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Im Schatten der goldenen Akazie

Australien-Roman

von Christiane Lind (Autor:in)
440 Seiten

Zusammenfassung

Erinnerungen bleiben, aber der Schmerz verweht mit dem Wind … Australien, Ende des 19. Jahrhunderts. Nach dem tragischen Tod ihrer Mutter haben die besonnene Victoria und die leidenschaftliche Catherine nur einander. Nichts scheint die Schwestern trennen zu können, bis der Glücksritter Luke in ihr Leben tritt. Gut hundert Jahre später: Nach einer tiefen Enttäuschung folgt Franziska kurz entschlossen einem Brief ihrer Großtante Ella und reist nach Australien. Gemeinsam forschen die beiden nach ihren Wurzeln und begegnen starken Frauen, weisen Aborigines und dem entbehrungsreichen Leben deutscher Einwanderer. Vor der traumhaften Kulisse Queenslands entfaltet sich eine dramatische Familiengeschichte über mehrere Generationen. Stimmen von Leserinnen ... wundervoller Roman ... Geschichte über starke Frauen ... – das Gefühl, ganz nah am Geschehen dabei zu sein ... ... Mischung aus Abenteuer, Historisch, dem Hier und Jetzt und natürlich Romantik ... ... ein Feuerwerk an Emotionen ... wunderbare atmosphärische Familiengeschichte mit Wild West-Abenteuer-Lagerfeuer-Romantik ... absolute Kauf- bzw. Leseempfehlung ... mitreißende Schnitzeljagd über die Zeiten und auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit ... Schreibstil und Geschichte sind perfekt aufeinander abgestimmt ... ... exzellent geschilderte Familiensaga, großartig und mitreißend … Lesehighlight 2016 … sehr gute Geschichte, die einen nicht loslässt … wunderbar dichter Roman, mit tiefen Charakteren und fantastischen Beschreibungen … man hat bei diesem Roman - das Gefühl, ganz nah am Geschehen dabei zu sein … eine tolle Familiensaga im traumhaften Australien … großartig und bildgewaltig … interessante Charaktere und unerwartete Wendungen … von Anfang bis Ende gefesselt … Hauptcharaktere wachsen dem Leser schnell ans Herz

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Das Buch

 

Erinnerungen bleiben, aber der Schmerz verweht mit dem Wind …

 

Australien, Ende des 19. Jahrhunderts. Nach dem tragischen Tod ihrer Mutter haben die besonnene Victoria und die leidenschaftliche Catherine nur einander. Nichts scheint die Schwestern trennen zu können, bis der Opalschürfer Luke in ihr Leben tritt.

 

Gut hundert Jahre später: Nach einer tiefen Enttäuschung folgt Franziska kurz entschlossen einem Brief ihrer Großtante Ella und reist nach Australien. Gemeinsam forschen die beiden nach ihren Wurzeln und begegnen starken Frauen, weisen Aborigines und dem entbehrungsreichen Leben deutscher Einwanderer.

 

Vor der traumhaften Kulisse Queenslands entfaltet sich eine dramatische Familiengeschichte über mehrere Generationen.

Über die Autorin

 

Christiane Lind hat sich schon immer Geschichten ausgedacht, aber erst zur Jahrtausendwende zu Papier gebracht. Inzwischen hat sie fünfzehn Romane bei Verlagen und als Self Publisher veröffentlicht. Beim Schreiben begibt sie sich am liebsten auf die Spur von Familien und deren Geheimnissen. Nach Stationen in Göttingen, Gelsenkirchen und Bremen teilt sie heute eine Wohnung in Kassel mit unzähligen Büchern, einem Ehemann und vier Katern. Die Samtpfoten erhalten Rollen in Christianes Geschichten.

Prolog

 

Hannover, 2012

 

Oh, schon kurz vor zehn. Wie die Zeit verflogen war. Franziska hatte noch nicht einmal die Hälfte von dem geschafft, was sie sich für heute vorgenommen hatte. Wenn sie weiterhin so schneckenlangsam lernte, würde sie ihr Abi niemals bestehen und konnte alle ihre Pläne vergessen. Mit Daumen und Zeigefinger rieb sie sich die schmerzenden Augen. Wie oft hatte sie den Absatz über Glykolyse jetzt gelesen, ohne ihn zu verstehen?

Vielleicht sollte sie für heute Schluss machen, sich mit Caro treffen, tanzen gehen, sich ablenken von dem ganzen Stress. Franziskas Blick fiel auf den Kalender, in dem sie die Abi-Termine fett rot markiert hatte. Nein, sie konnte es sich einfach nicht leisten, ihr Pensum heute nicht zu schaffen.

„Franziska, Liebes. Du arbeitest zu viel.“

Das Klopfen an der Tür riss sie aus ihrer Konzentration. Franziska schaute auf und sah, wie ihre Mutter den Kopf durch die geöffnete Tür steckte. In den Händen trug sie ein Tablett. Der Duft von Kakao und selbstgebackenen Schokoladenkeksen begleitete sie.

„Ach, Mum.“ Franziska stieß einen leisen Seufzer aus. Ihr Magen knurrte. „Danke für den Kakao. Es sind ja nur noch ein paar Tage …“

„Ich weiß. Aber du solltest wirklich ab und zu eine Pause machen.“ Die braunen Augen ihrer Mutter musterten Franziska mit vielsagendem Blick. Sie schob Bücher und Karteikarten zur Seite und stellte das Tablett auf dem Schreibtisch ab. „Das Abi ist wichtig, aber vergiss deshalb nicht zu leben.“

Franziska rieb sich die Augen und klappte ihr Notebook zu. Wenn ihre Mutter diesen Blick hatte und Kakao und Kekse brachte, würde sie nicht sofort wieder gehen. Franziska nahm einen Schluck von der heißen Schokolade und schloss genießerisch die Augen. Niemand kochte so einen leckeren Kakao wie ihre Mutter.

„Ach, Mum. Irgendwie kommt mir alles wie ein Buch mit sieben Siegeln vor. Du weißt selbst, wie wichtig der Abi-Durchschnitt ist. Ich möchte auf jeden Fall Geschichte an einer Uni studieren, die zu den besten gehört.“

„Ich weiß, Liebes.“ Hannah Lindhoff strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn und suchte sichtlich nach Worten. „Aber manchmal wünschte ich mir, dass du etwas mehr von Alinas Entspanntheit hättest.“

Franziska senkte den Blick und biss die Zähne zusammen. Jetzt hielt ihre Mutter ihr auch noch ihre drei Jahre jüngere Schwester als leuchtendes Beispiel vor. Alina, der immer alles wie von selbst zufiel, die sich in der Schule kaum anstrengte und sich mit mittelprächtigen Noten zufriedengab. Alina, die in allem etwas Spannendes entdeckte, nur um schnell das Interesse zu verlieren. Alina, die mit einem Achselzucken durch die Welt ging. Neben ihrer Schwester fühlte Franziska sich strebsam und langweilig. Aber dass ihre Mutter das auch so sah, tat weh.

Sich anhören zu müssen, dass sie entspannter sein sollte – das war einfach nicht fair. Ihre Mutter musste Franziska die Verärgerung an der Nasenspitze abgelesen haben, weil sie sich mit den Fingern ins Gesicht und durch die Haare fuhr, wie immer, wenn ihr etwas unangenehm war.

„Franziska, ich … ich habe es nicht so gemeint. Ich mach mir doch nur Sorgen um dich. Manchmal fürchte ich, dass du alles zu ernst nimmst. Schau mal, was ich heute bekommen habe. Eigentlich wollte ich es dir erst morgen erzählen, aber …“ Ihre Mutter griff in die Tasche ihrer Jeans und legte einen Brief auf Franziskas Schreibtisch. „Du errätst nie, was das ist.“

„Wo ist der her?“ Neugierig griff Franziska nach dem Umschlag. „Wen kennt ihr denn in Australien?“

Franziskas Eltern redeten schon ewig davon, mal nach Down Under zu reisen, aber immer war die Reise zu teuer gewesen.

„Bisher kannten wir dort niemanden.“ Ihre Mutter streckte die Hand aus und nahm Franziska den Brief aus der Hand. Sie zog das Papier aus dem Umschlag, faltete es auf und gab es Franziska. „Anscheinend haben wir dort Verwandte.“

„Was? Das kann doch nicht sein, oder? Davon hätten wir doch längst gehört.“

Franziska konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihre reiselustigen Eltern sich die Gelegenheit hätten entgehen lassen, Verwandte in Down Under zu besuchen. Je weiter weg ein Ziel war, desto größer war die Begeisterung ihrer Eltern. Urlaub bedeutete für Hannah und Christopher Lindhoff Zelten oder Bergsteigen oder Floßfahrten, möglichst in weit entfernten Ländern mit gefährlichen Tieren. Franziska hielt es mehr mit Lesen am Strand und war froh, dass ihre Eltern inzwischen nicht mehr von ihr erwarteten, sie zu begleiten. Alina hingegen teilte die Familienleidenschaft für seltsame Orte und unbequemes Reisen.

„Es wird sogar noch besser.“ Die Augen ihrer Mutter leuchteten vor Begeisterung. „Ella Murdoch hat uns eingeladen, sie in Brisbane zu besuchen. Queensland, ist das nicht toll?“

„Das ist im Osten, oder?“ Franziska hatte vor zwei Jahren ein Referat über Australien geschrieben. „Hast du schon konkrete Reisepläne?“

„Also …“ Wieder eine bedeutungsschwere Pause. Aber Franziska wusste nur zu gut, dass ihre Mutter Geheimnisse nicht lange für sich behalten konnte. Das war früher mit Geburtstags- und Weihnachtsgeschenken schon so gewesen und hatte sich seitdem nicht geändert. „Ich hab mir überlegt, dass ich dir eine Reise zu unseren Verwandten spendiere. Für das bestandene Abi. Was hältst du davon?“

Franziska schluckte. Australien. Nicht gerade das Land ihrer Träume. Haie fielen ihr ein. Giftschlangen. Giftspinnen. Giftkröten. Tödliche Quallen. Ganz zu schweigen von menschenfressenden Krokodilen. Wüste. Sonnenbrand. Innerlich seufzte sie auf. Warum konnte sie keine Verwandten an einem schöneren Ort der Welt haben? USA oder Neuseeland zum Beispiel. Aber das konnte sie ihrer Mutter nicht sagen. Ihrer Mutter, die sie so erwartungsvoll ansah. Ihrer Mutter, deren Urlaubsländer nicht unerschlossen und exotisch genug sein konnten. Immerhin konnte Australien mit Koalabären, Wombats und Kängurus punkten.

„Das wär prima. Alina und Papa finden das bestimmt auch klasse.“ Franziska bemühte sich um ein erfreutes Lächeln.

„Nein, Schatz. Nicht wir alle. Nur du und ich.“ Ihre Mutter nahm Franziska in die Arme und küsste sie auf die Stirn. „Ich finde, es ist Zeit, dass nur wir beide etwas gemeinsam unternehmen.“

„Das wäre toll.“ Franziska erwiderte die Umarmung. Allein mit ihrer Mutter. Dafür würde sie es auch mit Kröten, Spinnen und Schlangen aufnehmen. Wie schön, dass es nach dem Abitur etwas gab, auf das sie sich freuen konnte. „Du und ich und Kängurus.“

„Ich freu mich. Mach nicht mehr so lange, Schatz. Es gibt wirklich Wichtigeres im Leben als das Abitur.“ Ihre Mutter lächelte. „Auch wenn es im Moment nicht so aussieht.“

Kapitel 1

 

Amber’s Joy, Australien, 1890

 

Victoria blieb stehen, als Catherine sich ins Gras fallen ließ. Ihre Schwester schluchzte haltlos auf.

„Burilda kann uns bestimmt helfen, nicht wahr?“ In ihrer Angst wirkte Catherine zart und zerbrechlich und viel jünger als neun Jahre. „Sie ist doch eine Heilerin.“

„Ja. Burilda wird uns helfen“, antwortete Victoria und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie wenig Hoffnung sie hatte. „Alles wird gut. Komm, steh auf. Wir müssen weiter.“

Catherine wischte sich mit dem Ärmel ihres Kleides über die Nase und stand auf. Voller Hoffnung schaute sie ihre ältere Schwester an. Trotz ihrer dreizehn Jahre fühlte Victoria sich heute jung und verletzlich.

Es war ihr gelungen, Catherine rechtzeitig vom Bett ihrer Mutter wegzuziehen, aber Victoria hatte einen letzten Blick auf Amber Wagner geworfen und war vor Schreck erstarrt. Ihre Mutter musste entsetzliche Schmerzen erleiden, so verzerrt sahen ihre Gesichtszüge aus.

„Schaff die Kleine hier weg“, zischte ihr Vater Victoria an und bedachte sie mit einem Blick, der ihr durch Mark und Bein fuhr. „So soll sie ihre Mutter nicht sehen.“

Aber Victoria konnte ihm keinen Vorwurf für den Hass machen, mit dem er ihr begegnete. Nichts konnte ihr mehr wehtun als die Vorwürfe, die sie selbst sich machte. Ihre Schuld. Es war alles ihre Schuld.

„Vic, wo müssen wir hin?“ Catherine zupfte sie am Ärmel. Die arme Kleine war so durcheinander, dass sie nicht einmal mehr in der Lage war, sich in der Umgebung der heimischen Farm zurechtzufinden. „Sag, wo finden wir Burilda?“

Victoria holte tief Luft. Sie musste sich beruhigen. Für ihre kleine Schwester und für die vage Hoffnung, dass die Aborigine-Heilerin ihrer Mutter möglicherweise helfen konnte. Suchend schaute sie sich um. Vor ihr erstreckten sich die Zuckerrohrfelder in intensiven Grün- und Gelbtönen, je nachdem wie reif das Zuckerrohr inzwischen war. Nicht mehr lange, dann würde die Ernte beginnen. Höher als ihr Vater groß war, waren die Pflanzen gewachsen und bildeten einen undurchdringlich wirkenden Wald. Einen Forst, in dem sich Ratten und Schlangen verbargen, so dass es klüger war, nicht die Abkürzung durch die Felder zu wählen. Also blieb nur der längere Weg an den Feldrändern entlang – reichte die Zeit dafür aus oder gefährdeten sie mit jeder Minute, die verging, das Leben ihrer Mutter?

Verzweiflung wallte in Victoria auf. Warum musste sie so schwerwiegende Entscheidungen treffen? Sie fühlte sich selbst noch wie ein Kind, auch wenn sie vier Jahre älter als Catherine war. Die Verantwortung für das Leben ihrer Mutter zu tragen, diese Last erschien Victoria zu gewaltig. Ihre Kehle fühlte sich trocken an und sie schluckte mühsam. Sie beschattete die Augen mit der rechten Hand und blinzelte in die brennende Mittagssonne. Wo mochte Burilda wohl sein?

Warum nur konnten die Aborigines nicht in festen Hütten wohnen wie ihre Familie? Warum zogen sie über die Ländereien und tauchten manchmal tage- oder wochenlang nicht auf? Bis auf die wenigen, die am Rande von Amber’s Joy ihr Lager aufgeschlagen hatten und nun dort lebten. Zwischen den Welten. Keine wirklichen Aborigines mehr, aber auch keine Weißen.

Nein, Victoria durfte sich jetzt nicht ablenken, sie musste nachdenken. Sofort, nachdem ihr Vater sie weggeschickt hatte, war ihr Burilda eingefallen. Ihre Heilkünste hatten schon manchem Cutter geholfen, der während des Zuckerrohrschnitts von einer Schlange oder einer angriffslustigen Ratte gebissen worden war.

Wo hielt sich Burildas Clan am liebsten auf? Jetzt, zu dieser Jahreszeit, wo die Sonne hoch am Himmel stand und die Bäume Früchte trugen? Victoria ließ die Hand sinken und atmete laut ein und aus. Das musste es sein.

„Das Wäldchen. Lass uns zum Akazienwäldchen laufen.“ Sie griff nach Catherines Hand und zog ihre kleine Schwester hinter sich her, vorbei an den hohen Zuckerrohrstangen. Ein plötzliches Geräusch ließ Victoria innehalten. Raschelte es dort hinten? So, als ob ein Reptil sich zwischen den einzelnen Zuckerrohrstangen hindurchzwängte und versuchte, nicht gesehen zu werden? Eine Schlange? Victoria erstarrte. Sie konnte weder Finger noch Füße bewegen, obwohl ihr Körper ihr zuschrie, wegzulaufen, so schnell sie konnte. Nicht wieder eine Schlange.

„Vic! Vic! Was hast du denn?“ Catherine zerrte so lange an der Hand ihrer Schwester, bis Victoria sich aus der Erstarrung lösen konnte und weitereilte.

Catherine keuchte vor Anstrengung und bemühte sich tapfer, mit ihrer großen Schwester Schritt zu halten, aber je länger sie unterwegs waren, desto matter wurde die Kleine. Hatte sie das Richtige getan, als sie gemeinsam mit Catherine von Amber’s Joy davongelaufen war, fragte sich Victoria erneut. Was, wenn es ihrer Mutter schlechter ging? Was, wenn sie sich nicht von ihr verabschieden könnten?

Victoria spürte Tränen aufsteigen. Alles war ihr Fehler. Nicht auszudenken, wenn Catherine etwas passierte und sie noch mehr Schuld auf sich lud. Ihr Vater würde ihr niemals verzeihen, sollte Catherine etwas geschehen. Ihr Vater, der Catherine seine kleine Prinzessin nannte und sie nach Strich und Faden verwöhnte.

Vielleicht sollte sie einfach mit den Aborigines davonlaufen und nie wieder nach Amber’s Joy und zu ihrer Schuld zurückkehren. Aber was würde aus Catherine werden? Victoria konnte ihre Schwester nicht im Stich lassen, selbst wenn das für sie bedeutete, jeden Tag mit den Vorwürfen ihres Vaters leben zu müssen.

„Vic. Ich … ich kann nicht mehr.“ Catherines Stimme klang so elend, dass Victoria ihre Schritte verlangsamte. Sie wandte sich ihrer Schwester zu, die sie aus rotgeweinten Augen traurig und erschöpft ansah. „Wir werden Burilda nie finden.“

Mit einem Aufschrei warf sich Catherine auf den Boden und brach in hoffnungsloses Schluchzen aus, das Victoria ins Herz schnitt und ihr ebenfalls die Tränen in die Augen trieb. Sie setzte sich neben ihre Schwester, legte die Arme um sie und wiegte sie, so wie es getan hatte, als Catherine ein Baby gewesen war. Sie hatte ihr Bestes versucht und war gescheitert.

So, wie ihr Vater es ihr so oft prophezeit hatte. Von Geburt an war Victoria eine Enttäuschung für Joseph Wagner gewesen. Einen Sohn hatte er sich gewünscht, der Amber’s Joy einmal erben und zu weiterer Blüte bringen sollte. Stattdessen war es ein Mädchen geworden. Seltsamerweise warf ihr Vater Catherine nie vor, dass auch sie kein Sohn geworden war. Vielleicht weil sie so niedlich aussah mit ihrer roten Lockenpracht und den auffallend tiefblauen Augen. Catherine war ein süßes Baby gewesen und hatte sich zu einem äußerst hübschen Kind entwickelt, das nach ihrer schönen Mutter kam, während Victoria ihrem grobknochigen Vater ähnelte, dessen Haare zwischen blond und braun changierten.

„Liebes, du hast sehr schöne Augen und klare Gesichtszüge“, pflegte ihre Mutter Victoria zu trösten, wenn sie sich wieder einmal für hässlich und unscheinbar hielt. „Deine Haare kannst du mit einer Lockenschere brennen, aber so tiefgrüne Augen, die kann nur die Natur schenken.“

Der Gedanke an die Liebe ihrer Mutter gab Victoria die Kraft, die nötig war, weiter nach Burilda zu suchen. Aber es wäre dumm, weiter blindlings durch den Busch zu laufen.

Victoria schloss die Augen und lauschte. Einzig das Lachen des Kookaburra, das sich in ihren Ohren höhnisch anhörte, unterbrach die Stille. Über ihr saß der blaugeflügelte Eisvogel im Baum, weit genug entfernt, dass sie ihn nicht erreichen konnte. Die Federn seiner Flügel schimmerten hellblau wie der Himmel zur Mittagszeit; seine Schwanzfedern waren dunkelblau wie ein tiefer Teich. Doch der übergroße Schnabel beeinträchtigte die Schönheit des Kookaburra. Sein Gekeckere klang wie spöttisches Lachen.

„Verschwinde!“, rief Victoria und der Eisvogel breitete seine Flügel aus und flog davon. Nun gab es nichts mehr, was die Ruhe störte. Tiere und Menschen waren vor der Mittagshitze geflohen und hatten sich in die Schatten zurückgezogen. Wie konnte es nur so ruhig sein? Totenstill, dachte Victoria. Angst krampfte ihr Herz zusammen.

„Kommt mit.“

Victoria und Catherine schrien erschrocken auf, als ein Aborigine-Junge wie aus dem Nichts neben ihnen auftauchte. Er war hochgewachsen für einen Ureinwohner und wohl so alt wie Victoria. Vielleicht ein oder zwei Jahre älter. Seine Kleidung wirkte zusammengestückelt, aber sauber und gepflegt. Victoria war sicher, dass sie ihn noch nie bei einer der Familien gesehen hatte, die auf dem Land von Amber’s Joy wohnten.

„Burilda erwartet euch.“

Victoria schniefte noch einmal und stand auf. Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf wie eine Horde Wallabies an einem schönen Frühlingstag. Man kann den Abos nicht trauen, hatte ihr Vater Catherine und Victoria wieder und wieder gepredigt. Selbst Burilda betrachtete er mit Vorbehalt. Seine Töchter hatte er immer wieder davor gewarnt, sich den Familien zu nähern, die auf Amber’s Joy oder in der Nähe der Plantage lagerten. Victoria hatte sich als brave Tochter immer an die Worte ihres Vaters gehalten und schreckte nun zurück, als der fremde Junge ihr seine Hand entgegenstreckte. Sie musterte ihn. Er war heller als die meisten, die sie bisher gesehen hatte, und wirkte wie … Victoria runzelte die Stirn, während sie nach einem passenden Wort suchte …

„Du bist ein Mischling“, platzte Catherine heraus, bevor Victoria reagieren konnte. Erschrocken hob die Kleine dann die Hand vor den Mund, als bereute sie ihre Worte. So etwas durften sie schließlich nicht sagen. Ihre Mutter betonte immer wieder, dass auch die Eingeborenen Gottes Geschöpfe wären und dass man sie daher mit Respekt behandeln müsste. Eine Sichtweise, die Victorias Vater nicht teilte.

„Entschuldige. Cat meint es nicht böse“, flüsterte Victoria. Sie musterte den Jungen und kaute verlegen an ihrer Unterlippe. „Sie ist nur so müde.“

„Warum sollte ich böse sein?“ Er schaute sie aus dunklen Augen an und zuckte die Schultern. Auf einmal wirkte er deutlich älter als zwölf oder dreizehn Jahre, was Victoria verunsicherte. „Sie hat Recht. Mein Vater war einer von euch. Meine Mutter ist eine Yagara.“

„Warum lebst du nicht bei deinem Vater?“ Neugierde übermannte Victoria; eine so große Wissbegier, dass sie für einen Augenblick sogar die Sorge um ihre Mutter verdrängte. Auch Catherine musterte den Jungen mit unverhohlenem Interesse. „Wie heißt du?“

„Ihr nennt mich Billy. Bei meinen Leuten heiße ich Makka, was in deiner Sprache ‚kleines Feuer‘ bedeutet.“ Er lächelte sie an und streckte ihr immer noch die Hand entgegen. Victoria schob alle Bedenken zur Seite und ergriff sie. „Mein Vater wollte mich nicht. Die Leute von Burilda haben mich aufgenommen und dort lebe ich.“

„Ich heiße Victoria. Das ist meine Schwester Catherine. Wir wohnen auf Amber’s Joy.“ Victoria ließ Billys Hand los und zog Catherine hoch.

Gemeinsam folgten sie dem Jungen in die Tiefe des Waldes. Er bewegte sich so geschickt wie ein Dingo. Victoria wagte es nur, ihre Frage zu flüstern. „Woher weiß Burilda, dass wir sie suchen?“

„Burilda ist Burilda.“ Billy blieb stehen. Er drehte sich zu Victoria um und lächelte leicht. Wollte er sie beruhigen? Angst griff nach ihr und sie fröstelte, obwohl die Sonne selbst durch das Dickicht der Bäume zu spüren war. „Sie weiß es einfach.“

„Ist es noch weit?“, mischte sich Catherine ein, die eindringlich von Victoria zu Billy und wieder zurück schaute. „Ich bin müde. Und durstig. Und Mama ist krank.“

„Wir sind gleich da.“ Der Aborigine-Junge drehte sich um und führte Victoria und Catherine tiefer in den Wald hinein. „Dort findest du Wasser.“

Obwohl seine Stimme freundlich klang und seine Augen ehrlich wirkten, flammte einen Augenblick lang die Furcht in Victoria auf. Niemand wusste, wohin Catherine und sie gegangen waren. Wenn der Eingeborenenjunge sie in eine Falle führte, wären sie auf sich allein gestellt. Auf Amber’s Joy hatte jetzt niemand Zeit, sich um verschwundene Kinder zu sorgen. Victoria wandte den Kopf suchend um. Mit der linken Hand knickte sie einen kleinen Ast ab, als Markierung, falls sie allein den Weg zurückfinden musste. Bei dem Geräusch flogen bunte Loris auf, wie vielfarbige Blumen, die sich aus den Wipfeln der Bäume erhoben. Victoria zuckte zusammen. Wenn die Papageienvögel sie gehört hatten, dann sicher auch der Eingeborenenjunge. Sie musste vorsichtiger sein.

Angespannt schaute sie sich um, versuchte, sich alle Details ihrer Umgebung zu merken. Das dunkle Grün der Akazien und der Bunya-Bunya-Bäume. Die Farnwedel, die den Boden bedeckten und Schlangen oder Ratten verbergen konnten. Einzelne rote Blüten der Grevilleen und die rosafarbenen Kugeln der Banksien brachten etwas Farbe in die Eintönigkeit des Grüns. Aber Victoria hatte keinen Sinn für die Schönheit des Waldes. In ihr kämpften widerstrebende Gefühle um die Oberhand. Die Mahnungen ihres Vaters gegen die Worte ihrer Mutter, die in allen Menschen nur das Gute sah. Der Weg schien sich endlos vor ihr hinzuziehen. Immer wieder blieb Victoria kurz stehen und pflückte eine Blüte, die sie auf den Weg fallen ließ, oder knickte einen Zweig.

„Was machst du?“, flüsterte Catherine, der Victorias Bemühungen nicht verborgen geblieben waren. „Was soll das?“

„Pst. Ein neues Spiel.“ Victoria hob den Finger an die Lippen. „Ich erkläre es dir später.“

„Dort.“ Billy blieb stehen und trat zur Seite, so dass Victoria die alte Aborigine-Frau erkennen konnte, die an einem kleinen Weiher saß. Mit ernster Miene beobachtete sie, wie die drei Kinder sich ihr näherten.

„Danke.“ Victoria nickte dem Jungen zu, nahm Catherines Hand und gemeinsam traten sie auf die Lichtung. Jetzt, wo sie die Heilerin endlich gefunden hatten, drohte Traurigkeit Victoria zu übermannen. Etwas in Burildas Gesicht sagte ihr, dass alle Hoffnung vergebens war.

„Unsere … unsere Mutter“, wandte Victoria sich an die Aborigine-Frau, die die Mädchen aus unergründlichen dunklen Augen musterte. Nur die nahezu weißen Haare und die Falten, die sich wie ein Netz in den Augenwinkeln zogen, verrieten ihr Alter. „Kannst du ihr helfen?“

„Es tut mir leid.“ Burilda schaute Victoria so voller Mitgefühl an, dass ihr Herz schneller schlug. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten, weil sie nicht hören wollte, was die Aborigine sagen würde. „Ich kann deiner Mutter nicht helfen. Niemand kann das.“

„Warum nicht?“ Catherines entsetzter Schrei schnitt Victoria ins Herz. Ihre kleine Schwester stand wie erstarrt und hielt den Blick auf Burilda geheftet, als ob die Aborigine sonst im Dunkel des Waldes verschwinden würde. „Bitte, du hast doch so viele Frauen und Männer geheilt.“

„Ach, Kleines.“ Burilda trat auf Catherine zu und nahm sie in ihre Arme. „Ich würde gern helfen, aber das Gift einer Braunschlange, … es ist zu stark.“

Catherine brach in haltloses Schluchzen aus und umarmte Burilda. Victoria fühlte sich allein, weil sie es nicht wagte, zu ihrer Schwester und der Aborigine zu treten und deren Trauer zu stören.

Da schob sich eine Hand in ihre und drückte sie. Victoria wandte ihren Blick zur Seite. Billy war neben sie getreten und hielt ihre Finger umfasst.

„Du bist nicht allein“, flüsterte er. „Ich empfinde mit dir.“

„Danke.“ Vorsichtig erwiderte Victoria den Druck seiner Hand und fühlte sich durch Billys Geste getröstet und geborgen. Schweigend standen sie nebeneinander und warteten, bis Catherines Schluchzer leiser wurden und schließlich verstummten.

Victoria lächelte Billy unter Tränen zu und löste ihre Finger aus seinen. Sie ging zu ihrer Schwester und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter.

„Cat. Komm. Wir … wir müssen nach Hause.“ Victoria seufzte und kämpfte gegen Müdigkeit und Trauer an. Sie musste stark sein und durfte ihren Gefühlen nicht nachgeben. Für ihre Schwester. Für ihren Vater. „Cat? Bitte.“

Catherine nickte und stand auf. Sie wirkte älter und ernsthafter als bei ihrem Aufbruch, was Victorias Traurigkeit verstärkte. Ihre Schwester war noch viel zu jung, um eine derartig schmerzhafte Erfahrung machen zu müssen.

„Unglück und Trauer gehören zum Leben“, sagte Burilda mit sanfter Stimme. Es kam Victoria vor, als ob die alte Frau direkt in ihr Herz sah. „Wie ein Land Wolkenbrüche braucht, um zu wachsen, braucht ein Leben schwere Zeiten.“

Victoria hielt den Blick gesenkt und nickte. Was konnte sie auch antworten? Vielleicht hatte Burilda recht, wenn man das Leben auf lange Sicht betrachtete, aber im Augenblick spürte Victoria nur Traurigkeit, Zorn und Angst. Und Schuld – am schlimmsten war das Gefühl, dass nur sie allein die Schuld an dem trug, was ihrer Mutter geschehen war. Niemals würde sie sich verzeihen können.

Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, wollte Victoria die Aborigine-Frau fragen, ob der Schmerz irgendwann weniger werden würde. Aber Burilda war nicht mehr da. Die alte Frau und der Junge waren im Wald verschwunden wie Geister. Ein Schauder rann über Victorias Rücken und sie bemühte sich, dass Catherine nichts davon bemerkte.

„Komm, wir müssen nach Hause.“ Victoria zog ihre kleine Schwester hoch und schlang den Arm um deren Hüfte. „Vater wird uns schon suchen.“

Wie gut, dachte Victoria, dass sie Markierungen hinterlassen hatte und so den Weg zurückfand. Oder vielleicht hätte Billy ihr den Weg zurück gewiesen, wenn sie ihn darum gebeten hätte. Victoria hatte noch so viele Fragen, die sie dem Mischlingsjungen gern gestellt hätte. Aber nicht heute. Ihr Herz sagte ihr, dass sie den Jungen wiedersehen würde.

„Ist Mutter …?“, fragte Catherine mit kleiner Stimme.

Victoria schaute ihre Schwester an, die stur geradeaus sah, die Augen tränenleer, und so verloren wirkte, dass Victoria Zuflucht in einer barmherzigen Lüge suchen wollte. Aber es war gar nicht mehr nötig.

Schon von Weitem konnten die Mädchen ihren Vater erkennen, der auf sie wartete. Seine gebeugte Gestalt, die sich schwer auf den Stock stützte, war unverkennbar. Joseph Wagner stand auf der Veranda. Er hob die Hand, um seine Augen zu beschatten, und humpelte seinen Töchtern ein paar Schritte entgegen. Nun trennten sie nur noch wenige Meter. Victoria konnte den Kummer auf dem Gesicht ihres Vaters erkennen und schrie auf. Catherine umklammerte Victorias Hand so fest, dass es weh tat, aber sie ertrug den Schmerz, ohne ein Wort zu sagen.

Joseph sah seinen Töchtern entgegen und Dunkelheit legte sich auf sein Gesicht. Victoria erschreckte sich vor der Düsternis und ihre Tränen versiegten.

„Mutter?“, fragte sie schließlich, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Aber sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Wollte bis zum letzten Moment an ein Wunder glauben.

„Sie ist tot. Es ist deine Schuld“, stieß ihr Vater hervor und schaute Victoria so voller Zorn an, dass sie zusammenzuckte, als ob er sie geschlagen hätte. „Du hast deine Mutter umgebracht.“

Kapitel 2

 

Amber’s Joy, Australien, 1897

 

Erschöpft schaute Victoria aus dem Fenster. Langsam verschwand die Sonne hinter den Zuckerrohrfeldern und färbte den Himmel rot. Nicht mehr lange, bis die Nacht einbräche und ihre Arbeit erschwerte. Seit Sonnenaufgang waren Catherine und sie mit den Vorbereitungen für die kommenden Tage und Wochen beschäftigt.

„Bald kommen die Cutter.“ Ihr Vater musterte Victoria missmutig und voller Argwohn. So, als ob sie noch niemals die Männer verpflegt hätte, die zur Zuckerrohrernte erwartet wurden. „Hast du alles, was nötig ist?“

Victoria nickte nur. Sie war zu müde, um sich mit ihrem Vater zu streiten, auch wenn ihr das Misstrauen und die Geringschätzung, die sie in seinen Worten spürte, wehtaten. Sie wechselte einen Blick mit Catherine. Ihre jüngere Schwester hielt die Hände zu Fäusten geballt. Leicht schüttelte Victoria den Kopf, aber zu spät.

„Wenn du Daisy mit deiner Bösartigkeit nicht vertrieben hättest, müssten Vic und ich uns nicht darum kümmern.“ Catherines Stimme klang bitter. Victoria beneidete ihre jüngere Schwester um deren Mut und die Kraft, sich ihrem Vater entgegenzustellen. Andererseits würde ihr Vater Catherine es eher verzeihen, dass sie ihm die Wahrheit so offen ins Gesicht schleuderte. Ihre jüngere Schwester war immer noch sein Liebling, auch wenn sie sich nichts gefallen ließ. „Also, lass uns unsere Arbeit machen und störe uns nicht weiter.“

„Daisy war faul. So wie alle Abos.“ Murrend wandte Joseph Wagner sich um, aber sagte kein weiteres Wort. Er ging hinkend aus der Küche und Victoria schaute ihm versonnen nach.

Nur wenig hatten sie und Catherine von ihrem Vater geerbt. Wie er waren sie beide nur mittelgroß. Wo Joseph Wagner jedoch kräftig und untersetzt war, waren seine Töchter schlank und schmal. Ihr Vater trug das inzwischen eisengraue Haar sehr kurz. Eine Weile hatte er seinen buschigen Schnurrbart gepflegt, doch inzwischen waren seine Wangen wieder glattrasiert. Seine Nase war etwas schief, als wäre sie bei einer Schlägerei gebrochen und nicht richtig zusammengewachsen. Die graublauen Augen waren von tiefen Fältchen umgeben. Sonnengebräunt war seine Haut wie die aller Farmer, obwohl er nur selten auf den Feldern arbeitete. Der ehemals starke Mann war in den sieben Jahren seit dem Tod seiner Ehefrau in sich zusammengesackt. Er wirkte vom Schicksal gebeugt und Victoria spürte die bekannte Mischung aus Mitgefühl und Zorn in sich aufsteigen. Warum hatte ihr Vater sich in Gram und Wut geflüchtet, anstatt mit seinen Töchtern gemeinsam zu trauern und gemeinsam einen Weg aus der Trauer zurück ins Leben zu finden? Selbst der schwere Unfall vor zehn Jahren, seit dem er sich nur unter Schmerzen bewegen konnte, hatte ihm nicht die Lebensfreude nehmen können. Doch mit dem Tod ihrer Mutter schien alles, was an ihrem Vater hell und fröhlich gewesen war, gestorben zu sein.

Um sich abzulenken, schaute Victoria aus dem Fenster. Im Licht der untergehenden Sonne glühten die Zuckerrohrfelder rot. So rot, wie sie in den kommenden Tagen leuchten würden, wenn die Arbeiter das Unterholz in Brand steckten, um Schlangen und Ungeziefer zu vertreiben. Obwohl sie es seit frühester Kindheit kannte, fürchtete Victoria in jedem Jahr, dass das Feuer außer Kontrolle geraten könnte und die Ernte mit gierigen Flammen verzehren würde. Oder dass die rote Lohe auf ihr Haus übergriffe und alles vernichtete, was sich ihre Familie aufgebaut hatte.

Sie stieß einen leisen Seufzer aus. Als ob es da so viel zu vernichten gäbe. Ihr Vater hatte es in den letzten Jahren geschafft, aus einer mittelgroßen Plantage, die ihnen ein gutes Auskommen gesichert hatte, eine Farm zu machen, die kurz vor dem Ruin stand. Wenn Catherine und sie nicht höllisch aufpassten, würde Vater auch in diesem Jahr wieder … Nein, Victoria musste darauf vertrauen, dass ihr Vater genug Vernunft besaß und nicht alles zerstörte, was ihnen gehörte.

Ihr Leben war schon ohne die Tatsache, dass Joseph alles riskierte, hart genug. Von Jahr zu Jahr wurde es schwerer, Arbeiter zu gewinnen. Im Unterschied zu vielen Zuckerrohrpflanzern weiter nördlich in Queensland beschäftigte ihr Vater nur weiße Saisonarbeiter, die Cutter genannt wurden. Er weigerte sich, schwarze Menschen, die durch Blackbirding von den Inseln geholt worden waren, auf Amber’s Joy zur Arbeit zu pressen.

„Meine Frau hat nichts davon gehalten, Sklaven zu haben“, hatte Joseph Wagner scharf geantwortet, als sein Verwalter Richard Chandler ihm vorgeschlagen hatte, die „Kanaken“ genannten Männer zu beschäftigen. „Unsere Farm verdient Geld mit ehrlicher Arbeit oder gar nicht.“

„Ich wollte es nur gesagt haben“, hatte Richard Chandler geantwortet, ruhig und gelassen, wie es seine Art war. Groß und schlank war der Verwalter, der allein in einem Haus auf dem Farmgelände lebte. Ein Mann, dem man ansah, dass er viel Zeit in der Sonne zubrachte. Deren Licht hatte sein hellbraunes Haar ausgeblichen und ließ seine blauen Augen verwaschen wirken. Victoria kannte ihn schon ihr ganzes Leben, aber sie hatte ihn nie durchschauen können. Obwohl er freundlich und zugänglich war, kam es ihr immer vor, als ob er nur wenig von sich und seinen Gedanken preisgab. „Ich find’s auch richtig, unsere Männer zu behalten. Aber es kostet halt …“

So kam es, dass jedes Jahr die gleichen Männer zu den Erntezeiten nach Amber’s Joy zurückkehrten, in den Nebenhäusern wohnten und Leben auf die Farm brachten. Jedes Jahr im Dezember, wenn die abgeernteten Felder niedergebrannt wurden, saßen die Arbeiter mit Joseph und Richard Chandler zusammen und feierten mit Rum und Bier, dass wieder eine Saison überstanden war. Immer wieder gab es Männer, die schworen, dass diese Ernte ihre letzte sein würde, dass sie im nächsten Jahr eine eigene Plantage aufbauen würden oder sich eine leichtere Arbeit in der Stadt suchen würden. Und jedes Jahr standen diese Männer wieder pünktlich zur Ernte auf Amber’s Joy, ein wenig gebeugter, die Falten in ihren sonnengebräunten Gesichtern etwas tiefer, aber immer noch das Glitzern in den Augen, das sie als Teil der Gemeinschaft auszeichnete.

An den Abenden der Ernte saßen die Männer erschöpft um ein Lagerfeuer, tranken süßen Tee und Brandy oder Rum, rauchten und erzählten einander Geschichten. Geschichten von ihren Reisen, Erzählungen aus alter Zeit und sicher manches Lügenmärchen. Die Geschichten gehörten genauso wie die Banjo-Musik zur Erntezeit dazu. Als sie jünger waren, hatten Victoria und Catherine nichts Schöneres gekannt, als diesen Erzählungen zu lauschen. Catherine war stets vorangegangen und hatte die zögernde Victoria hinter sich her gezogen wie einen widerspenstigen Brumby.

Irgendwann hatte Joseph seinen Töchtern gesagt, dass sie nun zu alt wären, um noch mit den Arbeitern ums Feuer herum zu sitzen. Also blieben Victoria und Catherine auf der Veranda, die Ohren gespitzt und lauschten in die Dunkelheit auf Gesprächsfetzen, die der Wind zu ihnen trug.

Gegen Ende des Abends gab es immer einen Arbeiter, der den Song Waltzing Matilda anstimmte. Ein Mann namens Banjo Paterson hätte es geschrieben, hatte einer der Arbeiter der neugierigen Catherine erzählt. Vor drei Jahren – seitdem war der Siegeszug des traurigen Liedes nicht aufzuhalten. In Windeseile hatte es sich von Lagerfeuer zu Lagerfeuer verbreitet. Das Lied, gesungen aus rauen Kehlen, trieb Catherine und Victoria immer die Tränen in die Augen, weil es so voller Sehnsucht und Schwermut war. Eine Traurigkeit, die Victoria nur zu gut verstand, weil sie auch ihr Leben begleitete.

 

Was nützten die bitteren Gedanken? Sie hatte noch einiges zu tun, bis die Vorbereitungen für die Erntezeit abgeschlossen waren. Victoria trat wieder an die Spüle und beendete den Abwasch. Das Besteck klapperte im Spülstein. Das vertraute Geräusch vertrieb die dunkle Stimmung und Victoria wandte sich ihrer Schwester zu. „Nun geh schon.“

„Danke.“ Catherine hauchte ihrer Schwester einen Kuss auf die Wange, zog die Schürze aus und warf sie zusammengeknüllt auf die Küchenbank. „Ich mach’s wieder gut.“

Victoria schüttelte mit einem kleinen Lächeln den Kopf. Wie jedes Jahr würde Catherine auf der Veranda auf die Staubwolken und den Lärm warten, sichere Zeichen, dass die Arbeiter bald eintreffen würden. Victoria hielt sich im Hintergrund, aber auch sie freute sich auf die kommenden Wochen, auf das Leben, das die Männer mit sich bringen würden. Auf die kleinen Flirts und bewundernden Blicke, mit denen die Zuckerrohrschneider Catherine und sie bedachten. Wie stets würden die Blicke der Cutter etwas länger auf Catherine ruhen. Das war Victoria nicht anders gewohnt. Ihre jüngere Schwester erhielt mehr Aufmerksamkeit von Männern, schon seit sie ein kleines Kind gewesen war. Sie verstand es, Männer wie Frauen mit ihrem Lächeln zu betören.

Manchmal konnte Victoria kaum glauben, dass sie Geschwister waren. Die lebenssprühende, immer fröhliche Catherine mit den wilden roten Haaren, die sich jedem Versuch widersetzte, sie zu zähmen. Während Victoria ein eher dunkler Typ war, die unter der gleißenden Sonne schnell bräunte, war Catherines Haut von dem milchigen Weiß der Rothaarigen. Wenn sie ihr Gesicht nicht schützte, blühten Sommersprossen rund um ihre Nase, was sie nicht leiden mochte. Catherines Augen waren von einem ungewöhnlichen Blau. „Wie der Himmel in der Dämmerung“, hatte ein Cutter mal gesagt, was ihm lautes Gelächter von seinen Kollegen eingebracht hatte. Aber es stimmte, dachte Victoria. Catherines Augen wirken so dunkel und tief wie der Himmel, bevor er in die Nacht übergeht.

Natürlich flirteten die Cutter nur verhalten, achteten darauf, Joseph nicht zu verärgern. Keiner von ihnen würde es wagen, ihrer Schwester oder ihr zu nahe zu treten. Bisher hatte der Vater noch jeden Mann vertrieben, der seinen Töchtern allzu schöne Augen machen wollte. So würde Victoria nie einen Ehemann finden, sondern den Rest ihres Lebens damit verbringen, ihrem Vater den Haushalt zu führen, ohne jemals Dank dafür zu erhalten. Ihre einzige Chance auf Liebe hatte der Vater davongejagt, ohne dass Victoria es gewagt hätte, sich gegen ihn zu stellen. Niemals würde es für sie jemanden geben, der sie liebte und aus ihrem tristen Alltag rettete. Für Victoria würde das Leben nur Pflichten bereithalten, ohne große Höhen und Tiefen, bis sie irgendwann alt war und starb. Für ihre Schwester hoffte Victoria, dass sie ein besseres Leben führen würde, dass sie einen Mann fände, der ihr ein Heim voller Glück bescherte.

Victoria holte tief Luft. Es hatte keinen Sinn, sich darüber zu grämen. Sie trocknete sich die Hände an einem Tuch ab und ging in die Vorratskammer. Ein letztes Mal überprüfte sie die Arzneimittelvorräte. Wie jedes Jahr war ihr Vater nach Marburg geritten und hatte sich vom dortigen Arzt einige Medikamente geben lassen, die sie während der Zuckerrohrernte dringend benötigen würden, wie die Erfahrung sie gelehrt hatte.

Victoria stellte die braune Flasche mit der Jodtinktur nach vorne. Wahrscheinlich würde es bis zum Ende der Ernte so viele Bisse, Kratzer und Schnittwunden geben, dass die Tinktur aufgebraucht wäre. Neben dem Jod stand eine Flasche mit Chloroform. Victoria schluckte. Hoffentlich kämen sie in diesem Jahr davon und müssten das Betäubungsmittel nicht einsetzen. Voller Grauen erinnerte sie sich an die letzte Ernte, als Richard Chandler einem der Arbeiter zwei Finger hatte abschneiden müssen, die sich nach einem Rattenbiss entzündet hatten. Sie schüttelte sich und schob die dunklen Gedanken zur Seite und prüfte ihre Hausapotheke.

Alles da. Mullbinden, Scheren, Pinzetten, ein Sud aus Weidenrinde gegen leichte Schmerzen, Zinksalbe. Wenn es zu schlimmeren Verletzungen käme, müssten sie den Arzt aus Marburg holen, auch wenn Victorias Vater nicht viel von ihm hielt. Hoffentlich würden die Stoffstreifen reichen, die sie im Winter aus ausrangierten Laken, Unterkleidern und Blusen geschnitten hatte.

Vor einem Jahr hatte Victoria einige Kräuterpasten und eine Salbe aus Eukalyptusrinde verwenden wollen, die Billy ihr gegeben hatte. Pflanzenmedizin der Aborigines. Joseph hatte einen Tobsuchtsanfall bekommen und gedroht, alle Abos von Amber’s Joy zu jagen, wenn Victoria noch einmal damit ankäme. Vor zwei Wochen hatte der Vater seine Drohung wahrgemacht und Billy nach einem heftigen Streit verboten, sich je wieder auf Amber’s Joy blicken zu lassen.

Victoria biss sich auf die Unterlippe, als sie sich an den schrecklichen Abend erinnerte. Bereits am Nachmittag waren ihr Vater und Billy aneinander geraten, als es um die Zähmung eines Brumby ging. Joseph hatte wütend auf den dunkelbraunen Hengst eingeschlagen, der wieder und wieder den Kopf hochwarf, die Augen rollte und panisch wieherte. Keiner der Männer hatte es gewagt, dem Boss Einhalt zu gebieten, bis endlich Billy eingeschritten war und Victorias Vater die Peitsche entrissen hatte.

„Nicht noch einmal, Abo!“, hatte Joseph gebrüllt, war sich aber trotz seiner Wut bewusst gewesen, dass er Billy nicht verärgern durfte. Schließlich kam keiner der Männer so gut mit den Pferden zurecht wie der Aborigine-Mischling. „Erkenne endlich deinen Platz im Leben.“

Nachdem Billy am Abend jedoch Partei für Victoria ergriffen hatte und sich erneut gegen Joseph gestellt hatte, hatte die Wut ihren Vater übermannt, so dass er alle Bedenken vergessen hatte.

„Ich will dich hier nie wieder sehen!“ Mit hochrotem Kopf hatte ihr Vater Billy angeschrien. Die Hände zu Fäusten geballt, bereit, jederzeit handgreiflich zu werden. „Wenn du nicht sofort deine Sachen packst und verschwindest, werfe ich deinen ganzen verdammten Clan von meinem Land.“

Billy hatte einen eindringlichen Blick mit Victoria gewechselt, der sie bis ins Herz getroffen hatte. Sie hätte aufstehen müssen, sich gegen ihren Vater wehren und sich auf Billys Seite stellen müssen. Doch Victoria war zu feige gewesen, so dass Billy ohne ein Wort gegangen war. Kurze Zeit später hatte sie den Hufschlag seines Pferdes gehört. Voller Panik hatte sie ihren Mut zusammengenommen und war auf die Veranda gelaufen, doch da war Billy bereits vom Hof galoppiert. Unter Tränen hatte sie noch der Staubwolke nachgesehen, die sein schwarzbrauner Hengst aufwirbelte. Noch nie in ihrem Leben hatte Victoria sich so einsam gefühlt. Noch nie hatte sie sich so sehr für ihre Feigheit geschämt. Warum war sie nicht aufgestanden und hatte sich gegen ihren Vater aufgelehnt? Warum hielt sie verzweifelt an der Hoffnung fest, dass es ihr eines Tages gelingen würde, die Liebe oder wenigstens den Respekt ihres Vaters zu gewinnen?

In den vergangenen zwei Wochen hatte Victoria jeden Tag gehofft, dass Billy zurückkehren würde, dass er mehr Mut bewiese als sie, aber er schien sie aufgegeben zu haben. So wie sie es verdiente.

Kapitel 3

 

Amber’s Joy, Australien, 1897

 

Als die Nacht aufgezogen war, war die Arbeit endlich geschafft. Mit Catherines Hilfe hatte Victoria die Meat Pies auf den Tisch gebracht. Der würzige Duft der dampfenden Fleischpastete zog durch die Küche. Die Männer, die um den großen Tisch saßen, gaben dankbare Laute von sich, während sie das Essen in sich hineinschaufelten. Den zweiten Gang hatte Victoria bereits in den heißen Ofen geschoben und wischte sich mit der Handfläche den Schweiß von der Stirn. Catherine zwinkerte ihr zu. Auch ihr Gesicht war hochrot von der Arbeit am Herd; Schweißperlen rannen über ihre Stirn. Ihre roten Locken hatten sich aus dem Haarknoten gelöst und sträubten sich in alle Richtungen. Catherine trocknete ihre Hände mit einem Tuch ab.

„Ich mache uns eine Limonade, einverstanden?“

Victoria nickte dankbar. Ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an. Immer wieder benetzte sie die Lippen mit der Zunge, aber das Gefühl von Trockenheit blieb. Eine Limonade erschien ihr wie ein Geschenk des Himmels. Schon den ganzen Abend hatte sie sich danach gesehnt, aber zuerst hatten Catherine und sie dafür sorgen müssen, dass das Essen für die Arbeiter rechtzeitig auf dem Tisch stand. Ein kräftiges Essen hatte ihr Vater gefordert, mindestens drei Gänge, damit die Männer die anstrengende Arbeit des Zuckerrohrschneidens gut gelaunt beginnen würden. Die Cutter, harte Männer, früh gealtert durch schwere Arbeit, Sonne und Hitze, verbunden durch eine Kameradschaft, die nicht viel Platz für Familie und Frauen ließ. Victoria hörte ab und zu einen von ihnen von seiner Lady sprechen, die in Toowoomba oder Brisbane oder in einer der kleineren Städte auf ihn wartete. Aber auch wenn die Stimmen der Männer sehnsuchtsvoll klangen, war in ihrem Leben kein Raum für etwas anderes als die Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern.

Was war wohl aus den Frauen geworden, die damals geholfen hatten, Amber’s Joy zu bepflanzen, fragte sich Victoria stets. Sie erinnerte sich noch gut an die stillen Frauen, die hinter dem Pflug hergegangen waren und die kleinen Zuckerrohrpflanzen in die schnurgraden Reihen eingesetzt hatten. Ihre Mutter war gemeinsam mit ihnen über die Felder gegangen und hatte es sich nicht nehmen lassen, Setzlinge einzupflanzen.

Doch sobald das Zuckerrohr angegangen und in die Höhe geschossen war, kamen nur noch Männer. Immer dieselben, so dass sie für Victoria und Catherine wie eine Familie waren.

Nur am Abend vor Beginn der Ernte und am Abend, nachdem das Zuckerrohr geschnitten und die Felder abgeerntet waren, lud Joseph die Arbeiter ins Wohnhaus ein. Während der Erntezeit mussten sie in den Arbeiterhäusern essen. So sah es die Tradition vor, an die sich alle Farmer im Umkreis hielten, egal, ob sie Zuckerrohr oder Weizen anpflanzten oder Schafe züchteten.

Heute thronte ihr Vater am Ende des großen Tisches wie ein König, der seine Ritter zu einem Festmahl um sich versammelt hatte, aß wenig, redete viel und zuckte ab und zu nervös mit den Fingern.

„Er wird doch nicht …“, flüsterte Catherine Victoria zu, als sie ihr die Limonade reichte. In den Augen ihrer Schwester spiegelte sich die Besorgnis, die Victoria in sich spürte. „Das letzte Mal …“

Durstig trank Victoria das Glas Limonade leer, kostete den sauer-süßen Geschmack von Zitronen und Zucker auf der Zunge aus, bevor sie antwortete. „Er hat es mir versprochen. Dieses Mal nicht.“

„Versprochen.“ Mit einer Kopfbewegung deutete Catherine auf Joseph. „Schau ihn dir doch an. Seine Augen glänzen, als ob er getrunken hätte. Seine Beteuerungen sind nichts wert.“

Wütend rührte Catherine mit einem Holzlöffel in dem Topf, in dem die grünen Bohnen kochten. Sie hatte die Unterlippe vorgeschoben und die Augen zusammengekniffen. Gut, dass Vater seine Lieblingstochter nicht so sieht, dachte Victoria. Sanft strich sie ihrer Schwester über den Rücken.

„Ich rede später mit den Männern“, versuchte Victoria ihre Schwester zu beruhigen, obwohl sie selbst nicht an den Erfolg ihrer Bemühungen glaubte. „Wir kennen die meisten schon so lange, dass sie auf mich hören werden.“

„Das glaubst du doch wohl selbst nicht“, zischte Catherine. Glücklicherweise überboten die Arbeiter sich gerade mit Geschichten über riesige Ratten, denen sie bei der letztjährigen Ernte gegenüber gestanden und ihnen erfolgreich getrotzt hatten, so dass niemand außer Victoria die wütenden Worte vernehmen konnte. „Die Männer mögen uns schätzen, aber keiner von ihnen kann es sich leisten, auf leicht verdientes Geld zu verzichten. Schau sie dir doch an.“

Während sie Brot schnitt, musterte Victoria verstohlen die Männer, die sich in ihrer Küche versammelt hatten und musste ihrer Schwester recht geben. Keiner von ihnen sah aus, als ob er sich bald zur Ruhe setzen könnte. Ihre Hemden aus rauem Baumwollstoff waren vielfältig geflickt; oft fehlten Knöpfe oder die Krägen waren ausgefranst. Auch die Hosen sahen aus, als hätten sie schon viele Jahre hinter sich. Nur das Schuhwerk der Männer war stabil und fest. In den Zuckerrohrfeldern, wo es vor Ungeziefer wimmelte, bedeuteten kaputte Sohlen oder zerrissene Schuhe Krankheit oder gar Tod. Fehler im Leder, Löcher gar, boten Ratten und Schlangen Angriffsmöglichkeiten. Victoria stieß einen leisen Seufzer aus und stimmte in Gedanken ihrer Schwester zu. Jeder dieser Männer würde sich über ein zusätzliches Einkommen freuen. Nur die Besten von ihnen würden auf Victoria hören. Die anderen wären nur zu gerne bereit, dem Boss zu Willen zu sein, egal was dessen Töchter sagten.

In ihre düsteren Überlegungen hinein ertönte ein lautes Klopfen. Victoria und Catherine wechselten einen überraschten Blick. Billy, dachte Victoria einen Augenblick voller Hoffnung, doch sie wusste es besser. Selbst wenn Billy zurückkehren wollte, würde er sich hüten, am Vorabend des Erntebeginns zu kommen. Wer also konnte es sein? Waren die Cutter etwa nicht vollzählig? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Keiner der Männer, die für ihren Vater arbeiteten, würde es wagen, am ersten Tag nicht pünktlich zu sein. Joseph war bekannt dafür, dass er größten Wert auf die deutschen Tugenden legte und ihnen auch in der neuen Heimat folgte.

Auch ihr Vater wirkte erstaunt. Mühsam und schwerfällig erhob er sich von seinem Stuhl, wobei sich sein Gesicht vor Schmerz verzerrte. Seit dem schweren Unfall vor zehn Jahren schmerzten ihn die meisten Bewegungen, so dass er am liebsten in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda saß.

„Komm rein“, grollte er mit tiefer Stimme, bevor er sich schwer niederfallen ließ, wobei er erneut das Gesicht verzog, wie Victoria mit Sorge beobachtete. „Je mehr, desto besser. Nicht wahr, Männer?“

Er lachte lauthals. Pflichtschuldig fielen die Cutter in sein Lachen ein. Erwartungsvoll richteten alle Männer und Victoria und Catherine ihre Blicke zur Tür. Langsam öffnete sie sich und ein staubbedeckter Mann trat ein.

„G'day.“ Der Nachzügler tippte sich an den Hut. Ein breites Lächeln lag auf dem schmalen Gesicht, vor dessen Sonnenbräune sich dunkle Bartstoppeln abhoben. Aber was Victorias Aufmerksamkeit auf sich zog, waren seine Augen. Blau wie der Himmel an einem Sommertag, zeichneten sich in ihnen eine Sicherheit und ein Selbstvertrauen ab, das sie sich nur wünschen konnte. Rank und gleichzeitig muskulös sah er aus; ein Mann, der körperliche Arbeit kannte. Sein Gesicht jedoch sagte etwas anderes. Sein voller Mund, seine gerade Nase, die auffallenden Augen – hier kam einer, der etwas Besseress sein wollte als ein einfacher Cutter. Mit seiner Jugend und seinem Selbstvertrauen passte er nicht zu den anderen Arbeitern, die ihn misstrauisch betrachteten. „Ich bin Luke Faulkner. Werden noch Cutter gebraucht?“

„Männer, die hart arbeiten können und pünktlich sind, sind hier gern gesehen.“ Joseph musterte den Neuankömmling von oben bis unten. Luke Faulkner lehnte sich gegen den Türrahmen und stellte das linke Bein vor das rechte. Mit einer Hand schlug er eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Die Unfreundlichkeit von Victorias Vater schien er nicht zu bemerken. „Alle anderen, vor allem Faulpelze, können gehen. Schon Erfahrungen mit Zuckerrohr?“

„Ich habe in den letzten Jahren Rinder und Schafe zusammengetrieben.“ Faulkner zuckte mit den Schultern und stieß den Zigarettenrauch in perfekten Ringen aus. Aus dem Augenwinkel bemerkte Victoria, wie fasziniert Catherine den Fremden betrachtete. „Zuckerrohr wird weniger hart zutreten, dachte ich. Oder irre ich mich?“

Lautes Gelächter erklang vom Tisch. Zu Victorias Überraschung streckte ihr Vater dem Fremden die rechte Hand entgegen. Mit der linken winkte er Faulkner zu sich heran und deutete auf den Platz neben sich.

„Na los, Mädchen, steh nicht rum und starr Löcher in die Luft“, fuhr Joseph Victoria an, der vor Überraschung der Mund offenstand. Sie hatte erwartet, dass ihr Vater den Neuankömmling sofort hinauswerfen würde. „Bring einen Teller und ein Glas für unseren Rinderfreund.“

Als Victoria nicht sofort reagierte, herrschte ihr Vater sie an: „Träum nicht vor dich hin. So schwierig kann es ja nicht sein, oder?“

Victoria spürte Röte ihren Hals und ihre Wangen heraufziehen und biss sich auf die Unterlippe, um die Tränen zurückzudrängen, die die harschen Worte ihres Vaters in ihr aufsteigen ließen. Musste er sie vor den Männern so demütigen? Als ob sie ein ungefälliges Dienstmädchen wäre und nicht seine älteste Tochter. Mit gesenktem Kopf griff sie nach Glas, Teller und Besteck und stellte alles vor Faulkner hin, der sich wie selbstverständlich einen Stuhl herangezogen hatte. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie ihr Vater dem Mann großzügig einschenkte.

„Danke Ma’am“, sagte der Neuankömmling und nickte Victoria freundlich zu. „Nett von Ihnen.“

„Lass das mal. Du brauchst das Mädchen nicht Ma’am zu nennen. Setzt ihr nur Flausen in den Kopf.“ Joseph stieß ein lautes Schnauben aus, das in Victorias Ohren dröhnte. „Ist nur meine Tochter und zu nicht viel nütze.“

Victoria ballte die Hände zu Fäusten und krallte die Fingernägel in die Handflächen, um sich durch den Schmerz von den bitteren Worten abzulenken. Sie wollte ihrem Vater nicht die Genugtuung gönnen, vor der versammelten Mannschaft in Tränen auszubrechen. Trotzdem spürte sie einige mitfühlende Blicke, was ihr alles nur noch schwerer machte. Am liebsten hätte sie ihrem Vater die Schürze vor die Füße geworfen und wäre davon gelaufen. Aber wo sollte sie hin? Amber’s Joy war doch ihr Zuhause.

„Lass dir den Abend nicht verderben“, flüsterte Catherine ihr zu, während sie frisches Brot aufschnitt. „Die Männer wissen, was sie an dir haben.“

„Danke.“ Victoria lächelte ihre Schwester an und holte den Lammbraten aus dem Herd. Er roch so gut, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief und sie nur hoffen konnte, dass die Arbeiter etwas davon für Catherine und sie übrig ließen.

Heißhungrig stürzten sich die Cutter auf den Braten, schaufelten sich Kartoffeln, Bohnen und Erbsen auf die Teller. Victoria und Catherine nutzten die Zeit, das Geschirr zu spülen und Kaffee vorzubereiten. Endlich gab Joseph ihnen zu verstehen, dass sie nun abräumen konnten. Schnell und geschickt arbeiteten die Mädchen. Eingespielt seit Jahren räumten sie Teller und Platten ab, legten Löffel und Schalen auf und stellten Kaffeebecher daneben. Victoria und Catherine wechselten einen Blick. Ob ihr Vater wohl zufrieden mit dem Dessert sein würde? Nach langem Überlegen hatten sich die beiden für einen Käsekuchen und einen Stanley Pudding entschieden. Die Rezepte hatte Victoria in dem Buch „The art of living in Australia“ gefunden, das sie in Toowoomba gekauft hatte.

„Neumodischer Kram“, hatte ihr Vater zwar geschimpft, aber das Kochbuch ohne Murren bezahlt. Seitdem kochten Victoria und Catherine um die Wette, probierten immer wieder neue Rezepte aus, was nicht immer von Erfolg gekrönt war. Aber heute würden sie sicher zufriedene Mienen erzielen.

Während Catherine die beiden Schalen mit Pudding auf den Tisch stellte und mit den Cuttern leichthin scherzte, kochte Victoria Kaffee, den sie mit dem Käsekuchen auftrug. Beides wurde von den Cuttern hinreichend gelobt. Nur Joseph verschmähte die Süßspeise und hielt sich auch vom Kaffee fern. Seine Finger trommelten ungeduldig auf dem Tisch, bis die Arbeiter endlich die Löffel fallen ließen und sich über die gefüllten Bäuche strichen. Die meisten von ihnen holten Zigaretten hervor, die sie genüsslich rauchten.

„Also!“ Joseph schaute auffordernd in die Runde. „Wer hat Lust auf ein Spielchen?“

Kapitel 4

 

Amber’s Joy 1897

 

Obwohl es früher Morgen war, flirrte die Luft vor Hitze. Dieses Jahr war der Juli außergewöhnlich heiß, als wollte das Wetter die Ernte erschweren. Victoria hatte sich mit Wasser aus dem Fluss gewaschen, das angenehm kalt gewesen war. Jetzt jedoch stand ihr der Schweiß auf der Stirn und sie fühlte sich erschöpft, obwohl die Arbeit des Tages erst begonnen hatte. Nachdem sie das Frühstück für sich und die Cutter zubereitet hatte, hatte etwas am Horizont ihre Aufmerksamkeit erregt, so dass Victoria aus der Kühle des Hauses auf die Veranda getreten war. Mit der Hand beschattete sie ihre Augen, um deutlicher sehen zu können. Ja, sie hatte sich nicht getäuscht. Die Staubwolke, die sie vom Fenster aus erspäht hatte, war nicht vom leichten Wind aufgewirbelt, sondern zeigte, dass sich ein Reiter Amber’s Joy näherte.

Victorias Herz schlug schneller. War einem der Cutter etwas passiert? Im Kopf ging sie die Arzneien und Medikamente durch, die nach drei Wochen Erntezeit verblieben waren. Kleinere Verletzungen würde sie behandeln können; bei einem Schlangenbiss oder einem Messerschnitt wäre sie machtlos. Voller Angst hob Victoria die aneinander gelegten Hände zum Mund. Sie konnte es kaum erwarten, bis sich endlich eine Gestalt aus der Staubwolke herauskristallisierte.

Ungläubig rieb sie sich die Augen. Nein, sie irrte sich nicht. Ihr Herz schlug schneller und plötzlich war ihr die Hitze egal. Wie sah sie aus? Eilig fuhren Victorias Hände zu ihren Haaren, um sie zu glätten. Mit der Schürze trocknete sie den Schweiß von ihren Fingern. Betont langsam atmete sie ein und aus, damit sich ihr Herz beruhigte. Hoffentlich konnte man ihr die Aufregung nicht ansehen. Als der Reiter sein Pferd zügelte, hob Victoria die Hand zum Gruß. Der Mann sprang aus dem Sattel und eilte zu ihr.

„Billy!“ Vor Freude, Billy wiederzusehen, schlug ihr Herz schneller. Sie hatte befürchtet, dass er niemals zurückkehren würde.. Doch die Freude wurde begleitet von Angst. Victoria duckte sich und schaute über ihre Schulter. Glücklicherweise war ihr Vater zu den Arbeitern auf die Zuckerrohrfelder geritten, so dass nur Catherine und Richard Chandler sie sehen würden. Und auf deren Verschwiegenheit konnte Victoria sich verlassen. „Billy. Wenn mein Vater …“

Sie konnte den Satz nicht beenden, weil die Freude sie überwältigte. Sein Anblick war ihr so vertraut und erst jetzt, als sie ihn wiedersah, erkannte sie, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Einen Augenblick musste sie ihn einfach nur anschauen, wollte sich sein Bild einprägen, falls er sie wieder verlassen würde. Billy war deutlich hochgewachsener als die anderen Aborigines, sicher das Erbteil seines weißen Vaters, genau wie das ebenmäßige Gesicht und die kantige Nase. Die tiefbraunen Augen und die vollen Lippen verdankte Billy seiner Mutter, die eine hübsche Frau gewesen war, wie Burilda erzählt hatte.

„Ich weiß.“ Ein Lächeln erhellte sein dunkles Gesicht. Ein Lächeln, das Victoria mehr wärmte als die Sonne, die brennend am klaren Himmel stand. „Aber ich wollte …, ich musste mich von dir verabschieden. Ich … ich konnte nicht einfach gehen.“

„Du verlässt mich? Erneut?“ Victoria hatte immer befürchtet, dass Billy eines Tages seiner Wege gehen würde, dass er es aufgeben würde, darauf zu warten, dass sie sich zu ihm bekannte. So viel hatte sie Billy zu sagen. Sie wollte sich erklären, wollte ihm begreiflich machen, warum sie nicht mit ihm gehen konnte. Warum sie bei ihrem Vater bleiben musste. Wollte von ihrer Schuld sprechen, die sie niemals abgelten konnte, aber sie konnte die richtigen Worte nicht finden. Zu vieles wäre zu sagen. Und doch konnte nichts davon entschuldigen, dass sie niemals den Mut finden würde, Amber’s Joy zu verlassen und mit dem Mann zu gehen, den sie liebte. Den sie seit ihrer ersten Begegnung von Herzen liebte, auch wenn sie lange Zeit nicht gewusst hatte, wie sie das Gefühl des Glücks benennen sollte, das sie mit Billy verband.

„Billy …“, begann Victoria, doch dann senkte sie den Kopf und hob entschuldigend die Hände. „Ich … ich …“

„Schon gut.“ Er schaute ihr in die Augen und die Liebe, die Victoria darin erkannte, ließ sie sich besser und auch schlechter fühlen. Warum liebte er sie noch, wo sie ihn im Stich gelassen hatte? Sie verdiente seine Gefühle für sie nicht. Billy streckte die Hand aus und strich ihr über die Wange. „Ich glaube, ich verstehe dich. Du musst deinen Weg gehen, ich meinen.“

Victoria nickte. Aber zu gern hätte sie Billy gefragt, was ihr Weg wäre, woher sie sicher sein konnte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Aber auch das konnte sie nicht aussprechen. Vielleicht später einmal. Wenn es je ein später für sie beide gäbe.

„Wohin gehst du?“, fragte sie stattdessen. „Werde ich dich wiedersehen?“

„Ein Onkel von mir arbeitet auf einer Pferderanch. In den Darling Downs.“

So weit weg. Victorias Kehle fühlte sich so trocken an, als ob sie Wochen im Outback verbracht hätte. Ihr Herz hatte gehofft, dass Billy in ihrer Nähe bleiben würde. Auf einer der Farmen arbeiten würde, die man innerhalb weniger Stunden erreichen konnte. Aber warum sollte er? Sie hatte ihm keinen Grund geliefert zu bleiben. Selbst jetzt, wo er ihr die Möglichkeit bot, ihn zu halten, blieb sie stumm. Sie konnte niemand anderem die Schuld an ihrem Unglück geben als sich selbst. Ein heller Laut lenkte Victoria von ihren düsteren Gedanken ab.

„Was ist das?“ Sie schaute Billy fragend an, der lächelte und zu seinem Pferd zurückging.

Aus der Satteltasche holte er etwas, das Victoria auf den ersten Blick für ein winziges Kälbchen hielt. Erst, als der Aborigine näher kam, erkannte Victoria, dass er einen jungen Hund auf dem Arm trug. Vor ihr setzte Billy das Tier zu Boden und schaute Victoria auffordernd an. Sie sah den Hund an und wusste nicht, ob sie lachen oder den Kopf schütteln sollte. Vor ihr saß ein mittelgroßer Hund, mit grauweißem Fell, das ab und zu durch hellbraune Flecken unterbrochen wurde. Das Auffälligste war das Gesicht des Welpen. Unter zwei riesigen schwarzen Ohren saß ein vergleichsweise kleiner Kopf mit schmaler Schnauze. Um die dunklen Augen hatte der Hund schwarze, unregelmäßig geformte Flecken, gekrönt von hellbraunen Tupfen. Durch die außergewöhnliche Fellzeichnung sah es aus, als ob das Tier voller Staunen in die Welt blickte.

„Was ist das?“, wiederholte Victoria lächelnd und kniete sich vor den Hund. Der schaute sie an und legte den Kopf schief. „Wie heißt er?“

„Es ist eine Sie“, antwortete Billy. „Ein Blue Heeler. Ich habe sie ihrem Besitzer abgekauft, als er sie ertränken wollte.“

„Warum sollte jemand dir so etwas Böses antun?“ Victoria hielt der Hündin ihre Hand hin, an der diese schnüffelte. Das Gesicht des Tieres verzog sich zu einem Lächeln. Da war Victoria sich sicher, und von einem Augenblick zum anderen sah sie nicht mehr die ungewöhnliche Färbung und die seltsame Gesichtsmaske, sondern war sofort vom Charme des Blue Heeler gefangen.

„Was stimmt nicht mit ihr?“

„Sie hat ihn gebissen.“ Billy hob die Schultern. „Er ist ein ungeduldiger Mann. Und sie ist eine Persönlichkeit, obwohl sie noch jung ist.“

„Das sieht man.“ Victoria strich der Hündin vorsichtig über den Hals, woraufhin diese sich auf den Rücken warf und Victoria den Bauch zeigte. „Sie wirkt so freundlich. Gar nicht bissig.“

„Ich glaube, sie ist eine Menschenkennerin. Deine Menschenkennerin.“

„Für mich?“ Victoria schaute Billy ungläubig an. „Aber ich verstehe nichts von Hunden. Und wenn sie wirklich bissig ist …“

„Ich weiß, dass ihr beide gut füreinander seid.“ Billy sah Victoria bittend an. „Bitte, nimm sie als mein Abschiedsgeschenk.“

Er wandte sich um und ging zu seinem Pferd. Victoria kniete noch immer neben dem Welpen. Einsamkeit und Traurigkeit überwältigten sie und sie legte ihre Arme um den Hals der Hündin und spürte das erstaunlich weiche Fell. Das Tier schien ihren Schmerz zu spüren und fuhr ihr einmal mit der Zunge durchs Gesicht, als ob es Victoria trösten wollte.

„Wenn du mich brauchst, kehre ich zurück.“ Billy hatte sich auf den Rücken seines dunkelbraunen Brumbies geschwungen und zog grüßend den Hut. Victoria, noch immer den Welpen im Arm, hob die andere Hand. Sie klammerte sich an die Hündin, als ob sie sich davon abhalten wollte, Billy nachzulaufen und ihn zu bitten, sie niemals zu verlassen. Aber ihr fehlte der Mut. Also schaute sie Billy nur nach, bis seine Silhouette sich am Horizont verlor.

„Kommst du mit mir?“ Die Hündin legte wieder den Kopf schief. „Ich brauche noch einen Namen für dich. Wie wäre es mit … Cookie, weil du so süß bist?“

Das Wuff, das die Hündin ausstieß, deutete Victoria als Zustimmung und sie musste lächeln, obwohl ihr Herz wegen Billys Aufbruch schwer war. Auf dem Weg ins Haus hielt Cookie sich eng neben Victoria. Wollte die Hündin sie beschützen oder sah sie in Victoria ein übergroßes Schaf, das sie der Herde zutreiben musste?

Jetzt, wo Billy sie endgültig verlassen hatte, erschien ihr Amber’s Joy hart und abweisend. Das Farmhaus hatte ihr Vater auf kurzen Stelzen aus rohen Baumstämmen gebaut, wie alle seine Nachbarn. Eine schlichte Treppe, fünf Bretter aus hellem Holz, führte auf die Veranda, die von Stelzen getragen wurde. Hier standen eine Bank und ein Liegestuhl. Die Bank hatte Joseph mit eigenen Händen für seine Frau gedrechselt und hielt sie nach Ambers Tod in Ehren. Auch die Veranda und deren Säulen waren aus schlichten Holzblöcken ohne jegliche Verzierung. Alles an dem Haus war praktisch und einfach gehalten, zu Catherines Bedauern, die Wert auf Schönheit und Schnörkel legte. Obwohl ihr Vater Catherine kaum einen Wunsch abschlagen konnte, hatte er sich bisher standhaft geweigert, an Veranda oder Haus etwas zu ändern. Victoria hatte es bisher nicht gestört, dass ihr Zuhause eher bescheiden gestaltet war, doch heute fühlte es sich trist an. Traurig und hoffnungslos.

Sie durfte ihren Gedanken nicht nachgeben. Arbeit war ein gutes Mittel, um nicht an Billy zu denken. Im Kopf plante Victoria das Essen für den heutigen Abend. Etwas Kompliziertes musste es sein, etwas, das ihre volle Konzentration erforderte. Sie blätterte in ihrem Kochbuch, bis sie etwas fand, was ihren Ansprüchen genügte. Dafür musste sie Vorräte aus dem Keller holen, den ihr Vater zwischen Haus und Scheune ausschachten lassen hatte, mit dicken Steinwänden, in dem Vorräte gelagert werden konnten. Eine Bodenklappe verschloss den Eingang zum Keller und Victoria fürchtete jedes Mal, dass der Wind die Klappe zuschlagen könnte und sie im dunklen und kühlen Keller einsperrte. Heute wäre es ihr als gerechte Strafe erschienen, dort unten einige Zeit zu verbringen, aber der Wind war nicht stark genug.

Als Nächstes führte ihre Arbeit sie in den Gemüsegarten, den ihre Mutter hinter dem Haus angelegt hatte. Obwohl sie schreckliche Erinnerungen mit dem Ort verband, liebte Victoria ihn auch und pflegte ihn gern, weil er sie an ihre Mutter erinnerte. Man musste nur laut genug auftreten, um den Schlangen anzuzeigen, dass man den Garten betrat. Victoria schluckte, als sie sich daran erinnerte, wie sie diese Ermahnung ihrer Mutter einmal nicht befolgt hatte und beinahe Opfer einer Braunschlange geworden wäre.

Mit den Händen voller Gemüse kehrte Victoria in die Küche zurück. Draußen hörte sie die Hündin heulen. Schnell legte Victoria das Gemüse ab, um hinauszueilen. Cookie saß vor dem Haus und jaulte, bis sie Victoria sah. Dann legte die Hündin sich hin, anscheinend zufrieden.

„Was ist das?“ Catherine war auf die Veranda getreten. Ihr rotes Haar leuchtete in der Sonne wie geschmolzenes Kupfer. „Wo kommt der Hund her?“

„Es ist eine Hündin. Billy hat sie mir geschenkt.“

„Billy? Warum hat er sich nicht von mir verabschiedet?“ Catherine schob die Unterlippe schmollend vor. „Und warum schenkt er dir einen Hund? Vater wird nicht erlauben, dass du ihn behältst.“

„Sie. Sie heißt Cookie.“

„Egal, wie sie heißt. Du kennst Vater.“

Victoria seufzte und musste Catherine recht geben. Sie kannte ihren Vater nur zu gut und wusste, dass Joseph Wagner Tiere nur dann auf der Farm duldete, wenn sie sich ihren Unterhalt verdienten. Die halbwilden Katzen, die in der Scheune lebten, mussten Mäuse und Ratten fangen. Sonst wurden sie verjagt oder – wie Victoria dachte – schlimmer noch: erschossen. Pferde dienten als Reittiere und Hunde mussten Hütehunde oder Wachhunde sein, um eine Berechtigung zu haben, auf Amber’s Joy zu leben. Hütehunde brauchten sie nicht, weil ihr Vater sich gegen die Schafzucht entschieden hatte. Und ob Cookie als Wachhund taugte, würde sich erweisen müssen.

 

Den ganzen Nachmittag hatte Victoria immer wieder Ausschau gehalten, ob ihr Vater von den Zuckerrohrfeldern zurückkehrte. Im Kopf war sie die Konfrontation mit ihm schon mehrmals durchgegangen, hatte sich überlegt, was sie sagen wollte und war sich beinahe sicher gewesen, dass sie ihn überzeugen konnte.

Als die unverkennbare Gestalt von Joseph Wagner auf seinem dunkelgrauen Wallach jedoch langsam auf die Farm zugeritten kam, verlor Victoria auf einmal die Zuversicht. War Cookie es wirklich wert, sich ihrem Vater entgegenzustellen? Schließlich war sie nur ein Hund.

Ein Hund, den ihr Billy geschenkt hatte, den er ihr anvertraut hatte. Für die Hündin würde Victoria kämpfen, wenn sie es schon nicht für Billy getan hatte. Sie straffte den Rücken und wartete.

Zu ihrer Überraschung entdeckte sie einen weiteren Reiter neben ihrem Vater. Joseph war mit dem zweiten Mann in ein Gespräch vertieft und Victoria meinte, ihn lachen zu sehen. Das konnte nicht sein. Wann hatte sie ihren Vater das letzte Mal fröhlich gesehen. Selbst gestern, als alle Männer sich über die Witze von Luke Faulkner amüsiert hatten, hatte Joseph am Kopfende des Tisches gesessen und alles mit unbeweglicher Miene verfolgt.

Doch als die Reiter näher kamen, erkannte Victoria, dass sie sich nicht geirrt hatte. Ihr Vater schüttelte den Kopf und grinste breit über etwas, was Luke Faulkner zu ihm gesagt hatte. Wo immer auch der neue Arbeiter herkam, wenn er ihren Vater zum Lachen brachte, konnte er gerne bleiben. Victoria hatte ihren Gedanken nicht zu Ende gedacht, als Cookie laut bellend auf die beiden Männer zustürmte. Deren Pferde scheuten und buckelten, so dass die Reiter alle Hände voll zu tun hatten, nicht abgeworfen zu werden.

Oh nein, das war schlimmer als alles, was sie sich vorstellen konnte. Victoria schürzte ihren Rock und lief der Hündin nach.

„Nein, Cookie! Aus!“, rief sie mit voller Kraft, aber die Hündin tanzte weiter um Pferde und Reiter und knurrte sogar. „Hierher, Cookie. Sofort!“

Etwas in Victorias Stimme schien der Hündin wohl deutlich zu machen, dass sie besser gehorchen sollte. Mit einem letzten Knurren, bei dem sie die Zähne fletschte, besann sich die Hündin und lief zu Victoria. Cookie setzte sich neben ihre Herrin; jedoch ließ sie Joseph und Luke nicht aus den Augen.

„Was soll das? Was macht der Köter hier?“ Josephs Stimme überschlug sich vor Zorn. „Auf meinem eigenen Grund und Boden muss ich mich von so einem Vieh anknurren lassen.“

„Entschuldigung.“ Victoria wünschte sich, dass sie weniger kleinlaut und ängstlich klingen würde, aber es gelang ihr nicht, ihrem Vater die Stirn zu bieten. „Ich …, es tut mir leid.“

„Du solltest den Hund behalten“, sagte Luke, dessen Rappstute nervös tänzelte und schnaubte. „Es ist ein guter Wächter, das musst du zugeben.“

Luke zwinkerte Victoria zu, die ihn dankbar anlächelte.

„Wir brauchen keinen Wachhund“, beharrte Joseph, wobei er Cookie mit sichtlichem Misstrauen musterte. „Vor allem nicht so einen bunten Kläffer. Das Vieh sieht eher wie ein Känguru aus als wie ein Köter.“

„Sie heißt Cookie“, flüsterte Victoria.

Ihr Vater stieß ein Schnauben aus und schüttelte den Kopf.

„Ist das überhaupt ein Hund?“, stieß er hämisch hervor. „Oder eine Kreuzung aus Dingo und Wallaby?“

„Sie ist ein Blue Heeler.“ Victoria lächelte ihren Vater bittend an. Alle sorgsam ausgedachten Sätze waren verschwunden wie ein Wombat bei Tagesanbruch. „Ein Hütehund. Und aufpassen kann sie auch.“

„Du bist jetzt immer auf den Feldern. Victoria und ich sind hier allein.“ Catherine war so leise nähergekommen, dass sie Victoria überraschte. „Da ist ein Hund gut.“

„Sie hat recht“, mischte sich Luke wieder ein. „Gerade in der Erntezeit sind dunkle Gestalten unterwegs.“

„So wie du!“ Joseph versetzte dem anderen Mann einen spielerischen Hieb auf den Oberarm. Überrascht blinzelte Victoria mit den Augen. So heiter hatte sie ihren Vater lange nicht mehr erlebt. „Ich sehe schon, ihr habt euch gegen mich verschworen. Also gut, der Köter kann bleiben. Aber nur, wenn er gut arbeitet.“

Kapitel 5

 

Hannover 2016

 

Die Arbeit wollte kein Ende nehmen. Franziska versuchte, die Müdigkeit wegzublinzeln, aber ihre Augen brannten vom Starren auf den Bildschirm ihres Netbooks. Ihr Nacken schmerzte und sie drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, um die verspannten Muskeln zu lockern. Halte durch, sind doch nur noch ein paar Tage, dann kannst du wieder anfangen zu leben, versuchte sie sich zu motivieren.

Sie schaute auf die drei Fotos, die sie als Motivator an der Wand gegenüber ihres Schreibtischs angebracht hatte. Ihre Eltern, vor zwanzig Jahren oder so, einen Rucksack auf dem Rücken, die Haare vom Wind zerzaust, lächelten in die Kamera. Noch immer schmerzte es, sie zu sehen. So jung, so glücklich …

Als Franziska bemerkte, wie ihr die Tränen kamen, schaute sie das nächste Bild an. Julian beim Beach-Volleyball. Das beste Foto, das sie von ihm jemals geschossen hatte. Sie hatte auf den Auslöser gedrückt, als ihr Freund einen Hechtsprung machte.

Und schließlich Franziskas Lieblingsbild, das Julian vor ein paar Wochen von ihr und Alina geknipst hatte. Mit seinem neuen Smartphone, auf das er so stolz war. Obwohl es noch kühl gewesen war, hatten Alina und sie die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings genutzt, um ihren Cappuccino im Freien zu trinken. Sie hielten die Köpfe zusammengesteckt und lächelten breit in die Kamera.

Manchmal hielten die Leute sie und ihre Schwester für Zwillinge. Wenn Franziska und Alina lachend verneinten, meinten die meisten, dass Alina auf jeden Fall die Ältere wäre, was diese immer wieder verärgerte. Franziska erklärte sich diese Fehleinschätzung damit, dass Alina sich schminkte und deutlich mehr auf ihr Äußeres achtete als sie. Für sie selbst musste alles möglichst praktisch sein. Da sie es hasste, morgens früh aufzustehen, trug sie ihre mittelblonden Haare kurz. So musste sie sich am Morgen nicht lange mit Haarewaschen oder gar Föhnen aufhalten. Waschen, mit dem Handtuch antrocknen und in der Luft trocknen lassen. Fertig.

Ihre Morgenmuffligkeit führte auch dazu, dass Franziska sich nicht schminkte. Jede Minute, die sie im Bett verbringen konnte, war ein Gewinn. Der Preis dafür war, dass sie neben Alina immer etwas blass wirkte. Alina trug ihre Haare lang mit Strähnchen, so dass sie in der Sonne leuchteten. Im Unterschied zu Franziskas graublauen Augen waren die von Alina tiefblau, was sie durch den geschickten Einsatz von Mascara und Lidschatten betonte.

Gemeinsam waren ihnen die hohen Wangenknochen, die schmalen Nasen und die Grübchen am Kinn, was ihnen trotz aller Unterschiede eine verblüffende Ähnlichkeit verlieh.

„Wenn du dir nur ein bisschen Mühe geben würdest, könntest du echt was aus dir machen“, sagte Alina manchmal, obwohl sie wusste, dass sie bei ihrer Schwester damit auf taube Ohren stieß.

Ein schlechtes Gewissen überfiel Franziska, weil sie ihre Schwester und ihren Freund in den vergangenen Wochen vernachlässigt hatte. Alles wegen der Prüfung, die vor ihr lag. Franziska hatte so etwas wie ein Déjà-vu. „Es gibt Wichtigeres als das Abitur“, hatte ihre Mutter vor vier Jahren zu ihr gesagt. Damals hatte sie es nicht glauben können, nur um kurz darauf schmerzhaft zu erfahren, wie viel Wahrheit in den Worten ihrer Mutter lag.

Nur wenige Tage danach waren ihre Eltern tödlich verunglückt, was Franziska völlig aus der Bahn geworfen hatte. Ihr Abitur hatte sie ein Jahr später gemacht, mit deutlich schlechteren Noten als erwartet. Aber ihre Pläne existierten da bereits nicht mehr. Den Gedanken an das Geschichtsstudium hatte sie aufgeben müssen und stattdessen eine Ausbildung bei der Stadt begonnen. Sicherheit stand im Vordergrund. Nun musste sie nur noch die Prüfungen bestehen und befände sich auf dem Weg zur Beamtin. Ist es wirklich das, was du dir wünschst, fragte sie sich ab und zu, um sich selbst zu antworten, dass ihre Wünsche sich der Wirklichkeit beugen mussten.

Franziska gähnte. Heute würde sie nichts mehr reißen können. Julian war schon vor einer Stunde gekommen und wartete sicher im Wohnzimmer vor dem Fernseher auf sie. Sie würde ihn überraschen, überlegte sich Franziska, und für ihn und Alina etwas kochen. Das hatte sie so lange nicht mehr gemacht. Heute war ein guter Tag, um ihrem Freund und ihrer Schwester zu zeigen, wie viel sie ihr bedeuteten. Franziska lächelte, stand auf und ging über den Flur zum Zimmer ihrer Schwester.

 

„Alina?“ Franziska hatte die Tür geöffnet und prallte nun zurück, als ob ihr jemand unerwartet eine kräftige Ohrfeige versetzt hätte. Erschreckt fuhren Alina und Julian auseinander. Wie Kinder, die man mit den Fingern in der Keksdose ertappt hatte, saßen sie nebeneinander auf Alinas Bett, die Gesichter rot. Ob das vom Knutschen kam oder vom schlechten Gewissen, konnte Franziska nicht erkennen. Sie stand wie erstarrt. Es kam ihr vor, als ob es Minuten dauerte, bis ihr Gehirn endlich die Information verarbeitete.

Franziska hätte sich ohrfeigen können, als sie die beiden vor sich sah. Alinas blonde Locken, so zerzaust, als ob jemand sie mit seinen Händen durchwühlt hätte. Julian, in dessen Mundwinkeln sich das Pink von Alinas Lippenstift verwischt zeigte. Selbst wenn sie sich nicht gerade geküsst hätten, ihre Affäre war unübersehbar. Wie konnten die beiden ihr das nur antun? Gerade jetzt?! Dem ersten Schock folgte die Empörung, dass Alina und Julian nicht einmal den Anstand besessen hatten, sich woanders zu treffen. In ihrem Haus, unter ihren Augen hatten ihre Schwester und ihr Freund eine Affäre miteinander begonnen. Schlimmer und deprimierender ging es kaum.

„Franziska“, sagte Alina kleinlaut und rückte eilig von Julian weg. Wie üblich begriff ihre Schwester die Situation sofort. Julian hingegen saß da, die Unterlippe leicht hängend, und schien immer noch nicht fassen zu können, dass er erwischt worden war.

„Franziska“, wiederholte Alina, während sie mit einer fließenden Bewegung aufstand. Sie trat einen Schritt auf Franziska zu, als wollte sie ihre Schwester berühren, aber blieb dann stehen und senkte den Blick. „Also … es tut mir …, ich weiß nicht …“

„Sag nichts.“ Franziska hob abwehrend eine Hand. Sie atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Zu viele Empfindungen stürmten auf sie ein und kämpften um die Oberhand. Entsetzen. Zorn. Trauer. Hass. Wut auf sich selbst. Der Wunsch, jemanden zu schlagen. „Sag jetzt bloß nichts.“

„Franzi.“ Endlich hatte wohl auch Julian kapiert, was geschehen war, und stand auf. Mit einem dummen Grinsen, das er anscheinend für entschuldigend hielt, stellte er sich neben Alina, griff nach deren Hand. Wie konnte er es nur wagen, die Hand ihrer Schwester anzufassen und dabei den breiten Silberring zu tragen, den Franziska ihm geschenkt hatte? „Franzi. Wir … wir wollten das nicht. Aber … du … also du … du hattest ja nie Zeit.“

Franziska starrte ihn nur fassungslos an. Starrte in seine blauen Augen, die so unschuldig wirkten. Meinte er wirklich, dass damit alles erklärt und entschuldigt wäre? Sie drehte sich um und ging. Zurück in die Sicherheit ihres Zimmers. Nachdem sie die Tür hinter sich zugeknallt hatte, rang Franziska nach Atem. Ihr Herz raste, als wäre sie einen Marathon gelaufen. Glühendheiß zog Hass in ihr auf. Hass auf ihre Schwester.

Alina! Hatte sie überhaupt kein Gewissen? Wenn schon nicht aus Liebe zu ihr, dann hätte Alina sich wenigstens aus Dankbarkeit zurückhalten müssen. Schließlich hatte Franziska sich in den letzten Jahren um alles gekümmert, hatte dafür gesorgt, dass Alina so weiterleben konnte, wie sie es gewohnt war. Selbst das Geschichtsstudium hatte Franziska zurückgestellt, damit Alina ihr Abitur machen konnte. Das war der Dank dafür! Die Enttäuschung fühlte sich an wie ein Tiefschlag in den Magen. Nein, es fühlte sich an wie ein Messer ins Herz.

Da klopfte es. Bevor Franziska etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür und Alina kam herein. Langsam, zögernd. Franziska ballte die Hände zu Fäusten.

„Warum?“, flüsterte sie. Ihre Stimme zitterte, aber sie würde nicht weinen. Nicht vor ihrer Schwester, die sie so übel verraten hatten. „Warum hast du mir das angetan?“

Zu ihrer Überraschung spürte sie ein hysterisches Kichern in sich aufsteigen, weil die ganze Situation sie an einen schlechten Film erinnerte. An eine melodramatische Szene aus einer Telenovela. Heldin entdeckt Betrug des Geliebten. Wenn sie solche Geschichten im Fernsehen gesehen hatte, hatte Franziska sich oft darüber lustig gemacht, wie übertrieben die Heldinnen handelten. Wenn sie auch nur ansatzweise geahnt hätte, wie bitter es sich anfühlte, betrogen zu werden, hätte sie mehr Mitgefühl mit den tragischen Heldinnen aufgebracht.

Hinter Alina stand Julian, so als wagte er es nicht, Franziskas Zimmer zu betreten. Das Zimmer, in dem sie einander geliebt hatten. Sauer stieg Magensaft in Franziskas Mund. Sie schluckte.

„Franzi“, begann Julian, doch eine Handbewegung von Franziska ließ ihn schweigen. Er prallte sogar einen Schritt zurück, wie sie mit Genugtuung bemerkte. Sollte er sich ruhig vor ihr fürchten. Das war ja wohl das Mindeste. Außerdem hatte sie die Verkürzung ihres Namens nie leiden können.

„Mit dir rede ich nicht. Ich will eine Antwort von meiner Schwester“, zischte sie. Wut überkam sie und sie hätte ihm gerne die attraktiven Gesichtszüge zerkratzt oder – besser noch – den Lack seines geliebten BMWs mit einem Schlüssel bearbeitet. „Verschwinde! Lass uns allein.“

Julian und Alina wechselten einen Blick. Alina nickte ihm zu. Franziska biss sich auf die Innenseite der Wange, um einen anderen Schmerz als den des Verrats zu spüren. Der Gedanke daran, dass sie noch vorgestern mit Julian geschlafen hatte, löste Übelkeit in ihr aus. Franziska spürte erneut ihren Mageninhalt aufsteigen. Sie fröstelte und Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen.

Hatte es Alina nichts ausgemacht, dass Julian mit Franziska geschlafen hatte? Bisher hatte Franziska geglaubt, ihre jüngere Schwester fast so gut zu kennen wie sich selbst. Alles nur eine Illusion. Rauch und Spiegel wie bei einem Bühnenzauberer.

„Ich koch uns einen Tee“, murmelte Julian. Immerhin rang er sich erneut so etwas wie ein entschuldigendes Lächeln ab.

„Nein!“, sagte Franziska mit scharfer Stimme. Julian blieb stehen, als ob sie ihn geschlagen hätte, und glotzte sie großäugig an. In den zwei Jahren ihrer Beziehung hatte sie noch nie in diesem Ton mit ihm gesprochen. Sie genoss seinen erstaunten Ausdruck. „Du verschwindest. Sofort.“

„Es ist auch mein Haus“, wagte Alina zu protestieren, bis Franziska ihr einen wütenden Blick zuwarf. Kleinlaut fügte sie hinzu: „Das kannst du doch nicht machen.“

„Julian, hau ab“, presste Franziska hervor. „Sofort.“

„Also dann.“ Einen Moment sah es so aus, als ob Julian Alina einen Abschiedskuss geben wollte, aber ausnahmsweise setzte wohl sein Verstand ein. „Tschüß erstmal.“

Franziska sah ihm nach und seufzte leise. „Ich versteh dich nicht. Beim besten Willen nicht. Erklär’s mir.“

„Also … ich …, es tut mir leid, ehrlich.“ Alina setzte sich wieder aufs Bett. Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zupfte sie die Nagelhaut des linken Daumens ab. „Es ist einfach passiert. Weil du nie Zeit hattest …“

Alina hob den Kopf und schaute Franziska mit ihrem unschuldigen Hundebaby-Blick an, einem Blick, den Alina seit frühester Kindheit draufhatte und mit dem sie sich oft durchsetzen konnte. Aber heute nicht. Heute musste Alina endlich einmal lernen, dass Handeln Konsequenzen hatte.

„Ach, und da haben Julian und du gedacht, statt zusammen ins Kino zu gehen, könnt ihr auch gemeinsam im Bett landen, oder was?“ Franziska erschrak selbst vor dem Sarkasmus in ihrer Stimme, aber nach dem ersten Zorn fühlte sie sich jetzt innerlich wie tot. Nur ein Gedanke beherrschte sie noch. Sie wollte Alina und Julian so sehr verletzen, wie die beiden ihr wehgetan hatten. Aus der Sache würde Alina sich nicht mit ein bisschen Wimpernklimpern und gestotterten Entschuldigungen herauswinden können. „Von dir hätte ich mehr erwartet. Niemals … niemals so einen Verrat.“

„Was soll ich sagen?“ Alina schaute Franziska direkt an. Sie zog einen Teil der Unterlippe zwischen den Zähnen durch, wieder und wieder, was Franziska fasziniert beobachtete. „Ich fand Julian immer schon toll und als er mich dann geküsst hat – “

„Hör auf!“ Zorn verdrängte die Dumpfheit, die eben noch Franziskas Gedanken und Gefühle beherrscht hatte. Dunkler, rasender, wütender, verletzenwollender Zorn. „Ich will das nicht hören …“

Sie wollte nur eins: Ruhe vor den beiden, die sie so übel hintergangen hatten. Julian hatte sie wegschicken können, aber Alina … Alina und sie hatten das Haus gemeinsam geerbt. Wo sollte ihre Schwester hingehen? Jetzt, kurz vor dem Abitur? Selbst wenn Alina die Prüfungen nicht so ernst nahm wie Franziska, würde sie es niemals übers Herz bringen, ihre Schwester mitten im Abi vor die Tür zu setzen.

„Zissa“, flüsterte Alina den Kosenamen, den sie ihr als Kind gegeben hatte. „Zissa, bitte. Es tut mir so leid. Bestimmt der Abi-Stress.“

Als ob nur sie Prüfungen hätte. In einer Woche hatte Franziska ihre Abschlussprüfung. Wo sollte sie die Kraft und Energie hernehmen, sich auf die Fragen zu konzentrieren? Schlimmer noch, wollte sie die Prüfung überhaupt noch machen? Alle Pläne, die sie für ihre Zukunft geschmiedet hatte, lagen vor ihr, zerschmettert wie der Spiegel, mit dem die Schneekönigin Kälte in die Welt gebracht hatte.

Franziska holte tief Luft. Nach dem ersten Zorn spürte sie nur noch Trauer und Enttäuschung. Und den Wunsch, wegzulaufen. Sie wollte keine Minute länger mit ihrer Schwester verbringen. „Kannst du heute irgendwo anders übernachten? … Bitte.“

„Franziska, bitte …“ Irgendetwas in Franziskas Gesicht musste Alina sagen, dass es klüger war, nicht weiter zu argumentieren. „Okay, ich schlaf heute bei Johanna. Aber … morgen reden wir, ja?“

Franziska antwortete mit einem Nicken. Wut und Enttäuschung schnürten ihr die Kehle zu. Sie hatte einfach keine Lust, mit Alina zu reden. Nicht einmal, mit ihrer Schwester zu streiten oder sie anzuschreien.

Sie wünschte sich nur, allein zu sein. Am liebsten wollte sie weder Alina noch Julian jemals wiedersehen. Sie wollte flüchten, so weit weg, wie es nur möglich war. Ans andere Ende der Welt oder sogar darüber hinaus.

Kapitel 6

 

Hannover, 2016

 

Alina,

Du hast mir immer vorgeworfen, dass ich nicht spontan sein könnte.

Ich habe immer gedacht, dass ich dir etwas bedeute.

Tja, da haben wir uns wohl beide getäuscht.

 

Franziska legte den Füller zur Seite und kicherte. Es klang hysterisch, wie sie selbst zugeben musste. Spontan war ein Euphemismus für ihre Aktion. Sie hatte eine halbe Stunde geheult, vor Wut ein paar Tassen zerschlagen und das zerbrochene Geschirr dann aufgefegt. Zur Krönung hatte sie sich beim Aufräumen geschnitten, was zu einer erneuten Heulattacke geführt hatte.

Nach dem Wutausbruch hatte sie sich vor das Notebook gesetzt und alle Möglichkeiten, die ihr einfielen, aufgelistet und bewertet. Egal, wie sie es drehte und wendete, es blieben nur zwei Optionen übrig.

Nummer 1: sich mit Alina arrangieren und gemeinsam hier weiterleben. Die Prüfung machen und hoffen, dass Wut und Enttäuschung irgendwie und irgendwann verschwinden würden. Bei dem Gedanken daran hatte Franziska das Gefühl gehabt, gleich kotzen zu müssen.

Also Möglichkeit 2: abhauen. Einfach abhauen. Alles hinwerfen. Die Prüfung. Das Haus. Die Zukunftspläne.

Erst hatte Franziska diese Option als vollkommen verrückt streichen wollen, aber je länger sie mit brennenden Augen auf den Bildschirm gestarrt hatte, desto vernünftiger schien ihr die Idee. Dann hatte sie sich an das Gespräch mit ihrer Mutter vor vier Jahren erinnert. Eine gemeinsame Reise nach Australien … Langsam hatte sich aus dem Einfall ein Plan entwickelt.

Ich lasse das Leben entscheiden, sagte Franziska sich. Sie würde in den Unterlagen ihrer Mutter nach dem Brief suchen. Wenn sie ihn fände, würde sie fliegen. Wenn sie ihn nicht fände, …

Nach kurzem Suchen hielt sie den Brief in der Hand. Franziskas Herz schlug schneller. Sie schwankte zwischen Freude darüber, diesen Ausweg entdeckt zu haben, und Sorge, dieses Abenteuer zu riskieren. Jetzt oder nie!

Kurzentschlossen recherchierte sie im Internet nach einem Flug und stellte fest, dass sie schon morgen Nacht fliegen könnte. Sicherheitshalber googelte sie, ob sie ein Visum oder eine Impfung benötigte. Auch hier schien das Schicksal ihr sagen zu wollen, dass dieser Weg der richtige war. Sie brauchte ein Visum, das sie einfach online beantragen konnte. Recherche und Dateneingabe lenkten Franziska von jedem Gedanken an Julian und Alina ab. Nach kurzem Überlegen entschied sie sich dafür, nicht morgen schon zu fliegen, sondern erst in drei Tagen. Online reservierte sie ein Hotel in der Nähe des Flughafens und packte ihre Sachen.

„Bin ich irre?“, sagte Franziska laut zu sich selbst, während sie T-Shirts, Unterwäsche und Jeans in den Koffer legte. „Ich weiß ja nicht einmal, wie lange ich bleiben will. Ich weiß nicht, was ich dort tun will. Was mache ich, wenn ich nach zwei Tagen merke, dass meine Idee völlig idiotisch ist?“

Sie rieb sich mit der Hand den Nacken und setzte sich aufs Bett. Ja, die Reise war ein schräger Entschluss, aber die Alternative raubte ihr die Luft. Beim besten Willen wusste sie nicht, wie sie Alina oder Julian gegenübertreten sollte. Auf keinen Fall wollte sie einen der beiden in nächster Zeit sehen. Noch viel weniger wollte sie irgendwelche gestammelten Entschuldigungen hören. Aber am schlimmsten war die Vorstellung, ihre Schwester und ihren Ex-Freund als glückliches Paar um sich haben zu müssen. Franziska kämpfte gegen aufkommenden Brechreiz an.

Julian – sein Betrug würde noch eine Weile schmerzen, aber irgendwann wäre er ihr egal. Nach zwei Jahren Beziehung war die große Liebe verblasst, und wenn sie ehrlich zu sich war, hatte sie in den letzten Wochen schon überlegt, ob Julian wirklich der Mann war, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Inzwischen fragte sie sich, was ihr je an ihm gefallen hatte.

Sicher, er sah auf eine jungenhafte Art gut aus, so wie Liam Hemsworth, aber außer seinem Sport interessierte ihn nicht viel. Wenn sie ehrlich war, musste sich Franziska eingestehen, dass es ihr geschmeichelt hatte, dass Julian, der Mädchenschwarm, sich ausgerechnet für sie interessiert hatte. Außerdem war er in ihrer Beziehung sehr – beinahe war es ihr peinlich, so etwas zu denken – pflegeleicht gewesen. Julian war nie beleidigt, wenn sie lange arbeitete. Niemals hatte er erwartet, dass sie intensive Beziehungsgespräche mit ihm führte. Sex, essen, Abende vor dem Fernseher und viel Zeit im Fitnessstudio – so sah das ideale Leben für Julian aus. Viel mehr wollte Franziska auch nicht geben. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie sich innerlich wie tot gefühlt und gefürchtet, nie mehr jemanden lieben zu können, einfach, weil der Schmerz so entsetzlich groß gewesen war. Die Beziehung zu Julian war – in Franziskas Augen – der ideale Kompromiss gewesen: ein Mann an ihrer Seite, der nicht sehr viele Ansprüche an sie stellte.

Aber Alina! Ihre Schwester. Franziska rieb sich die schmerzenden Augenlider. Schon als sie Kinder waren, hatte Franziska Alina stets beschützt und ihr mehr als einmal geholfen, dass die Eltern nichts von dem Mist bemerkten, den Alina mit ihrer impulsiven Art verursacht hatte. Wenn sie so darüber nachdachte … Franziska stieß ein wütendes Schnauben aus. Auch die Affäre mit Julian war typisch Alina. Erst handeln und dann denken.

Nein, damit machte sie es Alina und sich zu leicht. Selbst jemand, der so impulsiv und spontan handelte wie ihre Schwester, sollte ein paar Grenzen kennen und hätte sich überlegen können, was für Konsequenzen ihr Handeln hatte. Das schmerzte am meisten. Franziska hatte immer geglaubt, dass es zwischen ihnen beiden eine ganz besondere Verbindung gäbe, etwas, das niemand zerstören könnte. Auf jeden Fall brauchte sie Abstand zu ihrer Schwester. Je weiter, desto besser. Aber dennoch brachte sie es nicht über sich, ohne ein Wort zu gehen. Am besten kurz, ohne Emotionen hatte sie sich vorgenommen und deshalb bereits vier Entwürfe in den Papierkorb gepfeffert, weil der Zorn mit ihr durchgegangen war. Meine Güte, so schwer sollte es doch nicht sein. Franziska stand auf und warf weitere Klamotten in den Koffer. Zum Schluss nahm sie das Foto ihrer Eltern von der Wand und zog das Bild aus dem Rahmen. Sie legte es mit dem vier Jahre alten Brief in ein Buch, damit beides nicht knickte.

Nach kurzem Überlegen jedoch erschienen ihr Brief und Bild zu kostbar, um sie im Koffer zu verstauen. Schließlich hörte man immer wieder, dass Gepäck verloren ging. Also nahm Franziska das Buch heraus und legte es auf den Stapel fürs Handgepäck. Jetzt blieb ihr nur noch eins zu tun übrig.

Sie setzte sich wieder an den Schreibtisch und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Mit einem Lächeln las sie die beiden Sätze, die sie bisher geschrieben hatte. Nein, so ging es nicht. Abstand. Reise. Rückkehr ungewiss, schrieb sie als Stichworte auf einen Zettel. Mehr musste sie Alina nicht schreiben.

 

Alina,

brauche Abstand und verreise auf unbestimmte Zeit.

 

Oh weia, das klang wie ein schlechter Spionagefilm oder wie eine enttäuschte Ehefrau. Na ja, ein bisschen war da schon dran, oder? Letzter Versuch und sie würde den Text so lassen, wie er war.

 

Alina,

habe mich entschlossen, kurzfristig zu verreisen. Weiß noch nicht, wann ich zurückkomme. Melde mich zwischendurch.

Franziska

 

Nur weg von hier. So schnell wie möglich.

Was musste sie noch erledigen, bevor sie das Haus verließ? Eine Mail an ihren Chef mit einem vorgeschobenen Grund für ihre Reise und den Abbruch der Prüfung, eine weitere an ihre beste Freundin Carolin, die vor drei Monaten nach Schottland gegangen war, um dort zu studieren. Warum besuche ich nicht Caro?, überlegte Franziska. Ihre Freundin würde sie mit offenen Armen aufnehmen und hätte sicher ein Ohr für Franziskas Probleme. Caro würde alle Einzelheiten erfahren wollen und alles gemeinsam mit ihr von vorn bis hinten durchhecheln. Franziskas Kehle schnürte sich zu. Nein, so sehr sie Caro auch mochte, Schock und Schmerz saßen tief.

„So what!“ Franziska stieß den Atem aus und nahm ihr Smartphone, um eine kurze Nachricht zu tippen. Sie machte sich wieder viel zu viele Sorgen. Wenn es ihr überhaupt nicht gefiel, konnte sie immer noch ein Flugticket zurück kaufen. Aber einen Versuch war es wert, oder?

 

Caro, Süße,

Du wirst es nicht glauben, aber ich habe meinen Job hingeschmissen, lasse die Prüfung sausen und fahre gleich zur Bahn. In drei Tagen fliege ich ans andere Ende der Welt und schaue mal, wie es dort aussieht.

Näheres in ein paar Tagen. Muss packen.

Umarmung und liebe Grüße

Franziska

 

Nicht einmal fünf Minuten später pingte es zum Zeichen, dass eine WhatsApp-Nachricht eingegangen war.

 

Was ist passiert????!!!

MUSS ich mir Sorgen machen????

Will alles hören!!

BALD!!!!!

Pass auf Dich auf!

Umarmung

C.

 

Franziska tippte eine schnelle Antwort und legte das Smartphone zur Seite. Sie hatte schließlich noch drei Tage Zeit, ihrer Freundin alles per Mail oder WhatsApp zu erklären. Aber jetzt musste sie zum Zug, damit sie heute noch die Stadt verlassen konnte. Insgeheim fürchtete sie, dass ihr Mut oder ihr Zorn sie verlassen würden, wenn sie noch länger zu Hause bliebe. Franziska schluckte trocken. Ihr Zuhause fühlte sich nicht mehr wie ihr Zuhause an.

Ja, sie musste hier weg. Sofort. Wenn sie noch länger bliebe, könnte sie nicht garantieren, dass sie ihrer Wut nicht nachgab und Alinas Zimmer verwüstete. Das Zimmer, das ihre Mutter so liebevoll eingerichtet hatte. Nein, das durfte sie auf keinen Fall tun.

Franziska bestellte sich ein Taxi, packte das Handgepäck, griff sich den Koffer und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Auf in ein Abenteuer, das ihr Leben völlig auf den Kopf stellen könnte. Sie ahnte nicht, wie richtig sie mit dieser Einschätzung lag.

Kapitel 7

 

Brisbane, Australien 2016

 

Die Innenflächen von Franziskas Händen fühlten sich schweißfeucht an, wenn sie den Gedanken daran zuließ, dass sie in mehreren tausend Metern Höhe in einem Stahlding eingeschlossen war, über das sie keinerlei Kontrolle hatte. Es war so lange her, dass sie geflogen war, dass sie ganz vergessen hatte, wie wenig es ihr gefiel. Vor allem, wenn es so entsetzlich viele Stunden dauerte, bis man von einem Land zum anderen kam. Warum musste es gleich Australien sein? Viel vernünftiger wäre es gewesen, Caro in Schottland zu besuchen. Die Reise wäre kürzer gewesen, die Landschaft vertrauter und die Tier- und Pflanzenwelt viel menschenfreundlicher.

Erneut versuchte Franziska sich auf den Reiseführer zu konzentrieren, den sie am Hannoveraner Flughafen gekauft hatte, damit sie nicht völlig unvorbereitet in Brisbane ankäme. Bisher hatte sie den allgemeinen Kram gelesen: Geschichte des Landes, Besiedlung durch Sträflinge, Vertreibung der Aborigines, nur die Küsten besiedelt, das Landesinnere überwiegend todbringende Wüste. Nach diesem wenig erfreulichen Anfang kam ein Überblick über Flora und Fauna, der Franziska innehalten ließ. Dass Australien von giftigen und menschenfressenden Tieren bevölkert war, hatte sie gewusst, aber wie viele und vor allem was für welche es waren – das erschreckte sie nun doch.

Selbst in Brisbane, das leider nicht am Meer lag, gab es Haie. Menschenfressende Bullenhaie, die den Brisbane River als ihr Jagdrevier nutzten. Nicht eine Zehenspitze würde sie in den Fluss halten, schwor sich Franziska.

Giftige Spinnen, richtig fiesgiftige Schlangen, giftige Quallen, giftige Kröten und – kaum zu fassen – giftige Schnecken. Denk an eine Tierart, und in Australien gibt es sie in giftig, überlegte Franziska. Wer brauchte giftige Schnecken? Selbst das harmlos aussehende Schnabeltier war giftig. Und falls die Biester nicht giftig waren, dann gab es sie in XXXL. Im Bundesstaat Victoria, den sie bei ihren Reiseplänen auf jeden Fall ausschloss, gab es die so genannten Riesenwürmer, die bis zu vier Metern lang werden konnten. Vier Meter lange Würmer! Franziska lief ein Schauder über den Rücken, so dass sie sich schüttelte. Nachdem sie das Kapitel des Reiseführers gelesen hatte, hätte sie sich nicht gewundert, wenn auch Koalas und Kängurus Giftzähne oder Giftstacheln gehabt hätten.

Immerhin die Pflanzenwelt schien friedlicher gesinnt zu sein. Caro würde ausflippen bei der Vielfalt von Blumen, Gräsern, Sträuchern und Bäumen, die sich in Australien fanden; der größte Teil von ihnen kam nur dort vor. Gut, dass ihre beste Freundin nicht dabei war. Mit einem Kopfschütteln erinnerte Franziska sich an einen Urlaub auf Madeira, den Caro und sie zusammen verbracht hatten. Ihre Freundin war an jeder, wirklich jeder Pflanze stehen geblieben, um sie genau zu betrachten und Franziska dann alle Informationen darüber zu geben, ob sie es wissen wollte oder nicht.

Ach ja, als wären die gefährlichen Viecher nicht bereits schlimm genug, gab es da noch das australische Klima, das genau umgekehrt zu Deutschland war. Franziska flog aus dem deutschen Frühling in den australischen Herbst und Winter, der sich allerdings vollkommen anders darstellte als der deutsche Winter. Trockenheit und Wärme erwartete Franziska, obwohl es in Brisbane nachts bis auf 10 Grad abkühlen sollte. Es beruhigte sie etwas, dass der Reiseführer Brisbane die europäischste Stadt Australiens nannte. Dann wäre die Umstellung nicht so groß. Schlangen, Kröten, Krokodile und Haie ließen sich bestimmt vermeiden, wenn man in der Stadt blieb und nicht ins Outback fuhr oder im Fluss badete.

Ach was. Sie würde jetzt aufhören, nach den Schrecken und Gefahren des Landes zu suchen, und sich stattdessen auf das Abenteuer konzentrieren, das vor ihr lag. Außerdem war es ja nicht so, dass sie ohne Fallschirm und Rettungsleine die Reise angetreten hatte. In Brisbane wartete ein Zimmer auf sie; die Sprachschule war auch schon gebucht. Jetzt musste das Flugzeug nur noch sicher landen und alles würde gut.

„Studieren Sie in Down Under?“ Mit dieser Plattitüde begann der gefühlt siebzehnte Versuch ihres Sitznachbarn, ein Gespräch mit Franziska anzufangen. Immerhin hatte er sich ein „Kommen Sie öfter hierher?“ erspart. Seit dem Zwischenstop in Dubai saß er neben ihr und konnte einfach nicht akzeptieren, dass sie lieber ihr Buch lesen wollte, als sinnlosen Small Talk mit ihm zu führen. „Oder machen Sie Urlaub?“

„Ich besuche Verwandte.“ Franziska seufzte leicht. Sie war sich sicher, dass ihn auch diese knappe Antwort nicht bremsen würde. Den Trick hatte sie bereits zweimal erfolglos probiert.

„Mann, da beneide ich Sie aber.“ Der etwa Vierzigjährige in einem Outfit, das einem Globetrotter-Katalog entsprungen zu sein schien, beugte sich interessiert zu ihr rüber. „Das habe ich mir immer gewünscht. Eine Tante in Australien und einen Onkel in Amerika. Wo leben Ihre Verwandten denn?“

Oh verdammt. Da hatte sie ihm genau die falsche Antwort gegeben. Franziska überlegte einen Moment, ob sie ihm einen Bären aufbinden oder die Wahrheit sagen sollte und entschied sich für Möglichkeit drei. Einfach das Thema wechseln.

„Was machen Sie in Australien?“, fragte sie daher und hoffte, richtig damit zu liegen, dass der Mann gerne über sich reden wollte. „Wie lange wollen Sie bleiben?“

Sofort begann er, ihr von seinen Plänen zu berichten, auf den Spuren der – wie er es bemüht korrekt nannte – indigenen Australier einen Walkabout zu unternehmen. Franziska lächelte und steuerte in unregelmäßigen Abständen ein Nicken zur Unterhaltung bei oder streute „Ach ja“ oder „Wie interessant“ ein, während ihre Gedanken zu Alinas und Julians Betrug wanderten.

„Übel, Liebes, ganz übel“, hatte Caro ihr per Mail geantwortet, nachdem sich Franziska dazu durchgerungen hatte, ihrer besten Freundin das ganze Elend zu schildern. Ebenso wie ihren Entschluss, so weit wie möglich von ihrer verräterischen Schwester zu verschwinden. An Julian verschwendete Franziska kaum noch einen Gedanken. Wie hatte sie nur so lange mit jemandem zusammenleben können, für den Fußball mit Freunden sowieso an erster Stelle kam? Na, Alina würde bald merken, was für ein Herzchen sie sich da eingefangen hatte, dachte Franziska mit bitterer Genugtuung, während sie wieder einmal ein „Aha“ von sich gab.

Endlich setzte das Flugzeug zum Landeanflug an und Franziskas Sitznachbar konzentrierte sich darauf, zu erbleichen und mehrfach zu schlucken. Jetzt tat er Franziska beinahe leid, obwohl sie es genoss, endlich ihre Ruhe zu haben.

„Viel Erfolg und interessante Erfahrungen“, wünschte sie ihrem Sitznachbarn und sah zu, dass sie aus dem Flugzeug kam, bevor er ihr anbot, sich mit ihr ein Taxi in die Stadt zu teilen oder Adressen austauschen wollte.

Am Gepäckband stellte sie sich etwas abseits, hinter eine Säule, und wartete darauf, dass ihr bunter Koffer auftauchte, der unter den schwarzen Gepäckstücken hervorstechen würde. Ab und zu zogen knalligfarbige Behälter vorbei, in denen Franziska Surfbretter vermutete. Sie beobachtete, wie eine Truppe braungebrannter Frauen und Männer, deren Haare von Sonne und Meer gebleicht aussahen, nach den Surfbrettern griffen. Laut lachend und miteinander schwatzend gingen sie davon.

Einsamkeit schlug über Franziska zusammen wie eine dunkle Woge. Sie war nie besonders reiselustig gewesen und hatte sich stets darauf verlassen, dass ihre Eltern und später Julian die Organisation der Reise übernahmen. Allein war sie bisher nie unterwegs gewesen und hatte nicht erwartet, dass es ihr so viel ausmachen würde. Wie schön wäre es, wenn sie die ersten Eindrücke des Landes mit jemandem hätte teilen können. Aber es sollte eben nicht sein.

„Man wächst an seinen Herausforderungen“, murmelte sie und hoffte, dass niemand um sie herum deutsch verstand und ihre Worte als Aufforderung für ein Gespräch auffasste. Immerhin war sie organisiert genug gewesen, sich ein Zimmmer zu besorgen und im Internet herauszufinden, wie sie vom Flughafen in die Innenstadt kam.

Ein Taxi erschien ihr zu teuer, so dass sie sich für die Bahnverbindung, den Air Train, entschieden hatte. Das gab ihr auch gleich die Gelegenheit, etwas von der Stadt zu sehen, in der sie mindestens vier Wochen verbringen wollte. Wenn sie ehrlich war, wollte Franziska den Moment auch noch etwas hinauszögern, bis sie ihre Gastfamilie kennenlernte. Vor drei Tagen war es ihr als gute Idee erschienen, nicht einsam und allein in einem Hotelzimmer hocken zu müssen. Heute jedoch wäre sie lieber für sich gewesen und es graute ihr bei der Vorstellung, fröhlichen Small Talk mit Fremden in einer fremden Sprache machen zu müssen.

Endlich kam ihr Koffer. Pink und lila stach er zwischen den anderen, seriös wirkenden Rollkoffern heraus. Ein Geschenk von Alina – aber Franziska hatte sich keinen neuen Koffer kaufen wollen, so wütend und enttäuscht sie auch war. Vielleicht würde ihr Zorn ja weniger werden, wenn sie genügend Abstand zu ihrer Schwester hergestellt hatte. Kurz vor dem Abflug hatte Franziska ihr eine WhatsApp-Nachricht geschickt, in der sie mitteilte, dass sie nach Australien fliegen wollte. An Julian hatte Franziska eine SMS geschickt: Das war’s. Will dich weder sehen noch von dir hören.

Er hatte nicht einmal geantwortet, keine Entschuldigung kein Versuch, sie umzustimmen. Franziska lächelte grimmig. Hätte er ihr eine SMS geschickt, hätte sie ihm wütend geantwortet. Jetzt war sie zornig, weil er nicht geantwortet hatte. Das Rennen hatte Julian nicht gewinnen können, aber er hätte wenigstens so tun können, als ob er noch Gefühle für sie aufbrächte.

Na, toll. Wenn sie so weitermachte, würden die nächsten Wochen nicht die beste Zeit ihres Lebens werden, sondern das große Elend. Franziska schnappte sich ihren Koffer und zerrte ihn hinter sich her.

Auf keinen Fall! Auf gar keinen Fall würde sie sich von ihrer verräterischen Schwester und ihrem untreuen Ex-Freund das Leben und ihre Zeit in Down Under verderben lassen. Jetzt war Sonnenschein, Spaß und Surfen angesagt, auch wenn Franziska noch nie auf einem Brett gestanden hatte und bei dem Gedanken daran stets die Titelmelodie von „Der weiße Hai“ in ihrem Kopf erklang.

Sie folgte den Schildern bis zum Air Train-Bahnhof, vorbei an Geschäften und Duty-free-Shops. Flughäfen sahen fast überall gleich aus, was Franziskas Einsamkeit noch verstärkte. Sie musste schlucken und kämpfte mit Tränen. In ihrem Rucksack suchte sie nach der Sonnenbrille und setzte sie auf. Falls sie wirklich weinen musste, sollte das ja nicht jeder mitbekommen.

Endlich erreichte sie den Übergang zum Air Train und erhaschte einen ersten Blick auf den australischen Himmel. Im Internet hatte sie gelesen, dass der Himmel weit und grenzenlos wirkte, aber für sie sah er aus wie der Himmel über Deutschland. Etwas blauer und wolkenloser vielleicht. Glücklicherweise musste sie nicht lange auf den nächsten Zug warten und fand gleich einen Sitzplatz. Franziska lehnte die Stirn an die Scheibe und schaute hinaus, um einen ersten Eindruck vom Land zu gewinnen.

Zu ihrer Überraschung trug der Air Train seinen Namen nicht nur, weil er Flughafen und Stadt miteinander verband, sondern auch, weil er unglaublich hoch über der Erde entlangführte. Die Frau, die Franziska gegenübersaß, starrte geradeaus, wahrscheinlich, weil sie nicht in die Tiefe sehen wollte, die sich unter dem Zug erstreckte.

Franziska hingegen, die nicht unter Höhenangst litt, blickte aus dem Fenster, um so viel wie möglich von der Stadt zu sehen, der sie sich näherten. Sie spürte einen leichten Anflug von Enttäuschung. Obwohl sie so spontan und ungeplant nach Australien gereist war, hatte sie die Reise mit Erwartungen verbunden. Sicher war sie nicht so naiv, dass sie hüpfende Kängurus oder winkende Koalas zu sehen erhoffte, aber ihr erster Eindruck von Brisbane war der einer normalen Großstadt. Es hätte auch New York oder Frankfurt sein können mit den Hochhäusern, deren Spiegelfassaden im Licht der Sonne glitzerten. Breite Straßen durchzogen die Stadt. Immerhin fuhren die Autos auf der falschen Seite, so dass ein wenig Fremdheitsgefühl aufkam.

Franziska runzelte die Stirn. Vielleicht lag es ja an der Stadt. Vielleicht hätte sie nach Sydney oder Melbourne fliegen sollen oder nach Perth. Städte, die weiter im Süden lagen, oder nach Cairns, das im subtropischen Regenwaldgebiet lag. Oder vielleicht sahen alle Großstädte auf den ersten Blick gleich aus und es lohnte sich, sie mit einem zweiten und dritten Blick zu erkunden.

Bald jedoch erspähte Franziska Palmen und andere tropische Bäume, deren Namen sie nicht kannte und die sie noch nie vorher gesehen hatte. Ja, langsam gewann sie den Eindruck, nicht mehr in Deutschland zu sein. Lächelnd setzte sie sich auf. Mal sehen, was der Tag noch bringen würde.

Kapitel 8

 

Amber’s Joy, Australien 1897

 

Der Tag war unendlich lang gewesen. Immer noch meinte Catherine den Geruch der verbrannten Felder zu riechen. Die Mischung aus Rauch und schwerer Süße war so typisch für die Jahreszeit der Ernte. Catherine schüttelte den Kopf, als sie sich daran erinnerte, wie sie das erste Mal dabei zugesehen hatte, als die Cutter das Zuckerrohr abfackelten.

„Dad. Warum brennen die Männer unser Feld ab?“ Vor Aufregung hatte sie damals einen Schluckauf bekommen. „Kannst du ihnen das nicht verbieten?“

„Prinzessin.“ Joseph hatte sich zu ihr gebeugt und sie hochgehoben. „Das muss sein, damit die Ernte leichter möglich ist.“

„Ach so, weil der Zucker dann gleich gekocht ist.“

Die Männer hatten lauthals gelacht, nur ihr Vater hatte Catherine ernsthaft geantwortet. „Nein. Wir verbrennen die trockenen Blätter, damit das Zuckerrohr besser zu ernten ist.“

Liebevoll hatte er Catherine über das Haar gestrichen und sie ins Haus getragen. An diesen Vater erinnerte sich Catherine gern. Heute fragte sie sich manchmal, ob es wirklich eine Zeit gegeben hatte, wo Joseph nicht hart und herrisch gewesen war. Ein Vater, den man eher fürchtete als liebte. Ein Vater, der besser nichts von ihrem Geheimnis erfahren durfte.

Nervös strich sie sich mit ihren Fingern durchs Gesicht und starrte aus dem Fenster, auf der Suche nach dem Mann, den sie jeden Tag zu sehen hoffte.

Nach und nach machten sich die mit den hellgrünen Zuckerrohrstangen beladenen Wagen auf den Weg nach Marburg zur Zuckermühle. Die Pferde hatten geduldig am Rand des Feldes ausgeharrt und nur ab und zu den Kopf geschüttelt, um die frechsten Fliegen zu verjagen. Jetzt, wo sie sich endlich in Bewegung setzen durften, stampften sie mit den Hufen auf, wieherten und zogen die schweren Fuhrwerke mit erstaunlicher Leichtigkeit. Als sie Kinder waren, hatten Victoria und Catherine die Zuckerrohrwagen gern begleitet. Sie hatten entweder neben dem Wagenlenker gesessen und atemlos den Geschichten gelauscht, die er über Australien erzählte. Oder, fast spannender, sie hatten oben auf dem Zuckerrohr gethront und von dort aus gesehen, wie die Felder und Amber’s Joy am Horizont verschwanden. Jede von ihnen hatte eine Stange Zuckerrohr als Wegzehrung in der Hand gehabt.

Doch leider hatte Joseph ihnen diese Freude verboten, kurz nachdem ihre Mutter gestorben war. Nach Meinung ihres Vaters waren Catherine und Victoria zu alt geworden, um noch unbefangen mit den Cuttern zu sprechen. Und er brauchte sie als Arbeiterinnen in der Küche. Daher konnten die Mädchen nur auf der Veranda stehen und den davonziehenden Fuhrwerken sehnsuchtsvoll hinterherblicken.

So wie heute. Ein Lächeln glitt über Catherines Gesicht. Heute jedoch galt ihre Sehnsucht nicht einer Fahrt auf dem Zuckerrohrwagen, sondern dem einen Mann, dem es gelungen war, während der vergangenen Erntetage ihr Herz zu gewinnen. Versonnen schaute sie aus dem Fenster. Sie konnte es kaum erwarten, dass sich der Abend endlich näherte. Die Zeit, die Luke und ihr gehörte. Gestohlene Minuten, die sie vor ihrem Vater und auch vor ihrer Schwester geheimhalten musste. Niemals würde Joseph es dulden, dass seine Lieblingstochter etwas mit einem Cutter anfing, selbst wenn er den Arbeiter noch so sehr schätzte.

„Träumst du?“, hörte sie Victoria sagen.

Ertappt drehte Catherine sich um und musterte ihre ältere Schwester. Auf den ersten Blick war deren Aussehen nicht weiter erwähnenswert. Nichts an ihr zog Aufmerksamkeit auf sich, so wie Catherines rotes Haar. Eher das Gegenteil war der Fall: Alles an Victorias Äußerem schien zu sagen: „Schau über mich hinweg.“

Die Haare ihrer Schwester waren von einem derart langweiligen Dunkelblond, dass es sich nach Victorias Meinung nicht lohnte, sie in Locken zu legen. Sie war nur mittelgroß und wirkte eher schmächtig als zierlich, was allerdings darüber hinweg täuschte, dass sie durch die schwere körperliche Arbeit sehnig und muskulös war. Ihre Nase war schmal, etwas zu lang, ihr Mund groß. Da dessen Winkel meist herabhingen, wirkte Victoria stets leicht verdrießlich. Wenn sie einmal lächelte, sah ihr Gesicht viel heller aus. Auffallend – und darum beneidete Catherine ihre große Schwester – waren Victorias lange Wimpern, die ihrem Blick etwas Versonnenes gaben.

Nach Catherines Ansicht tat Victoria alles, um nur nicht als hübsche Frau aufzufallen. Ihre Kleidung war zweckmäßig und sauber, aber niemals verziert oder darauf angelegt, jemanden zu verführen. Die Haare trug Victoria hochgesteckt. Nur nachts, wenn sie schlafen ging, löste sie die Fülle ihrer dunkelblonden Mähne. Warum ihre Schwester sich nicht mehr bemühte, den Männern zu gefallen, wollte Catherine nicht verstehen. Manchmal schien es ihr, als verbarg Victoria etwas vor ihr, so wie auch sie Geheimnisse vor ihrer Schwester hatte.

Langsam drehte Catherine sich um. „Ich habe nur daran gedacht, wie viel Spaß wir früher hatten. Weißt du noch, der Damper?“

„Du wolltest es ja unbedingt probieren.“ Victoria lächelte sie an.

„Nur weil die Cutter so viel davon erzählt hatten“, verteidigte sich Catherine. „Ich dachte, es müsste etwas ganz Besonderes sein.“

Sie hatte damals so lange gebettelt und gefleht, bis ein gutmütiger Arbeiter ihr das Buschbrot zubereitet hatte. Nachdem der Mann Catherine den dunklen Klumpen aus Mehl, Wasser und Salz, den er im Lagerfeuer gebacken hatte, überreicht hatte, hatte sie sich artig bedankt. Nach einem Probebiss jedoch hatte sie das Buschbrot den Schweinen vorgeworfen.

„Die Ernte ist bald vorbei, nicht wahr?“ Catherine bemühte sich um einen leichten Tonfall und hoffte, dass Victoria nicht bemerkte, wie sehr sie die Antwort fürchtete. „Dann sind wir wieder allein.“

Jeden Tag hatte Catherine auf Regen gehofft, der es den Männern unmöglich machen würde, das Zuckerrohr zu schneiden, so dass sie ihre Zeit auf Amber’s Joy verlängern müssten. Doch wie zum Hohn hatte jeden Tag die Sonne geschienen und den Cuttern beste Bedingungen für ihre Arbeit gegeben. Es war fast so wie jedes Jahr. Abends kehrten die Arbeiter zurück in die Hütten. Catherine und Victoria hatten Brot, Fleisch und Bier bereitgestellt und warteten im Schatten, ob die Männer mehr Essen oder Getränke wünschten. Die Mädchen konnten den Arbeitern ansehen, wie sehr das Zuckerrohrschneiden an ihnen zehrte. Tiefe Falten zogen sich über die sonnenverbrannten Gesichter und je länger die Ernte andauerte, desto stiller wurden die Männer. Als saugte die Arbeit alle Kraft aus ihnen, und nur ein eiserner Wille hielte sie aufrecht.

All das kannte Catherine nur zu gut, aber in diesem Jahr war es gleich und doch so anders. Jeden Abend wartete sie voller Sorge, dass Luke nichts geschehen war. Unauffällig harrte sie neben ihrer Schwester aus, bis die Cutter Hunger und Durst gestillt hatten. Doch während Victoria ihre Abende damit verbrachte, Kleidung zu flicken oder Brot zu backen, schlich Catherine sich hinaus, um sich mit Luke zu treffen. Ohne viele Worte hatte ihre Romanze begonnen und ohne viele Worte gelang es ihnen, sich heimlich zu treffen, stets in Sorge, dass ein anderer Arbeiter oder – schlimmer noch – Richard Chandler, der Vorarbeiter, sie entdecken würde.

Immer wieder schwor sich Catherine, dass sie an diesem Tag nicht Lukes heimlichen Zeichen folgen würde, sondern stark bliebe, bis er bereit wäre, sich offen zu ihr zu bekennen. Doch bisher hatte ihr Herz sie ihre Vorsätze brechen lassen. Nur heute nicht. Gestern hatte sie mit Luke gestritten, weil er weiterhin darauf bestand, sie nur versteckt zu sehen, während Catherine der ganzen Welt von ihrer Liebe erzählen wollte; kostete es, was es wollte. Heute würde Mr Faulkner vergeblich auf sie warten. Heute würde sie ihn nicht aufsuchen. Nicht, solange er nicht zu ihr stehen wollte.

 

„Eigentlich bin ich auf dem Weg zu den Opalfeldern von Coober Pedy.“ Luke spielte mit einer Strähne von Catherines rotem Haar. Sie lächelte ihn an, obwohl ihr Herz vor Sorge schneller schlug bei der Vorstellung, dass er abreisen wollte. „Ich will dort mein Glück machen. Opale bringen viel Geld, weißt du. Damit bist du bald ein gemachter Mann.“

Catherine nickte zustimmend, obwohl sie weder etwas über den Opalabbau oder die Opalpreise wusste noch sich überhaupt dafür interessierte. Sie beherrschte nur ein Gedanke. Luke, ihr geliebter Luke, würde sie verlassen. Sie musste etwas sagen oder tun, um ihn von seinen Plänen abzubringen.

„Ist es nicht gefährlich, Opale zu schürfen?“ Catherine versuchte verzweifelt, sich daran zu erinnern, was einer der Männer einmal beim Abendessen erzählt hatte. Von der furchtbaren Hitze in dem kleinen Outback-Ort. Von dugouts, unterirdischen Höhlen, in denen die Menschen lebten, die dort ihr Glück suchten. Nein, sie durfte nicht zulassen, dass Luke sich derart in Gefahr begab. „Willst du nicht hierbleiben? Mein Vater mag dich und wir können einen guten Mann immer brauchen.“

„Ach so, deshalb bist du so nett zu mir.“ Luke lachte leise. „Ihr habt doch Richard Chandler. Ich bin keiner, der die zweite Geige spielt.“

Spielerisch glitten seine Finger über ihren Hals und strichen am Kragen ihres Kleids entlang. Catherine erschauerte, als Luke sich vorbeugte und mit seinem Mund der Spur der Finger folgte. Ihr Hals fühlte sich trocken an, so dass sie kaum sprechen konnte.

„Nein, nein“, flüsterte Catherine. „Ich … ich möchte, dass du bleibst, weil …“

„Ach, meine Hübsche.“ Luke setzte sich wieder auf und schaute ihr in die Augen. Catherine sah etwas darin glitzern, dass sie nicht kannte. Etwas, das sie neugierig machte, sie aber auch in Angst versetzte. „Ich wäre doch schon längst in Coober Pedy, wenn deine grünen Augen mich nicht verzaubert hätten, aber …“

„Aber?“ Catherines Herz schlug bis zum Hals und sie ahnte, dass sich in den nächsten Worten ihr Schicksal entscheiden würde. Sie fühlte sich gefangen in einer Mischung aus Neugier und Angst, die ihr Herz schneller klopfen ließ.

„Ein Mann wie ich hat Bedürfnisse.“ Luke streckte die Zungenspitze zwischen den Zähnen hervor und leckte sich die Lippen. Catherine stieß ein nervöses Lachen aus, weil ihr Geliebter sie in diesem Augenblick so sehr an die halbwilden Katzen erinnerte, die auf Amber’s Joy herumstreunten. „Bedürfnisse, die über ein bisschen Knutschen und Schmusen hinausgehen.“

Wieder strichen seine Finger über ihren Hals, und Catherine atmete flacher. Sollte sie seine Hand zur Seite schieben oder sollte sie ihn gewähren lassen? Der Gedanke, dass Luke jederzeit nach Coober Pedy aufbrechen und sie verlassen könnte, gab den Ausschlag. Catherine schloss die Augen, biss sich auf die Unterlippe und war bereit, Luke alle Wünsche zu gewähren, damit er sie nicht allein auf Amber’s Joy zurückließe.

 

Das also war das Geheimnis zwischen Frauen und Männern, dachte Catherine. Sie lag im Heu, ihre Kleider in Unordnung. Neben ihr schnarchte Luke leise. Catherine richtete sich halb auf und stützte sich auf den Ellenbogen, um den geliebten Mann zu betrachten. Zärtlich strich ihr Blick über die dunklen Haare, die gerade Nase und das kräftige Kinn. Mein Mann, dachte sie und ihr Herz schlug ein wenig schneller. Jetzt war Luke Faulkner endlich ihr Mann. Nun würde er sie nicht mehr für die Opalfelder von Coober Pedy verlassen.

Catherine fuhr ihm mit den Fingern über den Hals und die Brust, legte ihre Hand dort einen Augenblick ab, um Lukes Herzschlag spüren zu können. Nur noch ein wenig verweilen. Den Augenblick spüren, damit sie sich heute Nacht, allein in ihrer Kammer, an ihn zurückerinnern konnte. Auch wenn der Liebesakt an sich sie eher enttäuscht hatte. Catherine hatte stürmische Leidenschaft und starke Gefühle erwartet, war davon ausgegangen, dass Lukes Körper und ihrer sich miteinander vereinten in einem Strudel von Liebe, der sie beide davonspülte.

Stattdessen war es eine eher kurze und eher schmerzhafte Prozedur gewesen, die sie auf keinen Fall dazu anregte, sich Luke noch einmal hinzugeben. Das musste wohl so sein, dachte sie. Männer genossen die körperliche Liebe, während Frauen diese eher duldeten. Nun gut, wenn der kurze, unangenehme Liebesakt eben der Preis dafür wäre, dass Luke ihre Gefühle erwiderte, so würde Catherine ihn mit Freuden zahlen.

Sie richtete sich weiter auf, ordnete ihre Kleider und hauchte Luke einen Kuss auf die Lippen. Länger konnte sie nicht bleiben, ohne das Misstrauen ihres Vaters und ihrer Schwester hervorzurufen. Luke öffnete die Augen, gähnte und lächelte ihr zu. Mit einer schnellen Bewegung griff er nach Catherine und zog sie zu sich heran.

„Bleib doch noch“, murmelte er mit kehliger Stimme und küsste ihre Stirn. Seine Hand tastete nach ihrer Brust. Catherine schob ihn sanft von sich. Er griff erneut nach ihr und zog sie zu einem Kuss heran.

„Ich kann nicht. Ich würde gern bleiben, aber mein Vater …, Victoria …“ Sie küsste Luke, der seine Lippen fordernd auf ihre presste. Heftig atmend entzog sie sich seiner Umarmung. „Liebst du mich?“

„Sicher, sicher“, murmelte Luke, während seine Finger auf Wanderschaft gingen. „Das weißt du doch.“

Wusste sie das? Catherines Kehle fühlte sich trocken an und sie spürte eine irrationale Angst in sich aufwallen. Liebte Luke sie wirklich oder hatte er sie nur verführen wollen? Sie schluckte und spürte Tränen aufsteigen. Undenkbar, dass er sie entehrt hatte und dann weiterzog, oder?

„Kätzchen, Liebes“, flüsterte Luke mit zärtlicher Stimme und hauchte ihr einen Kuss auf die Handfläche. „Natürlich liebe ich dich. Das weißt du doch.“

Catherines Bedenken stoben davon, als hätte eine starke Windbö sie zerstreut. Natürlich liebte er sie. Schließlich hatte er ihretwegen alle Pläne aufgegeben, auf den Opalfeldern sein Glück zu suchen. Sicher würde Luke ihren Vater bald um ihre Hand bitten und Catherines Glück würde vollkommen sein.

Sie beugte sich ein letztes Mal zu ihm, verabschiedete sich von ihm mit einem Kuss, der das Versprechen auf mehr enthielt. Hastig eilte sie die Leiter vom Heuboden hinunter und schaute sich um, ob auch keiner der Arbeiter oder ihre Schwester sie entdecken würden. Catherine zupfte zwei Strohhalme aus ihren Haaren, strich Kleid und Schürze glatt, atmete tief ein und begab sich auf den Weg ins Haus. Nun würde Luke sich zu ihr bekennen, da war Catherine sich sicher.

Kapitel 9

 

Amber’s Joy, Australien, 1897

 

Wie schnell war der November gekommen. Nur noch wenige Wochen und sie würden Weihnachten feiern. Catherine hatte gehofft, dass Luke ihr bis dahin einen Antrag machen würde, dass er sie zur Frau haben wollte. Doch das Gespräch, das sie eben zufällig belauscht hatte, zerschlug ihre Hoffnungen wie billiges Porzellan. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass der Mann, dem sie sich hingegeben hatte, sie so bitterlich verraten hatte.

Wie konnte ihr geliebter Luke ihr das nur antun? Vor wenigen Tagen noch hatte er sie zum letzten Schritt überredet und heute nun … Zu entsetzlich, zu schmerzhaft hatten sie die Worte getroffen, die sie gerade vernommen hatte. Sie musste nachdenken, musste klug handeln, einen Plan entwerfen, der dafür sorgte, dass sie ihr Lebensglück rettete.

Doch erst einmal musste sie sich beruhigen. Vor ohnmächtigem Zorn zitterte Catherine am ganzen Körper. Abwechselnd wurde ihr heiß und kalt, bis sie fürchtete, dass sie ihr Abendessen ausspeien müsste.

Nein, gib deinen Gefühlen nicht nach. Lass dich nicht vom Herzen leiten, sondern nutze deinen Verstand. Catherine atmete tief durch. Niemals würde sie zulassen, dass ihr Vater und der Mann, den sie glaubte zu lieben, diese Entscheidung über ihren Kopf hinweg träfen.

Ob Luke ihr wohl etwas sagen würde, wenn sie sich heute Abend sehen würden? Wollte sie ihn überhaupt noch treffen? Wie sollte sie ihm gegenübertreten nach einem derartigen Treuebruch? Catherine schluckte, während die Gedanken durch ihren Kopf jagten wie ein Rudel Dingos auf der Jagd. Nein, sie musste sich verhört haben. Das konnte nicht wahr sein. Ohne nachzudenken trat sie einen Schritt näher auf die Scheunentür zu. Mit angehaltenem Atem belauschte sie ihren Vater und ihren Geliebten, die über Catherines Schicksal entschieden.

„Du arbeitest besser, als ich gedacht hätte“, hatte sie ihren Vater zu Luke sagen hören. „Du bist ein Mann, dem ich die Plantage anvertrauen würde. Aber …“

Das waren die Worte, die Catherines Neugier geweckt hatten, als sie den Männern kaltes Bier zur Erfrischung bringen wollte. Still war sie stehen geblieben und hatte die Scheunentür nicht weiter aufgestoßen, sondern gelauscht. Mit Skrupeln zwar, aber der Inhalt des Gesprächs erschien ihr nach den wenigen Worten bereits so wichtig, dass sie dafür ein schlechtes Gewissen gerne in Kauf nahm. Sollte in Erfüllung gehen, was sie sich gewünscht hatte? Würde Luke für immer auf Amber’s Joy bleiben? Als ihr Ehemann und Besitzer der Farm? Catherines Herz schlug schneller und sie musste an sich halten, um nicht lauthals in Jubel auszubrechen.

Die nächsten Worte ihres Vaters trafen sie wie ein Schlag ins Gesicht und hätten beinahe dazu geführt, dass Catherine ihre Anwesenheit durch einen Schrei verraten hätte.

„Aber du weißt, dass ich Amber’s Joy nicht Catherine vererben werde. So gern ich es wollte.“ Joseph Wagners Stimme klang harsch und bitter. „Sie bekommt ihren Teil, aber die Plantage wird Victoria gehören. So will es der Brauch.“

„Ich weiß.“ Luke klang selbstsicher wie immer. Als sie die geliebte Stimme hörte, hatte Catherines Herz schneller geschlagen. Bis zu dem Augenblick, als ihr Geliebter sie kaltherzig verriet. Als er ihr Glück eintauschte gegen Amber’s Joy. „Wenn du mir Victoria zur Frau gibst, schießen wir zwei Wallabies mit einem Schuss.“

„Nein! Nein!“, wollte Catherine schreien und in die Scheune stürmen, aber Lukes Verrat verwundete sie so tief, dass sie stattdessen erstarrte. Äußerlich und innerlich. Ihr Herz fühlte sich an, als ob es gefroren wäre. Catherine fröstelte trotz der Hitze. Das durfte nicht sein. Luke hatte ihr geschworen, dass er sie liebte. So wie sie ihn liebte. Bestimmt war alles ein Missverständnis, das sich gleich aufklären würde.

„Du würdest sie heiraten?“ In der Stimme ihres Vaters meinte Catherine Verwunderung zu hören. Die gleiche Verwunderung, die sie auch empfand. „Ich hätte gewettet, dass du dich für meine Jüngste interessierst.“

„Für Catherine?“, antwortete Luke und lachte. Lauthals, als ob Joseph einen Witz gemacht hätte. Catherine taumelte zurück. Beinahe hätte sie die Bierflaschen fallen gelassen. „Sie ist ein hübsches Kind, aber eben noch ein Kind.“

Catherines Augen brannten und sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Niemals hätte sie gedacht, dass ihr Luke sie derart hintergehen würde. Sie wollte ihn schütteln, ihm die Lügen aus dem Gesicht schlagen, aber ihr Körper weigerte sich, seinen Dienst zu tun. Sie stand still, zutiefst verletzt, Tränen liefen über ihr Gesicht. Mit verzweifelter Hoffnung klammerte sie sich an die Idee, dass Luke dies nur als Taktik nutzte. Ja, ihr Geliebter war ein kluger, ein vorausschauender Mann. Da er Joseph kannte, würde Luke vorgeben, auf dessen Wünsche einzugehen, damit er Zeit gewänne, einen Plan für eine Hochzeit mit Catherine zu schmieden.

So verführerisch diese Hoffnung auch war, die Worte „ein hübsches Kind, aber eben noch ein Kind“ gellten in ihren Ohren. Nicht zu vergessen, wie oft Luke ihr gesagt hatte, wie wichtig es ihm war, reich zu werden. So gerne sie an seine Liebe glauben würde, Catherine war klug genug, den Charakter ihres Geliebten zu durchschauen. Und trotzdem liebte sie ihn noch, hing mit verzweifelter Sehnsucht an ihm und würde alles geben, diese Hochzeit zu verhindern.

Da durchzuckte sie ein Gedanke, ein Gedanke, der Rettung versprach. Niemals würde Vic Luke heiraten. Ihre Schwester hielt den Opalschürfer für einen Glücksritter und hatte Catherine mehrfach davor gewarnt, ihr Herz an den Mann zu verlieren. Catherine spürte Bitterkeit in ihrem Mund. Sollte Victoria wieder einmal recht behalten?

Atemlos beugte sie sich weiter nach vorne, wollte noch mehr über die Pläne erfahren, die Vater und Geliebter miteinander schmiedeten. Beide Männer konnten nicht so naiv sein anzunehmen, dass Victoria sich einfach so verheiraten lassen würde. Sie lebten schließlich nicht mehr im Mittelalter. Frauen hatten Rechte, vor allem das Recht, sich einen Ehemann auszuwählen und nicht von ihrem Vater vorgeschrieben zu bekommen. So zaghaft Victoria auch war, niemals würde sie sich ihrem Vater in eine arrangierte Ehe fügen.

Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, sprach Luke weiter. „Aber deine Älteste wird mich nicht nehmen.“ Ein Lachen begleitete seine Worte. Das Lachen, das Catherine so geliebt hatte und das ihr nun so spöttisch klang wie der Ruf eines Kookaburras. „Sie hält nicht viel von mir.“

„Victoria ist alt genug zu heiraten, aber nicht alt genug, gefragt zu werden.“

Catherine erschrak über Härte und Kälte in der Stimme ihres Vaters. Niemals hätte sie erwartet, dass Joseph sich über die Wünsche seiner Töchter derart hinwegsetzen würde. „Wenn es ihr nicht passt, kann sie Amber’s Joy gern verlassen und als Dienstmädchen in Toowoomba oder Brisbane arbeiten. Das würde ihr gewiss nicht gefallen.“

„Wohl wahr.“ Die Männer lachten gemeinsam, wie Verschwörer, die einen Plan ausgeheckt hatten, von dem sie wussten, dass er Erfolg tragen würde. Einen Plan, der zwei Frauen unglücklich machen würde.

„Abgemacht.“

Die Worte gaben Catherine die Kraft, sich umzudrehen und ins Haus zurückzulaufen. Sie musste mit Victoria reden, musste gemeinsam mit ihrer Schwester eine Taktik entwickeln, die sie den Männern entgegenhalten konnten. Aber durfte sie Victoria die ganze Wahrheit sagen?

Catherine blieb stehen. Wenn sie ihrer Schwester die Liebe zu Luke beichtete, musste sie auch zugeben, Victoria in den letzten Wochen angelogen zu haben, etwas, was ihr ihre Schwester sicher niemals verzeihen würde. Catherine kaute auf ihrer Unterlippe, während sie fieberhaft nach einer Lösung suchte. Eine Lüge zieht die nächste nach sich, hatte ihre Mutter sie stets gewarnt, aber sie sah keinen anderen Ausweg, als ihre Täuschung weiterzuführen. Schlimmer konnte es ja nicht mehr werden.

Sobald die Heirat verhindert war, könnte sie Victoria immer noch die Wahrheit sagen. Wenn es denn sein musste. Jetzt jedoch richtete sich ihr ganzes Sinnen und Trachten darauf, Victoria auf ihre Seite zu ziehen, um der Hochzeit einen Riegel vorzuschieben.

„Vic! Vic!“ Atemlos stürmte Catherine in die Küche, wo ihre Schwester am Spülstein stand und das Geschirr vom Mittagessen säuberte. Victoria schaute auf und runzelte die Stirn, sichtlich verärgert darüber, dass Catherine sich vor der Arbeit gedrückt hatte. „Wir …, es ist ganz schrecklich. Oh Vic, wie furchtbar.“

Sofort wechselte Victorias Gesichtsausdruck von Verärgerung zu Besorgnis. Sie legte die Spülbürste auf den grauen Stein und drehte sich zu Catherine um: „Was ist geschehen? Ein Schlangenbiss? Beruhige dich. Komm her.“

Mit einem lauten Schluchzen stürzte sich Catherine in die Arme ihrer Schwester. Ihre Schultern bebten und sie war nicht in der Lage, ein Wort herauszubringen. Victoria strich ihr beruhigend über den Rücken und gab kleine Laute von sich, ähnlich denen, mit denen sie die halbwilden Katzen ansprach, die in der Scheune lebten.

„Setz dich, Kleines.“ Victoria führte Catherine zum Tisch, wo sie einen Stuhl heranzog. „Ich mach dir Tee und dann erzählst du mir alles.“

Catherine ließ sich auf den Stuhl sinken, legte die Arme auf den Tisch und den Kopf darauf. Ihr Kummer entlud sich in wütenden Schluchzern, die sie schüttelten wie ein Krampf. Das vertraute Klappern des Topfes und der milde Geruch des Tees beruhigten sie etwas. Als Victoria ihr eine Tasse Tee mit viel Zucker hinstellte, hob Catherine den Kopf. Sie schniefte zweimal und trank einen Schluck des heißen Getränks. Der süße Tee erfüllte sie mit Wärme, die ihr die Kraft gab, Victoria von dem Plan ihres Vaters und Luke zu erzählen.

Je länger Catherine sprach, desto ungläubiger wurde die Miene ihrer Schwester. Sie hörte Catherine schweigend zu. Nur ab und zu schüttelte sie den Kopf, als könnte sie damit das Gehörte ungeschehen machen.

Innerlich triumphierte Catherine, weil ihr Weg, Victoria zu ihrer Verbündeten zu machen, anscheinend der richtige war. Allerdings verschwieg Catherine die Tatsache, dass sie nicht um ihrer Schwester willen in Tränen ausgebrochen war, sondern weil der Mann, dem sie ihre Liebe geschenkt hatte, sie verraten hatte. Obwohl sie einen Kloß im Hals fühlte, brachte Catherine es fertig, Victoria über ihre wahren Motive im Unklaren zu lassen.

„Ich … ich soll ihn heiraten?“ Selbst durch den Schleier ihres Kummers erkannte Catherine das Entsetzen auf Victorias Gesicht. Ihre Schwester war bleich, als ob sie eine schwere Krankheit durchstanden hatte. Victorias Hände lagen leblos auf dem Tisch. Großäugig starrte sie Catherine an. „Aber ich kenne ihn doch kaum. Geschweige denn, dass ich ihn liebe.“

„Das hat für Vater keine Bedeutung.“

Catherine schniefte erneut und wischte sich die Nase am Ärmel ihres Kleides ab. Normalerweise hätte ihr das einen strafenden Blick von Victoria eingebracht, aber heute schaute ihre Schwester sie nur an, als ob Catherine ein Geist wäre. „Ihn interessiert nur die Zukunft der Farm. Er will unbedingt einen Enkelsohn.“

„Ich werde Nein sagen.“ Victoria rang die Hände wie zum Gebet. Sie stieß den Atem lauthals aus, so hektisch, als ob sie viele Meilen gelaufen wäre. „Niemals werde ich einen Mann heiraten, der über mich verhandelt wie über ein Stück Vieh. Und was soll aus dir werden?“

Triumph wallte in Catherine auf. Triumph darüber, dass Victoria für sie die Entscheidung treffen würde. Den schalen Geschmack der Lüge schob sie beiseite. Später einmal würde sie Victoria die Wahrheit sagen. Heute jedoch galt es, mit allen Mitteln die geplante Hochzeit zu verhindern.

„Vater hat gesagt, dass er dich schon dazu bringen wird, seine Wünsche zu erfüllen.“ Catherine schauderte erneut bei der Erinnerung an die Schärfe und Kälte, mit der Joseph einfach über das Leben seiner Töchter entschieden hatte. Ohne Rücksicht auf ihre Wünsche und Interessen. Victoria und Catherine schienen für ihren Vater nicht wichtiger zu sein als die Pferde in seinem Stall. „Er würde dich von Amber’s Joy verjagen, hat er gesagt.“

„Das … das … das kann er nicht wagen.“ Victorias Augen glänzten. Eine einzelne Träne lief ihre Wange herunter. „Amber’s Joy ist doch alles, was ich habe. Auch wenn es sich seit Mutters Tod nicht mehr wie ein Zuhause anfühlt.“

Catherine nickte.

„Wir werden einen Weg finden, Vaters Pläne zu vereiteln.“ Victoria reckte sich. Sie wirkte entschlossener, als Catherine sie jemals gesehen hatte. „Gemeinsam können wir ihm widerstehen.“

Nur wenige Wochen später würde Catherine sich an die Worte ihrer Schwester erinnern und in haltlose Tränen ausbrechen.

Kapitel 10

 

Brisbane, Australien 2016

 

Hier würde sie also wohnen. Franziska schluckte. Sie fühlte sich den Tränen nah. Der Air Train hatte sie nur bis zur South Brisbane Station gebracht und für die letzte Wegstrecke hatte sie sich doch ein Taxi gegönnt. Franziska hatte den Taxifahrer am Anfang der Straße halten lassen. Sie wollte sich einen Eindruck von ihrer Wohngegend verschaffen, hatte sie mit einem Lächeln zu dem Mann gesagt, dem das sichtlich egal gewesen war.

Nein, das war nur eine Ausrede, wie sie sich eingestehen musste. In Wahrheit wollte sie den Moment noch hinauszögern, in dem sie ihrer Gastfamilie gegenübertreten würde. Vor drei Tagen, in Deutschland, war es ihr noch wie eine gute Idee erschienen, die Reise nach Australien mit einem vierwöchigen Sprachkurs zu verbinden. Dass sie so kurzfristig einen Platz und auch ein Zimmer bei einer Gastfamilie bekommen hatte, hatte Franziska als Wink des Schicksals aufgefasst. Jetzt jedoch fragte sie sich, ob sie eine glückliche Familie ertragen würde. Die Entscheidung war gefallen. Wenn es allzu furchtbar würde, konnte sie ja immer noch in ein Hotel ziehen.

Sie holte tief Luft, die sich warm und schwer anfühlte. Im Reiseführer hatte Franziska gelesen, dass in Australien jetzt der Winter begänne, etwas, das sie nur schwer mit dem sonnigen Wetter zusammenbringen konnte. In Brisbane war es nicht viel wärmer als in Deutschland im Sommer, aber die Luftfeuchtigkeit lag deutlich höher. Die Luft legte sich wie ein feuchter Film auf Franziskas Haut, als sie die Straße zu ihrem Ziel entlangging.

East Brisbane, dachte Franziska, Vulture Street. Warum hieß die Straße so? Gab es hier etwa wirklich Geier? Wer gab einer Straße wohl den Namen eines Aasfressers? Sie schüttelte den Kopf über ihre wandernden Gedanken. Nun, wo sie Tausende von Kilometern von zu Hause entfernt war, begann sie zu zweifeln, ob ein spontaner Entschluss wirklich eine gute Idee war.

Per Mail hatte Franziska sich der Familie angekündigt und in Nullkommanichts eine begeisterte Antwort bekommen. Derart begeistert, dass sie etwas misstrauisch geworden war. Aber Caro hatte sie per SMS beruhigt. Die Aussies wären halt offener und freundlicher als die meisten Deutschen, hatte ihre Freundin geschrieben und so Franziskas Befürchtungen etwas mildern können.

Im Taxi allerdings war Franziskas Unbehagen gewachsen und sie hatte daher beschlossen, ein Stück des Weges zu Fuß zurückzulegen. Sie zerrte ihren Koffer hinter sich her. Das Klackern der Rollen dröhnte unglaublich laut in ihren Ohren, weil es das einzige Geräusch war. Die Straße wirkte wie ausgestorben. Franziska spürte förmlich, wie sich die Bewohner hinter den Gardinen sammelten und argwöhnisch beobachteten, wer die Stille ihres Sonntagnachmittags so rüde durchbrach.

Langsam näherte sich Franziska dem Haus, in dem sie voraussichtlich die nächsten vier Wochen verbringen würde. Stell dich nicht so an, sprach sie sich Mut zu, als sie das Gartentor öffnete.

Ein hübsches Haus war es, in dem ihre Gastfamilie wohnte. Ein Original Queensländer Haus – auch das hatte sie aus dem Reiseführer – in einem einladenden und freundlichen Hellblau gestrichen. Die Gegend wirkte eher ruhig, ein typischer Vorort eben, aus dem die Männer und auch Frauen morgens in die Innenstadt pendelten, um dort zu arbeiten. Franziska schaute die Straße hinauf, die sich einen Hang hochschlängelte.

Im Internet hatte sie bereits herausgefunden, dass ein Bus sie zu ihrer Sprachschule bringen würde. Die Schule lag in der Edward Street, einer Parallelstraße zur Albert Street. Als treue Untertanen hatten die Queensländer Bürger die wichtigsten Straßen ihrer Hauptstadt nach Königen und Königinnen benannt. Nicht weit entfernt davon war die Queen Street, die Hauptstraße. Laut Reiseführer gab es hier unglaublich viele Geschäfte, die dazu verlockten, viel Geld auszugeben. Außerdem waren es höchstens fünf Kilometer bis dorthin, so dass sie auch laufen könnte.

Franziska zog den Koffer eine gepflasterte Auffahrt hoch. Inzwischen schwitzte sie am ganzen Körper und bedauerte, dass sie aus dem klimatisierten Taxi ausgestiegen war. Einen tollen ersten Eindruck würde sie machen. Verschwitzt, mit hochrotem Kopf und strubbligen Haaren. Na ja, es sollte ja nur für vier Wochen sein. Franziska drückte den Klingelknopf.

So schnell, als ob jemand hinter der Tür gelauert hatte, wurde diese aufgerissen, ein riesiger schwarzer Hund stürmte heraus und sprang Franziska an. Er sabberte ihr durchs Gesicht und sie roch in seinem Atem, dass er erst vor Kurzem Dosenfutter gefressen hatte.

„Toby. Nicht. Aus! TOBY!“ Hinter dem Hund, der immer noch an Franziska hochsprang, tauchte eine schmale Frau auf. Sie nickte Franziska zu, schnappte den Hund am Halsband und zog ihn zurück. Zu jemandem im Haus brüllte sie: „Ich hab doch gesagt, dass ihr Toby einsperren sollt!“

Franziska stand etwas verdattert in der Auffahrt und wusste nicht, ob sie ins Haus gehen oder noch etwas warten sollte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739369846
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (November)
Schlagworte
Schwestern Australien Drama Romantik Familiengeheimnis Familiensaga Liebe Aborigines Historischer Liebesroman Liebesroman Historischer Roman

Autor

  • Christiane Lind (Autor:in)

Christiane Lind hat sich immer schon Geschichten ausgedacht, die sie nur selten zu Papier brachte. Erst zur Jahrtausendwende erinnerte sie sich daran und begibt sich nun beim Schreiben auf die Spur von Familien und deren Geheimnissen. Sie teilt sich in Kassel eine Wohnung mit unzähligen und ungezählten Büchern, einem Ehemann und vier Katern. Die Samtpfoten erwarten, dass mindestens eine Katze in ihren Geschichten vorkommt, was inzwischen ihr Markenzeichen ist.
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Titel: Im Schatten der goldenen Akazie