl Christabel die Augen fest geschlossen hielt, spürte sie, wie Licht in ihr Zimmer drang, als die Zofe die Vorhänge aufzog. Daher zog Christabel die Decke über den Kopf und hoffte, Maud damit vertreiben zu können. Das war mehr als deutlich, nicht wahr?

»Maud!«, rief sie empört, nachdem die Decke mit Schwung von ihr heruntergezogen wurde. »Verschwinde! Ich will nicht aufstehen.«

Sie drehte sich zur anderen Seite und wandte ihrer Zofe den Rücken zu. Als sie hörte, wie die Dienstbotin sich räusperte, empfand Christabel ein winziges Triumphgefühl. Zum ersten Mal seit Nicholas’ Tod hatte sie sich gegen Maud durchsetzen können.

»Es ist genug!«

Sofort, als sie die Stimme vernahm, setzte Christabel sich auf und öffnete die Augen. Vor ihr, die Bettdecke in den schmalen, eleganten Händen, stand ihre Mutter, die schönen Gesichtszüge im Ärger verzogen.

»Mutter.« Mehr fiel Christabel nicht ein. Noch nie hatte Christabel erlebt, dass Lady Rosalind Vorhänge öffnete wie ein Hausmädchen. Erschrocken schloss Christabel die Augen wie früher, als sie sich vor der Nanny verstecken wollte, indem sie das Gesicht hinter den Händen verborgen hatte.

»Mein Kind.« Rosalind Mowgray berührte die Schulter ihrer Tochter. »Meine Liebe, hier ist eine Einladung für dich.«

»Ich will es nicht wissen.« Christabel öffnete die Augen, um ihre Mutter mitleidheischend anzusehen. »Mutter, wie kannst du an Vergnügen denken, da viele unserer Freunde und Bekannten einen furchtbaren Tod fanden?«

»Es ist genug!« Rosalinds klare Gesichtszüge verhärteten sich. Sie kniff die Lippen zusammen, ein sicheres Zeichen, wie ernst es ihr war. »Ich habe dir lange genug deine Schwäche durchgehen lassen. Du bist eine Mowgray. Wir weichen nicht im Angesicht von Schicksalsschlägen. Egal, wie tief sie uns treffen.«

Christabel schloss wieder die Augen und drehte sich erneut demonstrativ zur Wand. Ob ihre Mutter ahnte, dass sie um einen besonderen Menschen trauerte? Man konnte Lady Rosalinds Worte als allgemeinen Appell begreifen, aber auch als Ansprache für jemanden, dem die große Liebe genommen worden war. Wenn sie sich Rosalind doch nur anvertrauen könnte. Wenn sie ihrer Mutter nur beichten könnte, was für einen furchtbaren Verlust der Untergang der Titanic für sie mit sich gebracht hatte. Das entsetzliche Unglück hatte Christabels Zukunftspläne von einem Augenblick auf den anderen zerstört.

»Schau mich an!« Der Tonfall ihrer Mutter war schneidend. »Du drehst dich nicht weg von mir.«

Selbst in ihrer dumpfen Traurigkeit wagte Christabel es nicht, sich Lady Rosalind zu widersetzen. Langsam, sehr langsam drehte sie sich um und öffnete die Augen. Ihre Mutter hatte sich den Stuhl der Frisierkommode herangezogen und blickte auf ihre Tochter herab, die sich aufsetzte.

»Ich habe ein Frühstück für dich zubereiten lassen.« Rosalind musterte Christabel durchdringend, als wollte sie deren Geheimnisse durchschauen. »Danach wirst du baden und dich ankleiden. Heute Nachmittag werden wir zu Besuchen aufbrechen.«

»Ich habe keinen Hunger und fühle mich immer noch schwach.«

»Du wirst etwas essen und du wirst mich begleiten.«

Einen Moment lang überlegte Christabel, sich ihrer Mutter anzuvertrauen, aber was würde das nützen? Bestenfalls würde Rosalind sie verstehen und ihr langweilige Besuche ersparen. Allerdings erschien dies Christabel nicht sehr wahrscheinlich.

Schlimmstenfalls – und leider auch viel wahrscheinlicher – würde ihre Mutter sie mit Vorwürfen überschütten, Maud entlassen und Christabel dazu zwingen, möglichst schnell irgendeinen Mann zu heiraten, nur damit sie ihrer Familie ja keinen Skandal brachte. Wie hatte es ihre Mutter hart, aber passend formuliert? Eine Mowgray wusste, was ihre Pflicht war, und handelte demgemäß.

»Gut, Mutter.« Sie seufzte. »In einer Stunde werde ich präsentabel sein.«

Rosalind nickte kurz, erhob sich und ging. Kurze Zeit später öffnete sich die Tür wieder. Maud brachte ein Tablett herein, auf dem sich neben einer Teekanne ein Teller mit Toast, Marmelade, Butter und ein weich gekochtes Ei befanden. Obwohl sie keinen Hunger verspürte, bestrich Christabel mechanisch den Toast mit Butter, bevor sie einen Klecks der Erdbeermarmelade darauf verteilte.

»Geht es Ihnen besser?« Maud öffnete die Fenster, schüttelte die Sofakissen auf und richtete die Bücher auf dem Tischchen neben dem Sofa schnurgerade aus. »Soll ich Ihnen ein Stück Schokoladenkuchen holen? Schokolade tröstet.«

»Nein, nichts kann mich trösten.« Christabel legte den Toast nach einem Bissen zur Seite. Er schmeckte wie Asche. »Lass mich allein. Nein, lass mir erst ein Bad ein.«

»Lady Christabel, schauen Sie. Die Sonne kommt heraus.«

»Das hat keinen Zweck.« Obwohl sie tapfer dagegen ankämpfte, kamen ihr wieder die Tränen. »Ich kann mich an nichts erfreuen, seitdem Nicholas tot ist.«

Konnte ihre Zofe das nicht begreifen? Mit der Titanic war Christabels Zukunft untergegangen. Nie wieder würde sie einen Mann so lieben können wie ihren Nicholas.

»Lady Mowgray hat gesagt, Sie wollen heute Nachmittag Besuche machen.«

»Ich will das nicht, aber meine Mutter ist der Ansicht, ich muss unbedingt unter die Haube.«

»Vielleicht habe ich eine Lösung.« Maud lächelte. »Lady Lavinia hat gestern gefragt, ob Sie sie heute Nachmittag empfangen möchten.«

Ihre Tante Lavinia war für Christabel ein leuchtendes Vorbild, zeigte sie doch, wie glücklich und zufrieden eine unverheiratete Frau sein konnte. Sicher, Tante Lavinia lebte von dem großzügigen Erbe, das ihre Patentante ihr hinterlassen hatte, aber Christabel war sicher, dass ihre Tante einen Weg gefunden hätte, zu Geld zu kommen, sollte das nötig sein.

Ihre Tante war der fröhlichste und zufriedenste Mensch, dem Christabel je begegnet war. Schalk blitzte in den braunen Augen, die vollen Lippen lächelten oft und gern, was zu starken Falten um die Mundwinkel geführt hatte.

»Das sind Zeichen eines langen und fröhlichen Lebens«, pflegte Lavinia zu sagen. »Warum soll man mir das nicht ansehen?«

Obwohl sie fürchtete, Lavinias Fröhlichkeit nicht gewachsen zu sein, wäre der Besuch ihrer Tante gewiss eine wunderbare Ablenkung. Lavinia kannte stets den neuesten Tratsch und fand immer wohlgesetzte Worte, um ihn zu verbreiten.

»Wunderbar.« Christabel stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »So erspare ich mir Besuche gemeinsam mit meiner Mutter. Maud, ich kann den Schmerz nicht ertragen.«

»Es wird weniger. Irgendwann.«

»Woher willst du das wissen?«, zischte Christabel, was ihr gleich darauf furchtbar leidtat. »Entschuldige, das war gemein von mir.«

Manchmal konnte Christabel sich nicht des Eindrucks erwehren, dass sich hinter Mauds dienstbarer Fassade eine überaus spannende Geschichte verbarg. Nicht, dass sich ihre Zofe jemals eine zu große Vertraulichkeit oder gar Frechheit herausgenommen hätte, aber man konnte ihren aufmüpfigen Geist spüren. Christabel redete sich gerne ein, dies sofort erkannt zu haben, weil auch sie diese rebellische Ader besaß.

Manchmal, wenn Maud meinte, von niemandem gesehen zu werden, huschte etwas Dunkles über ihr Gesicht. Nur zu gerne wollte Christabel herausfinden, was dieses Geheimnis war, aber bisher war es ihr nicht gelungen, ihrer Zofe deren Vergangenheit zu entlocken. Obwohl Christabel der Ansicht war, überaus geschickt vorgegangen zu sein. Schließlich hatte sie etliche Detektivromane und verwickelte Geschichten gelesen, die sie zu einer Expertin in Ermittlungen machten. Allerdings hatte Maud diese Romane ebenfalls gelesen und war daher in der Lage, ihr Paroli zu bieten.

Ob Maud wohl jemals jemanden geliebt hat?, fragte sie sich. Schön genug ist sie ja.

Christabel musterte ihre Zofe, während diese ihr konzentriert die Haare aufsteckte. Bernstein war das Wort, mit dem sie Maud beschreiben würde, dunkler Bernstein. Angefangen von den rotbraunen Haaren über die etwas dunkleren Augenbrauen bis hin zu den ungewöhnlichen Augen, die je nach Lichteinfall dunkelbraun bis bernsteinhell schimmerten. Selbst Mauds Sommersprossen, die sie auch im Winter nicht verließen, waren bernsteinfarben. Die Sommersprossen bedeckten die Wangen, die lange, etwas linksgeneigte Nase und verteilten sich um den vollen Mund bis hin zum Kinn.

Erschütternd, wie wenig sie über ihre Zofe wusste. Aber selbst unter Aufbietung ihrer ganzen Fantasie konnte Christabel sich Maud nicht als hoffnungslos Liebende vorstellen. Ihre Dienstbotin stand viel zu sehr mit den Beinen auf dem Boden, als dass sie sich in einer Liebe verlieren würde.

»Was wollen Sie heute anziehen?«, fragte Maud, als hätte Christabel sie nicht gerade eben böse angefaucht. Wo lernte das Personal nur, alles hinzunehmen und zu schlucken, ohne sich zu wehren?

»Maud, ich ertrage es nicht, mein Leben in London weiterzuführen, als wäre nichts geschehen.« Christabel trank einen Schluck Tee, der für sie nach nichts schmeckte. »Vielleicht sollte ich nach Lentune Hall zurückkehren.«

Ja, das erschien ihr eine gute Idee. Christabel hatte sich auf dem Landsitz immer wohler gefühlt als in London. In der vertrauten Umgebung von Lentune Hall würde sie trauern und möglicherweise heilen können. Dort konnte sie ihre Tage auf dem Pferderücken verbringen und bei einsamen Ritten durch die Wälder an ihre verlorene Liebe denken.

»Dort sind nur wenige Dienstboten, die Zimmer sind alle eingedeckt. Es wird sein wie ein Geisterhaus.«

»Ach, Maud. Was soll ich denn sonst machen? In London erinnert mich alles an Nicholas.«

»Allein in der letzten Woche haben Sie drei Einladungen für Landpartys erhalten.« Maud ging zu dem runden Tischchen, auf dem Christabel ihre Korrespondenz aufbewahrte. »Vielleicht sollten Sie eine davon annehmen?«

»Lange Tage mit oberflächlichen Gesprächen, dem Beobachten von Affären und Intrigen.« Christabel rieb sich die Nase. »Ja, das könnte mich ablenken. Wer hat uns geschrieben?«

»Der Earl of Guilwicke lädt nach Greenwood Park ein.«

»Zu weit weg. Da sind wir fast einen Tag für Anreise und Abreise unterwegs.«

»Dann ist hier eine Karte von den Seydons aus Wentworth Castle.«

»Das ist näher, aber beim letzten Besuch ist mir Reginald nicht von der Seite gewichen. Das kann ich jetzt nicht ertragen.« Christabel seufzte. »Aller guten Dinge sind drei.«

»Die Willmingtons bitten Sie, nach Ashburn Abbey zu kommen.«

»Wirklich? Warum weilen sie nicht weiter in London?« Christabel setzte sich auf. »Die Saison ist doch noch nicht vorbei. Ich habe nichts darüber gehört, dass Unity sich verlobt hat.«

Zum ersten Mal seit der schrecklichen Nachricht empfand sie ein anderes Gefühl als Traurigkeit. Langsam wuchs die Neugier, warum sie der Earl und die Countess of Aylesgrave überraschend einluden. Ob es an der Begegnung mit Lucian im vergangenen November lag?

Als sie sich an die Kundgebung der Suffragetten erinnerte, überfiel sie wieder Traurigkeit. Denn neben der unerfreulichen Begegnung mit dem jüngsten Sohn der Willmingtons hatte der Tag ihr Nicholas geschenkt. Als erneut Tränen in ihre Augen traten, suchte Christabel nach etwas, das sie ablenken konnte.

»Ich war noch nie bei ihnen.« Verstohlen wischte sie sich die Träne ab, die ihre Wange hinabkullerte. »Das ist die erste Einladung, die ich von ihnen erhalte.«

Seltsam, dass Christabel bisher niemals eine Landparty auf dem Herrensitz besucht hatte, gehörten die Willmingtons und ihre Familie doch zum Landadel, bei dem gegenseitige Besuche zum guten Ton gehörten.

»Wann sollen wir dort sein?« Christabel griff nach einem weiteren Toast. Mit der Ablenkung kam ihr Hunger. »Habe ich passende Kleidung für einen Aufenthalt auf dem Land?«

»Am kommenden Wochenende.« Maud las die Einladung. »Sie hätten bis gestern eine Antwort erteilen sollen.«

»Da wir nur zu zweit anreisen werden, nehmen sie das hoffentlich nicht eng.« Christabel schwang die Beine aus dem Bett. »Maud, bring mir mein Briefpapier und lass mir dann ein Bad ein.«

Die bange Frage, ob Lucian Willmington sich an den Protestmarsch erinnerte, schob sie erst einmal beiseite. Er würde sie gewiss nicht vor seiner Familie bloßstellen, denn schließlich war sie ein Gast.

Kapitel Fünf

Während ihre Ladyschaft sich nur Gedanken darüber machen musste, was sie auf Ashburn Abbey tragen wollte, oblag es Maud, sich um die Garderobe zu kümmern und die Reise zu planen. Sie würden den Zug nehmen, weil Lord Mowgray das Automobil benötigte. Maud war das nur recht, denn ihr behagte die Vorstellung, Stunden in dem engen Gefährt zu sitzen, beileibe nicht.

Nun blieb ihr nur noch, sich von ihren Freundinnen zu verabschieden, bevor sie sich mit einer überraschend gut gelaunten Lady Christabel auf die Reise begeben würde.

»Mach Lentune Hall keine Schande, Maud.« Jessamine Eggerton, die Hausdame, beugte sich vor, um Maud ins Ohr zu flüstern. »Selbst wenn der Butler dort unseren Mr Rowe in den Schatten stellt, bemühe dich, höflich zu bleiben.«

»Es wird mir schwerfallen.« Maud stieß einen Seufzer aus. »Ich verstehe nicht, wie Sie mit ihm zurechtkommen.«

»Harold hat seine guten Seiten.« Mrs Eggerton lächelte, was ihr kantiges Gesicht weicher werden ließ. Die Hausdame von Lentune Hall war keine klassische Schönheit. Ihr Gesicht war zu kantig, die Nase zu groß, der Mund zu schmallippig und die Augen von einem langweiligen Braun. Ihr eher biederes Äußeres machte sie durch viel Energie und eine überraschend tiefe Stimme wett.

»Maud, lass unsere Lady nicht warten«, mischte sich die Köchin ein. »Sonst überlegt sie es sich noch anders.«

Selbstverständlich hatten die Dienstboten mitbekommen, wie sehr Christabel Mowgray in den vergangenen Wochen gelitten hatte. Maud war sicher, dass sie alle sich ihre Gedanken darüber gemacht hatten, aber sie ihr gegenüber nicht äußerten.

Als Zofe war sie weder Fisch noch Fleisch. Für die Hausmädchen galt sie als obere Dienstbotin und wurde daher nicht in deren Klatsch und Tratsch eingebunden. Für die oberen Dienstboten war sie immer noch ein Hausmädchen, das den Aufstieg geschafft hatte, aber nicht wirklich zu ihnen gehörte. Manchmal fühlte sie sich einsam, obwohl Mrs Eggerton und Mrs Cramton wirklich freundlich zu ihr waren.

»Wenn dir ein neues Gericht unterkommt, vergiss nicht, dir das Rezept geben zu lassen.« Die Köchin drohte Maud spielerisch mit dem Finger. »Ich werde Lady Christabel ebenfalls danach fragen. Also vergiss es bloß nicht.«

Die runde Frau mit den ergrauten Haaren zog Maud in eine Umarmung. Maud konnte den Geruch erschnuppern, der die Köchin stets begleitete: Bratfett, frisch gebackenes Brot und karamellisierter Zucker. Sofort fing ihr Magen an zu knurren, obwohl sie gerade erst gegessen hatte.

»Wehe, dir schmeckt dort etwas besser als hier.« Nellie Cramton verengte die ohnehin kleinen grünen Augen. Tiefe Tränensäcke zeugten von einem Leben voll harter Arbeit. »Das betrachte ich als Verrat.«

»Niemand kann sich mit Ihren Leckereien messen«, antwortete Maud im Brustton der Überzeugung. Als Kind hatte sie Hunger gekannt und wusste daher die regelmäßigen Mahlzeiten zu schätzen. Inzwischen hatte sie auch gelernt, die Kochkunst von Nellie Cramton zu würdigen. »Ich muss los.«

Als sie durch die große Halle eilte, schlug die Standuhr elfmal. Obwohl es den Dienstboten untersagt war, im Haus zu rennen, schürzte Maud ihre Röcke und sprang die breite Treppe hoch. Sie klopfte einmal, bevor sie die Tür zu Lady Christabels Zimmer aufriss.

»Kommen Sie, Mylady.« An ihrem Tonfall merkte man, dass Maud langsam die Geduld verlor. »Wenn wir uns nicht beeilen, verpassen wir den Zug.«

»Meinst du nicht, ich sollte das zitronengelbe Kleid mitnehmen? Es schmeichelt meinem Teint.«

»Aber es lässt Ihre Haare stumpf aussehen«, würgte Maud jegliche weitere Diskussion ab. »Der Chauffeur wartet.«

Endlich schloss ihre Ladyschaft die Schranktür und folgte ihr die Treppe hinab, durch die große Eingangshalle bis zur Tür.

Dort wartete Rowe, der es sich nicht nehmen ließ, sich von Lady Christabel zu verabschieden und Maud mit einem Blick zu bedenken, in den er seine ganze Abneigung legte.

»Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.« Egal, wie sehr er sich um eine saubere Aussprache bemühte, seinen Akzent aus Nordengland konnte Maud erkennen.

»Danke, Rowe. Bitte grüßen Sie meine Eltern.«

Lady und Lord Mowgray hatten gesellschaftliche Verpflichtungen, sodass sie sich bereits gestern von ihrer ältesten Tochter verabschiedet hatten.

»Gewiss.« Rowe verbeugte sich dermaßen steif, dass Maud ihn am liebten geschubst hätte. Der Butler öffnete die Tür. Auf dem breiten Kiesweg wartete bereits der schwarze Wagen.

»Lady Christabel. Maud.« Rupert Kendall, der junge Chauffeur, lächelte sie schüchtern an. »Ausnehmend schönes Wetter heute.«

Maud verkniff sich ein Lächeln. Es war nur allzu deutlich, dass der schlaksige Junge in Lady Christabel verschossen war. Jedes Mal, wenn er das Wort an sie richtete, liefen seine leicht abstehenden Ohren rot an. Da seine Haare einen Rotstich hatten, fiel dies umso mehr auf.

Maud mochte den Jungen, der besser mit Automobilen als mit Menschen zurechtkam. Sie hoffte, dass sich eines der Hausmädchen die Mühe machte, den wunderbaren Mann hinter dem ungelenken Äußeren und den zögerlichen Gesten zu entdecken. Mehrfach hatte Maud schon die Hausmädchen Gladys und Enid auf Ruperts ungewöhnlich schöne grüne Augen aufmerksam gemacht, bisher jedoch ohne den gewünschten Erfolg.

Und Lucy-Anne, die Küchenhilfe, war noch schüchterner und ungelenker als Rupert. Bei ihr brauchte Maud es gar nicht erst zu versuchen.

»Ich … ich wünsche Ihnen eine wunderbare Reise.« Rupert hatte es sich nicht nehmen lassen, ihnen die Koffer bis ins Abteil zu tragen, obwohl Lady Christabel einen Gepäckträger heranwinken wollte.

»Beeil dich, der Zug fährt gleich los,« musste Maud sagen, obwohl er ihr leidtat, wie er Lady Christabel aus hundetreuen Augen anschmachtete.

Auf den bequemen Sitzen der ersten Klasse ließ es sich wunderbar reisen. Maud holte ihr Buch aus der Tasche und lehnte sich zurück, als der Zug ruckelnd anfuhr. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er den Bahnhof verließ. Da stand sie auf und stellte sich ans Fenster, um London langsam an sich vorbeiziehen zu sehen.

»Weck mich, wenn wir angekommen sind.« Lady Christabel schloss die Augen. Auch wenn Maud nicht glaubte, dass sie schlief, genoss sie es, in Ruhe aus dem Fenster zu schauen und die sanften grünen Hügel zu betrachten. Sicher, die Landschaft war hübsch, aber Maud fühlte sich in der Stadt einfach wohler.

Nach einer langen, ereignislosen Fahrt erreichten sie endlich den Bahnhof von Chippenham. Nachdem Maud Lady Christabel geweckt hatte, suchte sie einen Gepäckträger, der ihre Koffer sicher aus dem Abteil bugsierte. Nur wenige Menschen waren mit ihnen ausgestiegen. Maud hielt Ausschau nach einer Kutsche oder einem Automobil, das sie abholen sollte. Zielsicher kam ein Mann, dessen dunkle Uniform und Mütze ihn als Chauffeur auswiesen, auf sie beide zu.

»Myladys.« Er tippte sich an die Mütze und griff nach ihren Koffern. Schwungvoll, als wögen diese gar nichts, pfefferte er sie auf den Wagen. »Leonard Arnold. Ich bin der Chauffeur von Ashburn Abbey.«

Obwohl sein Tonfall beflissen und höflich war, spielte ein freches Grinsen um seinen Mund. Seine dunklen Augen musterten Maud von oben bis unten und das Grinsen vertiefte sich. Was für ein unverschämter Kerl!, dachte sie, fühlte sich allerdings ein wenig geschmeichelt von seiner Aufmerksamkeit.

»Bitte sehr.« Leonard Arnold öffnete die Tür des Wagens. »Stoßen Sie sich nicht den Kopf.«

Lady Christabel kletterte elegant ins Innere und wehrte die Bemühungen des Chauffeurs ab, ihr behilflich zu sein. Maud hingegen nahm die ihr angebotene Hand, die er ein wenig zu lange hielt. Gute Chauffeure gab es wenige, sodass diese Kerle sich gern ein paar Frechheiten erlaubten, bis auf Rupert natürlich. Obwohl sie eigentlich nur bessere Kutscher waren.

Den Willmingtons muss es gut gehen, wenn sie sich ein Automobil leisten können, überlegte Maud. Da Lady Christabel weiterhin schwieg, blieb ihr nichts anderes übrig, als erneut aus dem Fenster zu schauen. Die Felder und Weiden, auf denen schwarzbunte Kühe standen, zogen an ihnen vorüber. Auch wenn Leonard Arnold ein frecher Kerl war, musste Maud ihm zugestehen, dass er das Ungetüm sicher fuhr.

»Wir sind bald da«, unterbrach er das Schweigen. »Ist ein Prachtbau.«

Weder Maud noch ihre Ladyschaft würdigten ihn einer Antwort. Die Auffahrt zum Herrenhaus zog sich endlos lang hin. Ein Sandweg führte leicht bergab, umrahmt von einem schmalen Stück Rasen, das von einer dunkelgrünen Eibenhecke begrenzt wurde. Hinter den sorgsam gestutzten Pflanzen erstreckte sich ein Mischwald aus Laub- und Nadelbäumen.

Endlich kam das Haus in Sicht, ein gewaltiger Klotz aus hellem Sandstein mit Vorsprüngen und Erkern, in dem selbst Lentune Hall zweimal Platz gefunden hätte.

Was wohl Lady Christabel durch den Kopf ging, fragte sich Maud, während sie selbst überlegte, was sie auf Ashburn Abbey erwartete.

Höchstwahrscheinlich bekäme sie es mit einem mürrischen Butler zu tun, der sich für den Stellvertreter des Lords hielt. Wenn sie großes Pech hätte, gäbe es eine ungnädige Hausdame, deren Blick nichts entging. Außerdem rechnete sie mit einer arroganten Zofe, einer übel gelaunten Köchin und natürlich dem wichtigtuerischen Leibdiener des Hausherrn. Dazu würde sich ein Sammelsurium der niederen Dienstboten gesellen: Hausmädchen, Lakaien, Küchenhilfen.

Woher sie das wusste? Weil es in jedem Haus, das Lady Christabel besucht hatte, bisher so gewesen war. Dank ihrer Reisen hatte Maud die Freundlichkeit der Hausdame und der Köchin von Lentune Hall schätzen gelernt. Bisher jedoch hatte sie keinen Butler getroffen, der es mit Rowe aufnehmen konnte.

Als der Chauffeur bremste, konzentrierte Maud ihre Aufmerksamkeit auf das Haus. Eine gewaltige Eichentür, über der das Familienwappen hing, war verschlossen und öffnete sich, nachdem der Chauffeur die Klingel betätigt hatte. Die Tür ging so schnell auf, als hätte der Butler bereits auf ihre Ankunft gewartet. Er sah ihnen gelassen entgegen, während sie aus dem Wagen stiegen.

»Willkommen auf Ashburn Abbey. Mein Name ist Marmaduke Trowbridge.« Er neigte den Kopf. »Falls Sie Fragen haben, stehe ich Ihnen selbstverständlich zur Verfügung.«

Während er Lady Christabel gegenüber äußerst servil schien, musterte er Maud kritisch.

Der Blick genügte Maud, um zu ahnen, dass Trowbridge, der Butler von Ashburn Abbey, und sie wohl keine Freunde werden würden. Er betrachtete sie, als wüsste er von Mauds Vergangenheit, die niemals vermuten ließ, dass sie einmal die Zofe einer Lady einer der ältesten und geachtetsten Familien Englands sein würde.

Butler schauen immer so von oben herab. Ich muss aufhören, mir einzureden, jemand wüsste von Patrick und mir. Maud straffte die Schultern und erwiderte den prüfenden Blick des Butlers, was diesen nur noch kritischer dreinblicken ließ.

Was für ein wichtigtuerisches Wiesel! Bisher war Maud davon ausgegangen, dass es keinen schlimmeren Butler als Howard Rowe geben konnte, nun schien sie eines Besseren belehrt zu werden. Was konnte man schon erwarten von einem Mann, den die Eltern mit dem furchtbaren Namen Marmaduke geschlagen hatten? Wahrscheinlich war er das Gespött seiner Dorfschule gewesen. Bestimmt hatten die anderen Kinder ihn Marmelade oder Ähnliches genannt. Das allerdings gab ihm nicht das Recht, sie dermaßen von oben herab zu behandeln.

»Mylady möchte sich gern frisch machen. Es war eine anstrengende Fahrt hierher.«

Trowbridge zuckte zusammen, als hätte Maud ihm eine Ohrfeige verpasst. Ihre Worte warfen ihm verklausuliert vor, er käme seinen Aufgaben nicht nach und würde das Wohl der Gäste vernachlässigen.

»Selbstverständlich.« Der Butler verbeugte sich steif. Mit einem Fingerzeig winkte er einen Lakaien heran, der Lady Christabels Koffer ergriff. »Simon wird Sie auf Ihr Zimmer bringen.«

Dann wandte er sich Maud zu. »Wenn Sie mir folgen würden. Ich stelle Ihnen die anderen Dienstboten vor.«

Maud sandte einen hilfesuchenden Blick zu ihrer Lady, den diese jedoch nicht bemerkte. Daher konnte Maud nur zusehen, wie Lady Christabel dem jungen Mann die große Treppe hinauffolgte. Mit einem künstlichen Lächeln wandte Maud sich an den Butler. »Ich freue mich, dass Sie mir die Räume Downstairs und meine Kammer zeigen.«

»Ich weiß nicht, wie Sie es auf Lentune Hall halten, aber auf Ashburn Abbey gehört es nicht zu den Aufgaben eines Butlers, einer Zofe ihr Zimmer zu präsentieren.«

Erstick an deinem Pomp, dachte Maud, die Trowbridge aufmerksam beobachtete. Ihrer Erfahrung nach ließen sich bei jedem Menschen Schwächen entdecken. Man musste nur wissen, wann und wie man zu suchen hatte. Bei Männern wie dem Butler ging es meist darum, die Kontrolle zu behalten und jedem in ihrer Umgebung ihren Willen aufzuzwingen. Menschen wie Trowbridge hassten nichts so sehr wie eine Störung ihrer Regeln und Abläufe. Nun, damit würde Maud gewiss arbeiten können.

»Ich stelle Sie der Hausdame vor, die sie in unsere Abläufe einweihen wird. Hier auf Ashburn Abbey haben wir klare Hausregeln.«

»Aha.«

»Es ist Ihnen hoffentlich bewusst, was für eine Ehre es ist, auf Ashburn Abbey zu weilen. Die Willmingtons sind eine der ältesten Familien des Landes.«

In dem Stil redete er den ganzen Weg zum Dienstbotentrakt auf Maud ein, die ab und zu zustimmend brummte. Trowbridges kurze Nase zuckte jedes Mal, wenn er die Worte »Ashburn Abbey« aussprach, was Maud an den Märzhasen aus »Alice im Wunderland« erinnerte.

Wenn man ihm zuhörte, konnte man meinen, man wäre im Paradies angekommen. Allerdings hatte Maud in ihrem Leben eines gewiss gelernt: Je mehr Menschen von etwas schwärmten, desto weniger stimmte es.

Ob der angespannte Mund Marmaduke Trowbridges wohl lächeln könnte?, fragte sie sich, während sie seinem Sermon lauschte. Als spürte der Butler, dass Mauds Gedanken abschweiften, fixierte er sie mit einem strengen Blick aus verengten graublauen Augen. Sie wich ihm aus und starrte auf die Falten an seiner Nasenwurzel.

Endlich hatten sie die Küche erreicht. Wie sie es erwartet hatte, war auch auf Ashburn Abbey hier das Herzstück Downstairs. Erstaunlich, wie sehr sich die Küchen der Herrenhäuser ähnelten. Auch hier gab es hohe, dunkle Decken, die sich über einem gewaltigen Arbeitstisch aus dunklem Holz spannten. Ein enormer Herd, auf dem ein Topf stand, nahm die eine Wand ein, an der anderen befand sich der Spülstein, wo ein mageres Mädchen eine dreckige Pfanne schrubbte. Große gusseiserne Pfannen und Töpfe stapelten sich in einem Holzregal an der dritten Wand. Die Hitze des Herdes schlug Maud entgegen, nachdem sie die Tür zur Küche geöffnet hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752116205
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Landhaus-Krimi Krimi Cosy Crime Lady Zofe Historisch Thriller Spannung

Autor

  • C. L. Potter (Autor:in)

C. L. Potter ist ein Pseudonym für Christiane Lind, unter dem ich Menschen ermorde. C. L. ist die Abkürzung meines Namen, aber woher kommt Potter? Da mich Familiengeschichte(n) sehr interessiert, sollte mein neuer Name damit zu tun habe. Mütterlicherseits ist der Name der Großeltern zu kompliziert, väterlicherseits würde ich Müller heißen. Also bin ich eine weitere Generation zurückgegangen und auf den Namen "Pötter" gestoßen. Um ihn internationaler zu machen, habe ich ihn eingeenglischt. :-)
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Titel: Tod eines Lords