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Politische Profile

Biographische Porträts von Lenin, Luxemburg, Stalin, Kautsky, Plechanow, Radek und vielen anderen

von Leo Trotzki (Autor:in) Wolfram Klein (Autor:in)
587 Seiten

Zusammenfassung

Bereits als junger Mann entfaltete Leo Trotzki eine rege Tätigkeit als politischer Schriftsteller innerhalb der revolutionären Arbeiterbewegung. Sein Talent, Analysen deutlich darzustellen und Sachverhalte ansprechend und treffend zuzuspitzen, brachte ihm bald den Beinamen »Die Feder« ein. Bis zu seiner Ermordung im Jahr 1940 verfasste er ein literarisches Lebenswerk, das viele Regalmeter füllt. Während der Zeit seiner Verbannung im Zarenreich und der Emigration, aber auch danach, war sein Talent über politische Differenzen hinweg gefragt. So schrieb er nicht nur für die Presse seiner eigenen Organisation, sondern für zahlreiche sozialistische Zeitungen verschiedener Länder. Sehr gefragt waren unter anderem die pointierten Charakterisierungen politischer Persönlichkeiten, ob Freund*in oder Gegner*in. Die »politische Profile«, die er im Laufe der Jahre verfasste, halfen, eine Einschätzung zu bekommen, wen man bekämpfte. Doch genauso schrieb er in zahlreichen Nachrufen, welche Lehren und Errungenschaften Mitstreiter*innen der revolutionären Bewegung hinterließen. Dieses Buch ist viel mehr als eine Sammlung biographischer Texte. Wolfram Klein übersetzte viele von ihnen und verfasste die Einleitung sowie ein ausführliches Glossar mit Verzeichnissen über Personen und Periodika. So entstand ein Werk, das schon fast enzyklopädischen Charakter hat und sowohl zum Lesen, als auch zum Nachschlagen einlädt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Der Nutzen von biographischen Texten

Im Jahre 1924 schrieb der Trotzki nahestehende Amerikaner Max Eastman ein Buch: „Trotzki. Porträt einer Jugend.“ Im Vorwort zitiert er einen Brief Trotzkis an ihn: „Sie wünschen, meine Biographie zu schreiben, und bitten um eine Zusammenarbeit. Meine erste Bewegung war, diese Zusammenarbeit zu verweigern. Aber nachher dachte ich, das würde nicht richtig sein. Viele Menschen finden den Weg zum Allgemeinen durch das Persönliche. In diesem Sinne haben Biographien ihr Recht.“ Ähnlich schreibt er in dem in diesem Band abgedruckten Nachruf auf Krassin: „Die Aufgabe besteht darin, die neue Generation an unsere frische Vergangenheit nicht nur über allgemeine historische Schemata, sondern auch über lebendige Gestalten anzunähern.“

Neben diesen subjektiven oder vielleicht pädagogischen Gründen gibt es aber noch objektive Gründe, sich auch mit Biographien zu befassen. Die Vorstellung ist weit verbreitet, dass in der Geschichte politische, wirtschaftliche, kulturelle etc. Faktoren wirksam seien. Aus Sicht dieser Faktorentheorie besteht der Fehler des Marxismus (des historischen Materialismus, der materialistischen Geschichtsauffassung) darin, die Bedeutung des ökonomischen Faktors gegenüber den anderen Faktoren zu übertreiben. Tatsächlich weiß der Marxismus, dass die Geschichte nicht von Faktoren gemacht wird, sondern von Menschen aus Fleisch und Blut. Aber diese Menschen stehen nicht isoliert in der Welt, sondern befinden sich in wirtschaftlichen, sozialen, politischen, kulturellen etc. Verhältnissen, Beziehungen zu anderen Menschen. Und der Marxismus ist in der Tat der Ansicht, dass innerhalb dieser vielfältigen Beziehungen die Klassenbeziehungen die zentrale Rolle spielen.

Da die Geschichte aber von Menschen gemacht wird, haben auch biographische Zugänge ihre Berechtigung.

Allerdings zeichnen sich gerade Revolutionen durch die Bedeutung der Massen aus. Wie Trotzki im Vorwort zu seiner „Geschichte der Russischen Revolution“ schrieb: „Der unbestreitbarste Charakterzug der Revolution ist die direkte Einmischung der Massen in die historischen Ereignisse. In gewöhnlichen Zeitläufen erhebt sich der Staat, der monarchistische wie der demokratische, über die Nation; Geschichte vollziehen die Fachmänner dieses Handwerks: Monarchen, Minister, Bürokraten, Parlamentarier, Journalisten. Aber an jenen Wendepunkten, wo die alte Ordnung den Massen unerträglich wird, durchbrechen diese die Barrieren, die sie vom politischen Schauplatz trennen, überrennen ihre traditionellen Vertreter und schaffen durch ihre Einmischung die Ausgangsposition für ein neues Regime. Ob dies gut oder schlecht, wollen wir dem Urteil der Moralisten überlassen. Wir selbst nehmen die Tatsachen, wie sie durch den objektiven Gang der Entwicklung gegeben sind. Die Geschichte der Revolution ist für uns vor allem die Geschichte des gewaltsamen Einbruchs der Massen in das Gebiet der Bestimmung über ihre eigenen Geschicke.

In der von einer Revolution erfassten Gesellschaft kämpfen Klassen gegeneinander. Es ist indes völlig offenkundig, dass die zwischen Beginn der Revolution und deren Ende vor sich gehenden Veränderungen in den ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft und in deren Klassensubstrat absolut nicht ausreichen zur Erklärung des Verlaufes der Revolution selbst, die in kurzer Zeitspanne jahrhundertealte Einrichtungen stürzt, neue schafft und wieder stürzt. Die Dynamik der revolutionären Ereignisse wird unmittelbar von den schnellen, gespannten und stürmischen Veränderungen der Psychologie der vor der Revolution herausgebildeten Klassen bestimmt.“

Er fährt fort: „Die Gesellschaft ändert nämlich ihre Einrichtungen nicht nach Maßgabe des Bedarfs, wie ein Handwerker seine Instrumente erneuert. Im Gegenteil, sie nimmt die über ihr hängenden Institutionen praktisch als etwas ein für allemal Gegebenes. Jahrzehntelang bildet die oppositionelle Kritik nur das Sicherheitsventil für die Massenunzufriedenheit und eine Bedingung für die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaftsordnung […]. Es sind ganz besondere, vom Willen der Einzelnen und der Parteien unabhängige Bedingungen notwendig, die der Unzufriedenheit die Ketten des Konservativismus herunterreißen und die Massen zum Aufstand bringen.

Schnelle Veränderungen von Ansichten und Stimmungen der Massen in der revolutionären Epoche ergeben sich folglich nicht aus der Elastizität und Beweglichkeit der menschlichen Psyche, sondern im Gegenteil aus deren tiefem Konservativismus. Das chronische Zurückbleiben der Ideen und Beziehungen hinter den neuen objektiven Bedingungen, bis zu dem Moment, wo die letzteren in Form einer Katastrophe über die Menschen hereinbrechen, erzeugt eben in der Revolutionsperiode die sprunghafte Bewegung der Ideen und Leidenschaften, die den Polizeiköpfen als einfache Folge der Tätigkeit von „Demagogen“ erscheint.“

Daraus ergibt sich für die Rolle von Parteien und Führungen: „Die Massen gehen in die Revolution nicht mit einem fertigen Plan der gesellschaftlichen Neuordnung hinein, sondern mit dem scharfen Gefühl der Unmöglichkeit, die alte Gesellschaft länger zu dulden. Nur die führende Schicht der Klasse hat ein politisches Programm, das jedoch noch der Nachprüfung durch die Ereignisse und der Billigung durch die Massen bedarf. Der grundlegende politische Prozess der Revolution besteht eben in der Erfassung der sich aus der sozialen Krise ergebenden Aufgaben durch die Klasse und der aktiven Orientierung der Masse nach der Methode sukzessiver Annäherungen. Die einzelnen Etappen des revolutionären Prozesses, gefestigt durch die Ablösung der einen Parteien durch andere, immer extremere, drücken das anwachsende Drängen der Massen nach links aus, bis der Schwung der Bewegung auf objektive Hindernisse prallt. Dann beginnt die Reaktion: Enttäuschung einzelner Schichten der revolutionären Klasse, Wachsen der Gleichgültigkeit und damit Festigung der Positionen der konterrevolutionären Kräfte. Dies ist wenigstens das Schema der alten Revolutionen.

Nur auf Grund des Studiums der politischen Prozesse in den Massen selbst kann man die Rolle der Parteien und Führer begreifen, die zu ignorieren wir am allerwenigsten geneigt sind. Sie bilden, wenn auch kein selbständiges, so doch ein sehr wichtiges Element des Prozesses. Ohne eine leitende Organisation würde die Energie der Massen verfliegen wie Dampf, der nicht in einem Kolbenzylinder eingeschlossen ist. Die Bewegung erzeugt indes weder der Zylinder noch der Kolben, sondern der Dampf.“

Da aber in Wechselwirkung mit den Massen auch Parteien und Führungspersönlichkeiten eine Rolle spielen, hat es seine Berechtigung, auch sie und ihre Biographien zu behandeln. Das gilt auch deshalb, weil Massenbewegungen oft nur ein kurzes Zeitfenster bilden, zu kurz, als dass sich neue den Aufgaben entsprechende Führungen herausbilden könnten. Der Erfolg einer Massenbewegung kann also entscheidend davon abhängen, ob die vorhergehende Periode eine ihren Aufgaben gewachsene Führung hervorgebracht hat.

Die Zweite Internationale …

Nicht uninteressant ist, dass Trotzki das Bild von den Massen als Dampf schon 1913 in seinem in diesem Buch wiedergegebenen Artikel über Victor Adler verwendet hat: „Ein Führer einer zeitgenössischen europäischen Arbeiterpartei ist der Mittelpunkt eines mächtigen organisatorischen Apparats. Wie jeder Mechanismus ist dieser letztere von alleine träge: er schafft nicht Energie, sondern gibt ihr bloß eine zweckmäßige Anwendung. Und zur gleichen Zeit stellt er nicht selten Behinderungen für sie dar. In allen größeren historischen Aktionen wird die Aktivität der Massen zuallererst die tote Trägheit der sozialdemokratischen Organisation überwinden müssen. So müssen die lebenden Kräfte des Dampfes den Konservatismus der Maschine selbst überwinden, bevor das Schwungrad in Bewegung kommen wird.“

Das führt zu einem zentralen Thema dieses Buches, dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale. Erste Anfänge von Arbeiter*innenbewegungen und -parteien gab es schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, z.B. den Chartismus in England. Nach der Niederlage der Revolution von 1848 folgte in den meisten europäischen Staaten eine Periode der Reaktion. Ab den 1860er Jahren entstanden kleine Parteien wie der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ADAV in Deutschland und die Erste Internationale unter der Führung von Karl Marx. In den folgenden Jahren entstanden immer mehr Arbeiter*innenparteien, die sich meist sozialdemokratisch oder sozialistisch nannten, aber mit der heutigen Sozialdemokratie sehr wenig gemeinsam hatten. Sie beriefen sich auf den Marxismus, bekannten sich zur Revolution, ihre Führungen standen in persönlichem Kontakt zu Karl Marx und Friedrich Engels, waren seit 1889 in der Zweiten Internationale zusammengeschlossen (siehe auch „Zweite Internationale“ im Glossar). Die biographischen Texte im ersten Teil dieses Buches behandeln führende Vertreter dieser Parteien aus Deutschland, Österreich und Frankreich. Als die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) 1898 gegründet wurde, verstand sie sich als das russische Gegenstück dieser westlichen Parteien. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren in dieser internationalen Sozialdemokratie ebenso aktiv wie Lenin und Trotzki. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs enttäuschte diese Internationale die in sie gesetzten Hoffnungen auf das Grausamste. Wie konnte es dazu kommen? Trotzki führt dazu in verschiedenen Texten objektive und subjektive Faktoren auf. Nach dem Tod von Friedrich Engels 1895 erlebte der Kapitalismus wieder einen kräftigen Wirtschaftsaufschwung (s. seinen Artikel über den Briefwechsel zwischen Engels und Kautsky in diesem Band). Er wurde zur materiellen Grundlage einer opportunistischen Strömung in der internationalen Sozialdemokrat. In anderen Texten erwähnt er das beschleunigte Um-sich-Greifen des Opportunismus im neuen internationalen Wirtschaftsaufschwung nach der Niederlage der Revolution 1905-1907 in Russland, der bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs dauerte. Besonders Lenin betonte die materiellen Privilegien, die die Ausbeutung der Kolonien für eine privilegierte Oberschicht der Arbeiter*innenklasse („Arbeiteraristokratie“) ermöglichte.

Ein subjektiver Faktor neben diesen objektiven war die verhältnismäßig ruhige Periode ohne Kriege und Revolutionen, in der sich der Kapitalismus zwischen dem deutsch-französischen Krieg und der Pariser Kommune 1870/71 und dem russisch-japanischen Krieg 1904/05 und der russischen Revolution von 1905 befand. Eine ganze Generation von Parteiführer*innen wuchs in dieser Periode auf und wurde in ihr sozialisiert.

Allerdings sollten wir die Friedlichkeit dieser Periode auch nicht übertreiben, in sie fiel z.B. auch das Bismarcksche Sozialistengesetz 1878-1890, das auf viele eine ungemein radikalisierende Wirkung hatte. Ein Vierteljahrhundert später erinnerte sich der sozialdemokratische Parteivorsitzende August Bebel in einer Rede auf dem Dresdener Parteitag 1903 an diese Zeiten: „Das Sozialistengesetz kam mit all seinen furchtbaren Wirkungen, die Schläge fielen hageldicht, alles wurde zertrümmert, eine Großstadt nach der anderen mit ihrem umliegenden Gebiet wurde unter Belagerungszustand erklärt, Hunderte und wieder Hunderte von Genossen wurden brotlos, den Führern, allen mit wenigen Ausnahmen, wurde die Existenz zerstört, wir wurden wie räudige Hunde aus der Heimat herausgetrieben. Auch heute noch, nachdem alle diese Verfolgungen vorüber sind, ohne dass sie mir geschadet haben, wenn da meine Gedanken auf den kleinen Belagerungszustand zurückkommen und ich mir vergegenwärtige, wie wir aufs Polizeibüro kommandiert, dort wie Verbrecher unters Metermaß gestellt und abgemessen wurden, wie wir photographiert wurden und unser Signalement aufgenommen wurde und wie es dann hieß, binnen drei Tagen macht ihr, dass ihr zum Tempel hinauskommt, das vergesse ich in meinem Leben nicht. Und wenn ich es je erleben sollte, dass der Tag käme, dass ich denen, die dann noch leben, sagen könnte: Jetzt will ich euch einmal zeigen, was ihr damals getan – ich tät's!“ (das Protokoll verzeichnete an dieser Stelle „stürmischen Beifall und langanhaltendes Händeklatschen“). Es ist sicher kein Zufall, dass Karl Liebknecht, der diese Zeit als Sohn des Mit-Parteivorsitzenden Wilhelm Liebknecht hautnah mit erlitt eine ganz andere revolutionäre Ernsthaftigkeit aufwies als andere Parteifunktionäre seiner Altersgruppe, die z.B. nach einem abgeschlossenen Hochschulstudium eine Stelle als Redakteur einer der damaligen Dutzenden Parteizeitungen übernahmen.

Denn nach dem Fall des Sozialistengesetzes gab es in Deutschland noch mehr als in anderen Ländern ein stürmisches Wachstum der Sozialdemokratie mit Partei- und Gewerkschaftsapparaten, Parteizeitungen etc. Damit verbunden war eine wachsende Schicht von Partei- und Gewerkschaftsangestellten (oder Partei- und Gewerkschaftsbeamten, wie man damals oft sagte, als auch Angestellte in Unternehmen häufig als „Privatbeamte“ bezeichnet wurden). Es entstand eine ganze Arbeiterbürokratie, die materiell gegenüber normalen Arbeiter*innen privilegiert, aber zugleich von der Parteiführung abhängig war.

In seiner Autobiographie schreibt Trotzki, dass er damals den Gedanken formulierte, „dass die gigantische Maschinerie der deutschen Sozialdemokratie in einem für die bürgerliche Gesellschaft kritischen Moment zu einer Hauptsäule konservativer Ordnung werden könnte. Zu jener Zeit habe ich allerdings nicht voraussehen können, in welchem Maße diese theoretische Annahme sich in der Praxis bestätigen würde.“ (Trotzkis Autobiographie hat der Manifest Verlag neu aufgelegt.)

Nach der Niederlage der Revolution 1905-1907 lebte Trotzki lange Zeit in Wien und kam in direkten Kontakt mit führenden Parteifunktionären. Die Schilderung in seiner Autobiographie ist eine gute Ergänzung zu den biographischen Texten in diesem Band. Deshalb zitieren wir sie etwas ausführlicher: „Hilferding brachte mich zuerst mit seinen Wiener Freunden zusammen: Otto Bauer, Max Adler und Karl Renner. Das waren sehr gebildete Menschen, die auf verschiedenen Gebieten mehr wussten als ich. Ich habe mit lebhaftestem, man kann schon sagen mit ehrfurchtsvollem Interesse ihrer ersten Unterhaltung im Café Zentral zugehört. Doch schon sehr bald gesellte sich zu meiner Aufmerksamkeit ein Erstaunen. Diese Menschen waren keine Revolutionäre. Mehr noch: sie stellten einen Menschentypus dar, der dem Typus des Revolutionärs entgegengesetzt war. Das äußerte sich in allem: in der Art, wie sie an Fragen herangingen, in ihren politischen Bemerkungen und psychologischen Wertungen, in ihrer Selbstzufriedenheit – nicht Selbstsicherheit, sondern Selbstzufriedenheit –; mir war mitunter sogar als vernähme ich schon in der Vibration ihrer Stimmen das Philistertum.

Besonders verblüffte mich, dass diese gebildeten Marxisten absolut unfähig waren, die Marxsche Methode anzuwenden, sobald es um große politische Probleme, besonders um deren revolutionäre Wendungen ging. (…) Die ersten Eindrücke vertieften sich in der Folge nur. Diese Menschen wussten viel und waren fähig, im Rahmen der politischen Routine – gute marxistische Aufsätze zu schreiben. Aber es waren mir fremde Menschen. Davon überzeugte ich mich um so stärker, je mehr sich der Kreis meiner Verbindungen und Beobachtungen erweiterte. Im ungezwungenen Gespräch untereinander zeigten sie viel offener als in Artikeln und Reden bald einen unverhüllten Chauvinismus, bald die Prahlsucht des kleinen Besitzers, bald den heiligen Schauer vor der Polizei, bald das vulgäre Benehmen gegen die Frau. Ich konnte nur erstaunt innerlich ausrufen: „Das sind schon Revolutionäre?“ Ich meinte damit nicht die Arbeiter, bei denen man natürlich ebenfalls nicht wenige spießige Eigenschaften, nur einfachere und naivere, finden konnte. Nein, ich begegnete der Blüte des österreichischen Vorkriegsmarxismus, Abgeordneten, Schriftstellern, Journalisten. Bei diesen Begegnungen lernte ich verstehen, welche verschiedenartigen Elemente die Psyche eines einzigen Menschen zu bergen fähig sein kann und wie weit es ist von der passiven Aufnahme bestimmter Teile eines Systems bis zu dem psychischen Erleben und zur Selbsterziehung im Geiste dieses Systems. Der psychologische Typus des Marxisten kann nur in der Epoche der sozialen Erschütterungen, des revolutionären Bruchs mit den Traditionen und Gewohnheiten entstehen. Der Austromarxist aber erwies sich zu oft als ein Philister, der den einen oder den anderen Teil der Marxschen Theorie studierte, wie man Jus studiert, und von den Prozenten vom ,Kapital' lebt. Im alten, kaiserlichen, hierarchischen, betriebsamen und eitlen Wien titulierten die Marxisten einander wonnevoll mit „Herr Doktor“. Die Arbeiter redeten die Akademiker oft mit „Genosse Herr Doktor“ an. Während der ganzen sieben Jahre, die ich in Wien verlebte, war es mir nicht möglich, auch nur mit einer dieser Spitzen mich offen auszusprechen, obwohl ich Mitglied der österreichischen Sozialdemokratie war, ihre Versammlungen besuchte, an ihren Demonstrationen teilnahm, an ihren Organen mitarbeitete und manchmal meine Referate in deutscher Sprache hielt. Ich empfand die sozialdemokratischen Führer als fremde Menschen, während ich gleichzeitig in Versammlungen oder bei Maidemonstrationen mühelos eine gemeinsame Sprache mit den sozialdemokratischen Arbeitern fand.

Der Briefwechsel zwischen Marx und Engels war für mich unter diesen Bedingungen das Buch, das ich am nötigsten hatte und das mir am nächsten stand, es war die größte und zuverlässigste Kontrolle nicht nur meiner Ansichten, sondern auch meines gesamten Weltempfindens. Die Wiener Führer der Sozialdemokratie benutzten die gleichen Formeln, die ich benutzte. Aber es genügte, diese Formeln um fünf Grad an der Achse zu verschieben, und es ergab sich, dass wir die gleichen Begriffe mit ganz anderen Inhalten füllten. Unsere Solidarität war eine zeitlich beschränkte, oberflächliche und nur scheinbare. Der Briefwechsel Marx-Engels war für mich keine theoretische, sondern eine psychologische Offenbarung. Toutes proportions gardèes, überzeugte ich mich auf jeder Seite, dass mich mit diesen beiden eine unmittelbare psychische Verwandtschaft verband. Ihre Beziehungen zu Menschen und Ideen waren mir vertraut. Ich erriet das, was sie unausgesprochen gelassen, ich teilte ihre Sympathien, ihre Empörung und ihren Hass. Marx und Engels waren durch und durch Revolutionäre. Dabei war bei ihnen keine Spur von Sektierertum oder Askese. Beide, und besonders Engels, konnten in jedem Augenblick sagen, dass ihnen nichts Menschliches fremd sei. Aber das revolutionäre Bewusstsein, das ihnen schon eine Nervensache war, erhob sie stets über die Zufälle des Schicksals und über die Werke von Menschenhand. Kleinlichkeit war nicht nur mit ihnen selbst, sondern auch mit ihrer Anwesenheit nicht zu vereinbaren. Banalität blieb nicht einmal an ihren Sohlen kleben. Ihre Wertungen, ihre Sympathien, ihre Scherze, selbst die alltäglichsten, waren stets von der Höhenluft geistigen Adels umweht. Sie waren imstande, über einen Menschen ein vernichtendes Urteil abzugeben, aber sie klatschten nicht. Sie waren erbarmungslos, aber nicht treubrüchig. Für äußeren Glanz, Titel, Rang und Würden hatten sie nur eine ruhige Verachtung übrig. Was Philistertum und niedrige Gesinnung als ihren Aristokratismus betrachtete, war in Wirklichkeit nur ihre revolutionäre Überlegenheit. Deren wichtigstes Merkmal war: – die absolute organische Unabhängigkeit von der offiziellen Meinung, stets und unter allen Umständen. Bei dem Lesen ihrer Briefe empfand ich noch stärker und krasser als beim Lesen ihrer Werke: das gleiche, was mich mit Marx und Engels intim verband, trennte mich unversöhnlich von den Austromarxisten.“

1909 veröffentlichte Trotzki einen kritischen Artikel in der deutschen „Neuen Zeit“ (s. unter den Periodika im Anhang) über die Auslandsberichterstattung der österreichischen Parteizeitung, v.a. über den Balkan. „An einem der nächsten Sonnabende kam Otto Bauer im Café an das Tischchen heran, an dem ich mit Kljatschko saß, und begann mir streng die Leviten zu lesen. Ich gestehe, dass mich der Schwall seiner Worte fast betäubte. Dabei war ich nicht so sehr verblüfft über den lehrhaften Ton Bauers wie über den Charakter seiner Argumentation. „Welche Bedeutung haben die Artikel Leitners?“ sagte er mit komischem Hochmut. „Die Außenpolitik existiert für Österreich-Ungarn nicht. Kein einziger Arbeiter liest es. Das hat nicht die geringste Bedeutung“ ... Ich hörte mit weit geöffneten Augen zu. Es stellte sich also heraus, dass diese Menschen nicht nur nicht an die Revolution glaubten, sondern auch nicht an den Krieg. Sie schrieben in ihren Manifesten zum 1. Mai zwar über Krieg und Revolution, nahmen das jedoch niemals ernst und wurden gar nicht gewahr, dass über dem Ameisenhaufen, in dem sie so selbstvergessen wühlten, die Geschichte bereits den gigantischen Soldatenstiefel erhoben hatte. Sechs Jahre später mussten sie sich davon überzeugen lassen, dass auch für Österreich-Ungarn eine Außenpolitik existierte. Sie selbst haben bei Beginn des Krieges jene schamlose Sprache gesprochen, die Leitner und ähnliche Chauvinisten sie gelehrt.“

… und ihr Zusammenbruch

1914 folgte dann die grausame Abrechnung. Fast alle sozialdemokratischen Parteien unterstützten ihre jeweiligen Regierungen im imperialistischen Krieg. Trotzki war einer der ersten, der die Notwendigkeit einer neuen Internationale begründete (s. seine Broschüre „Krieg und die Internationale“ von Ende 1914). In dieser Frage bestand grundlegende Einigkeit zwischen Lenin und Trotzki. Wie geschildert, maß Trotzki den jahrzehntelangen stabilen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen eine große Bedeutung zu, die eine ganze Führungsgeneration geprägt hatten. Die neuen völlig anderen Verhältnisse müssten eine völlig andere Führungsgeneration hervorbringen. Eine deutliche Differenz zwischen Lenin und Trotzki bestand aber. Lenin betonte stark, dass die Konflikte zwischen den Parteiflügeln im Krieg eine Fortsetzung der Konflikte vor dem Krieg waren. Darin kamen die damaligen Differenzen zwischen Lenin und Trotzki in russischen Parteiangelegenheiten (ausführlicher unten) zum Ausdruck. Lenin und die Bolschewiki hatten jahrelang einen Kampf gegen die Menschewiki geführt. Jetzt sahen sie die internationalen Differenzen und Konflikte als eine Fortsetzung und Bestätigung ihres Kampfes gegen den Menschewismus. Trotzki dagegen hatte sich vor dem Krieg für die Einheit zwischen Bolschewiki und Menschewiki eingesetzt. Seine Betonung der grundlegend geänderten Lage war auch eine Einladung zum gemeinsamen Neuanfang an alle, die willens und fähig waren, sich auf diese neue Lage einzustellen.

Wir dürfen die Differenzen nicht übertreiben. Auch Lenin stimmte zu, dass es seit 1914 nicht nur eine Fortsetzung, sondern auch eine qualitative Steigerung der Differenzen gab. Nicht nur hatten sich die Bolschewiki jahrelang an Wiedervereinigungsbemühungen mit den Menschewiki beteiligt. Erst die Prager Konferenz vom Januar 1912 zog einen Schlussstrich. Und auch diese Konferenz erklärte nur die Liquidatoren*innen, die rechteste Strömung der Menschewiki, die die Notwendigkeit einer illegalen Partei ablehnten und bekämpften, für aus der Partei ausgeschlossen. Wenn in der Folge andere Kräfte, einschließlich Trotzki, lieber mit den Liquidator*innen Umgruppierungsversuche unternahmen, statt mit den Bolschewiki eine gemeinsame Partei aufzubauen, war das deren Fehler.

Wenn die Bolschewiki auch 1912 die Liquidator*innen aus der russischen Partei ausschlossen, auf internationaler Ebene waren sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht für den Ausschluss des opportunistischen rechten Flügels aus der Zweiten Internationale. In dieser Frage stellte auch für die Bolschewiki das Jahr 1914 eine qualitative Veränderung dar. Von da ab kämpften sie für eine neue Internationale ohne Opportunist*innen.

Auch den Gedanken, dass der Krieg eine so große Erschütterung war, dass er alte Differenzen gegenstandslos machen könne, war Lenin keineswegs fremd. Martow lobte er für seine Haltung zu Kriegsbeginn mehrfach, musste dann aber erkennen, dass er wieder in alte Geleise zurückfiel.

Auf der anderen Seite heißt das nicht, dass die Unterschiede nur sprachlich oder in der Betonung gewesen wären. Bei der Einschätzung einzelner Personen und Strömungen gab es deutliche Differenzen. In dem Artikel „Eine Epoche vergeht“ in diesem Band schildert Trotzki ein Gespräch mit Axelrod. Für Lenin war Axelrod damals ein klarer politischer Gegner, den er in Artikeln anders behandelte. Noch deutlicher ist Trotzkis Artikel „Lassen Sie uns in Ruhe“. Er behandelt Plechanows Einwirkungsversuche auf die menschewistischen Duma-Abgeordneten (die bolschewistischen waren damals bereits nach Sibirien verbannt worden). Für Trotzki verlief damals die Scheidelinie noch zwischen diesen Abgeordneten und Plechanow. Für Lenin verlief sie zwischen den Menschewiki einschließlich ihrer Abgeordneten und den Bolschewiki. Am deutlichsten waren die Differenzen auf der Zimmerwalder Sozialistenkonferenz im September 1915 (s. Glossar), auf der Lenin die Zimmerwalder Linke organisierte und Trotzki einen Kompromiss zwischen der Linken und der Mehrheit bewirkte.

Das bedeutet aber auch nicht, dass bei allen damaligen Differenzen zwischen Lenin und Trotzki ersterer im Recht gewesen wäre. Trotzki hat in Bezug auf die damaligen deutschen Auseinandersetzungen klar auf die Gruppe Internationale (später Spartakusgruppe) orientiert, die von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht organisiert wurde (siehe den Trotzki-Sammelband „Revolution in Deutschland“ des Manifest Verlag). Lenin dagegen hat zeitweise mehr auf die recht sektiererische und abgehobene Lichtstrahlengruppe um Julian Borchert gesetzt und äußerte sich insbesondere in Bezug auf Clara Zetkin mehrfach ungerechtfertigt negativ. Auch wenn die Spartakusgruppe beim organisatorischen Bruch mit dem Opportunismus bedächtiger war, als es Lenin oft wollte, ist es kein Zufall, dass sie mit Abstand die größte Kraft bei der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands war.

Die russischen Revolutionen von 1905 bis 1917

Im Jahre 1903 fand die Bildung der beiden Fraktionen der Bolschewiki und Menschewiki auf dem 2. Parteitag der SDAPR statt. Zu diesem Zeitpunkt betraf der Konflikt nur organisatorische Fragen, in denen die Bolschewiki „härter“, die Menschewiki „weicher“ waren. Aber bereits im folgenden Jahr kamen politische Differenzen hinzu, die mit den Perspektiven der Revolution verbunden waren. Beide Strömungen waren sich einig, dass in Russland eine bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung stehe. Die Menschewiki zogen daraus die Schlussfolgerung, dass das Bürger*innentum, die Bourgeoisie die führende Kraft sein müsse und (mehr oder weniger deutlich), dass die Arbeiter*innen es nicht zu sehr durch Klassenkampf verschrecken und in die Arme der Reaktion treiben sollten. Die Bolschewiki betonten dagegen, dass es offen sei, wie radikal eine bürgerliche Revolution mit dem Schutt des Feudalismus aufräumen würde. Gerade weil sich die Bourgeoisie in einem Klassengegensatz mit den Arbeiter*innen befand, hatte es ein Interesse, einiges von diesem Schutt als Bollwerk gegen die Arbeiter*innen beizubehalten. Erstrebenswert sei daher ein Bündnis zwischen Proletariat und Bäuer*innenschaft, das die bürgerliche Revolution viel weiter führen könne, als die Bourgeoisie selbst bereit sei. Auf diese Weise würden bestmögliche Kampfbedingungen für den Klassenkampf in der Zeit danach geschaffen. Angesichts der Rolle des russischen Zarismus als Bollwerk der internationalen Reaktion könne eine erfolgreiche bürgerliche russische Revolution der sozialistischen Revolution im Westen Schwung geben. Deren Sieg könnte ermöglichen, in Russland ziemlich schnell von der bürgerlichen zur sozialistischen Revolution weiterzugehen.

Trotzki hatte sich 1903 den Menschewiki angeschlossen, trennte sich aber nach einigen Monaten wieder von ihnen, insbesondere, als die politischen Differenzen und die nachgiebige Haltung der Menschewiki gegenüber der liberalen Bourgeoisie deutlich wurde. In Bezug auf die Perspektiven der russischen Revolution entwickelte er seine eigenen Ideen, die unter dem Begriff der „Permanenten Revolution“ bekannt wurden. Auch er stimmte zu, dass in Russland eine bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung stehe. Wie die Bolschewiki setzte er auf das Bündnis zwischen Proletariat und Bäuer*innenschaft. Er erkannte aber, dass die im zaristischen Russland angehäuften Widersprüche (insbesondere die Agrarfrage) eine solche Sprengkraft hatten, dass es möglich war, dass die Revolution nicht bei einer bürgerlichen Revolution stehen blieb. Er sah voraus, dass in einer Revolutionsregierung die Vertreter*innen der Arbeiter*innen die Führung haben könnten. Die Bäuer*innenschaft war zwar die mit Abstand größte Bevölkerungsgruppe, aber sie war über das riesige Land verstreut. Die Erfahrung früherer Revolutionen zeigte, dass das Land keine selbständige Rolle spielen könne, sondern eine der städtischen Hauptklassen unterstützen werde. Eine von sozialistischen Arbeiter*innen geführte Revolution könne sich aber nicht darauf beschränken, einen von feudalem Schutt gereinigten Kapitalismus zu schaffen, sondern werde zwangsläufig zu sozialistischen Maßnahmen vorwärts getrieben. Der russische Marxismus hatte jahrzehntelang gegen das Narodnikitum (s. Glossar) und dessen Ideologie, dass sich auf Grundlage der russischen Bäuer*innengemeinde der Sozialismus aufbauen lasse, einen Ideenkampf geführt. Trotzki war Marxist und vertrat nie die Idee, dass das wirtschaftlich (und kulturell etc.) rückständige Russland für sich allein den Sozialismus aufbauen könne. Aber wie die Bolschewiki setzte auch er auf die internationalen Auswirkungen der russischen Revolution im wirtschaftlich fortgeschritteneren Westeuropa. Nach Trotzki war die Revolution also im doppelten Sinne permanent. Einmal in dem Sinne, dass sie von der bürgerlichen zur sozialistischen Revolution übergehen würde. Zum anderen in dem Sinne, dass sie von einer russischen zu einer internationalen Revolution übergehen würde. Die Erfahrung der russischen Revolution 1917 hat Trotzki im positiven wie im negativen Sinne bestätigt. Im positiven Sinne dadurch, dass die Revolution nicht bei einer bürgerlichen Revolution stehen blieb. Im negativen Sinne dadurch, dass die Revolution isoliert blieb und es sich als unmöglich erwies, im rückständigen Russland den „Sozialismus in einem Lande“ aufzubauen, wie es Stalin ab 1924 versprach. (Ausführlich zur Entstehung der Theorie der Permanenten Revolution siehe den Sammelband „Auf dem Weg zur Permanenten Revolution“ des Manifest Verlags)

In der Revolution 1905 führte die Übereinstimmung der Bolschewiki mit Trotzki in der Frage des Verhältnisses zwischen Proletariat, Bäuer*innenschaft und Bourgeoisie zu einer praktischen Zusammenarbeit. Als im Oktober 1905 der Petersburger Arbeiter*innenrat (Sowjet) entstand und Trotzki erst sein Vordenker und dann sein Vorsitzender wurde, arbeitete der Sowjet im Sinne Trotzkis und der Bolschewiki. Die Arbeiter*innen kämpften nicht nur gegen den Zarismus, sondern auch für soziale Errungenschaften, insbesondere den Achtstundentag, gegen die Kapitalist*innen. Es ist wahr, dass auch ein Großteil der Petersburger Menschewiki diese Linie unterstütze. Aber das war der Ausdruck ihrer Radikalisierung im Glutofen der Revolution, der sie ihr eigenes Programm missachten ließ. Später haben sie dafür lautstark Selbstkritik geübt, während die Bolschewiki ebenso wie Trotzki auch im Nachhinein die grundlegende Linie des Sowjets verteidigten.

Es ist wahr, dass die über die Radikalität der Arbeiter*innen erschreckte Bourgeoisie ihren Frieden mit dem Zarismus machte, aber wie hätte sich das vermeiden lassen? Der Zarismus war zu den Zugeständnissen bereit, die die Bourgeoisie wollte. Nicht nur die russische, sondern auch die internationale Bourgeoisie unterstützte ihn daraufhin, was seinen sichtbaren Ausdruck in den Anleihen fand, durch die die internationalen Finanzmärkte den Zarismus vor dem Bankrott retteten. Der entscheidende Grund für die Niederlage der Revolution 1905-1907 war, dass sie zwar die Bäuer*innenschaft radikalisierte, aber zu langsam und zu uneinheitlich. Das Heer, das sich im Krieg gegen Japan bis auf die Knochen blamiert hatte, war immer noch stark genug, die örtlich aufflammenden Bauernrevolten zu unterdrücken (nachdem die internationale kapitalistische Diplomatie für einen für den Zarismus glimpflichen Frieden mit Japan gesorgt hatte, der es ihm ermöglichte, jetzt sein Heer auf den Feind im Inneren zu werfen). In den folgenden Jahren wurde das Bündnis zwischen Bourgeoisie und Zarismus immer enger. Es suchte nicht mehr durch innere Reformen nach besseren Profitmöglichkeiten, sondern durch eine imperialistische Außenpolitik. Auf diese Weise führte der Weg direkt in den Ersten Weltkrieg. Und die Politik des Menschewismus, der in dieser Bourgeoisie die Hauptkraft für eine reformerische oder revolutionäre Überwindung des Zarismus sah, wurde immer abwegiger. Leider setzte Trotzki trotzdem weiterhin auf eine Überwindung der Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki und klammerte sich an die Hoffnung, dass letztere sich in einer neuen Revolution wieder radikalisieren und entgegen ihrem opportunistischem Programm handeln würden.

Die Linie des Bolschewismus in den aktuellen Fragen war grundlegend richtig. Aber auch der Bolschewismus war kein über Zeit und Raum hinweg mit sich selbst identisches Etwas. Als der Bolschewismus entstand, war er eine kleine Untergrund-Organisation, in der aus der bürgerlichen Intelligenz stammende Berufsrevolutionär*innen eine große Rolle spielten. Lenin führte auf dem 3. Parteitag im Mai einen Kampf gegen die Komiteetschiks, die Komiteeleute, die mit einer großen Dosis Misstrauen und Verachtung auf die Arbeiter*innen sahen. In der Revolution wuchsen die Bolschewiki zu einer revolutionären Arbeiter*innenpartei mit über 30.000 Mitgliedern an. Nach der Niederlage der Revolution verließen die Mitglieder massenhaft die Partei, der Großteil der Arbeiter*innen, aber ein noch größerer Teil der bürgerlichen Intellektuellen. Es verblieb eine kleine, aber wichtige Schicht von durch die Erfahrung von Revolution und Konterrevolution politisch und organisatorisch geschulten Arbeiter*innen. Als es dann, v.a. ab dem Jahre 1912, einen neuen Aufschwung von Klassenkämpfen gab, entstand um diese Schicht herum der Bolschewismus erneut als revolutionäre Arbeiter*innenmassenpartei, die vom Großteil der am politischen Leben teilnehmenden Arbeiter*innen unterstützt wurde. 1914 führte der Weltkrieg erneut zu einer politischen Massenflucht und 1917 dann die Revolution zu einem Massenzustrom.

Die Schicht von Menschen, die von 1905 bis 1917 organisierte Bolschewiki blieben, war also begrenzt. Das erklärt, warum Lenin auf solche Menschen besonderes Vertrauen setzte, und bei ihnen über negative Seiten hinweg sah (was den Aufstieg Stalins in die Parteiführung erklärt). Es erklärt aber auch, warum viele Biographien nicht so geradlinig waren, wie es die betreffenden Menschen gerne gehabt hätten. Manche zogen sich zeitweise aus der politischen Arbeit zurück (siehe z.B. die Artikel über Krassin und Jenukidse in diesem Band). Andere waren zeitweise in anderen Strömungen aktiv, wie Lunatscharski. Wieder andere kamen erst 1917 zum Bolschewismus, wie Joffe, Rakowski und Trotzki selbst.

Das Revolutionsjahr 1917 war natürlich ein Höhepunkt in Trotzkis Leben. In ihm bestätigte sich nicht nur die von ihm aufgestellte Theorie der Permanenten Revolution. Er konnte nach seinem Beitritt zu den Bolschewiki auch eine zentrale praktische Rolle beim Sieg der Oktoberrevolution spielen. In den hier versammelten Texten spielen die Revolutionsereignisse aber keine allzu große Rolle. (Mehr darüber finden die Leser*innen in seinem Standardwerk „Die russische Revolution“ und dem vom Manifest Verlag herausgegebenen Sammelband „Revolution in Russland“.)

Der russische Bürgerkrieg

Im März 1918 wurde Trotzki Volkskommissar für das Kriegswesen, für Marineangelegenheiten und Vorsitzender des Obersten Revolutionären Kriegsrats. Diese Stellung hatte er bis Anfang 1925 inne und in den ersten Jahren stand sie im Mittelpunkt seiner Tätigkeit. Mehrere der in diesem Band zusammengestellten Nachrufe behandeln Menschen, mit denen er damals (eng) zusammenarbeitete (v.a. Markin, Glasman, Skljanski, Frunse). In den meisten der hier versammelten Texte macht er sich nicht die Mühe, den Bürgerkrieg zu rechtfertigen, in dem er eine zentrale Rolle spielten. Sie hatten eine Zielgruppe, die darin mit ihm einer Meinung war. Anders ist es in dem Artikel „Zwei Tories über einen Revolutionär“, in dem er sich mit den verbalen Angriffen Churchills auf Lenin in dieser Frage befasst und der für ein bürgerliches Publikum bestimmt war.

Selbstverständlich war der russische Bürgerkrieg eine schreckliche Angelegenheit, die viele Unschuldige das Leben kostete, wie auch der Revolution selbst oder dem ab dem Spätsommer 1918 angewandte revolutionäre Terror Unschuldige zum Opfer fielen. Aber man sollte nicht vergessen, dass unmittelbar davor der Erste Weltkrieg mit zehn Millionen Toten und doppelt so vielen Verletzten stattgefunden hatte, die meisten von ihnen ebenso unschuldig (einschließlich Hunderttausender verhungerter Kinder). Wir können den Kapitalismus nur mit den Mitteln und den Kräften (einschließlich der Menschen) überwinden, die er selbst hervorbringt. Er ist ein überaus barbarisches, irrationales, zerstörerisches Gesellschaftssystem. Es wäre reichlich extravagant, zu erwarten, dass dieses System Mittel zu seiner Überwindung hervorbringt, die frei von Barbarei, Irrationalität und Destruktivität sind. Anders als die russische Revolution scheute die deutsche (und österreichische) Revolution von 1918 vor so drastischen Maßnahmen zurück. Zwar wurden die Kaiser gestürzt, aber der Kapitalismus blieb bestehen. Die wirtschaftlich Mächtigen, die damals von der deutschen Sozialdemokratie vor der Revolution gerettet wurden, nutzen ihre Macht dann, um 1933 die Staatsmacht Hitler auszuliefern. Die Folgen waren bekanntlich ein weiterer Weltkrieg mit rund 60 Millionen Toten, die Ermordung von sechs Millionen Jüd*innen etc. Wäre es zur Verhinderung dieser Schrecken ein zu hoher Preis gewesen, wenn die deutsche Revolution russischer gesprochen hätte?

Noch mehr: wenn die russische Revolution nicht isoliert geblieben wäre, hätte sie auch weniger hart sein können. Trotzki verteidigt in seinen Texten die drastischen Maßnahmen, die die Bolschewiki zur Sicherung der Revolution ergriffen. Er erklärt aber auch, dass sie ein Ausdruck von Schwäche waren. Und ihn freute es, als die Revolution so stark wurde, dass sie sanfter werden konnte. „Obgleich wir jetzt zum Glück auch nicht mehr gezwungen sind, eine solche gnadenlose Abrechnung durchzuführen, wie wir sie in den ersten Jahren durchführten, weil wir viel fester wurden…“ sagte er in seiner Gedenkrede über Atarbekow.

Da wir den Kapitalismus so schnell wie möglich auf den Müllhaufen der Geschichte befördern müssen, weil er in unerträglichem Ausmaß Elend, Krisen, Kriege, ökologische Katastrophen etc. erzeugt, ist die einzige Option, die wir haben, dazu beizutragen, dass die Revolution so stark wird (auch durch ihre internationale Ausdehnung), dass Maßnahmen wie in Russland möglichst überflüssig werden.

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In mehreren von Trotzkis Nachrufen und Trauerreden ist zu lesen und zu hören, wie Teilnehmer des Bürgerkriegs danach wichtige Funktionen im wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau ausübten, also in den Feldern, für die die Revolution und der Bürgerkrieg ja gemacht wurden.

Auch Trotzkis eigenes Hauptaugenmerk wandte sich 1920 Fragen des wirtschaftlichen Aufbaus zu, ab 1923 schrieb er zahlreiche Texte zu kulturellen Fragen, von denen einige in dem Sammelband „Fragen des Alltagslebens“ veröffentlicht wurden. Ein paar dieser Texte, die sich mit dem Kampf gegen Frauenunterdrückung befassten, hat der Manifest Verlag eben neu herausgegeben („Revolution und Frauenbefreiung“). Aber auch in den hier veröffentlichten biographischen Texten Trotzkis ist dieses Thema präsent, auch wenn nur zwei der hier Porträtierten Frauen waren. (Weitere Texte über Rosa Luxemburg hat der Manifest Verlag bereits in seinem Band mit Trotzkis Texten über die „Revolution in Deutschland“) veröffentlicht. Insbesondere in der Rezension des Briefwechsels von Engels und Kautsky ist Engels Verhältnis zu Frauen und seine scharfe Kritik an Kautskys Verhalten bei der Scheidung von seiner ersten Ehefrau Thema, mit der Schlussfolgerung: „Die Beziehung zu Frauen ist einer der wichtigsten Maßstäbe für die männliche Persönlichkeit. Engels erachtete offensichtlich, dass in diesem Gebiet der Marxist Kautsky noch ein gewisses Rezept von bürgerlichem Humanismus benötige.“ Heutzutage sind bekanntlich im Zusammenhang mit Sexismus, Rassismus etc. „Privilegientheorien“ sehr in Mode. Trotzkis Rezension zeigt, dass das, was daran richtig ist, guten Marxist*innen wie Engels und Trotzki schon bekannt war, sehr lange bevor es diese Theorien gab.

Arbeitsmethoden

Doch zurück zu den wirtschaftlichen Fragen. Eine Folge davon, dass der Kapitalismus in Russland gestürzt worden war, bevor er eine lange eigenständige Entwicklung durchlaufen hatte, war, dass die russische Arbeiter*innenklasse noch stark im Bäuer*innentum mit seinem Individualismus verwurzelt war. Kapitalistische Fabrikdisziplin hat zwei Seiten. Zum einen gehört sie zur kapitalistischen Ausbeutung, dient dazu, Mehrwert aus den Arbeiter*innen herauszupressen. Zum anderen ist ein Maß an Disziplin aber notwendig, wenn viele Menschen produktiv zusammenarbeiten sollen. Und diese produktive Zusammenarbeit war ihrerseits notwendig, wenn die russische Wirtschaft die Güter zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse erzeugen sollte.

Es war kein Wunder, dass die russischen Arbeiter*innen in der Revolution nicht nur die Kapitalist*innen verjagten, sondern auch deren Fabrikdisziplin abschüttelten. Die Ersetzung der alten Zwangsdisziplin durch eine neue bewusste revolutionäre Disziplin war ein ebenso notwendiger wie schwerer Prozess, viel schwerer als es in einem Land der Fall sein wird, in dem das kollektive Zusammenarbeiten schon eine Tradition von mehreren Generationen aufzuweisen hat. Trotzki versuchte zu ihr beizutragen. Im Jahre 1918 hielt er eine große Rede unter dem ohne Berücksichtigung des Kontextes vielleicht spießig wirkenden Titel „Arbeit, Disziplin und Ordnung werden die sozialistische Sowjetrepublik retten“. Aber auch in seinem biographischen Texten spielt das Lob für vorbildliche Arbeitsmethoden eine wichtige Rolle – und zwar schon vor der Revolution in Bezug auf die Methoden der politischen Arbeit … Trotzki kannte seine Pappenheimer. So lobte er Paul Singer in seinem Nachruf: „Er wusste fest und lehrte andere, dass man jede Sache gut machen muss. Für ihn bestanden keine Kleinigkeiten, wenn die Sache um die Interessen des Proletariats ging: „Kleinigkeiten" sind nur Teil der großen Gesamtheit. In jede seiner Arbeiten trug er jene sittliche Ernsthaftigkeit hinein, welche aus dem Bewusstsein der Wichtigkeit der auszuführenden Sachen entspringt.“

Auch in seinen Nachrufen auf Bürgerkriegskämpfer lobte er nicht nur militärische Eigenschaften, sondern oft gerade solche, die auch für das Arbeitsleben Bedeutung haben, z.B. bei Glasmann und Skljanski. Und über Nika Markin sagte er: „er war einer der kostbaren Charaktere, der nicht nur die ihm aufgetragene Arbeit gewissenhaft verrichtete, sondern sich auch seine eigenen Ziele setzte und alle Anstrengungen unternahm, sie umzusetzen, indem er alle Hindernisse auf dem Weg zerbrach.“

Besonders deutlich war der Zusammenhang mit den aktuellen Aufgaben in seinem Nachruf auf Jewgraf Litkens, der Vorschläge für die Organisation des Volkskommissariats für Bildung erarbeitet hatte: „Sein bestechendster und anziehendster Zug war das Bestreben, dass die Arbeit klar und genau gemacht wird. Das sind eben Eigenschaften, die unserer Arbeit fehlen. Als leidenschaftlichster Revolutionär bekämpfte er trotzdem aufs Heftigste das Bestreben, die klaren, systematischen Arbeitsmethoden durch die revolutionäre Improvisation, vor allem aber durch das unverantwortlichste Dilettantentum zu ersetzen. Solche Arbeiter benötigen wir vor allem. Nur sie können das Chaos auf allen Gebieten überwinden. Solche Arbeiter handeln nicht planlos in der Hoffnung, dass doch etwas dabei herauskommt, sondern suchen nach einem System und arbeiten es heraus, schaffen eine Schule und erziehen nach den Methoden derselben. Ohne Schulung, ohne ein System, ohne die Gewohnheiten, ohne die Traditionen der genauen Arbeit kann man nicht eine sozialistische Organisation der Aufklärung und noch weniger eine sozialistische Gesellschaft mit hoher Kultur schaffen.“

Sicherlich spielte bei dieser Betonung auch Trotzkis eigener Charakter mit seinen Stärken und Schwächen eine Rolle. Trotzki zeigte nach eigenen Angaben seinem Sohn Leo Sedow „gegenüber auch das mir in praktischen Fragen eigene pedantische und anspruchsvolle Wesen. Diese Züge, die bei Arbeiten großen Maßstabes wohl nützlich und sogar unerlässlich, aber im persönlichen Verkehr ziemlich unausstehlich sind, machen den mir am nächsten stehenden Menschen oft das Leben schwer. Und da von der Jugend mein Sohn mir der nächste war, so litt er gewöhnlich am meisten darunter.“ (s. den Nachruf in diesem Band) Auch als Trotzki in seinem Aufsatz über den Briefwechsel von Friedrich Engels und Karl Kautsky Engels' Disziplin und Sorgfalt bei der Herausgabe des zweiten und dritten Bandes des Marxschen „Kapitals“ schilderte, kam darin wohl mehr Trotzkis eigene Persönlichkeit zum Ausdruck als pädagogische Absichten in Bezug auf die russischen Arbeiter*innen, die Trotzkis Schriften 1935 kaum noch erreichten.

Ein wichtiger Aspekt der politischen und wissenschaftlichen Arbeit ist das Verhältnis von Abstraktem und Konkreten. In seinem Aufsatz über Victor Adler stellte er diesen und Karl Kautsky einander gegenüber, „von welchen der eine ohnegleichen in seiner Fähigkeit ist, die empirischen, zeitweiligen und persönlichen Kombinationen der politischen Entwicklungen zu berücksichtigen und zum Ausgangsmoment seiner politischen Handlungen zu machen, während der andere keinen Ebenbürtigen in der Fähigkeit kennt, aus dem empirischen Chaos der Geschichte deren allgemeine, grundlegende Tendenzen auszusondern. Kautsky wird nicht selten des „Dogmatismus", der Vereinfachung der Wirklichkeit beschuldigt, wie Adler der übermäßigen Verehrung ihrer Details; der eine dessen, dass er in manchen Momenten im Wald die Bäume nicht sieht, der andere dessen, dass die Bäume zuweilen den Wald verdecken …“ Auch Jaurès ertastete „jenen Punkt, welcher ihm für den gegebenen Moment entscheidend schien (…) Dem Wesen der Sache nach war er Eklektiker, aber ein genialer.“ (s. den Gedenkartikel von 1915 in diesem Band) Es ist kein Zufall, dass bei Adler und Jaurès die Fixierung auf die Ausnutzung des gegebenen Momentes mit reformistischen und opportunistischen Tendenzen einher ging. Trotz der politisch schädlichen Folgen waren sie aber als Menschen sympathisch, weil sie mit diesen Methoden ehrlich auf hohe Ziele hinarbeiteten. Anders war es bei einem anderen hier Porträtierten. „Seinerseits gibt es im Gebiet des Intellekts bei Stalin eine neue Disproportion: eine außerordentliche Entwicklung des praktischen Scharfsinns und der Pfiffigkeit auf Kosten der Fähigkeiten zur Verallgemeinerung und schöpferischen Vorstellungskraft.“ (s. den Artikel über Stalin in diesem Band)

Es ist offensichtlich, dass bei Trotzki selbst letztere Fähigkeiten in hohem Maße ausgebildet waren. Das zeigte er am schlagendsten, als er in seiner Theorie der Permanenten Revolution schon 1905 fast als einziger vorher sah, dass in der russischen Revolution die Arbeiter*innen an die Macht kommen und mit dem Kapitalismus brechen würden, aber auch in vielen anderen beeindruckend genauen Vorhersagen und Ferndiagnosen. Welcher in Deutschland lebende Mensch hat Anfang der 1930er Jahre die politische Lage, die Gefahr der Machtübernahme durch den Faschismus und die zu ihrer Verhinderung notwendigen Schritte besser analysiert als der damals in die ferne Türkei verbannte Trotzki (siehe z.B. seine in dem vom Manifest Verlag herausgegeben Sammelband „Wie wird der Faschismus geschlagen?“ veröffentlichten Schriften)?

Aber Trotzki war sich auch der Fallstricke der Abstraktion und Verallgemeinerung bewusst. In seiner Gegenüberstellung von Adler und Kautsky lagen seine Sympathien klar mehr bei Kautsky. Trotzdem arbeitet er bei beiden die Einseitigkeit heraus. Und in seinem Aufsatz über den Briefwechsel zwischen Engels und Kautsky werden die Schwächen Kautsky mit Hilfe von Engels genauer benannt, seine „Allwissenheit und passive Selbstzufriedenheit […] Wie leicht fand er Antworten auf die verwickeltsten Fragen! Es ist wahr, Engels neigte selbst zu hastigen Verallgemeinerungen; aber er hatte dafür Adlerschwingen und einen Adlerblick, und mit den Jahren übernahm er von Marx immer mehr eine zu sich selbst gnadenlose wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit.“ Er zitierte Engels' Kritik an Kautskys Neigung zu „apodiktische Behauptungen auf Gebieten, wo Du Dich selbst nicht sicher weißt“, zu „Gemeinplätzlichem, wo eine Lücke im Studium vorlag“. In diesem Kontext schrieb Trotzki über die richtige Anwendung von Abstraktionen: „Engels machte Kautsky Vorwürfe für die vulgäre Missbilligung der ,Abstraktion' – ohne abstrakte Denkweise gibt es allgemein keine Denkweise – und gibt eine klassische Bestimmung einer lebensspendenden und einer toten Abstraktion. ,Marx fasst den in den Dingen und Verhältnissen vorliegenden gemeinsamen Inhalt auf ihren allgemeinsten Gedankenausdruck zusammen, seine Abstraktion gibt also nur in Gedankenform den schon in den Dingen liegenden Inhalt wieder. Rodbertus dagegen macht sich einen solchen mehr oder weniger unvollkommenen Gedankenausdruck, und misst die Ding an diesem Begriff, nach dem sie sich richten sollen' […]. Neun Zehntel der Fehler der menschlichen Denkweise liegen in dieser Formel.“

Der Stalinismus

Oben in der Darstellung von Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution wurde schon vermerkt, dass die Arbeiter*innenklasse in dem rückständigen Russland zwar die Macht übernehmen, aber nicht den Sozialismus aufbauen konnte. Deshalb setzte Trotzki wie Lenin und alle Bolschewiki auf die internationale Ausdehnung der Revolution. Tatsächlich gab es auch Revolutionen in Deutschland, Österreich, Ungarn und anderen Ländern. Diese führten aber anders als in Russland nicht zum Sturz des Kapitalismus. Der zentrale Grund dafür war die Rolle der Sozialdemokratie. Das revolutionäre Russland blieb isoliert. Es bestand eine Übergangsgesellschaft, die nicht mehr kapitalistisch, aber auch noch nicht sozialistisch war. Das Land, das vorher schon wirtschaftlich und kulturell rückständig war, war durch Weltkrieg und Bürgerkrieg weiter verwüstet worden. Natürlich versuchte die Sowjetmacht, auch in nationalem Maßstab so viele Schritte wie möglich in Richtung Sozialismus zu machen. Die ersten Schritte hatten auch beachtliche Erfolge. Das erzeugte bei vielen die Illusion, dass diese Erfolge immer so weiter gehen könnten und schließlich der Aufbau des Sozialismus in einem Lande erfolgen werde. Trotzki verwendete 1930 das Bild des Baues einer Hauswand. „Man muss dem Weltproletariat klar machen, dass das russische sich kein einzelnes sozialistisches Haus bauen kann, dass ein solcher Bau im nationalen Maßstab allgemein unmöglich ist. Sie bauen eine nationale Wand des sozialistischen europäischen, aber in der Zukunft auch Welthauses. Je weiter, desto schwieriger wird es für sie, diese Wand zu errichten, weil sie ohne fristgerechten Bau der anderer Wände umgestoßen werden kann. Darüber, über einer nationalen Wand ein Dach zu errichten, kann auch nicht die Rede sein. Man muss an die gleichzeitige Arbeit mit anderen Ländern nach einem Gesamtplan herantreten.“ (Knirschen im Apparat, 13. April 1930)

Oben war schon von der sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsbürokratie die Rede, die in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg entstand und eine zentrale Rolle dabei spielte, dass die Sozialdemokratie fast aller Länder 1914 ihre internationalistischen Beschlüsse über Bord warf und ihr jeweiliges „Vaterland“ im Krieg unterstützte. Im Vergleich zu der Partei- und Staatsbürokratie, die sich in der Sowjetunion in den 1920er Jahren zu entwickeln begann, war sie aber geradezu niedlich. Diese Bürokratie begann sich zu einer eigenen Schicht, einer Kaste zu entwickeln, die ihre Privilegien verteidigte. Die nach der Revolution bestehende Rätedemokratie wurde unterhöhlt und faktisch durch die Diktatur dieses bürokratischen Apparats ersetzt. An die Spitze dieser Bürokratie gelangte Stalin, der zur Zeit der Revolution ein wenig bekanntes Mitglied der weiteren Parteiführung gewesen war. Trotzki hat diese Entwicklung ausführlich analysiert, v.a. in seiner Schrift „Verratene Revolution“. In diesem Band werden v.a. in seinem Artikel über Rakowski und „Hinter Kremlmauern“ Aspekte davon beschrieben.

Als Ergänzung bringen wir Auszüge aus der Darstellung der psychologischen Seite der Entwicklung in Trotzkis Autobiographie: „Wenn Revolutionäre, die die Eroberung der Macht geleitet haben, an einer bestimmten Etappe – „friedlich“ oder katastrophal – sie zu verlieren beginnen, so bedeutet das in Wirklichkeit den Niedergang des Einflusses bestimmter Ideen und Stimmungen in der führenden Schicht der Revolution oder den Niedergang der revolutionären Stimmungen bei den Massen selbst oder beides zusammen. Die leitenden Kader der Partei, die aus der Illegalität herauskam, waren von revolutionären Tendenzen beseelt, welche die Führer der ersten Revolutionsperiode klar und bestimmt zu formulieren und in der Praxis vollständig und erfolgreich durchzuführen imstande waren. Gerade das machte sie zu Führern der Partei und durch die Partei zu Führern der Arbeiterklasse und durch die Arbeiterklasse zu Führern des Landes. Auf diese Weise vereinigten bestimmte Personen die Macht in ihren Händen. Aber die Ideen der ersten Revolutionsperiode verloren unmerklich die Macht über das Bewusstsein jener Parteischicht, die unmittelbar die Macht über das Land ausübte. Im Lande selbst vollzogen sich Prozesse, die man insgesamt als Reaktion bezeichnen kann. Diese Prozesse erfassten mehr oder weniger auch die Arbeiterklasse, darunter auch ihren in der Partei organisierten Teil. Bei jener Schicht, die den Apparat bildete, entwickelten sich eigene Ziele, denen sie die Revolution unterzuordnen strebte. Zwischen den Führern, welche die historische Linie der Klasse verkörperten und über den Apparat hinauszublicken vermochten und dem Apparat, riesenhaft, schwerfällig, in seiner Zusammensetzung verschiedenartig, den Durchschnittskommunisten leicht aufsaugend, begann sich ein Zwiespalt herauszubilden. Anfangs hatte er einen mehr psychologischen als politischen Charakter. Der gestrige Tag war noch zu frisch. Die Parolen des Oktober hatten sich noch nicht aus der Erinnerung verflüchtigt. Die persönliche Autorität der Führer der ersten Periode war groß. Unter der Hülle der traditionellen Formen wuchs jedoch eine neue Psychologie heran. Die internationalen Aussichten verblassten. Die Alltagsarbeit verschlang die Menschen völlig. Neue Methoden, die den alten Zielen dienen sollten, schufen neue Ziele und vor allem eine neue Psychologie. Die jeweilige Etappe begann sich für viel zu viele in eine Endstation zu verwandeln. Es entstand ein neuer Typus.

Revolutionäre sind letzten Endes aus dem gleichen sozialen Stoff gemacht wie andere Menschen. Aber sie müssen doch irgendwelche ausgeprägte persönliche Besonderheit besitzen, welche es dem historischen Prozess ermöglicht, sie von den anderen zu trennen und zu einer besonderen Gruppe zu verbinden. Der gemeinsame Verkehr, die theoretische Arbeit, der Kampf unter einem bestimmten Banner, die kollektive Disziplin, die Stählung im Feuer der Gefahren bilden allmählich den revolutionären Typus heraus. Man kann mit vollem Recht von einem psychologischen Typus des Bolschewik im Gegensatz etwa zu dem Menschewik sprechen. Bei genügender Erfahrung konnte das Auge – mit einem kleinen Prozentsatz von Irrtümern – sogar nach dem Äußeren einen Bolschewik von einem Menschewik unterscheiden.

Das heißt aber nicht, dass an dem Bolschewik immer alles bolschewistisch war. Eine bestimmte Weltanschauung in Fleisch und Blut zu verwandeln, ihr alle Seiten seines Bewusstseins zu unterwerfen und die Welt der eigenen Gefühle in Übereinstimmung mit ihr zu bringen, das ist nicht allen gegeben, eher nur wenigen. Bei der Arbeitermasse wird dies durch den Klasseninstinkt ersetzt, der in kritischen Zeiten seine höchste Klarheit erreicht. Es gibt aber in der Partei und im Staat eine große Schicht von Revolutionären, die zwar in ihrer Mehrheit der Masse entstammen, sich aber schon längst von ihr getrennt haben und durch ihre Stellung in Gegensatz zu der Masse geraten sind. Der Klasseninstinkt hat sich bei ihnen verflüchtigt. Andererseits fehlt ihnen die theoretische Festigkeit und der Weitblick, um den Prozess in seiner Gesamtheit zu erfassen. In ihrer Psychologie bleiben genügend ungeschützte Stellen, durch die – bei veränderten Verhältnissen – fremde und feindliche geistige Einflüsse frei eindringen können. In Perioden des illegalen Kampfes, des Aufstandes, des Bürgerkrieges waren solche Elemente nur Soldaten der Partei. In ihrem Bewusstsein drang nur eine Saite, und sie klang nach der Stimmgabel der Partei. Als die Spannung nachließ und die Nomaden der Revolution ansässig wurden, erwachten und entfalteten sich in ihnen kleinbürgerliche Eigenschaften, Sympathien und Neigungen selbstzufriedener Beamter. […]

Ich beschränke mich hier auf die psychologische Seite der Sache und lasse die soziale Grundlage beiseite, das heißt die Veränderung der Anatomie der revolutionären Gesellschaft. Letzten Endes entscheiden natürlich diese Veränderungen. Unmittelbar jedoch stößt man zuerst auf ihre psychologische Widerspiegelung. Die inneren Ereignisse entwickeln sich verhältnismäßig langsam, dadurch der oberen Schicht die molekularen Prozesse der Umwandlung erleichternd und die Gegensätze der zwei unversöhnlichen Positionen den Augen der breiten Massen verbergend. Man muss noch hinzufügen, dass die neuen Stimmungen lange Zeit von den traditionellen Formeln verdeckt blieben; sie sind es zum Teil noch jetzt. Das machte die Feststellung, wie weit der Prozess der Verwandlung gediehen war, um so schwieriger. […] Der Widerstand gegen die theoretischen Ansprüche des Marxismus und die politischen Ansprüche der Revolution nahm für diese Menschen allmählich die Form des Kampfes gegen den „Trotzkismus“ an. Unter dieser Flagge vollzog sich die Entfesselung des Kleinbürgers im Bolschewik. Darin eben bestand mein Verlust der Macht, und das ergab die Form, in der dieser Verlust erfolgte.“

Die Linke Opposition

Gegen diese Entwicklung bildete sich Widerstand in der bolschewistischen Partei. Prominentestes Mitglied dieser 1923 entstandenen Linken Opposition war von Anfang an Trotzki. 1924/25 wurde diese Opposition durch die Parteiführung um Stalin, Sinowjew und Kamenew entmachtet. Aber bereits 1925 entstand eine neue oder „Leningrader“ Opposition (Petersburg/Petrograd war nach Lenins Tod 1924 in Leningrad umbenannt worden) um Sinowjew und Kamenew, während v.a. Stalin und Bucharin die neue Parteiführung bildeten. 1926 schlossen sich beide Oppositionsgruppen zur „Vereinigten Opposition“ zusammen.

Bei diesen Auseinandersetzungen handelte es sich nicht um persönliche Machtkämpfe. Die sich herausbildende Führung um Stalin vertrat die Interessen der sich herausbildenden Bürokratenkaste, während die Opposition die Interessen der Arbeiter*innen vertrat. Der Sieg Stalins ist deshalb nicht durch irgendwelche herausragende persönliche Eigenschaften Stalins oder durch Fehler oder Schwächen der Opposition zu erklären, sondern war Ausdruck der Verschiebung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses von den Arbeiter*innen zur Bürokratie. Die Bürokratie griff immer mehr zu Repressalien gegen die Opposition. Ende 1927 wurden viele Oppositionelle aus der Partei ausgeschlossen und kurz danach nach Sibirien, Zentralasien etc. verbannt. Sie hielten die Kommunikation zwischen den Verbannungsorten legal und illegal aufrecht, diskutierten die politischen Entwicklungen und verfassten Dokumente dazu. Die Bürokratie reagierte darauf, indem sie die Kommunikation immer weiter unterband und schließlich Trotzki aus der Sowjetunion in die Türkei ausweisen ließ.

Sinowjew und Kamenew kapitulierten sehr schnell, aber im Verlauf der Jahre kapitulierten alle Oppositionellen mit bekannten Namen und langer politischer Vergangenheit. Rakowski hielt immerhin bis 1934 durch. Aber die physischen und psychischen Kräfte der Menschen sind begrenzt und nach Jahrzehnten von politischem Kampf, der Achterbahnfahrt von Revolution und Konterrevolution waren sie am Ende. Bezeichnenderweise sah es bei vielen jüngeren Oppositionellen, die erst durch Revolution und Bürgerkrieg politisiert worden waren, anders aus. Sie blieben standhaft, bauten in den Lagern illegale Strukturen auf, diskutierten Forderungen, kämpften kollektiv für sie, u.a. durch wochenlange Hungerstreiks. Man kann sagen, dass die illegalen Strukturen der linksoppositionellen „trotzkistischen“ politischen Gefangenen der einzige Ort in der Sowjetunion war, wo noch eine Rätedemokratie bestand. Sehr viele dieser Revolutionär*innen kapitulierten nie und konnten von der Bürokratie nur durch Genickschuss an der Fortsetzung ihres Kampfes gehindert werden.

Währenddessen versuchte der ausgewiesene Trotzki mit gewaltiger Unterstützung durch seinen Sohn Leo Sedow und andere Genoss*innen, den Kontakt in die Sowjetunion zu halten und zugleich Kontakte zu Gleichgesinnten in anderen Ländern aufzubauen. So entstand nach der russischen die Internationale Linke Opposition. Zuerst betrachteten sie sich als (fast immer ausgeschlossene) Oppositionsfraktionen der offiziellen Kommunistischen Parteien und setzten auf eine Reform sowohl der Parteien als auch des Sowjetstaats. Aber ab 1933 änderte Trotzki den Kurs. Nachdem die falsche Politik der Komintern und der deutschen Kommunistischen Partei eine wichtige Rolle dabei gespielt hatte, dass Hitler an die Macht kam, und diese Katastrophe nicht zu einer politischen Erschütterung der Komintern führte, zog Trotzki die Schlussfolgerung, dass diese Parteien und diese Internationale nicht mehr reformierbar, sondern als revolutionäre Kräfte tot waren, und dass daher der Aufbau neuer Parteien und einer neuen Internationale auf der Tagesordnung stand. Zugleich hatte sich in der Sowjetunion gezeigt, dass Stalin die tiefe Krise, in die die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft das Land gestürzt hatte, überlebte und die Oppositionsgruppen, die damals neu entstanden, zerschlagen wurden, ohne dem Regime gefährlich zu werden. Trotzki zog bald die Schlussfolgerung, dass das Stalin-Regime in der Sowjetunion nicht mehr durch Reformen beseitigt werden könne, sondern durch eine politische Revolution gestürzt werden musste. „Politische Revolution“ hieß, dass diese Revolution die durch die russische Revolution geschaffenen ökonomischen Verhältnisse, insbesondere das Staatseigentum an den Produktionsmitteln, die Planwirtschaft und das staatliche Außenhandelsmonopol beibehalten müsse, aber die bürokratische Diktatur, die auf diesen Grundlagen entstanden war, stürzen und durch eine neue Rätedemokratie ersetzen müsse.

Trotzki erkannte, dass die Herrschaft der Bürokratie andernfalls nach und nach die von der Oktoberrevolution geschaffenen Eigentumsverhältnisse untergraben und der Restauration des Kapitalismus den Weg bereiten würde. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erwartete Trotzki, dass die Alternative politische Revolution oder Restauration des Kapitalismus sich schon als Ergebnis des Krieges stellen werde (s. den Text über Stalin in diesem Band). Tatsächlich ging die Sowjetunion für eine ganze Generation gestärkt aus dem Krieg hervor. Trotzdem war Trotzkis Erkenntnis richtig, dass die Bürokratie immer mehr zum Hindernis für die Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft werden würde, je komplexer und je mehr auf demokratische Kontrolle von unten angewiesen diese Wirtschaft werden würde. 1989-1991 zeigte sich, dass Trotzki sich zwar in den Fristen geirrt hatte, die grundlegenden Tendenzen aber völlig richtig erkannt hatte.

1938 wurde die Vierte Internationale gegründet, auf die Trotzki seit 1933 hingearbeitet hatte. (mehr dazu siehe den im Manifest Verlag erschienenen Sammelband „Trotzki, Trotzkismus, Vierte Internationale“)

Stalin verschärfte die Verfolgung von Oppositionelle und Ex-Oppositionellen immer mehr. Anlass war der Mord an dem Leningrader Parteichef Kirow. Es folgten drei große Schauprozesse 1936, 1937 und 1938, in denen ein Großteil der „alten Garde“ der Bolschewiki sich selbst der absurdesten Verbrechen bezichtigte, zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Am 1. Januar 1937 beschrieb Trotzki aufgrund des ersten Prozesses, wie solche Selbstbezichtigungen zustande kamen: „Sämtliche Angeklagten, deren Namen mir bekannt sind, haben früher zur Opposition gehört und dann, aus Angst vor Partei-Spaltungen oder Verfolgungen, beschlossen, um jeden Preis in die Reihen der Partei zurückzukehren. Die regierende Clique verlangte von ihnen das laute Bekenntnis, dass ihr Programm falsch sei. Nicht einer von ihnen hatte das geglaubt, im Gegenteil, alle waren überzeugt, dass die Entwicklung die Richtigkeit des Programms der Opposition bestätigt hatte. Nichtsdestoweniger unterschrieben sie Ende 1927 eine Erklärung, in der sie sich fälschlicherweise „Abweichungen", „Irrtümern" und Sünden gegen die Partei bezichtigten und ihre neuen Führer, für die sie keine Achtung hatten, rühmten. In embryonaler Form sind hier schon die späteren Moskauer Prozesse enthalten.

Es blieb nicht bei der ersten Kapitulation. Das Regime wurde immer totalitärer, der Kampf gegen die Opposition – immer wütender, die Beschuldigungen immer ungeheuerlicher. Politische Diskussionen konnte die Bürokratie nicht zulassen, denn es ging nur noch um ihre Privilegien. Um Gegner ins Gefängnis zu sperren, zu verbannen, zu erschießen genügte die Beschuldigung der „Abweichung" nicht. Man musste der Opposition das Bestreben nachsagen, die Partei zu spalten, die Armee zu zersetzen, die Sowjetmacht zu stürzen, den Kapitalismus zu restaurieren. Um diese Anklage vor dem Volke zu bekräftigen, zog die Bürokratie jedes Mal die früheren Oppositionellen ans Licht, und zwar gleichzeitig in der Eigenschaft von Zeugen und von Angeklagten. So verwandelten sich die Kapitulanten allmählich in professionelle falsche Zeugen gegen die Opposition und gegen sich selbst. In allen reumütigen Erklärungen figurierte unvermeidlich mein Name, als des wichtigsten „Feindes" der UdSSR, das heißt der Sowjetbürokratie: anders hatte das Dokument keine Kraft. Anfangs handelte es sich nur um meine Abweichungen in die Richtung zur „Sozialdemokratie", an der nächsten Etappe war die Rede von konterrevolutionären Folgen meiner Politik, noch später von meinem De-facto-, wenn nicht De-jure-Bündnis mit der Bourgeoisie gegen die UdSSR usw. usw. Der Kapitulant, der den Versuch unternahm, diesen Erpressungen Widerstand zu leisten, stieß stets auf die gleiche Frage: „Also waren Ihre früheren Erklärungen unaufrichtig; Sie sind ein geheimer Feind?" So gestalteten sich die aufeinanderfolgenden Reueerklärungen zu einem Gewicht an den Beinen des Kapitulanten, das ihn in den Abgrund zog.

Sobald politische Schwierigkeiten drohten, wurden die ehemaligen Oppositionellen wieder verhaftet und verbannt, aus nichtigen oder fiktiven Anlässen: die Aufgabe bestand darin, das Nervensystem zu zerstören, die persönliche Würde zu töten, den Willen zu brechen. Nach jeder neuen Repressalie konnte man Amnestie erhalten nur durch eine verdoppelte Erniedrigung. Es wurde gefordert, in der Presse eine Erklärung abzugeben: „Ich gestehe, dass ich in der Vergangenheit die Partei getäuscht, dass ich gegen die Sowjetmacht unehrlich gehandelt habe, dass ich faktisch ein Agent der Bourgeoisie war; ich will von nun an mit den trotzkistischen Konterrevolutionären endgültig brechen …" usw. So vollzog sich Schritt für Schritt die „Erziehung", das heißt die Demoralisierung vieler Zehntausender Parteimitglieder und indirekt der gesamten Partei, der Angeklagten wie der Ankläger. Die Ermordung Kirows (Dezember 1934) hat dem Prozess der Schändung des Parteigewissens eine früher ungekannte Schärfe verliehen. Nach einer Reihe sich widersprechender und falscher offizieller Erklärungen musste sich die Bürokratie, mit einer halben Maßnahme begnügen, nämlich mit dem „Geständnis" von Sinowjew, Kamenew und anderen, dass sie für den terroristischen Akt die „moralische Verantwortung" trügen. Diese Erklärung wurde durch ein einfaches Argument entrissen: „Wenn ihr uns nicht helft, die moralische Verantwortung für die terroristischen Akte der Opposition aufzuerlegen, so zeigt ihr damit eure faktische Sympathie mit dem Terror; wir werden mit euch dann entsprechend verfahren." An jeder neuen Etappe erhob sich vor den Kapitulanten immer die gleiche Alternative: entweder sich lossagen von den früheren „Geständnissen" und sich auf einen hoffnungslosen Konflikt mit der Bürokratie einlassen – ohne Banner, ohne Organisation, ohne persönliche Autorität, – oder einen weiteren Schritt abwärts machen und sich und die anderen mit immer größeren Lumpereien belasten. So sieht die Progression des Absturzes aus! Stellte man ihren ungefähren „Koeffizienten" fest, dann konnte man im Voraus den Charakter des „Reuebekenntnisses" an der nächsten Etappe voraussagen. Ich habe mehr als einmal diese Operation in der Presse vorgenommen.

Zur Erreichung ihrer Ziele hat die GPU viele ergänzende Mittel. Nicht alle Revolutionäre haben sich in den zaristischen Gefängnissen würdig benommen: die einen bereuten, die anderen verrieten, die dritten baten um Gnade. Die alten Archive sind längst untersucht und klassifiziert. Die wertvollsten Dossiers werden in Stalins Sekretariat aufbewahrt. Es genügt, so ein Papierchen herauszuholen, damit ein hoher „Würdenträger“ in den Abgrund stürzt.

Andere, hunderte heutiger Bürokraten befanden sich in der Epoche der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges im Lager der Weißen. So zum Beispiel die Blüte der Stalinschen Diplomatie: Trojanowski, Majski, Chintschuk, Suritz etc. So die Blüte der Journalistik: Kolzow, Saslawski und viele andere. So der schreckliche Ankläger Wyschinski, die rechte Hand Stalins. Die junge Generation weiß es nicht, die alte tut, als habe sie es vergessen. Es genügt, laut an die Vergangenheit eines Trojanowski zu erinnern, und die Reputation des Diplomaten liegt in Scherben. Stalin ist darum imstande, von Trojanowski jede Erklärung und jedes Zeugnis zu verlangen: die Trojanowskis geben sie ohne Zögern.

Dem Reuebekenntnis einer größeren Figur gehen in der Regel Dutzende falscher Zeugnisse voraus von Personen aus deren Umgebung. Die GPU beginnt mit Verhaftungen der Sekretäre, Stenographen, Schreibmaschinistinnen und verspricht ihnen nicht nur die Freiheit, sondern auch allerhand Privilegien, wenn sie die nötigen Aussagen gegen ihren gestrigen „Patron" machen. Schon im Jahre 1924 hat die GPU meinen Sekretär Glasmann zum Selbstmord getrieben. Im Jahre 1928 beantwortete der Chef meines Sekretariats, Ingenieur Butow, die Versuche der GPU, von ihm falsche Zeugnisse gegen mich zu erlangen, mit dem Hungerstreik und starb am fünfzigsten Tage im Gefängnis. Zwei meiner anderen Sekretäre, Sermux und Posnanski, haben Gefängnis und Verbannung seit 1929 nicht verlassen. Welches ihr Schicksal jetzt ist, ist mir unbekannt. Nicht alle Sekretäre zeichnen sich durch solche Standhaftigkeit aus. Die Mehrzahl von ihnen wird durch die Kapitulationen ihrer Patrone und der gesamten verfaulten Atmosphäre des Regimes demoralisiert. Um Smirnow oder Mratschkowski Aussagen zu entreißen, bewaffnete sich der GPU-Inquisitor zuerst mit falschen Denunziationen ihrer näheren und ferneren Mitarbeiter, ihrer Verwandten und früherer Freunde. Das auserwählte Opfer erweist sich am Ende derart in ein Netz falscher Zeugnisse verstrickt, dass jeder Widerstand zwecklos erscheint.

Die GPU beobachtet aufmerksam die Familienverhältnisse der hohen Beamten. Der Verhaftung der späteren Angeklagten geht nicht selten die Verhaftung der Ehefrau voraus. Im Prozess selbst figurieren die Ehefrauen in der Regel nicht; sie helfen aber der GPU während der Untersuchung, den Willen des Mannes zu brechen. In vielen Fällen entschließen sich die Verhafteten zu Geständnissen unter der Drohung mit intimen Enthüllungen, die das Opfer in den Augen der Ehefrau und der Kinder kompromittieren können. Sogar in den offiziellen Berichten kann man Spuren dieses Spieles hinter den Kulissen entdecken! Ein zahlreiches Menschenmaterial für die Gerichtsamalgame liefern die große Schicht schlechter Administratoren, wirklicher oder angeblicher Schuldigen der wirtschaftlichen Misserfolge und schließlich die im Umgang mit öffentlichen Geldern nachlässigen Beamten. Die Grenze zwischen Legalem und Illegalem ist in der UdSSR sehr nebelhaft. Neben dem offiziellen Gehalt existieren zahllose inoffizielle und halblegale Almosen. In normalen Zeiten gehen diese Operationen ungestraft durch. Aber die GPU hat die Möglichkeit, jederzeit ihr Opfer vor die Wahl zu stellen: zugrunde zu gehen als einfacher Defraudant und Dieb oder den Versuch zu machen, sich als Oppositioneller zu retten, der von Trotzki auf den Weg des Landesverrates verlockt wurde.

Doktor Ciliga, ein jugoslawischer Kommunist, der fünf Jahre in Stalins Gefängnissen zugebracht hat, erzählt, wie man die Widerstand Leistenden einige Male am Tage aus ihrer Zelle in den Hof führt, wo die Erschließungen stattzufinden pflegen. Das wirkt. Man wendet kein glühendes Eisen an. Wahrscheinlich auch keine spezifischen Medikamente. Es genügt die „moralische" Wirkung solcher Spaziergänge.

Die Einfältigen fragen: Warum aber fürchtet Stalin nicht, dass seine Opfer vor einem öffentlichen Gericht plötzlich zu sich kommen und die Fälschung enthüllen könnten? Dieses Risiko ist ganz minimal. Die Mehrzahl der Angeklagten zittert nicht nur für sich, sondern auch für ihre Angehörigen. Es ist nicht so einfach, sich im Gerichtssaal zu einer effektvollen Geste zu entschließen, wenn Frau, Tochter, Sohn oder alle zusammen als Geiseln in den Händen der GPU sind. Und was heißt es, die Fälschung entlarven? Physische Folter hat es ja nicht gegeben. Die „freiwilligen" Geständnisse jedes einzelnen Angeklagten sind die natürliche Fortsetzung seiner vorangegangenen Reueerklärungen. Wie soll er den Gerichtssaal und die Menschheit glauben machen, dass alle Erklärungen und Geständnisse im Laufe von zehn Jahren nur eine Verleumdung seiner selbst waren?

Smirnow hatte den Versuch gemacht, vor Gericht die „Geständnisse", die er in der Voruntersuchung abgelegt hatte, zurückzunehmen. Sofort wurde ihm als Zeugin seine Frau gegenübergestellt, man hielt ihm seine eigenen früheren Aussagen vor, alle übrigen Angeklagten verleumdeten ihn sofort. Ferner muss man die feindliche Atmosphäre des Saales hinzurechnen. Nach den Telegrammen und Korrespondenzen der diensteifrigen Journalisten scheint die Verhandlung „öffentlich". In Wirklichkeit ist der Saal angefüllt mit GPU-Agenten, die absichtlich bei den dramatischsten Stellen kichern und den viehischen Ausfällen des Staatsanwalts applaudieren. Ausländer? Gleichgültige Diplomaten, der russischen Sprache nicht mächtig, oder ausländische Journalisten vom Typus Durand, die eine fertige Meinung in der Tasche mitgebracht haben! Ein französischer Journalist hat sehr bildlich beschrieben, wie Sinowjew mit heißen Blicken den Saal abtastete und, kein einziges mitfühlendes Gesicht findend, hoffnungslos den Kopf sinken ließ. Man füge dem noch hinzu: die Stenotypistinnen, völlig in der Hand der GPU, der Vorsitzende, der jeden Augenblick die Sitzung abbrechen kann, die Agenten der GPU, die Publikum markieren, können jeden Moment ein wütendes Geheul anstimmen. Alles ist vorgesehen. Alle Rollen verteilt. Der Angeklagte, der während der Voruntersuchung sich mit der ihm aufgezwungenen schändlichen Rolle abgefunden hat, findet keinen Anlass, sie vor Gericht zu ändern: er riskiert nur den letzten Schein einer Hoffnung auf Rettung. Rettung? Aber Sinowjew und Kamenew konnten, nach der Meinung der Herren Pritt und Rosenmark, nicht damit rechnen, ihr Leben zu retten durch Bekenntnisse nicht begangener Verbrechen. Warum nicht? Es hat in der Vergangenheit mehrere Prozesse gegeben, wo Angeklagte durch falsche Selbstbezichtigungen ihr Leben retteten. Die erdrückende Mehrzahl der Menschen, die an allen Enden der Welt den Moskauer Prozess verfolgte, hat auf die Begnadigung der Angeklagten gehofft. Dasselbe wurde auch in der UdSSR beobachtet. Ein interessantes Zeugnis darüber finden wir in dem Londoner „Daily Herald", einem Organ jener Partei, deren Parlamentsfraktion Herr Pritt schmückt. Gleich nach der Hinrichtung der 16 schreibt der Moskauer Korrespondent des „Daily Herald": „Bis zum letzten Moment haben die 16 heute Erschossenen auf die Begnadigung gehofft." (Up to the last moment the 16 men shot to day had hoped for clemency.) Und er fügt hinzu: „Man vermutete in breiten Kreisen, dass das erst vor fünf Tagen angenommene Sonderdekret, das den Angeklagten das Appellationsrecht gibt, zum Zwecke ihrer Begnadigung erlassen wurde." (It had been widely supposed that a special decree passed only five days ago giving them the right to appeal, had been issued in order to spare them.) Dieses Zeugnis beweist, dass sogar in Moskau bis zur letzten Stunde die Atmosphäre der Hoffnung auf eine Begnadigung geherrscht hat. Diese Hoffnungen wurden mit Absicht von den höchsten Stellen verbreitet und genährt. Das Todesurteil nahmen die Angeklagten, nach den Worten von Augenzeugen, ruhig, als etwas Selbstverständliches auf: sie hatten begriffen, dass ihren theatralischen Reuebekenntnissen nur das Todesurteil Gewicht verleihen konnte. Sie begriffen nicht, oder gaben sich Mühe, nicht zu begreifen, dass das richtige Gewicht dem Todesurteil nur seine Vollstreckung verleihen kann. Kamenew, der überlegendste und nachdenklichste von allen Angeklagten, hatte offensichtlich die größten Zweifel in Bezug auf den Ausgang der ungleichen Abmachung. Aber auch er hat sich wohl hundertmal wiederholen müssen: Wird es Stalin tatsächlich wagen? Stalin hat es gewagt. In den ersten zwei Monaten des Jahres 1923 bereitete sich der kranke Lenin darauf vor, einen entscheidenden Kampf gegen Stalin aufzunehmen. Er fürchtete, dass ich auf Konzessionen eingehen könnte, und warnte mich am 5. März: „Stalin wird einen faulen Kompromiss schließen und dann betrügen." Diese Formel gibt besser als jede andere die politische Methodologie Stalins wieder, auch in Bezug auf die 16 Angeklagten: er hat mit ihnen einen „Kompromiss" abgeschlossen – durch den Untersuchungsrichter der GPU – und hat sie dann betrogen – durch den Henker.

Stalins Methoden waren für die Angeklagten kein Geheimnis. Noch im Jahre 1926, als Sinowjew und Kamenew offen mit Stalin gebrochen hatten, und in den Reihen der linken Opposition die Frage diskutiert wurde, mit welchem Gegner wir einen Block schließen könnten, sagte Mratschkowski, einer der Helden des Bürgerkrieges: „Mit keinem: Sinowjew wird davonlaufen, Stalin – betrügen." Dieser Satz wurde sprichwörtlich. Sinowjew schloss mit uns bald danach einen Block und „lief" bald danach tatsächlich „davon". Hinterher „lief davon", neben vielen anderen, allerdings auch Mratschkowski. Die „Davongelaufenen" versuchten einen Block mit Stalin zu bilden. Dieser ging auf ein „faules Kompromiss" ein und betrog später. Die Angeklagten mussten den Kelch der Erniedrigungen bis auf den Grund leeren. Dann stellte man sie an die Wand.

Die Mechanik ist, wie wir sehen, an und für sich nicht kompliziert. Sie erfordert nur das totalitäre Regime, das heißt das Fehlen jeglicher Freiheit der Kritik, militärische Unterwerfung der Angeklagten, Zeugen, Untersuchungsrichter, Sachverständigen, Staatsanwälte, Richter unter einer Person und vollständige Gleichschaltung der Presse, die mit ihrem Wolfsgeheul die Angeklagten einschüchtert und die öffentliche Meinung hypnotisiert.“ („Stalins Verbrechen“)

Die Hauptangeklagten in Abwesenheit der Moskauer Prozesse waren aber Trotzki selbst und sein Sohn Leo Sedow. Im Februar 1938 starb letzterer an den Folgen einer harmlosen Operation. Die Annahme war naheliegend, dass Stalins Geheimdienst nachgeholfen hatte. So blieb nur noch Trotzki selbst übrig. Am 20. August 1940 schlug ihm ein von Stalin beauftragter Attentäter einen Eispickel in den Schädel und am folgenden Tag starb er an den Verletzungen.

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Lebensstationen Trotzkis

Da in den biographischen Texten immer wieder auch persönliche Begegnungen Trotzkis mit den in den Texten behandelten Menschen erwähnt werden, mag ein sehr kurzer Überblick über die Lebensstationen Trotzkis beim Verständnis helfen.

Er wuchs in der Ukraine auf, gründete 1897 den südrussischen Arbeiterbund, wurde 1898 verhaftet und 1899 nach Sibirien verbannt. Von dort floh er 1902 nach Westeuropa. In seinem Aufsatz über Victor Adler umschrieb er die Flucht aus der Verbannung als „Durchreise aus einem sehr östlichen Gouvernement“. In Westeuropa nahm er Kontakt zu Lenin auf, arbeitete an der „Iskra“ mit, schloss sich aber 1903 den Menschewiki an, gehörte jedoch bald keiner der Fraktionen mehr an. Im Februar 1905 war er einer der ersten Revolutionär*innen, die nach dem Beginn der Revolution nach Russland zurückkehrten. Davon ist auch in seinem Text über Adler die Rede. Seine politische Arbeit in Kiew und Petersburg taucht in den Texten über Krassin und Litkens auf.

Nach erneuter Verbannung und Flucht ließ er sich 1907 in Wien nieder (davon ist in mehreren Texten die Rede), wo er ab 1908 die Wiener Prawda herausgab. Gleichzeitig schrieb er viele Artikel für die Kijewskaja Mysl, die ihn auch 1912/13 als Kriegskorrespondenten auf den Balkan schickte.

Zu Beginn des Krieges musste er Hals über Kopf Wien verlassen (s. „Victor und Friedrich Adler“). Nach Zwischenstation in der Schweiz ließ er sich in Paris nieder, arbeitete wieder als Korrespondent für Kijewskaja Mysl und spielte gleichzeitig eine zentrale Rolle bei der in Paris erscheinenden russischen internationalistischen Emigrantenzeitung, die erst „Golos“ (Stimme), hieß, dann in „Nasche Slowo“ (Unser Wort) und schließlich „Natschalo“ (Anfang) umbenannt wurde. Im Herbst 1916 wurde er aus Frankreich ausgewiesen, kam über Spanien in die USA. Von dort kehrte er nach Revolutionsbeginn und einem unfreiwilligen Zwischenstopp im kanadischen Kriegsgefangenenlager Amherst nach Russland zurück. Dort schloss er sich den Bolschewiki an, spielte eine führende Rolle in dieser Partei, im Petrograder Sowjet und bei der Organisierung der Oktoberrevolution. Nach dem Sieg der Revolution war er in der Revolutionsregierung, dem Rat der Volkskommissare für Auswärtige Angelegenheiten zuständig und leitete die Friedensverhandlungen mit Deutschland und dessen Verbündeten in Brest-Litowsk. Danach wurde er Volkskommissar für das Kriegswesen, für Marineangelegenheiten und Vorsitzender des Obersten Revolutionären Kriegsrats. Seine Tätigkeit bestand vom Augst 1918 bis 1920 vor allem darin, in dem für ihn geschaffenen gepanzerten Zug von einer Front zur nächsten zu fahren, Lücken zu stopfen, die Moral zu heben etc. In diesem Band ist ein Nachruf auf Glasman enthalten, der ihm im Zug u.a. als Stenograph diente, und einer auf seinen Stellvertreter Skljanski, der damals in Moskau für die Koordination sorgte, den Kontakt zur politischen Führung, zu den anderen Fronten hielt (soweit das Trotzki nicht direkt von seinem Zug aus machte).

Nach dem Sieg im Bürgerkrieg war Trotzki in Moskau, wo er im Kreml wohnte (s. den Text „Hinter Kremlmauern“ und den über Stalin). Wegen seiner Oppositionstätigkeit musste er erst den Kreml verlassen, dann Moskau (Verbannung nach Zentralasien 1928), dann die Sowjetunion (Ausweisung in die Türkei 1929). Es folgten die letzten elf Jahre des Exil: in der Türkei (1929-1933), Frankreich (1933-1935), Norwegen (1935-1936) und Mexiko (1937-1940).

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Zu den Texten

Die in diesem Band versammelten Texte sind zu verschiedenen Zeiten, aus verschiedenen Anlässen, für ein verschiedenartiges Publikum geschrieben worden. Mehrere Artikel erschienen in der Zeitung Kijewskaja Mysl. Trotzki schreibt in seiner Autobiographie über die Mitarbeit an dieser Zeitung: „Die Kijewskaja Mysl war die im Süden verbreitetste radikale Zeitung marxistischer Färbung. Eine solche Zeitung konnte nur in Kiew existieren, mit seiner schwachen Industrie, seinen unentwickelten Klassengegensätzen und den starken Traditionen des intellektuellen Radikalismus. […] Ich schrieb in der Zeitung über die verschiedensten, mitunter im Sinne der Zensur gewagtesten Themen. Kleine Artikel waren manchmal das Resultat großer Vorarbeiten. Natürlich konnte ich in einer legalen parteilosen Zeitung nicht alles das sagen, was ich wollte. Aber ich habe niemals das geschrieben, was ich nicht sagen wollte. Meine Artikel aus der Kijewskaja Mysl sind von dem Staatsverlag in einigen Bänden gesammelt und neu herausgegeben worden. Ich habe nichts zurückzunehmen gebraucht. Es ist vielleicht nicht überflüssig, hier daran zu erinnern, dass ich an der bürgerlichen Presse mit formeller Zustimmung des Zentralkomitees, in dem Lenin die Mehrheit hatte, mitarbeitete.“

Andere Artikel erschienen in Zeitungen der Arbeiter*innenbewegung, an denen er häufig maßgeblich mitarbeitete, wie der Wiener Prawda, der Pariser Zeitungen Nasche Slowo und Natschalo, der in seinem Bürgerkriegs-Zug erstellten W Putj. Seine Mitarbeit am menschewistischen Ljutsch dauerte aus politischen Gründen nur kurz, die an der amerikanischen Nowy Mir dauerte nur kurz, weil er die USA bald wieder verließ. Die meisten der Nachrufe und Gedenkreden aus den 1920er Jahren auf bolschewistische Funktionäre wurden in der Prawda veröffentlicht.

Mitte der 1920er Jahre hatte Trotzki eine zwiespältige Rolle. Auf der einen Seite war er Teil der höchsten Parteiführung (des Politbüros), auf der anderen Seite stand er an der Spitze der Linken Opposition. Der Kampf der Opposition fand nicht nur wegen der verschiedenen Repressalien unter schwierigen Bedingungen statt, sondern auch, weil die Herausbildung der stalinistischen Bürokratie ein völlig neues Phänomen war. Vor allem machte es die objektive Lage, die Ermüdung nach den Strapazen von Revolution und Bürgerkrieg, das Zurückfluten der revolutionären Welle international, die das Bewusstsein der sowjetischen Arbeiter*innen zurückwarf, äußerst schwierig, Unterstützung für die Anliegen der Opposition zu bekommen. Unter diesen Umständen nahm sich die Opposition das Recht, selbst zu entscheiden, zu welchen Zeitpunkten und zu welchen Fragen sie den Kampf gegen die Bürokratie aufnahm, während die Bürokratie ihrerseits versuchte, der Opposition den Kampf zu anderen Zeitpunkten und Fragen aufzudrängen.

Eine Folge war, dass in den Mitte der 1920er Jahren erschienen Bänden der Trotzki-Werke die Opposition kein Thema war. Nicht nur wurden keine Oppositionstexte veröffentlicht. Auch in den ausführlichen biographischen Anmerkungen werden zwar Zugehörigkeiten zu Oppositionsfraktionen 1918 oder 1920 erwähnt, aber die Linke Opposition seit 1923 wurde nicht erwähnt. Ähnliches gilt für die Texte selber. In dem Nachruf auf Glasman wird geschrieben, dass er durch einen „Fehler“ aus der Partei ausgeschlossen wurde und sich deshalb umbrachte. Aber natürlich war ein solcher Fehler gegenüber einem der engsten Mitarbeiter Trotzkis kein Zufall, sondern Teil der Kampagne der Sinowjew-Kamenew-Stalin-Fraktion gegen Trotzki. Obwohl der Nachruf diesen Kontext ausklammerte, durfte er damals nicht in der Tagespresse erscheinen – aber immerhin in der Werksausgabe. Weder in dem Nachruf auf Skljanski noch in dem auf Frunse wird erwähnt, dass es Teil der Kampagne gegen Trotzki war, Skjanski als Stellvertreter Trotzkis durch den Sinowjew-Gefolgsmann Frunse zu ersetzen und auf einen ihm völlig fremden Wirtschaftsposten umzusetzen. Es wird auch nicht erwähnt, dass der Tod Frunses eintrat, als dieser Gefolgsmann Sinowjews sich nach dem Bruch des Bündnisses zwischen Stalin und Sinowjew auf Befehl Stalins einer Operation unterzog, vor der die Ärzte wegen der hohen Risiken abgeraten hatten. Zum Hintergrund des Flugzeugabsturzes von Mjasnikow, Mogilewski und Atarbekow schrieb Trotzki selbst fast dreizehn Jahre später in dem Artikel „Hinter Kremlmauern“. Der Nachruf auf Krassin, der deutlich aussprach, dass dieser sich nach der Niederlage der Revolution 1905-1907 über viele Jahre von der politischen Arbeit zurückgezogen hatte, konnte in der Sowjetunion gar nicht legal erscheinen. Stalin stützte sich in seinem Kampf gegen die Opposition auch auf diese Art von „alten Bolschewiki“ und unterstützte sie beim Frisieren ihrer Biographien.

Nach dem Ersten Weltkrieg gab Trotzki eine Sammlung seiner im Krieg erschienen Artikel heraus und versah sie mit einer ausführlichen Einleitung, die auch viele biographische Skizzen von Menschen enthielt, die damals Mitarbeiter oder Gegner (oder, wie Martow, beides) waren. Diese biographischen Skizzen wurden dann beim Erscheinen der russischen Werke-Ausgabe in den Band der biographischen Texte übernommen. Zwei von ihnen (über Kautsky und über Hugo Haase und Karl Liebknecht) hat der Manifest Verlag bereits in dem Sammelband „Revolution in Deutschland“ veröffentlicht. Die Restlichen erscheinen jetzt in diesem Band.

Als Trotzki 1917 in New York ankam, veröffentlichte er eine Artikelserie mit Erinnerungen an die ersten Kriegsmonate in Europa (den USA stand der Kriegseintritt ja noch bevor) in der russischen Emigrantenzeitung Nowy Mir (die damals z.B. auch in der deutschsprachigen „New Yorker Volkszeitung“ abgedruckt wurde). Der Text über Victor und Friedrich Adler ist dieser Artikelserie entnommen.

Einen ganz ungewöhnlichen Charakter für Trotzki hat dessen Aufsatz von 1926 über Lenin. Er wurde für einen Ergänzungsband der Encyclopedia Britannica geschrieben. Natürlich geriet auch dieser Artikel in den Strudel der sowjetischen Fraktionsauseinandersetzungen. Es wurde eine Kommission eingerichtet, in der die Stalin-Bucharin-Fraktion zahlreiche Änderungen am Text verlangte. Trotzki versuchte, die Änderungen einzuarbeiten, aber die Angelegenheit wurde so zermürbend, dass Trotzki vorschlug, den Text zurückzuziehen. Darauf ging dann wieder die Parteiführung nicht ein. Auf die Chance, dass der Beitrag über Lenin im wichtigsten Lexikon der Welt von Trotzki statt von einem bürgerlichen Autor stammte, wollten sie dann doch nicht aus fraktionellen Motiven verzichten. Weitere Veränderungen erfolgten dann möglicherweise durch den Herausgeber. Aber immerhin stammte in den Encyclopedia-Britannica-Ausgaben 1926-1939 der Beitrag über Lenin von Trotzki. Wir bringen hier den ursprünglichen Trotzki-Text.

Trotzkis Antwort auf die Verleumdungen Lenins durch Churchill erschien 1929 in der britischen Literaturzeitschrift „John O’London’s Weekly“. Trotzkis Artikel über Stalin erschien Anfang Oktober 1939 in der US-Zeitschrift „Life“. Trotzki nutzte für diesen Aufsatz das emporgeschnellte Interesse in der US-Öffentlichkeit nach dem Hitler-Stalin-Pakt und die Verwirrung, in die dieser Pakt die Kreml-nahen US-Intellektuellen gestürzt hatte, die bisher Stalin als Bollwerk gegen Hitler verherrlicht hatten, um mit seiner Sicht ein ihm bisher verschlossenes Publikum zu erreichen. Auch diese beiden Artikel bringen wir nach dem russischen Trotzki-Text, dem gegenüber die englische Übersetzung Abweichungen aufweist.

Der Nachruf auf Lunatscharski erschien in der deutschen Exil-Zeitschrift „Neue Weltbühne“ die in der ersten Phase ihres Bestehens mehrere Trotzki-Texte veröffentlicht hatte.

Andere Texte erschienen in verschiedenen Sprachen in den Publikationen der Linken Opposition oder in dem den ersten beiden Moskauer Prozessen gewidmeten Buch „Stalins Verbrechen“.

Der lange Aufsatz von 1933 über Rakowski war für ein geplantes, nicht zustande gekommenes Buch mit biographischen Texten bestimmt.

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Es ist klar, dass nicht alle Artikel oder Reden ausgewogene Urteile über die behandelten Personen darstellen. In Nachrufen wird das ohnehin nicht erwartet. Außerdem zeigte der begnadete Redner Trotzki eine gewisse Milde gegenüber den politischen Schwächen anderer großer Redner. Das galt schon für die Einleitung über Ferdinand Lassalle aus dem Jahre 1905, die der Manifest Verlag in dem Sammelband „Auf dem Weg zur Permanenten Revolution“ veröffentlicht hat. Das gilt auch für seine Texte über Victor Adler und Jaurès in diesem Band. (Andererseits schrieb er über Engels: „Er verhielt sich sogar mit einer Schattierung von Geringschätzung zu ,Rednern', meinte nicht ohne Grund, dass sie zum Banalisieren von Gedanken neigen.“)

Auf der anderen Seite zeigte z.B. der Text über Radek eine große Härte. Es ist richtig, dass Trotzki 1929 grundlegend mit Radek brach. Während der gemeinsamen Oppositionszeit hat er ihn aber als einen der besten marxistischen Journalisten gepriesen. Aber hier muss man den Kontext sehen. Radek hatte sich im zweiten Moskauer Prozess selbst als einen der engsten Mittäter von Trotzkis angeblichen Verbrechen verleumdet. Vor diesem Hintergrund war es nur im Interesse von Stalins Opfer Radek, den Abgrund, der zwischen ihnen inzwischen bestand, unversöhnlich zu schildern.

Paul Singer

[„Prawda" Nr. 18-19, 29. Januar/11. Februar 1911, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926}, S. 3-5]

Singer starb1, Paul Singer ist nicht mehr unter uns, eine kräftige Gestalt der Arbeiterinternationale verließ die Bühne. Es lichten sich die Reihen der ruhmreichen Veteranen, die an der Wiege der internationalen Sozialdemokratie standen …

Der junge Singer war ein reicher jüdischer Kaufmann nach der Herkunft, ein Demokrat nach der Sichtweise und kehrte schnell der degenerierenden bürgerlichen Demokratie in Deutschland den Rücken zu und gab seine Kräfte, wie auch seine materiellen Mittel, seine Zeit, wie auch sein Talent – sein ganzes Leben der proletarischen Demokratie. Bereits am Ende der 60er Jahre waren seine Sympathien auf Seiten der Sozialdemokratie. Aber lange hielt er sich im Schatten. erst Anfang der 80er Jahre, in der Epoche der grausamen Polizeiverfolgungen der Sozialisten, als viele zaghafte „Mitläufer", wie auch bei uns in der Epoche der Konterrevolution, mit der Arbeiterpartei brachen und zu ihren Komplizen davongingen, löste Singer, umgekehrt, abschließend seine Verbindung zur bürgerlichen Gesellschaft und trat aktiv in die Reihen von deren Todfeinden ein. Hand in Hand mit Bebel und Liebknecht, leitete er die Arbeit jener, welche Stein auf Stein die mächtige Festung des Proletariat, die stärkste politische Partei der Welt aufbauen, – die deutsche Sozialdemokratie. Er war unermüdlicher Organisator der Partei und ihrer Presse, Mitglied des Zentralkomitees [Parteivorstands], Mitglied des Berliner Stadtrats (Stadtduma), Deputierter des Reichstags (Parlaments), Vorsitzender der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion, schließlich ständiger Vorsitzender der Parteitage der deutschen Sozialdemokratie und internationaler sozialistischer Kongresse – der Rote Präsident.

Er wusste fest und lehrte andere, dass man jede Sache gut machen muss. Für ihn bestanden keine Kleinigkeiten, wenn die Sache um die Interessen des Proletariats ging: „Kleinigkeiten" sind nur Teil der großen Gesamtheit. In jede seiner Arbeiten trug er jene sittliche Ernsthaftigkeit hinein, welche aus dem Bewusstsein der Wichtigkeit der auszuführenden Sachen entspringt. Singer verstand wie wenige, dass für eine aus den Niederungen des Lebens auf die Gipfel historischen Schaffens emporsteigende Klasse, jede Position bedeutend war, wo sie sich verschanzen, breit ihre Banner entfalten und für die eigene fernere Bewegung festen Fuß fassen konnte – vorwärts und weiter nach oben. Als Deputierter war Singer der beste Kenner der Mechanik des Parlamentarismus; als Mitglied des Stadtrats war er der beste Kenner der städtischen Wirtschaft. Schließlich war er der beste Vorsitzende in der ganzen Internationale, gelassen, aufmerksam, unvoreingenommen, nichts verpassend. Und bei all dieser seiner tiefen und sorgfältigen Aufmerksamkeit für Details, für die ganzen Räder und Schräubchen des bürgerlichen gesellschaftlichen Mechanismus, verlor Singer niemals die allgemeinen Aufgaben der Bewegung aus den Augen. Umgekehrt: die Details nutzte er immer gerade im Interesse des Allgemeinen aus, aber als für einen wahrhaften Marxisten war das Ganze in der Politik für ihn die Eroberung der Staatsmacht für das Proletariat im Namen der sozialen Revolution. Singer war und blieb entschlossener Gegner des opportunistischen Reformismus, er war proletarischer Revolutionär bis ins Knochenmark …

Noble Sorgfalt in allen Zweigen der Parteiarbeit; Unermüdlichkeit bei der Erledigung der Parteipflichten; die Kunst der revolutionären Ausnutzung aller Möglichkeiten, die uns der bürgerliche Bau eröffnet, – dies werden wir russischen Sozialdemokraten von dem großen Verstorbenen noch lange und fleißig lernen müssen.

Aber das ist noch nicht der ganze Singer. Als Revolutionär und Parteimensch konnte Singer nicht nur für seine Meinung kämpfen, sondern sich auch der höchsten Verpflichtung der Parteieinheit unterwerfen. Alle wussten, dass bei jeglichem organisatorischen Konflikt Singer als Vorsitzender des ZK, Singer als Vorsitzender des Parteitags, Singer als Vorsitzender der Parlamentsfraktion, niemals unter dem Einfluss persönlicher Sympathien die Waagschale der Parteientscheidung auf die unrechte Seite senkte. Singer hielt das für alle gemeinsame Parteirecht, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit in Parteibeziehungen unermüdlich ein. Darauf beruhte seine unüberwindliche sittliche Autorität: Aufrichtigkeit ist eine politische Kraft, sie erobert. Und ohne sittliche Autorität gibt es keinen proletarischen Führer: weil nicht mechanische Disziplin, sondern freie sittliche Verbindung den proletarischen Bund verbindet … Im Laufe der Zeiten wurde der Rote Präsident die Verkörperung des Rechts der proletarischen Demokratie, ein lebendes Symbol der Einheit der proletarischen Armee. und auf diesem Gebiet wird Singer für uns Russen, welchen noch bevorsteht, unsere Parteimoral auszuarbeiten, ein wunderbares sittliches Vorbild bleiben.

Paul Singer starb mit 67 Jahren, Hunderttausende Berliner Proletarier geleiteten seine Asche zum Grab, aber die Sache seines Geistes wird in den Herzen von Millionen leben.


  1. Am 18./31. Januar 1911 – d. Red. [der Сочинения]

Am Sarge Franz Schuhmeiers

[„Ljutsch" Nr 32, 8./21. Februar 1913, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926}, S. 5-7]

Die Natur gab ihm ein brennendes, niemals erlöschtes Temperament, eine heilige Fähigkeit, sich erneut und erneut zu empören, zu lieben, zu hassen und zu verfluchen. Die Herkunft gab ihm eine leibliche, niemals erschlaffte Verbindung zu den leidenden und kämpfenden Massen. Die Partei gab ihm Verständnis der Bedingungen der Befreiung des Proletariats. Alle zusammen schufen diese wunderbare Persönlichkeit, bekannt und geschätzt, aber nun weit über die Grenzen Wiens und Österreichs hinaus beweint.

Die Arbeiterklasse benötigt Führer aus verschiedenartigsten Depots. Auswanderer aus den bürgerlichen Klassen, welche die alten gesellschaftlichen Bande zerrissen, welche sich innerlich umgestalteten, welche die Bedeutung ihrer Leben mit der Bewegung und dem Wachsen der Arbeiterklasse identifizierten, – solche Führer spielen eine große Rolle in der Geschichte der Arbeiterklasse. Zunächst die großen Utopisten – Saint Simon, Fourier, Owen, – danach die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus – Marx, Engels, Lassalle – gingen aus den bürgerlichen Klassen hervor. Kann man sich etwa unsere deutsche Partei – in ihrer Entwicklung – ohne Liebknecht, ohne Singer vorstellen? Oder ohne Kautsky? Die österreichische Sozialdemokratie ohne Victor Adler? Den französischen Sozialismus ohne Lafargue, Jaurès und Guesde? Die russische Sozialdemokratie ohne Plechanow.

Über diese glänzenden Dissidenten erstatten die besitzenden Klassen – gegen ihren Willen – dem Proletariat Teilchen jener wissenschaftlichen Kultur zurück, die sie in jahrhundertelangen Anstrengungen in der Finsternis der versunkenen Volksmassen ansammelten. Und das Proletariat kann stolz darauf sein, dass seine historische Mission wie ein mächtiger Magnet vornehme Geister und kräftige Charaktere aus den besitzenden Klassen zu sich anzieht. Aber solange sich die Führung des politischen Kampfes in den Händen nur dieser Führer befindet, können sich die Arbeiter nicht von dem Gefühl befreien, dass sie sich alle noch unter politischer Vormundschaft befinden. Zuversichtliches Selbstbewusstsein und Klassenstolz durchdringen sie in vollem Maße erst dann, wenn sie von unten in die erste Reihe ihre eigenen Leute leitend nach vorne stellen, mit ihnen zusammen gewachsen sind und mit ihrer Persönlichkeit alle politischen und geistigen Eroberungen der Arbeiterklasse verkörpern. In solchen Führern betrachtet sich das Proletariat wie in einem Spiegel, im welchem es die besten Seiten des eigenen Klassen-Ichs sieht.

Für das Wiener Proletariat war – insofern ich nach fünfjährigen Beobachtungen über es urteilen kann – ein solcher Klassenspiegel zuallererst Franz Schuhmeier.

Ich konnte mich sehr wenig mit Schuhmeier auf persönlichem Boden treffen. Aber ich hörte ihn nicht nur einmal in Volksversammlungen, im Parlament und auf Parteitagen. Und es genügte vollauf, Schuhmeier einige Male zu sehen und zu hören, um ihn zu kennen. Denn er ähnelte am allerwenigsten einer in sich verschlossenen „rätselhaften" Natur. Er war ein Mensch des Handelns, des Handgemenges, des Aufrufs, der Straße, des Ansturms, – er verkörperte sich im Handeln und ging im Handeln auf. Über ihn kann man die Worte des griechischen Philosophen sagen, dass er alles Seine in sich trug. Deswegen nahmen wir, wenn wir ihm zuhörten, nicht nur sein Denken im Gewande lebender Wörter wahr, immer treffsicher, immer die seinen, – wir sahen den ganzen Schuhmeier im Handeln, im athletischen Kampf um die Seele seiner Zuhörerschaft.

Wenn du dir hinter dem Rücken dieser wunderbaren, aus Energie und Kühnheit geschaffenen Figur die andere, finstere und jämmerliche Figur des „christlich-sozialen" Mörders mit der Browning in der Hand vorstellst, erschüttert die tragische Bedeutung des Geschehenen von den Füßen bis zum Kopf.

Welches unmittelbare Motiv den Mörder leitete, diese Frage lassen wir beiseite. Aber wer dieser Unglückliche – nicht als Persönlichkeit, aber als Typ – war, wissen wir: er ist gleichfalls Proletarier, aber ein Abtrünniger, ein Klassenüberläufer. Er wollte nicht zusammen mit seiner Klasse auf ihrem großen historischen Wege gehen. In feindseligen historischen Kräften – Staat, Kirche und Kapital –, deren Existenz auf physischer Versklavung und geistigem Stumpfsinn der Massen beruht – suchte der Mörder Alliierte gegen die eigene Klasse, als jene strebte, ihm ihre kollektive Disziplin aufzuerlegen. Baufällige Vorurteile, welche die Wiege des Proletariats umringen, Instinkte der Sklaverei, jämmerlicher Egoismus verbanden sich in diesem Abtrünnigen – er verkörperte in sich alles Schlimme in der Vergangenheit der werktätigen Massen, wie Schuhmeier die besten Züge ihrer Zukunft verkörperte. Und hier steht die finstere sklavische Vergangenheit in rasendem Krampf gegen die Zukunft auf.

Wer weiß? Vielleicht lebte auch in diesem Abtrünnigen eine innerliche eiternde Wunde, das Bewusstsein seines Ausgestoßenseins – und die Verachtung gegen sich selbst verwandelte sich in blinden Hass, in tödlichen Neid auf all jenes, was es in der sozialistischen Bewegung an Hohem und Wunderbarem gibt – auf ihre Verachtung für den ganzen ererbten Aberglauben, auf ihre Freiheit von allen Instinkten der Sklaverei, auf ihre sittliche Kühnheit, auf ihre lebensfrohe Zuversicht in ihren Sieg. Und der wilde Hass entlud die Browning.

Was sie, die Wachen der Ordnung und des Gesetzes, nun mit dem Mörder machen werden, welcher sich doch gleichfalls als Menschen der Ordnung und des Gesetzes erachtete, das ist uns schließlich ganz gleich. Auf diesem Wege werden wir sittliche Befriedigung nicht finden. Uns bleibt, die Toten ihre Toten begraben zu lassen.

Und Franz Schuhmeier bleibt bei uns. Wir werden bloß das beerdigen, was an ihm sterblich war. Aber sein Geist lebt in unseren Herzen – der unversöhnliche Geist eines revolutionären Tribuns.

Victor Adler

[„Kijewskaja Mysl" Nr. 191, 13./26. Juli 1913, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926}, S. 7-16]

Österreich gab der Arbeiterbewegung zwei bemerkenswerte und zur gleichen Zeit nach dem Inventar der eigenen Denkweise tief gegensätzliche Persönlichkeiten: Victor Adler und Karl Kautsky. Und das ist kein Zufall. Es ist kein Zufall, dass dieses ungereimte Land, in dem nicht nur das „Handwerk des politischen Propheten", sondern auch die Arbeit der politischen Verallgemeinerung überaus schwierig ist, zwei Sozialisten hervorbrachte, von welchen der eine ohnegleichen in seiner Fähigkeit ist, die empirischen, zeitweiligen und persönlichen Kombinationen der politischen Entwicklungen zu berücksichtigen und zum Ausgangsmoment seiner politischen Handlungen zu machen, während der andere keinen Ebenbürtigen in der Fähigkeit kennt, aus dem empirischen Chaos der Geschichte deren allgemeine, grundlegende Tendenzen auszusondern. Kautsky wird nicht selten des „Dogmatismus", der Vereinfachung der Wirklichkeit beschuldigt, wie Adler der übermäßigen Verehrung ihrer Details; der eine dessen, dass er in manchen Momenten im Wald die Bäume nicht sieht, der andere dessen, dass die Bäume zuweilen den Wald verdecken …

Indem er nach dem deutschen Ausdruck aus der Not eine Tugend machte, konnte Adler aus den unglückseligen österreichischen Bedingungen seinen politischen Vorteil ziehen: er entwickelte seine reiche politische Intuition bis zur Vollkommenheit, erarbeitete sich ein vorzügliches Augenmaß, machte taktische Improvisation zum wichtigsten Pfand des politischen Erfolgs … „Wer A sagt, muss auch B sagen" – bekräftigt die bekannt Formel der Aufeinanderfolge. „Nichts ist in der Politik fehlerhafter als dieser Gedanke" – erwidert Adler. Eine einzige und absolute Taktik, die man theoretisch hätte vorausbestimmen können, ist nicht vorhanden. Politik ist keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Sie lässt die Freiheit der Auswahl zwischen einigen Möglichkeiten, sie verlangt freie Erforschung der Wege, Findigkeit, Geschmeidigkeit, Schaffenskraft.

Um in diesem Österreich, wo sich die Politik so lange im verzauberten Kreis der sich wiederholenden nationalen Konflikte drehte, weit vorwärts schauen zu lernen, war es notwendig, mit einer beinahe physischen Anstrengung des Denkens aus dem eigenen Sichtfeld alles Partielle, Untergeordnete, Zufällige, sich Wiederholende zu entfernen, alles, was die Nahrung für das politische Heute bildet, die Fähigkeit der Abstraktion in beständiger Anspannung zu halten. Auf diesem Wege ging die Entwicklung Kautskys, und es ist wiederum kein Zufall, dass Adler in allen seinen Wurzeln mit Österreich verwachsen war, das er nicht müde wird zu verfluchen, aber der halbe Tscheche, halbe Deutsche Kautsky sich gezwungen erwies, sich von seiner Heimat loszureißen und nach Deutschland mit seinem kräftigen Automatismus der sozialen Entwicklung weiterzuziehen.

Adler betrat in der ersten Hälfte der 80er Jahre aktiv den Weg der Parteipolitik, als die Arbeiterbewegung in den Schraubstock des Ausnahmegesetzes gepresst, im Kampf zweier Fraktionen – der „radikalen" und „gemäßigten" – zerfleischt war. Dieser Kampf spiegelte die Schwierigkeiten der Anpassung der sozial unversöhnlichen Klasse an die politisch-rechtlichen Normen des pseudokonstitutionellen Staats wider. Die eine Fraktion – die „radikale" – verschmähte das „Spiel mit dem Parlamentarismus", den Kampf um Reformen, die Ausnutzung „legaler" Methoden des Zusammenschlusses und Handelns vollkommen. Die Radikalen verwandelten die Klassenunversöhnlichkeit des Proletariats in nackte anarchistische Phrasen über den künftigen „großen Tag" und gerieten in ihrer „Vorbereitungs-"Arbeit in die Verwirrung einer Praxis von Fabrikterror und Expropriationen. Die andere Gruppe widerspiegelte das Bedürfnis der Anpassung der noch schwachen fortschrittlichen Arbeiterschicht an die Bedingungen des damaligen österreichischen Rechts oder der Rechtlosigkeit. Diese waren Legalisten und Reformisten, was auch immer es kosten möge. Ihre grundlegende Linie war ein Opportunismus der Schwäche. Sie strebten, sich an jede „wohlwollende" Kraft anzulehnen: an die Nationaldemokraten wie auch an das „sozialreformerische" Kabinett. Adler riss sich von den deutschen Demokraten los, in deren Reihen er erstmals den politischen Weg betrat, und stellte im Jahre 1886 die legale Zeitung „Gleichheit"1, die erste sozialdemokratische Zeitung auf dem Boden Österreichs, auf die Beine. Trotz der Herrschaft der Ausnahmegesetze, nahm die Zeitung sofort einen Kampfton an. Die „radikalen" Arbeiter verhielt sich zu ihr in der ersten Zeit misstrauisch: sie war legal, auf ihr prangte der Stempel des Teufels. Die Regierung witterte in Adler einen größeren politischen Meister und gefährlichsten Feind und ließ die Zeitung gewähren in dem Wunsch, auf diesem Wege sie und ihren Redakteur in den Augen der Arbeiter abschließend zu kompromittieren. Adler nahm einen noch entschlosseneren Ton an. Die Regierung duldete das mit pfiffiger Miene. Mit jener Findigkeit, welche Adler immer erlaubte, alle Seiten einer Lage einzuschätzen und aus ihr alles herausziehen, was sie geben kann, unternahm er einen auf seine Art beeindruckenden Zweikampf mit der Polizei: von Nummer zu Nummer nahm er in seiner Zeitung einen immer entschlossener Ton an, prüfte bewusst das Ausmaß der Geduld der Wiener Machiavellis und das Ausmaß ihrer Torheit. Indessen war das Eis des Misstrauens der Arbeiter gebrochen. Der Instinkt flüsterte ihnen zu, dass sich in dieser legalen Zeitungshülle ein Teilchen ihrer eigenen Seele verbarg. Die fanatische Feindschaft der Radikalen und Gemäßigten war beseitigt, die Extreme beider Strömungen überwunden, der Boden für eine Vereinigung vorbereitet. An Weihnachten des Jahres 1888 tagte der Parteitag in Hainfeld, der das von Adler ausgearbeitete Programm annahm und abschließend beide Flügel versöhnte. Die vorgeschichtliche Periode der österreichischen Arbeiterbewegung endete, die Geschichte begann. Im Jahre 1889 besann sich schließlich die Regierung und schloss die „Gleichheit". Aber es war bereits spät, – eine Arbeiterzeitung war eine Notwendigkeit geworden. Adler gründet die „Arbeiter-Zeitung", die bis zum heutigen Tag existiert. Diese zwei Zeitungen, merken wir beiläufig an, absorbierten vollständig das sehr beträchtliche persönliche Vermögen Adlers.

Mit dem Ende der 80er Jahre war Adler der anerkannte und unstreitige Führer der österreichischen Sozialdemokratie. Führer ist ein zweideutiges Wort. Führer „führen" nicht nur die Massen hinter sich, sondern gehen auch selbst hinter ihnen. „Seit eh und je“ – sagte Adler auf einem der Parteitage, – „konzentrierte ich meine Aufmerksamkeit nicht nur auf die Gedanken, sondern auch auf die Stimmungen der Massen". Hinter den Massen gehen ist auch ebenso schwer, wie sie zu führen. Letztendlich ist es dasselbe. Man muss nicht nur die Gabe besitzen, die Massen zu belauschen, sondern auch ihre vagen Ansprüche in die Sprache des politischen Bewusstseins und deutlicher Forderungen umsetzen können. Eine tiefe und allseitige Verbindung mit den Massen ist die Hauptkraft Adlers, und diese sittliche Verbindung schätzte er auf seinem ganzen politischen Weg mehr als alles. „Ich wäre eher bereit“, – sagt er, – zusammen mit den Arbeitern einen Fehler zu machen, als gegen sie Recht zu haben".

Ein Führer einer zeitgenössischen europäischen Arbeiterpartei ist der Mittelpunkt eines mächtigen organisatorischen Apparats. Wie jeder Mechanismus ist dieser letztere von alleine träge: er schafft nicht Energie, sondern gibt ihr bloß eine zweckmäßige Anwendung. Und zur gleichen Zeit stellt er nicht selten Behinderungen für sie dar. In allen größeren historischen Aktionen wird die Aktivität der Massen zuallererst die tote Trägheit der sozialdemokratischen Organisation überwinden müssen. So müssen die lebenden Kräfte des Dampfes den Konservatismus der Maschine selbst überwinden, bevor das Schwungrad in Bewegung kommen wird.

Der Apparat bindet die Führer mit den Massen zusammen und trennt sie zur gleichen Zeit von ihnen ab. Er bricht ihre Stimmungen, dämmt ihre Impulse ein und splittert zur gleichen Zeit die leitenden Ideen der Führer auf. In ihm nehmen neben lebendigen Verkörperungen der Energie und des Idealismus der junge Klasse Elemente einen nicht geringen Platz ein, welche auf der einen Seite selbst zu weit von den Massen entfernt sind, als dass sie deren Pulsschlag unmittelbar empfinden, aber auf der anderen eine unzureichend reiche historische Aneignung der Gedanken haben, um die Bewegung in ihrer Gänze zu überblicken. Zu ihm gehören neben wunderschönen Edelmetallklumpen nicht wenige Bürokraten, nicht nur im technischen, sondern auch im intellektuellen Sinne, nicht wenige beschränkte Räsoneure und Zimmer-Besserwisser, die geneigt sind, ihre kleinen Ideen den „Vorurteilen" der historischen Entwicklungen gegenüberzustellen.

In der Kunst des Überwindens der zentrifugalen Tendenzen und des Haltens der verschiedenen Meinungen, Sympathien, Fertigkeiten, Temperamente in lebendige Verbindung kennt Adler niemand sich ebenbürtigen. Er handelt nicht nur unter dem Druck der Massen, sondern auch durch die Kraft der persönlichem Überlegenheit, mit den Mitteln der innerlichen Diplomatie, des psychologischen Einfangens der Menschen. Er setzt nicht nur Weichheit in Gang, sondern auch Härte; er ermahnt nicht nur und erobert mit Charme, sondern tötet auch mit Ironie. Junge österreichische Politiker könnten darüber viel erzählen, besonders jene, welche in die Partei mit der festen Überzeugung eintreten, dass eine ungefähre Bekanntschaft mit dem römischen Recht dem Menschen das unabdingbare Recht gibt, die Schicksale der Arbeiterklasse zu leiten.

Adler ist nicht nur frei von allem Fanatismus der Formen, vom Fetischismus der Wörter, sondern er behandelt, – das ist viel schlechter, – alle beliebigen prinzipiellen Beschlüsse und Resolutionen überaus geringschätzig. Er meint, dass man denselben Gedanke verschieden zum Ausdruck bringen kann, und er ist der Meinung, dass man ein Viertel der eigenen Gedanke preisgeben darf dafür, dass man die Partei auf die übrigen drei Viertel vereinigt. Falls das nicht stattfindet, gibt er sich auch mit zwei Dritteln zufrieden und sogar mit einem. „Falls ich in die Parteigeschichte als fabelhafter Optimist eintreten werde, als Mensch, welchem im höchsten Grad gleichgültig ist (dem es Wurst ist2), ob er sich so oder anders ausdrückt, dann wird der Umstand mich nicht im Geringsten genieren". Er kann sehr gut Kompromisse schließen und kann seine Parteigegner zwingen ihm entgegenzugehen. Nicht nur auf österreichischen Parteitagen, sondern auch auf internationalen Kongressen spielt er deshalb eine große Rolle. Ihm wurden nicht nur einmal Vorwürfe dafür gemacht, dass er seine Meinung erst bilde, nachdem er alle Redner anhört. Und darin gibt es seinen Teil an Wahrheit. Adler sucht unter allen Bedingungen unermüdlich eine Versöhnungsformel und sorgt sich nicht im Geringsten darum, „ob er sich so oder so ausdrückt".

Adler ist kein Theoretiker, weder nach der Eigenschaft seiner Psychologie, noch nach der Art seiner Beschäftigung. Er ist Politiker vom Kopf bis zu den Füßen. Er selbst nannte sich nicht nur einmal mit Stolz Agitator. Aber je mehr die Partei wuchs, je verwickelter ihre Aufgaben wurden, desto mehr Zeit und Kräfte nahm sie von der Arbeit der höchsten Führung weg. Hierher gehört vieles: auch das Aussprechen der letzten Worte zu den folgenden Fragen der Taktik, auch die Leitung der Parlamentsarbeit der Fraktion, auch verwickelte administrativ-finanzielle Unternehmen (Arbeiterhäuser, Druckereien usw.), und schließlich all die Arbeit hinter den Kulissen der Verhandlungen, Vereinbarungen, Ermahnungen, Bewegungen, ohne welche keine menschliche Organisation lebt, besonders keine österreichische. Adler entfernte sich natürlich und unmerklich von der Journalistik, – aber er ist mit seiner feinem Ausdruckskraft und Treffsicherheit ein vorzüglicher politischer Publizist! – und war immer mehr und mehr gezwungen, seine unmittelbare Massenagitation zu beschränken … parallel damit ging seine volle opportunistische Umwandlung.

Das Bestreben, jeden historischen Moment an der Kehle zu fassen, alle Möglichkeiten jeder politischen Situation bis zur Neige zu erschöpfen, bringt Adler Jaurès näher. Aber welche riesige Differenz hinter dieser Ähnlichkeit! „Wir Deutschen“, – sagte Adler in einer der Kommissionen des Stuttgarter Kongresses, – „haben keine Neigung zu dekorativer Politik, zu welcher bei Ihnen, den Franzosen, eine große Schwäche besteht … Ja, Ja, Vaillant3“, – antwortete er auf einen Ausruf aus dem Plenum, – „ich weiß, dass Sie ein Franzose mit einer deutschen Seele sind, aber auch Sie sprechen notgedrungen in der Sprache Ihrer Heimat". Abscheu vor Dekorativem bildet einen sehr wichtigen Zug im psychologischen Erscheinungsbild Adlers. Sein Verstand ist außerordentlich konkret und erbarmungslos scharfsinnig. Kräftige analytische Geister – im Gegensatz zu synthetischen – pflegen gewöhnlich zu Skeptizismus geneigt zu sein, vor welchem sie sich – falls sie sie besitzen – mit Ironie schützen. Und Victor Adler besitzt diese Gabe in höchstem Maße.

„Das Handwerk des Propheten ist ein undankbaren Handwerks, aber in Österreich besonders". Dies ist der beständige Refrain Adlerscher Reden. Auf demselben Stuttgarter Kongress (im Jahre 1907) stellte sich ein gewisser Vertreter der australischen Gewerkschaften als Mystiker heraus (bei Angelsachsen geschieht das!) und teilte zum Abschluss seiner Rede liebenswürdig der Zuhörerschaft mit, dass ihm vor kurzem eine Vision hinsichtlich der unzweifelhaften Ankunft der sozialen Revolution im Jahre 1910 gekommen sei. Bei der Übermittlung dieser Rede in die zwei anderen Sprachen vertuschte der übersetzende Franzose edelmütig die Prophezeiung, aber der redliche Deutsche erklärte aufrichtig, dass es am Ende der Rede einen großen Unsinn gab. Diese Episode rief viel Gelächter hervor. „Egal wie“ – resümierte Adler seinen Eindruck im Wandelgang – „mir persönlich sind politische Vorhersagen auf Basis der Apokalypse angenehmer als Weissagungen auf Basis der materialistischen Geschichtsauffassung" … Dies war selbstverständlich ein Scherz. Dennoch war es nicht nur ein Scherz, sondern auch etwas Größerеs: der ganze Skeptizismus betreffs der Möglichkeiten politischer Prognosen in diesem Lande, wo alle Karten vom Spiel des historischen Prozesses und dem Stumpfsinn der Regierenden so chaotisch gemischt werden.

Adler ist nach seinem ursprünglichen Fachbereich psychiatrischer Arzt und obendrein ein guter Psychiater. Mehr als einmal sagte er in seinem ausdrucksvollen Stil: „Mag sein, dass gerade der Umstand, dass ich rechtzeitig lernte, mit Bewohnern psychiatrischer Krankenhäuser umzugehen, mich auf den Umgang mit österreichischen politischen Persönlichkeiten vorbereitete". Und jetzt noch nimmt Adler, wenn die politische Lage in „diesem" Österreich ihm hoffnungslos vorzukommen beginnt, nach seinen Worten irgendeine psychiatrische Forschung aus dem Regal und legt, indem er seine Bekanntschaft mit der seelischen Welt der Wahnsinnigen auffrischt, erleichtert das Buch auf die Seite: „Nein, noch ist nicht alles verloren"…

Der Redner Adler ist völlig besonders. Wer von einem Redner malerische Bilder, eine kräftige Stimme, Reichhaltigkeit der Gesten, ungestümes Pathos erwartet, möge Jaurès zuhören. Wer vom Redner auserlesene Vollkommenheit des Stils und ebensolche Vollkommenheit der Gesten verlangt, möge Vandervelde zuhören. Adler wird weder das eine noch das andere geben. Er hat eine gute, innere Stimme, aber keine kräftige, und obendrein beherrscht Adler seine Stimme nicht: unökonomisch vergeudet er sie und ist am Ende einer Rede heiser und hustet. Seine Gesten sind nicht reichhaltig, wenn auch sehr ausdrucksvoll. Man muss noch hinzufügen, dass Adler ziemlich kräftig stottert, besonders am Anfang einer Rede. Doch zugleich ist er einer der bemerkenswertesten Redner Europas. In seinen Reden, wie in seiner ganzen Persönlichkeit und Tätigkeit, ist das äußerlich-dekorative Element auf ein Minimum reduziert. Eine Schablone oder ein Schema, möge es auch das auserlesenste sein, ist ihm vollkommen fremd. Jede seiner Reden ist individuell. Er entfaltet nicht aus Anlass einer gegebenen Gelegenheit fertige allgemeine Vorschriften, sondern entwickelt die innere Logik jedes Anlasses. Er liebt die persönliche Charakteristik und die Charakteristik der Eigentümlichkeit eines Moments, und wenn er redet, grübelt er. Er ordnet nicht einfach eine Person oder Erscheinung in eine bestimmte politische Kategorie ein, er steht vor seinem Objekt als analysierender Naturforscher (nicht selten als Psychiater), dreht das Objekt langsam um seine Achse und erzählt, was er in ihm fand. Falls dieses Objekt eine lebende Person, ein politischer Gegner ist, dann muss er zur Zeit dieser Operation das Empfinden haben, dass er an einem Bratspieß von allen Seiten gebraten wird. Das stärkste Werkzeug Adlers ist seine Ironie, sie ist tief, weil von sittlichem Inhalt erfüllt, und zur gleichen Zeit allgemeinverständlich, lebendig-treffsicher. Als polemischer Redner ist Adler unerreichbar. Er achtet selbstverständlich auch zufällige, untergeordnete Fehlgriffe des Gegners nicht gering, aber seine Hauptaufgabe ist immer, die grundlegende, kapitale Torheit im Verhalten der feindseligen Partei oder Regierung aufzudecken. Gerade die Torheit. Adler macht sich selten die Mühe, öffentlich die objektiven historischen Widersprüche zu analysieren, die der Lage der Parteien und Politik innewohnen. Dazu ist er selbst zu sehr Politiker, zu sehr subjektiv, fühlt sich zu wenig als Historiker. Er nimmt die Politik, wie sie ist, als lebende Arbeit lebender Menschen, von welchen er das Recht zu haben meint, Vernunft und Mut zu fordern, und mit verwunderlicher Findigkeit eröffnet er ihnen, dass die Haupt-Sprungfeder ihrer Handlungen Torheit, ja sogar Feigheit ist. Und wenn er redet und für seine Gedanken die genauesten, überzeugendsten und festnagelndstenen Worte aufsammelt und seine Arbeit mit einem Mienenspiel begleitet, das von Ausbrüchen von Ironie erleuchtet wird, dann scheint sogar auch der organische Defekt seiner Rede als Notwendigkeit: kurze Pausen, die darauf abzielen, das Stottern zu bewältigen, führen die Zuhörer irgendwie an die schöpferische Arbeit des Redners heran, – als ob das Material trotzt und nicht sofort dem Meißel erliegt.

Adler ist ein unvergleichlicher Gesprächspartner und hört im Gespräch nicht nur den Worten und Gedanken zu, sondern auch dem Unterschwelligen, was den Menschen antreibt und dessen Gedanken und Worte häufig nur dazu hervorbringt, um sich zu tarnen. Auf dieser inneren Klaviatur spielt Adler unvergleichlich. Deswegen ist ein Gespräch mit ihm nicht nur der höchste Genuss, sondern auch eine beständige Beunruhigung

Das erste Mal hatte ich im Jahre 1902 die Gelegenheit, dem „Doktor" – so dessen populärer Name – zu begegnen, im Oktober, auf der Durchreise aus einem sehr östlichen Gouvernement. Das Geld reichte mir auf dem Weg nur bis Wien. Nach größeren Überlegungen begab ich mich in die Redaktion der „Arbeiter-Zeitung". Sie befand sich damals noch in der Mariahilferstraße in einem Mietshaus (vor zwei Jahren zog die Zeitung in ein prächtiges eigenes Haus um). Der Tag war ein Sonntag, alles stand leer.

– „Kann ich Adler sehen?“ – fragte ich einen Menschen, der die Treppe herabstieg.

– „Heute? Unmöglich!“

– „Aber ich habe eine bedeutend Sache.“

– „Dann werden Sie sie bis Montag aufschieben müssen.“

– „Aber ich habe eine sehr bedeutende Sache.“

– „Selbst wenn Sie die Kunde darüber brächten, dass in Petersburg der russische Zar umgebracht wurde, auch das gäbe Ihnen nicht das Recht, die Sonntagsruhe des Doktors zu verletzen … Bei uns finden Landtagswahlen statt, Adler sprach gestern in sieben Versammlungen, bis vier Uhr nachts redigierte er die Zeitung, aber nun ist es, wie Sie sehen, neun Uhr morgens.“

Letztendlich, erfuhr ich dennoch die Adresse des Doktors und begab mich zu ihm in die Wohnung. Zu mir kam ein Mensch von mittelgroßem Wuchs heraus, gebeugt, beinahe bucklig, mit geschwollenen Augenlidern in einem müden Gesicht, das mit ungewöhnlicher Ausdruckskraft sagte, dass dieser Mensch zu gescheit sei, um einfach „gut" sein, aber dass er dennoch zu gut sei, um nicht mildernde Umstände für deine Schuld zu finden.

– „Verzeihen Sie, Doktor, dass ich Ihre Sonntagsruhe verletzte …“

– „Weiter, weiter …“ – sagte er streng, aber in einem solchen Brustton, welcher nicht entmutigte, sondern ermutigte.

– „Ich bin Russe …“

– „Na, das mussten Sie mir nicht noch besonders mitteilen, ich hatte wirklich Zeit, es zu erraten…“

Ich war konfus geworden und mit der deutschen Syntax aus dem Konzept gekommen und legte dar, was los war. Dabei fühlte ich mich wie ein Objekt schneller, aufmerksamer und sicherer Beobachtungen.

– „Sieh einer an? So sagten sie Ihnen in der Redaktion? Nehmen Sie dies nicht zu ernst. Falls in Russlands tatsächlich etwas derartiges geschehen wird, dürfen Sie auch in der Nacht bei mir klingeln…“

Das zweite Mal sah ich Adler im Februar des Jahres 1905, auf der Durchreise nach Petersburg. Der Emigrantenstrom strömte damals zurück, nach Russland. Adler war völlig von russischen Angelegenheiten aufgesogen: er trieb für Emigranten Pässe, Geld auf…

– „Ich erhielt gerade“ – teilte er mir mit, – „ein Telegramm von Axelrod, dass Gapon im Ausland ankam und sich zum Sozialdemokraten erklärte. Wissen Sie, für ihn wäre es besser, nach dem 9. Januar ganz und gar nicht an der Oberfläche aufzutauchen. Wäre er verschwunden, in der Geschichte wäre eine schöne Legende verblieben. Aber in der Emigration wird er nur eine komische Figur sein. Wissen Sie,“ – fügte er hinzu und entzündete in den Augen jene Flämmchen, welche die Härte seiner Ironie milderten – „solche Leute hat man besser als historische Märtyrer als als Genossen in der Partei…“

Im Verlauf meines sechsjährigеn Aufenthalts in Wien konnte ich Adler nicht nur einmal aus der Nähe beobachten – als Politiker und Parteiführer, als Parlamentarier und Volksredner, als Gesprächspartner. Und aus allen Eindrücken trat immer ein grundlegender hervor – die großzügige Unerschöpflichkeit seiner Natur, welche sich ununterbrochen verausgabt, aber unantastbar ein kostbares grundlegendes Kapital aufbewahrt – eine menschliche Persönlichkeit „durch die Gnade Gottes".

P. S. Die psychologische Charakteristik V. Adler darf nicht mit der Einschätzung seiner Politik identifiziert werden. Victor Adler war eine der anziehendsten Figuren in der Zweiten Internationale, war jedoch völlig durchdrungen von jenen reformistischen und nationalistischen Tendenzen, welche die Parteien der Zweiten Internationale im Moment der entscheidenden historischen Prüfung zugrunde richteten.

April 1919.


  1. Im russischen Text auf Deutsch, mit der Übersetzung in Klammern

  2. Im Original deutsch

  3. Zu Vailllant s. in diesem Band den Artikel „Eine Epoche vergeht" auf S. XX. – Red.

Jaurès

[„Kijewskaja Mysl" Nr 9, 9./22 Januar 1909, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926}, S. 16-20, verglichen mit der englischen und französischen Übersetzung]

Über dem zeitgenössischen politischen Frankreich erheben sich zwei Figuren: Clemenceau und Jaurès.

Es wäre überhaupt nicht schwer gewesen zu erklären, wie Clemenceau am Boden des Tintenfasses des Journalisten das Mittel ausfindig machte, das es ihm ermöglichte, zu guter Letzt das Schicksal Frankreichs zu meistern. Dieser „unversöhnliche" Radikale, dieser gewaltige Stürzer der Kabinette erwies sich in der Tat als die letzte politische Ressource der französischen Bourgeoisie: die Herrschaft der Börse „adelt" er durch das Banner und die Phraseologie des Radikalismus. Hier ist alles bis zum letzten Grad klar.

Aber Jaurès? Was erlaubt es ihm, so viel Platz im politischen Leben der Republik einzunehmen? Die Stärke seiner Partei? Natürlich: Jaurès wäre außerhalb seiner Partei undenkbar, aber man kann den Eindruck nicht loswerden – vor allem, wenn man auf Deutschland blickt –, dass die Rolle Jaurès' über die wahren Kräfte seiner Partei hinausgewachsen ist. Wo liegt die Auflösung? In der Kraft der Individualität selbst? Aber der Charme der Persönlichkeit erklärt die Ereignisse innerhalb des Wohnzimmers oder Boudoirs durchaus zufriedenstellend – in der Politik bleiben die „titanischsten" Individuen die ausführenden Organe gesellschaftlicher Kräfte.

In der revolutionären Tradition liegt die Lösung der politischen Rolle von Jaurès.

Was ist Tradition? Die Frage ist nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. Wo nistet sie: in den materiellen Institutionen? im individuellen Bewusstsein? Auf den ersten Blick scheint es: hier und da. Aber in Wirklichkeit stellt sich heraus: irgendwo tiefer – in der Sphäre des Unbewussten.

In einer gewissen Periode ergreifen revolutionäre Ereignisse von Frankreich Besitz, sättigen die Luft mit ihren Ideen, benennen seine Straßen mit ihren Namen und prägen ihre dreiteilige Losung auf den Wänden ihrer öffentlichen Gebäude ein, vom Pantheon bis zum Zuchthaus. Aber die Ereignisse entfalteten im rasenden Spiel der eigenen inneren Kräfte ihren ganzen Inhalt, und die letzte Welle steigt an und flutet zurück – die Reaktion regiert. Mit bösartiger Unermüdlichkeit vertilgt sie alle Erinnerungen von Institutionen, Denkmälern, Dokumenten, aus dem Journalismus, aus der Alltagssprache und – was noch auffälliger ist – aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein. Vergessen sind Fakten, Daten, Namen. Den Thron besteigen Mystik, Erotik, Zynismus. Wo sind die revolutionären Traditionen? Sie verschwanden spurlos… Aber dann geschah etwas Unsichtbares, etwas setzte sich in Bewegung, ein unbekannter Strom ging durch die Atmosphäre Frankreichs – und das Vergessene wurde lebendig, und das Tote wurden auferweckt. Und die Traditionen wurden mit aller Kraft entdeckt … Wo versteckten sie sich? In den geheimnisvollen Depots des Unbewussten, irgendwo in den letzten Nervenfasern, die sich der historischen Verarbeitung unterzogen, die kein Dekret aufhebt oder beseitigt. So erwuchs aus 1793: 1830, 1848 und 1871.

Schwerelos, körperlos, werden diese Traditionen jedoch zu einem realen Faktor der Politik, denn sie sind in der Lage, zu Fleisch zu werden. Selbst in den schlimmsten Tagen ihres Lebens stand das zu Fraktionen und Sekten zerrissene französischen Proletariats als warnender Schatten über den offiziellen Vätern des Vaterlandes. Deshalb stand der direkte politische Einfluss der französischen Arbeiter immer über ihrer Organisation und ihrer parlamentarischen Vertretung. Und diese historische, von Generation zu Generation führende Kraft ist die Kraft Jaurès'.

★ ★ ★

Aber dieser Jaurès – der Träger des Erbes – ist noch nicht der ganze Jaurès. Auf der anderen Seite steht er als Parlamentarier der dritten Republik vor uns. Parlamentarier von Kopf bis Fuß! Seine Welt ist das Wahlabkommen, die parlamentarische Tribüne, die Interpellation, das rednerische Duell, das Abkommen hinter den Kulissen, manchmal – ein zweideutiger Kompromiss … ein Kompromiss, gegen den zu protestieren gleichermaßen sowohl die Traditionen als auch die Ziele, sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft bereit sind. Wo ist der psychologische Knoten, der diese beiden Gesichter miteinander verbindet? …

„Zu einem praktischen Menschen", sagt Renan in einem Artikel über Cousin, „gehört, dass er niedrig sein muss. Wenn er hohe Ziele hat, werden sie ihn nur verwirren. Deshalb nehmen große Menschen nur mit ihren eigenen Mängeln oder kleinlichen Eigenschaften am praktischen Leben teil." Mit diesen Worten eines kontemplativen Skeptikers, eines spirituellen Epikureers wäre es nicht schwer, den Schlüssel zu Jaurès' Widersprüchen zu finden – wenn in ihnen nur nicht eine böswillige Verleumdung des Menschen im Allgemeinen und Jaurès' im Besonderen läge. Das ganze Leben ist Praxis, ist Schaffen, ist Handeln. „Hohe Ziele" können die Praxis nicht verwirren, denn sie sind nur ihre Organe, und die Praxis behält immer ihre höchste Kontrolle über sie. Zu sagen, dass ein praktischer Mensch – d.h. vorrangig ein gesellschaftlicher Mensch – niedrig sein müsse, bedeutet nur, seinen eigenen sittlichen Zynismus zu offenbaren, der über seine praktischen Schlussfolgerungen erschrocken ist und sich daher in idealistischen Spekulationen erschöpft.

Mit seiner ganzen sittlichen Figur vernichtet Jaurès Renans Verleumdung des Menschen. Ungeduldiger tätiger Idealismus leitet ihn auch in seinen riskantesten Schritten.

In der schlimmsten Zeit des Millerandismus (1902) musste ich Jaurès neben Millerand auf der Tribüne sehen – Hand in Hand –, anscheinend durch eine völlige Einheit von Mitteln und Zielen verbunden. Aber ein unfehlbares Gefühl sagte, dass sie eine unüberbrückbare Kluft trennt – dieser überschäumende Enthusiast, uneigennützig und feurig, und dieser parlamentarische Karrierist, kalt-kalkulierend. Es gibt etwas unwiderstehlich Überzeugendes, eine Art kindlich-athletische Aufrichtigkeit in seiner Figur, in seiner Stimme, in seiner Geste …

Auf dem Podium wirkt er riesig, und doch ist er unterdurchschnittlich groß. Stämmig, mit einem eng auf dem Hals sitzenden Kopf, mit ausdrucksstarken „spielenden“ Wangenknochen, mit sich während der Zeit des Sprechens aufblähenden Nasenlöchern, alles dem Strom seiner Leidenschaft gebend – gehört er auch im Erscheinungsbild zum gleichen Menschentyp wie Mirabeau und Danton. Als Redner ist er einzigartig und unvergleichlich. In seiner Rede gibt es nicht die vollendete, manchmal ärgerliche Finesse, mit der Vandervelde glänzt. In logischer Unwiderstehlichkeit misst er sich nicht mit Bebel. Ihm ist die boshafte, mit Galle getränkte Ironie Victor Adlers fremd. Aber Temperament, aber Leidenschaft, aber Elan hat er genug für sie alle …

Es stimmt, ein anderer russischer Mensch aus dem Schwarzerdegebiet findet bei Jaurès auch nur geschickte technische Ausbildung und pseudoklassische Deklamation. Aber in dieser Einschätzung zeigt sich nur die Armut unserer vaterländischen Kultur. Bei den Franzosen ist die rednerische Technik ein gemeinsames Vermächtnis, das sie ohne Mühe aufnehmen und ohne das sie unvorstellbar sind, wie ein „kultureller" Mensch ohne Kleidung. Jeder Reden haltende Franzose redet gut. Aber umso schwieriger ist es für einen Franzosen, ein großer Redner zu sein. Und das ist Jaurès. Nicht seine reiche Technik, nicht die gewaltige, wie ein Wunder berührende Stimme, nicht die freie Großzügigkeit seiner Gesten, sondern die geniale Naivität seines Enthusiasmus – das verbindet Jaurès mit der Masse und macht ihn zu dem, was er ist …

★ ★ ★

Aber wir sind von unserer Frage abgekommen: Welcher psychologische Knoten verbindet in Jaurès den Erben der promethischen Traditionen mit dem parlamentarischen Geschäftemacher?

Was ist Jaurès: Opportunist? Revolutionär? Das eine und das andere – in Abhängigkeit vom politischem Moment – und darüber hinaus mit der Bereitschaft zu den äußersten Schlussfolgerungen in beide Richtungen. Jaurès hat die Natur des Handelns. Er ist immer bereit, „den Gedanken mit der Krone der Ausführung zu krönen".… Während der Dreyfus-Sache sagte Jaurès zu sich selbst: „Wer dem Henker nicht in den Arm fällt, der über dem Opfer schwebt, wird selbst zum Komplizen des Henkers", und ohne sich nach dem politischen Ergebnis der Kampagne zu fragen, stürzte er sich in den Strom der Dreyfusiade. Sein Lehrer, Freund und später sein unversöhnlicher Antagonist, Guesde, sagte ihm: „Jaurès, ich liebe Sie, weil bei Ihnen die Sache immer aus dem Gedanken folgt!"

Darin liegt die Stärke und Schwäche von Jaurès.

„Jede Zeit", schrieb Heine, „glaubt, dass ihr Kampf der wichtigste von allen sei. Darin liegt in der Tat der Glaube der Zeit, in diesem Glauben lebt und stirbt sie"…

Bei Jaurès gibt es etwas jenseits dieser Religion seiner Zeit: Bei ihm gibt es das Pathos des Moments. Er misst eine vorübergehende politische Kombination nicht mit dem großen Maßstab historischer Perspektiven. Er ist ganz, völlig – hier, in der Empörung dieses Tages. Und im Dienste dieses Tages hat er keine Angst, mit seinem großen Ziel in Konflikt zu geraten. Seine Leidenschaft, seine Energie und sein Talent gibt er mit so elementarer Verschwendungssucht aus, als ob von jedem der Schlange stehenden politischen Themen das Ergebnis des großen Kampfes der beiden Welten abhänge.

Darin liegt die Kraft von Jaurès und darin liegt seine verhängnisvolle Schwäche. Seiner Politik fehlen die Proportionen, und oft sieht er den Wald vor lauter Bäume nicht.

„Der Strom der menschlichen Geschäfte wechselt“ (sagt der Shakespearesche Brutus)

„Nimmt man die Flut wahr, führet sie zum Glück;

Versäumt man sie, so muss die ganze Reise

Des Lebens sich durch Not und Klippen winden.“

Nach seiner Denkweise, nach der Spannweite seiner Natur wurde Jaurès für die Epoche einer großen Flut geboren. Und sein Schicksal war, sein Talent in der Zeit der schlimmsten europäischen Reaktion zu entwickeln. Es ist nicht seine Schuld, sondern sein Unglück. Aber dieses Unglück führte wiederum zu Schuld. Unter seinen Begabungen fand Jaurès eine nicht: die Fähigkeit zu warten. Nicht passiv am Meer auf das Wetter zu warten, sondern in einer zuversichtlichen Vorausberechnung der kommende Brandung Kraft zu sammeln und das Tauwerk vorzubereiten. Er wollte unverzüglich sowohl die großen Traditionen als auch die großen Chancen in die harte Münze des praktischen Erfolgs schlagen. Deshalb geriet er so oft in hoffnungslose Widersprüche „in den Untiefen und Katastrophen" der dritten Republik.…

Nur ein Blinder wird Jaurès zu den Doktrinären des politischen Kompromisses zählen. In diese Politik brachte er nur sein Talent ein, seine Leidenschaft, seine Fähigkeit, bis zum Ende zu gehen – aber einen Katechismus machte er daraus nicht. Und bei Gelegenheit wird Jaurès der erste sein, der ein großes Segel auf seinem Schiff setzen und von den Sandbänken auf das offene Meer segeln wird …

Jean Jaurès

[„Kijewskaja Mysl" Nr. 196, 17./30. Juli 1915 in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926}, S. 20-32, eigene Übersetzung nach dem russischen Text]

Seit dem Tage des Todes des größten Menschen der dritten Republik ist ein Jahr vergangen. Ereignisse, welche es in der Geschichte noch nicht gab, strömten jetzt sozusagen dazu zusammen, das Blut von Jaurès mit anderem Blut abzuwaschen, die Aufmerksamkeit von ihm wegzuschieben, das Gedenken an ihn zu überfluten. Aber auch den größten Ereignissen gelang das nur teilweise. Im politischen Leben Frankreichs verblieb eine große Leere. Neue Führer des Proletariats, die dem revolutionären Charakter der neuen Epoche entsprechen, sind noch nicht aufgestiegen. Die alten Führer zwingen uns nur, uns klarer zu erinnern, dass Jaurès nicht mehr ist …

Der Krieg schob nicht nur einzelne Figuren, sondern auch eine ganze Epoche zur Seite – jene, in deren Verlauf eine Generation aufwuchs und erzogen wurde, die jetzt in allen Lebensbereichen leitet. Jetzt zieht diese vergangene Epoche auch unsere Gedanken durch die Hartnäckigkeit ihrer Kulturanhäufungen, ihr ununterbrochenes Wachsen der Technik, Wissenschaft, Arbeiterorganisationen an – und scheint zur gleichen Zeit klein und unpersönlich im Konservativismus seines politischen Lebens, in den reformistischen Methoden ihres Klassenkampfes.

Nach dem Französisch-Preußischen Krieg und der Pariser Kommune (in den Jahren 1870-1871) brach eine Periode bewaffneten Friedens und politischer Reaktion herein. Europa kannte, wenn man Russland nicht berücksichtigt, weder Krieg noch Revolution. Das Kapital entfaltete sich mächtig, überstieg den Rahmen der Nationalstaaten, strömte in die übrigen Länder hinaus, unterwarf sich Kolonien. Die Arbeiterklasse baute ihre Gewerkschaftsverbände und ihre sozialistischen Parteien auf. Jedoch der ganze Kampf des Proletariats in dieser Epoche war durchdrungen vom Geist des Reformismus, der Anpassung an die existierende Struktur, an die nationale Industrie und den Nationalstaat. Nach der Erfahrung der Pariser Kommune stellte das europäische Proletariat die Frage der Eroberungen der politischen Macht nicht ein einziges Mal praktisch, d.h. revolutionär. Dieser friedliche, „organische" Charakter der Epoche erzog eine ganze Generation proletarischer Führer, die völlig von Misstrauen zum unmittelbaren revolutionären Kampf der Massen durchdrungen war. Als der Krieg ausbrach und der Nationalstaat völlig kampfbereit seinen Feldzug begann, brachte er die Mehrheit der „sozialistischen" Führer ohne Mühe auf die Knie. Die Epoche der Zweiten Internationale endete auf diese Weise mit dem grausamen Scheitern der offiziellen sozialistischen Parteien. Sie stehen noch, das ist wahr, als Denkmäler der vergangenen Epoche und werden durch Konservatismus und … die Anstrengungen der Regierung aufrecht erhalten. Aber der Geist des proletarischen Sozialismus verflog aus ihnen und sie sind zum Verschrotten verdammt. Die Arbeitermassen, die in den verflossenen Jahrzehnten die Ideen des Sozialismus angenommen haben, erhalten erst jetzt, in den furchtbaren Prüfungen des Krieges, eine revolutionäre Härtung. Wir treten in eine Periode beispielloser revolutionärer Erschütterungen ein. Neue Organisation werden von den Massen aus ihrem Milieu aufgestellt werden, und neue Führer werden an ihrer Spitze sein.

Die zwei größten Vertreter der Zweiten Internationale gingen vor dem Anbruch der Epoche des Sturms und des Bebens von der Bühne: Bebel und Jaurès. Bebel starb als alter Greis, nachdem er alles gesagt hatte, was er sagen konnte. Jaurès wurde im 55. Jahre umgebracht, in der Blüte seiner schöpferischen Energie. Als Pazifist und extremer Gegner der Politik der russischen Diplomatie kämpfte Jaurès bis zur letzten Minute gegen die Einmischung Frankreichs in den Krieg. In gewissen Kreisen meinten sie, dass der „Befreiungs"-Krieg seinen Lauf nicht anders eröffnen könne, als indem er über die Leiche Jaurès schritt. Und im Juli des Jahres 1914 ermordete ein gewisser Villain, ein nichtiger junger Reaktionär, Jaurès hinter dem Tischchen eines Cafés. Wer schickte Villain? Allein die französischen Imperialisten? Und kann man nicht, wenn man eine Zeitlang aufmerksam sucht, hinter dem Rücken Villains auch die Hände der Zarendiplomatie enthüllen? Diese Frage wurde nicht selten in sozialistischen Kreisen gestellt. Wenn die europäische Revolution sich mit der Liquidierung des Krieges befassen wird, wird sie uns gleichzeitig auch das Geheimnis des Todes Jaurès enthüllen…

Jaurès wurde am 3. September des Jahres 1859 in Castres, in der Südprovinz Languedoc geboren, aus welcher viele große Menschen Frankreichs hervorgingen: Guizot, Auguste Comte, Lafayette, La Pérouse, Rivarol und andere. Ein Gemisch zahlreicher Rassen, – merkt der Biograph Jaurès' Rappoport1 an, – hinterließ einen glücklichen Abdruck auf dem Genius dieser Gegend, welche schon im Mittelalter eine Wiege von Häresie und freien Gedanken war.

Die elterliche Familie von Jaurès gehörte der mittleren Bourgeoisie an und führte einen beständigen Kampf um ihre Existenz. Jaurès benötigte sogar einen Gönner für die Beendigung seines Universitätsunterrichts. Im Jahr 1881 vollendete er den Kurs an der École normale [superieure]. Vom Jahre 1881 bis zum Jahre 1883 war er Lehrer am Lyzeum für junge Mädchen in Albi, aber danach geht er an die Toulouser Universität über und hat da bis zum Jahre 1885 eine Professur inne, als man ihn erstmals als Deputierten ins Parlament wählt. Er war damals gerade einmal 26 Jahre. Von dieser Zeit bis zum Tage des Todes geht das Leben Jaurès im politischen Kampf auf und verschmilzt mit dem Leben der dritten Republik.

Im Parlament debütierte Jaurès in der Frage der Volksbildung. „La Justice" („Die Gerechtigkeit"), die damalige Zeitung des Radikalen Clemenceau, bezeichnete die erste Rede von Jaurès als „wunderbar" und wünschte der Kammer, häufig „solch redegewandte und solch inhaltsvolle Worte" zu hören. in der Folge musste sich Jaurès nicht nur einmal mit der ganzen Kraft seiner Rede auf den Tiger – Clemenceau – stürzen.

Mit dem Sozialismus war Jaurès in dieser ersten Epoche seiner Tätigkeit rein theoretisch und überaus unvollständig bekannt. Aber jede neue Rede brachte diesen der Arbeiterpartei immer näher. Die Ideenlosigkeit und Verderbtheit der bürgerlichen Parteien stieß ihn unversöhnlich fort.

Im Jahre 1893 schloss Jaurès sich abschließend der sozialistischen Bewegung an und nimmt beinahe sofort einen der ersten Plätze im europäischen Sozialismus ein. In der selben Zeit wird er die hervorragendste Figur im politischen Leben Frankreichs.

Im Jahre 1894 trat Jaurès als Verteidiger seines wenig anziehenden Freundes Gérault Richard auf, der damals wegen Beleidigung des damaligen Präsidenten der Republik durch den Artikel „Nieder mit Casimir" vor Gericht gebracht wurde. In seiner Gerichtsrede, welche völlig auf politische Ziele ausgerichtet war, zeigte Jaurès an die Adresse von Casimir-Perier jene furchtbare Kraft eines wirkungsvollen Geistes, deren Name Hass ist. In mit Gnadenlosigkeit getränkten Worten charakterisierte er den Präsidenten selbst und dessen nächste Vorfahren als Wucherer, welche die Bourgeoisie an den Adel verrieten, den Adel an die Bourgeoisie, eine Dynastie an die andere, die Monarchie an die Republik, alle zusammen und jeden für sich, nur sich selbst nicht verrieten. Der Vorsitzende des Gerichts hielt es für erforderlich, auszurufen: „Herr Jaurès, Sie gehen zu weit … Sie vergleichen das Haus Perier mit einem Hurenhaus". Jaurès: „Ich vergleiche es nicht, sondern ich stelle dieses als niedriger als jenes dar". Gérault Richard wurde freigesprochen. Einige Tage danach reichte Casimir Perier den Rücktritt ein. In der öffentlichen Meinung wuchs Jaurès sofort um ein ganzes Haupt: alle fühlten die fürchterliche Kraft dieses Tribuns.

In der Dreyfussache2 zeigte Jaurès sich in ganzer Größe. Bei ihm gab es anfangs, wie auch in allen allgemeinen kritischen Fällen des gesellschaftlichen Lebens, eine Periode des Zweifels und der Schwäche, in der man auf ihn sowohl von rechts als auch von links hätte Einfluss nehmen können. Unter dem Einfluss von Guesde und Vaillant, welche sich zur Dreyfusiade als zu einer für das Proletariat gleichgültigen Rauferei kapitalistischer Cliquen verhielten, zögerte Jaurès, sich in die „Sache" zu verwickeln. Das entschlossene Beispiel Zolas stieß ihn aus dem Zustand des instabilen Gleichgewichts, steckte ihn an und riss ihn mit. Als er in Bewegung gebracht war, ging Jaurès bereits bis zum Ende. Er liebte über sich zu sagen: „Ago, quod ago" („ich mache, was ich mache").

In der Dreyfussache resümierte und dramatisierte sich für Jaurès der Kampf gegen den Klerikalismus, gegen die Reaktion, gegen die Parlamentsvetternwirtschaft, gegen Rassenhass und militaristische Verblendung, gegen Intrige hinter den Kulissen im Generalstab, gegen die Servilität der Gerichte, – gegen alle Niedertracht, welche die mächtige Partei der Reaktion in Bewegung bringen kann, um ihre Ziele zu erreichen.

Auf den Anti-Dreyfusiarden Méline, welcher vor kurzem als Minister im „großen" Briandschen Kabinett erneut auftauchte, stürzte sich Jaurès mit der ganzen Schwere seines Zorns: „Wissen Sie, an was wir alle kranken, an was wir gerade ums Leben kommen? Ich sage Ihnen das auf meine persönliche Verantwortung: seit jener Zeit, als die Sache eröffnet wurde, sterben wir alle an Halbherzigkeiten, an Unausgesprochenem, an Zweideutigkeiten, an Lügen, an Feigheit. Ja, an Zweideutigkeiten, Lügen und Feigheit". – „Er sprach bereits nicht“, – erzählt Reinach, – „er dröhnte mit purpurrotem Gesicht, mit den Ministern, welche protestierten, und der Rechten, welche jaulte, entgegen gestreckten Händen". Dies war Jaurès!

Im Jahre 1899 gelang es Jaurès, die Einheit der sozialistischen Partei zu verkünden. Aber sie stellte sich als flüchtig heraus. Die Beteiligung des Sozialisten Millerands am Kabinett als Schlussfolgerung aus der Politik des linken Blocks sprengte die Einheit, und in den Jahren 1900-1901 spaltete sich der französische Sozialismus erneut in zwei Parteien. Jaurès kam an die Spitze der einen von ihnen – jener, welche aus ihrem Milieu Millerand hervor brachte. Nach dem Wesen seiner Anschauungen war und blieb Jaurès Reformist. Aber er besaß eine verwunderliche Fähigkeit zur Anpassung – einschließlich auch an die revolutionären Tendenzen der Bewegung. Diese zeigte er in der Folge nicht nur einmal.

Jaurès trat in die Partei als reifer Mensch ein, mit einer gewachsenen idealistischen Weltanschauung … Dies stand ihm nicht im Weg, seinen kräftigem Nacken – Jaurès zeichnete sich durch eine athletische Statur aus – unter das Joch der organisatorischen Disziplin zu führen –, und er würde nicht nur einmal die Notwendigkeit und Gelegenheit haben zu beweisen, dass er nicht nur anordnen, sondern auch gehorchen konnte. Als Jaurès vom internationalen Kongress in Amsterdam zurückkehrte, wo die Politik der Auflösung der Arbeiterpartei im linken Block und die Beteiligung von Sozialisten am Kabinett missbilligt wurde, reißt er den Faden der Politik des Blocks offen ab. Der damalige Ministerpräsident, der kämpferische Antiklerikale Combes, warnte Jaurès, dass der Bruch der Koalition ihn zwinge, von der Bühne abzugehen. Dies hielt Jaurès nicht auf. Combes trat zurück. Die Einheit der Partei, die aus Jaurèsisten und Guesdisten verschmolz, war abgesichert. In diesem Moment verschmilzt das Leben Jaurès' abschließend mit dem Leben der vereinten Partei, an deren Spitze er kam.

Der Mord an Jaurès war kein Zufall. Er war das abschließende Kettenglied einer rasenden Kampagne des Hasses, der Hetze und Verleumdung, die Feinde aller Schattierungen gegen ihn führten. „Es wäre möglich, ganze Bibliotheken aus den gegen Jaurès gerichteten Attacken und Verleumdungen zu bilden". Die „Temps" („Zeit"), das einflussreichste Organ Frankreichs, brachte täglich Artikel, aber manchmal auch zwei am Tag, gegen den politischen Tribun. Aber sie musste hauptsächlich seine Ideen und die Methoden seiner Handlungen angreifen: als Persönlichkeit blieb er sogar in Frankreich beinahe gefeit, wo die persönliche Verleumdung das mächtigste Werkzeug des politischen Kampfes ist. Ohne Anspielungen auf deutsches Geld konnte die Sache jedoch nicht auskommen … Jaurès starb als armer Mensch. Am 2. August des Jahres 1914 war die „Temps" gezwungen, die „absolute Aufrichtigkeit" des niedergestreckten Feindes zugeben.

Ich besuchte im Sommer des Jahres 1915 das inzwischen berühmte Café Croissant, zwei Schritte von der Redaktion der „L'Humanité" – eines der typischen Pariser Cafés: schmutziger Fußboden mit Sägespänen, Lederdiwan, schäbige Stühle, Marmortischchen, niedrige Zimmerdecke, seine speziellen Weine und Speisen –, mit einem Wort, etwas, das es nur in Paris gibt. Mir zeigten sie den kleinen Diwan beim Fenster: auf diesem Platz wurde mit einem Revolverschuss der genialste Sohn des zeitgenössischen Frankreichs umgebracht.

Ein bürgerliches Elternhaus, Schule, Deputiertentätigkeit, bürgerliche Ehe, eine Tochter, deren Mutter sie zur Kommunion führt, die Redaktion der Zeitung, die Führung der Parlamentspartei – in diesem keineswegs heroischen äußeren Rahmen floss ein Leben von außerordentlicher Anspannung, vulkanischer sittlicher Leidenschaft.

Jaurès nannten sie nicht nur einmal Diktator des französischen Sozialismus, aber in manchen Momenten wurde dieser von rechts sogar Diktator der Republik genannt. Zweifellos spielte er im französischen Sozialismus eine mit nichts vergleichbare Rolle. Aber in seiner „Diktatur" war nichts Tyrannisches. Er herrschte ohne Anstrengung: Jaurès war ein Mensch von großer Statur, mit kräftigem Intellekt, genialem Temperament, unvergleichlicher Leistungsfähigkeit und einer Stimme, die wie ein Wunder klang, und er nahm kraft der Dinge den ersten Platz mit einer so großen Distanz zum zweiten und dritten ein, dass er nicht das Bedürfnis empfinden konnte, seine Position auf dem Weg von Manipulationen hinter den Kulissen zu befestigen. Als großer Meister in diesem letzteren Gebiet zeigte sich sich bereits damals Pierre Renaudel, der derzeitige „Führer" des Sozialpatriotismus.

Die Spannweite der Natur wendete Jaurès organisch von jedem Sektierertum weg. Nach einer Schwankung auf die eine und die andere Seite ertastete er jenen Punkt, welcher ihm für den gegebenen Moment entscheidend schien. Zwischen diesem praktischen Ausgangspunkt und seinen idealistischen Konstruktionen ordnete er ohne Gewalt über sich jene Sichtweisen an, welche seine eigenen ergänzten oder beschränkten, feindselige Farbtöne versöhnten, widersprüchliche Argumente auflösten – in einer unvollkommeneren Einheit. Er herrschte deshalb nicht nur in Volksversammlungen und auf der Parlamentstribüne – wo er die Zuhörerschaft mit seiner unauslöschlichen Leidenschaft eroberte, – sondern auch auf Parteitagen, wo er gegensätzliche Tendenzen in verschwommenen Perspektiven und geschmeidigen Formeln auflöste. Dem Wesen der Sache nach war er Eklektiker, aber ein genialer.

„Unsere Pflicht ist hoch und klar: immer die Idee propagieren, immer die Energie wachrufen und organisieren, immer hoffen, immer kämpfen bis zum abschließenden Sieg" … In dieser Dynamik ist der ganze Jaurès. Seine schöpferische Energie quillt in alle Richtungen, ruft Energie wach und organisiert sie, drängt zu Kampf.

Jaurès strahlte nach dem treffsicheren Ausdruck Rappoports Großmut und Herzensgüte aus. Aber zur gleichen Zeit beherrschte er im höchsten Maße ein Talent zu konzentriertem Zorn – nicht zu jenem, welcher blendet, das Gehirn trübt und zum politischen Krampf hinführt, – sondern zu jenem, welcher den Willen anspannt und die treffsichersten Charakteristika, die ausdrucksvollsten Epithets nahelegt, die unmittelbar ins Ziel treffen. Wir hörten weiter oben seine Charakteristik Periers. Man muss erneut seine Reden und Artikel gegen die schwarze Heroen der Dreyfusiade lesen! So charakterisierte Jaurès einen von ihnen, den am allerwenigsten Verantwortlichen: „G. Brunétier, der sich in der Geschichte der Literatur mit leeren konstruierten, unzuverlässigen und zerbrechlichen Systemen versuchte, fand schließlich Obdach unter den schwerfälligen Gewölben der Kirche, – nun versucht er die eigene Art des persönlichen Bankrotts zu verdecken, indem er den allgemeinen Bankrott der Wissenschaft und Freiheit verkündet. Vergeblich versucht er, aus ihrer Tiefe etwas ähnliches wie einen Gedanken zu ziehen und lobpreist ihre Autorität in einer eigenen Art von prächtiger Selbsterniedrigung; da er in den Augen der jungen Generation jedem Kredit verloren hat, welchen er in einem bestimmten Moment mit Hilfe seiner Fähigkeit zu hohlen Verallgemeinerungen missbrauchte, will er den freien Gedanken töten, welcher vor ihm entflieht". Wehe dem, auf den diese schwere Hand fiel!

Jaurès trat ins Parlament im Jahre 1885 ein und nahm einen Platz auf den Bänken der gemäßigten Linken ein. Aber sein Übergang zum Sozialismus war keine Katastrophe oder Sprung. In der ursprünglichen Jaurèsschen „Mäßigung" waren bereits riesige Quellen eines wirkungsvollen sozialen Humanismus, welcher sich leicht in eine sozialistische Richtung entwickelte. Auf der anderen Seite nahm sein Sozialismus niemals einen scharf bestimmten Klassencharakter an und brach niemals mit den humanitären und natürlich-historischen Voraussetzungen, die tief im französischen politischen Denken der Epoche der Großen Revolution eingebettet sind.

Im Jahre 1889 wandte sich Jaurès an die Deputierten mit den Worten: „Hat sich aber etwa der Genius der französischen Revolution erschöpft? Könnten Sie etwa nicht in den Ideen der Revolution Mittel finden, die Antwort auf alle Fragen geben, welche aufkommen, auf alle Probleme, welche sich stellen? Hat etwa die Revolution nicht unsterbliche Tugend (vertu) aufbewahrt, welche fähig ist, Antwort auf alle sich verändernden Schwierigkeiten zu geben, unter welchen wir unseren Weg vollführen?" Hier wurde der Idealismus des Demokraten noch überhaupt nicht von der materialistischen Kritik gestreift. In der Zukunft erlernte Jaurès vieles vom Marxismus. Aber den rein-demokratischen Hintergrund seiner Denkweise bewahrte er bis zum Ende.

Jaurès betrat die politische Arena in der dumpfesten Zeit der dritten Republik, welche damals gerade mal ganze 15 Jahre Existenz auf dem Rücken hatte. Sie hatte keine starken Traditionen hinter sich, sie hatte mächtige Feinde vor sich. Der Kampf für die Republik, für ihre Beibehaltung, für ihre „Abklärung" war die grundlegende Idee von Jaurès in seiner ganzen Arbeit. Er suchte für die Republik eine breitere soziale Basis, er wollte die Republik zum Volk führen, um das Volk über die Republik zu organisieren und schließlich den republikanischen Staat zum Instrument der sozialistischen Wirtschaft zu machen. Der Sozialismus war für den Demokraten Jaurès das einzige zuverlässige Mittel für die Festigung der Republik und ihre einzig mögliche Vollendung. In seinem Bewusstsein gab es nicht den Widerspruch zwischen bürgerlicher Politik und Sozialismus, – den Widerspruch, der den historischen Bruch zwischen Proletariat und demokratischer Bourgeoisie widerspiegelt. In seinem unermüdlichen Bestreben zur idealistischen Synthese handelte Jaurès in der ersten Epoche als Demokrat, der bereit ist, den Sozialismus zu adoptieren, in der letzten Epoche seiner Tätigkeit – als Sozialist, der Verantwortung für die ganze Demokratie trägt.

„L'Humanité", „Die Menschlichkeit" – mit diesem nicht zufälligen Namen bezeichnete Jaurès die von ihm geschaffene Zeitung. Der Sozialismus war für ihn nicht theoretischer Ausdruck des Klassenkampfes des Proletariat. Im Gegenteil blieb das Proletariat in seinen Augen eine historische Kraft im Dienst von Recht, Freiheit und Menschlichkeit. Über dem Proletariat räumte er der eigenständigen Idee der „Menschlichkeit" einen großen Platz ein, welche bei gewöhnlichen französischen Deklamatoren ein hohler Platz bleibt, aber bei Jaurès mit unverfälschtem und wirkungsvollem Idealismus gefüllt war.

In der Politik verknüpfte Jaurès in sich die Fähigkeit zu außerordentlicher idealistischer Abstraktion mit einem kräftigen intuitiven Empfinden für die Wirklichkeit. Diese Verbindung findet in seiner ganzen Tätigkeit statt. Die körperlosen Ideen der Gerechtigkeit und des Guten gehen bei ihm Hand in Hand mit der empirischen Einschätzung sogar auch untergeordneter Lebensrealitäten. In seinem ganzen sittlichen Optimismus verstand Jaurès Umstände und Menschen wunderbar und konnte diese und jene gebrauchen. In ihm war viel gesunder Sinn. Man nannte ihn nicht nur einmal einen pfiffigen Bauern. Aber seinem gesunden Menschenverstand war schon dank seiner Maßstäbe Vulgarität fremd. Aber die Hauptsache – dieser gesunde Menschenverstand stand im Dienst der Idee.

Jaurès war ein Ideologe, ein Verkünder von Ideen – in dem Sinn, in welchem der jetzt halb vergessene Alfred Fouille über „Ideen-Antreiber" der Geschichte sprach. Napoleon redete mit der Verachtung des Artilleristen über „Ideologen" (selbst das Wort gehört ihm). Indessen war Napoleon selbst ein Ideologe des neuen Militarismus. Ein Ideologe passt sich nicht einfach an die Realität an, er leitet aus ihr eine „Idee" ab und führt diese Idee bis zu den letzten Schlussfolgerungen. In ihn begünstigenden Epoche gibt dies Ideologen solche Erfolge, welche ein vulgärer Praktiker niemals kann haben; aber das bereitet für ihn auch einen schwindelerregenden Sturz vor, wenn die objektiven Bedingungen sich gegen ihn wenden.

Ein Doktrinär lässt die Theorie gerinnen, deren Geist er tötet. Der opportunistische „Praktiker" eignet sich bestimmte Fertigkeiten des politischen Handwerks an und fühlt sich nach einem schroffen Bruch in seiner Umwelt wie ein Handweber, der vom mechanischen Webstuhl über Bord geworfen wird. Ein Ideologe großen Stils ist kraftlos nur in jenem Moment, wenn die Geschichte der Ideen ihn entwaffnet, aber er ist manchmal fähig, sich schnell umzurüsten, die Ideen der neuen Epoche zu übernehmen und auf die Höhe zu gelangen.

Jaurès war Ideologe. Aus der politischen Lage leitete er seine Idee ab und im Dienst dieser Ideen machte er niemals auf halbem Wege Halt. So brachte er in der Epoche des Dreyfusfalles die Idee der Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Linken bis zur letzten Schlussfolgerung und hielt mit ganzer Leidenschaft Millerand im Amt, einen vulgären politischen Empiriker, in dem von einem Ideologen, von dessen Mut und Flug nichts war und ist. Auf diesem Wege geriet Jaurès in eine politische Sackgasse – mit der freiwilligen und uneigennützigen Blindheit eines Ideologen, welcher bereitwillig die Augen vor Fakten verschließt, um den Ideen-Antreiber nicht abzulehnen.

Mit unverfälschter ideologischer Leidenschaft kämpfte Jaurès gegen die Gefahr des europäischen Krieges. In diesem Kampf – wie auch in jedem anderen, den er führte – wandte er auch solche Methoden an, welche dem Klassencharakter seiner Partei zutiefst widersprachen und vielen seiner Genossen zumindest gewagt schienen. Er bürdete sich selbst viel auf, seiner persönlichen Kraft, Findigkeit, Improvisation, und er traf in den Wandelgängen des Parlaments mit übertriebenen Hoffnungen Minister und Diplomaten und drückte sie mit der Schwere seiner Argumentation an die Wand. Aber Wandelganggespräche und Einfluss entflossen an sich ganz und gar nicht aus der Natur von Jaurès und wurden von ihm überhaupt nicht zu einem System aufgebaut: er war politischer Ideologe, aber nicht Doktrinär des Opportunismus. Im Dienste der Idee, welche ihn beherrschte, war er mit gleicher Leidenschaft fähig, sowohl die opportunistischsten als auch die revolutionärsten Mittel anwenden, und falls diese Idee dem Charakter der Epoche entsprach, war er fähig solche Resultate wie niemand sonst zu erreichen. Aber er ging auch katastrophalen Niederlagen entgegen. Wie Napoleon konnte er in seiner Politik sowohl Austerlitz als auch Waterloo kennen. Der Weltkrieg musste Jaurès jenen Fragen von Angesicht zu Angesicht gegenüber stellen, welche den europäischen Sozialismus in zwei unversöhnliche Lager spalteten. Welche Position hätte er eingenommen? Zweifellos die patriotische. Aber er hätte sich niemals passiv mit der Erniedrigung der französischen sozialistischen Partei versöhnt, welche unter der Führung von Guesde, Renaudel, Sembat und Thomas ihr Schicksal wurde. Und wir haben das volle Recht annehmen, dass in der künftigen Revolution der große Tribun zweifellos seinen Platz bestimmt hätte und seine Kräfte bis zum Ende entfaltet hätte.

Ein sinnloses Stück Blei befreite Jaurès von der größten politischen Prüfung.

Jaurès war die Verkörperung persönlicher Kraft. Sein geistiges Aussehen entsprach durchaus seiner physischem Anlage: Eleganz und Grazie als eigenständige Eigenschaften waren ihm fremd, – dafür waren seiner Rede und seinem Handeln jene höchste Schönheit angeboren, welche Ausprägungen selbstsicherer schöpferischer Kraft auszeichnet. Falls durchsichtige Klarheit und Auserlesenheit der Formen als erschöpfende Züge des französischen Geistes gelten, dann kann Jaurès als wenig charakteristisch für Frankreich erscheinen. Aber in der Tat war er in höchstem Grade Franzose. Neben Voltaire und Boileau, neben Anatole France in der Literatur, mit den Heroen der alte Gironde oder den derzeitigen Viviani und Deschanel in der Politik, kannte Frankreich Rabelais, Balzac, Zola in der Literatur, Mirabeau, Danton und Jaurès in der Politik. Diese sind eine Rasse von Leute mit kräftiger physischer und geistiger Muskulatur, mit wirkungsvoller Furchtlosigkeit, mit großer Kraft der Leidenschaft, mit konzentriertem Willen. Sie sind ein athletischer Typ. Es reichte aus, die Zeus-Stimme von Jaurès zu vernehmen und sein von inneren Strahlen verklärtes fleischiges Gesicht zu sehen, die gebieterische Nase, den beharrlichen, unbeugsamen Nacken, um sich zu sagen: Ecce homo! (welch ein Mensch!)

Die Hauptkraft Jaurès' als Redner war ebenfalls, was seine Kraft in der Politik bildete: angespannte, ganz und gar gerichtete Leidenschaft, Wille zum Handeln. Im rednerischen Schaffen Jaurès' war nichts selbstsüchtig, – er war nicht Redner, er war mehr als das: die Kunst des Wortes war für ihn nicht Zweck, sondern Mittel zum Zweck. Deswegen war er der allerkräftigste Redner, – vielleicht der kräftigste von allen, welche die Menschheit hervorbrachte, – er steht über der rednerischen Kunst, er ist immer über seiner Rede, wie ein Meister über dem eigenen Werkzeug steht …

Zola war Künstler – er begann in der naturalistischen Schule der moralischen Leidenschaftslosigkeit – und auf einmal brach der Donner des eigenen Brief „J'accuse" („ich klage an") durch. In ihm waren mächtige moralische Kräfte angelegt, welche ihren Ausdruck in seinem titanischen Schaffen fanden, aber es war dem Wesen nach weiter als Kunst: das waren zerstörende und schöpfende menschliche Kräfte. So war es auch mit Jaurès. In seiner rednerischen Kunst, in seiner Politik, bei aller ihren unausbleiblichen Bedingtheiten, enthüllte sich eine majestätische Persönlichkeit mit echter, unverfälschter sittlicher Muskulatur, mit beharrlichem Willen zu Kampf und Sieg. Er erschien auf der Tribüne nicht, um sich von Bildern zu befreien oder einem Kreis von Gedanken den vollkommensten Ausdruck zu geben, sondern, um getrennte Willen in der Einheit des Zieles zu vereinigen; in seiner Rede ist keine lateinische rhetorische Kunst um der Kunst willen, – sie ist immer zweckmäßig, utilitaristisch: gerade deswegen stellt sie sich als höchste Form menschlichen Schaffens dar. Jaurès wendet mit der gleichen Freiheit sowohl Beweisgründe der Vernunft als auch Kunstbilder als auch den Aufruf an die menschlichen Leidenschaften an. Er beeinflusst gleichzeitig den Gedanken, das ästhetische Gefühl und den Willen, aber alle diese Kräfte seines rednerischen, seines politischen, seines menschlichen Genius sind seiner Hauptkraft unterworfen – dem Wille zum Handeln.

Ich hörte Jaurès in Pariser Volksversammlungen, auf internationalen Kongressen, in Kommissionen von Kongressen. Und immer hörte ich ihm zu, als wäre es das erste Mal. Er sammelte keine Routine an, er wiederholte sich im Wesen niemals, er fand sich immer erneut selbst, er mobilisierte immer von neuem die vielseitigen Kräfte des eigenen Geistes. In der mächtigen Kraft, elementar wie ein Wasserfall, war bei ihm viel Weichheit, welche wie ein Abglanz der höchsten Kultur des Geistes glänzte. Er stürzte Felsen ein, dröhnte, erschütterte, aber betäubte sich niemals, stand immer auf der Wacht, das Ohr fing behutsam jedes Echo ein, griff es auf, parierte Widersprüche, fegte manchmal gnadenlos wie ein Orkan Widerstand auf dem Wege weg, war manchmal edelmütig und weich wie ein Lehrmeister, wie ein älterer Bruder. So kann ein Tausend-Pfund-Dampfhammer Steinbrocken zu Pulver zerreiben und Goldplättchen auf den zehnten Teil eines Millimeters verdünnen.

Paul Lafargue, der Marxist und Ideengegner von Jaurès, nannte diesen einen teuflischen Menschen. Diese Teufelskraft, – in der Tat echte „göttliche" Kraft – in ihm fühlten alle – sowohl Freunde als auch Feinde. Und Feinde stockten nicht selten, wie in ihren Bann gezogen, abwartend vor dem Strom seiner Rede, welche in Worte eingehüllter Wille war, genau wie vor einer elementaren Erscheinung der Natur.

Vor drei Jahres kam diese Figur [=Lafargue] – ein seltenes Geschenk der Natur an die Menschheit – ums Leben, ohne sich erschöpft zu haben. Mag sein, dass für die ästhetische Vollkommenheit der Gestalt ein solcher Tod für Jaurès notwendig war. Große Leute können auf eigene Art sterben. Tolstoi nahm, als er den Tod roch, den Stab und ging ins Exil von der Öffentlichkeit, die er verschmähte, und starb auf einer dumpfen Station wie ein Pilger. Lafargue, in dem der Epikureer durch den Stoiker ergänzt wurde, verbrachte, bis er 70 Jahre alt war, in der Atmosphäre von Ruhe und Gedanken, sagte sich „genug" und spritzte Gift in seine Arterien. Jaurès, als Athlet der Ideen, starb in der Arena, im Kampfe gegen das größte Unheil, das jemals auf die Menschheit und Menschlichkeit – l'humanité – einstürzte, im Kampf gegen den Krieg. Und im Gedenken der Menschheit wird er als Vorbote, als Vorläufer jenes höheren menschlichen Typs bleiben, welcher ja aus Leiden und Sturz, Hoffnung und Kampf geboren werden muss.


  1. Charles Rappoport. Jean Jaures. L'Homme – Le Penseur – Le Socialiste. Paris 1915. Prix 5 Francs. (Sch. Rappoport. Jean Jaurès. Der Mensch – Der Denker – Der Sozialist).

  2. Dreyfus – französischer Offizier jüdischer Herkunft, welchen die militärische und klerikale antisemitische Reaktion fälschlich des Staatsverrats beschuldigte. [Fußnote der russischen Ausgabe]

Viktor und Friedrich Adler

[„Nowy Mir" Nr. 903, 5. Februar 1917, in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926}, S. 33-3, eigene Übersetzung nach dem russischen Text]

Die Ereignisse häuften sich auf einander. Ein Telegramm über den Mord an Jaurès traf ein. In den Zeitungen waren schon so viele böswillige Lügen, dass – zumindest für den Verlauf einiger Stunden – die Möglichkeit des Zweifels und der Hoffnung bestehen blieb. Umso mehr, als dann ein Telegramm über einen Mord an Poincaré und einen Aufstand in Paris folgte. Aber bald verschwand die Möglichkeit, am Mord an Jaurès zu zweifeln, wie auch darauf zu hoffen, dass er gerächt werde … Am 2. August erklärte Deutschland Russland den Krieg. Schon vor diesem Tag brach die Abreise der russischen Emigration aus Wien an. Am 3. August morgens begab ich mich auf die Wienzeile in das neue Haus der „Arbeiter-Zeitung", um dort bei den sozialistischen Deputierten um Rat zu fragen, wie es mit uns, den Russen, stehe.

Im Sekretariat traf ich Friedrich Adler an, oder „Doktor Fritz", wie sie ihn an der Parteispitze im Unterschied zu seinem Vater, Victor Adler, nannten, welchen sie einfach „Doktor", ohne fernere Erläuterungen, nannten. Von ziemlich hohem Wuchs, hager, ein wenig gebeugt, mit vornehmer Stirn, auf welche lockige helle Haare fallen, und mit einem Ausdruck beständiger Nachdenklichkeit auf dem Gesicht, stand Fritz immer abseits im Milieu der in Wien ziemlich zahlreichen Parteiintelligenz, die so geneigt zu Witzeleien und billigen Anekdoten ist. Er verbrachte anderthalb Jahre in Zürich, in der Eigenschaft eines Privatdozenten auf dem Physikkatheder und als Redakteur der örtlichen Parteizeitung „Volksrecht". In der Zeit des Krieges erlebte der Schweizer Sozialismus eine radikale innerliche Umwandlung, und seine Interessen weiteten sich sehr aus; die alten Parteimandarine, die meinten, dass der Kern des Marxismus sich in dem Sprichwort „wer langsamer fährt, kommt weiter" ausdrücke, rückten sofort in die zweite Reihe ab … aber in jenen Vorkriegsjahren, als Fr. Adler in Zürich lebte, stach die Atmosphäre des Schweizer Sozialismus noch durch einen tief provinziellen Charakter heraus. Adler ertrug sie nicht, kehrte nach Wien zurück, trat in das Sekretariat der Partei und in die Redaktion ihrer theoretischen Monatsschrift „Der Kampf" ein. Außer jenem, übernahm er auch die Herausgabe des wöchentlichen agitatorischen Blättchens „Das Volk", das in sehr beträchtlicher Menge hauptsächlich für die Provinz veröffentlicht wurde. In den letzten Wochen vor dem Krieg war Fr. Adler mit der Vorbereitung auf den internationalen Kongress beschäftigt. Auf seinem Arbeitstisch lagen für den Kongress gedruckte Jubiläumsmarken und verschiedene andere Publikationen: die Partei verausgabte für die Vorbereitungsarbeit mehr als 20.000 Kronen, wie sich der Kassierer beklagte.

Es wäre eine Übertreibung zu sagen, dass man im Haus an der Wienzeile schon in jenen Tagen bestimmte prinzipielle Gruppierungen konstatieren konnte; nein, diese gab es noch nicht. Aber dafür zeigten sich klar tiefe Unterschiede in psychologischer Beziehung zum Krieg. Die einen freuten sich irgendwie über ihn, fluchten an die Adresse der Serben und Russen, wobei sie die Regierungen nicht sehr von den Völkern unterschieden: das waren organische Nationalisten, die ein wenig vom Lack sozialistischer Kultur bedeckt waren, welcher jetzt von ihnen nicht täglich, sondern stündlich abblätterte.

Die anderen – und an ihrer Spitze stand Victor Adler – verhielten sich zum Krieg wie zu einer äußeren Katastrophe, welche man „aushalten" müsse. Die abwartende Passivität des einflussreichsten Führers der Partei war jedoch nur die Deckung für die zügellose Agitation des aktiv-nationalistischen Flügels. Victor Adler war ein feiner und scharfsinniger Verstand, ein sympathischer Charakter und stand als Persönlichkeit weit über seiner Politik, welche in der letzten Epoche ganz gegen das Einfangen glücklicher Kombinationen in dem hoffnungslosen Getümmel unter den so zum Skeptizismus neigenden österreichischen Bedingungen eingetauscht war. Die Politik Adlers ihrerseits, die nach ihrem Wesen überaus individuell ist, stand unvergleichlich über jenen politischen Mitarbeitern, welche diese Politik rings um den Führer vereinigte. Sein Skeptizismus wurde bei ihnen Zynismus; der Abscheu Adlers vor „Dekorativem" in der Politik verwandelte sich bei ihnen in offenen Hohn auf die grundlegenden Werte des Sozialismus. Und diese natürliche Auslese der Mitarbeiter stellt sich als leuchtendster Ausdruck und Missbilligung des Systems von Adler senior dar.

Der Sohn, mit seinem unverfälschten revolutionären Temperament, stand in organischer Feindschaft zu diesem System. er lenkte seine Kritik, sein Misstrauen, seinen Hass zuallererst auf die eigene Regierung. Zum Zeitpunkt unserer letzten Verabredung (3. August 1914) zeigte er mir zuerst den gerade veröffentlichten Aufruf der Staatsmacht an die Bevölkerung: verdächtige Ausländer aufzuspüren und zu ergreifen. Mit konzentriertem Abscheu sprach er vom beginnenden Toben des Chauvinismus. Seine äußere Zurückhaltung hob seine tiefe sittliche Erschütterung nur hervor. Nach einer halben Stunde im Sekretariat kam der „Doktor". Er schlug mir vor, mich unverzüglich mit ihm in die Präfektur, zum Chef der politischen Polizei, Gayer, zu begeben, um sich bei ihm darüber zu erkundigen, wie die Macht gewillt sei, mit in Wien wohnhaften russischen Emigranten zu verfahren.

Im Automobil, auf dem Weg in die Präfektur, lenkte ich die Aufmerksamkeit Adlers darauf, dass der Krieg in Wien nach außen eine Art Feststimmung hervorrief. – „Das ist die Freude jener, welche nicht in den Krieg gehen müssen“, – antwortete er – „und ihre Freude scheint jetzt patriotisch. Außer jenen gehen jetzt alle Unausgeglichenen, alle Wahnsinnigen auf die Straße: das ist ihre Zeit. Aber ernsthafte Leute sitzen mit Beunruhigung im Haus … Der Mord an Jaurès ist nur der Beginn. Der Krieg öffnet den Raum für alle Instinkte, alle Arten von Wahnsinn"…

Adler war nach seinem alten medizinischen Fachbereich Psychiater und trat häufig an politische Ereignisse („besonders österreichische" – sagt er ironisch) mit einer psychopathologischen Sichtweise heran.

Wie fern war er in jenem Moment von dem Gedanken, dass sein eigener Sohn einen politischen Mord vollbringen werde… Ich erwähne dies hier deshalb, weil nach dem Anschlag Fr. Adlers die gelbe österreichische Presse und eine Reihe sozialpatriotischer Publikationen versuchten, den selbstaufopfernden Revolutionär für unausgeglichen und sogar abnormal zu erklären – aus der Sichtweise ihrer eigenen minderwertigen „Normen". Aber die Habsburger Gerichtsmedizin war gezwungen, vor der mutigen Standhaftigkeit des Terroristen zu kapitulieren. Mit welcher kalten Verachtung musste er sich zum Gutachten der Eunuchen des Sozialpatriotismus verhalten, wenn ihn etwa ihre Stimmen im Gefängnis erreichten1

Der Chef der politischen Polizei Gayer brachte die Vermutung zum Ausdruck, dass morgen früh der Befehl zur Ingewahrsamnahme der Russen und Serben herausgehen könne.

- „Jene, die wir kennen, werden wir danach freilassen, aber es kann Verwicklungen geben. Außerdem werden wir sie später nicht aus dem Land herauslassen.“

- „Folglich empfehlen Sie abzureisen?“

- „Unbedingt. Und je schneller, desto besser.“

- „Gut … morgen werde ich mit der Familie in die Schweiz abreisen.“

- „Hm … ich würde vorziehen, wenn Sie das heute machten".

Dieses Gespräch fand um drei Uhr nachmittags statt, und um zehn Minuten nach sechs Uhr saß ich schon im Bahnwaggon und steuerte mit der Familie Zürich an.


  1. Dem persönlichen Mut Fr. Adlers entsprach nicht die physische Kraft des Gedankens. Von der Revolution aus dem Gefängnis befreit, kapitulierte Adler vor der Partei, welche ihn zuerst zur Verzweiflung brachte, aber später verriet. Jetzt führt Adler die 2½ Internationale und dient jener Sache, der er um den Preis seines Lebens entgegenzutreten versuchte… (April 1922 – L. Т.).

Gustav Eckstein

[„Nasche Slowo“ Nr. 178, 3. August 1916, in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926}, S. 38 f., eigene Übersetzung nach dem russischen Text]

In der Schweiz starb im 42. Lebensjahr einer der hervorragendsten austrodeutschen Marxisten, Genosse G. Eckstein. Alle Genossen, welche im Verlauf der letzten Jahre die „Neue Zeit“ und den „Kampf“ verfolgten, kennen den Namen und denken mit Dankbarkeit an zahlreiche Artikel zurück, aus welchen sie viel hinzulernten.

Eckstein besaß eine außerordentlich vielseitige Gelehrsamkeit: mit tiefen Erkenntnissen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft und Ethnographie verknüpfte er ernsthafte Bildung auf dem Gebiet der Geschichte und politischen Ökonomie. Er schrieb und sprach die einfache klare Sprache des Propagandisten, die den allerverwickeltsten Gedanken allgemeinverständliche Form verlieh: in diesem Sinne gehörte er zur Schule Kautskys, mit welchen er allgemein in der letzten fruchtbringendsten Periode seines Lebens in einer engen Ideenfreundschaft verbunden war.

Von Anfang des Krieges und der von ihm hervorgerufenen Krise der deutschen Sozialdemokratie an nahm Eckstein die Position eines Internationalisten ein – auf der linken Flanke der „Neuen Zeit“. Wir wissen nicht, in welcher Beziehung zum linken Flügel der Sozialdemokratie er in seinen Reden in Parteiversammlungen stand, in denen er den offiziellen Kurs der Partei der Kritik unterzog und insbesondere den Mythos vom „demokratischen“ Krieg gegen des Zarismus gnadenlos entlarvte.

Eine Lungentuberkulose erschütterte unermüdlich den zerbrechlichen Leib Ecksteins. Diese Krankheit nötigte ihn seinerzeit, eine Seereise nach China und Japan zu vollbringen, von wo er die Bekanntschaft und Verbindung mit dem Fernen Osten mitnahm. „Das Familienrecht der Japaner“ [Die Entwicklung des japanischen Familienrechtes], eine Arbeit, die als Einzelheft in der „Neuen Zeit“ erschien, war eine der Früchte dieser Reise. Aber die Tuberkulose überwältigte Eckstein schließlich, und er starb neulich in Zürich, wenige Tage nach einer zweitrangigen Operation.

Die Schwester Ecksteins, Theresa Eckstein-Schlesinger, eine bekannte österreichische Sozialistin, nahm eine revolutionär-internationalistische Position ein und war mit ihrem Bruder durch Bande enger Freundschaft verbunden … möge es ihr als Trost dienen, dass wir alle, die ihn gekannt haben, auf dieser wie auch auf der anderen Seite des Schützengrabens – zusammen mit ihr Gustav nicht nur als eine der besten marxistischen Kräfte beweinen, sondern auch als eine der dem Charakter nach vornehmsten Gestalten in der internationalen Familie des Sozialismus.

Fritz Adler

[„Natschalo“ Nr. 22, 25. Oktober 1916, in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926}, S. 39-44, eigene Übersetzung nach dem russischen Text

Jetzt kann bereits kein Platz mehr für Zweifel sein: gerade Fritz Adler, der Sekretär der österreichischen Sozialdemokratie und Redakteur der theoretischen Zeitschrift der Partei, „Kampf“, der Sohn Victor Adlers, ermordete den österreichischen Ministerpräsidenten Stürgkh. Unter jenen überraschenden Kombinationen, an welchen unsere furchtbare Epoche so reich ist, mag das eine der überraschendsten sein.

Als Stürgkh als Nachfolger Bienerths für den Posten des österreichischen Ministerpräsidenten bestimmt wurde, rief der Greis Pernerstorfer, der das Präsidium auf dem Innsbrucker Parteitag der deutsch-österreichischen Sozialdemokratie innehatte, in seiner Schlussrede aus: „Fortan beginnt das Stürgkhо-tatarische Regime“. Aber diese Vorhersage bestätigte sich nicht. Stürgkh erwies sich als Vertreter ganz derselben wahrhaft österreichischen bürokratischen Schule, welche der Ansicht ist, dass Regieren bedeutet, kleine Geschäfte abzuschließen, Schwierigkeiten anzuhäufen und Aufgaben hinauszuzögern. Er stand der vom getöteten Thronfolgers Franz-Ferdinand gekrönten imperialistischen Clique kaum besonders nahe, welche predigte, dass der Ausweg aus der inneren und äußeren österreichisch-ungarischen Misere auf dem Wege einer „kräftigen“ Politik liege. Aber Stürgkh trat selbstverständlich mit dieser Clique nicht in einen Kampf ein, sondern passte sich an sie an, d.h. unterwarf sich ihr in der Tat. Das Kabinett Stürgkhs wurde ein Kriegskabinett. Der frühreife österreichische Imperialismus, welcher alle inneren sozialen und nationalen Widersprüche überwinden musste, entblößte sie in der Tat nur. Die alltäglichen Mittel der regierenden Wiener Bürokratie wurden unzureichend. Das Kabinett Stürgkh schaffte für die ganze Zeit des Krieges das konstitutionelle Regime vollständig ab und beabsichtigte auch die Milliarden ohne jede Kontrolle zu verausgaben, aber gegen die zentrifugalen nationalen Tendenzen brachte sie Fesseln und Galgen hervor. Im unpersönlichen und Dutzendbürokraten Stürgkh war nichts, was diesen einem Diktator und Tyrannen ähnlich machen würde. Aber der sich automatisch an die Bedürfnisse der Habsburger Maschine unter den Bedingungen des europäischen Krieges anpassende Durchschnitts-Tschinownik Stürgkh errichtete ein Regime der Diktatur und des weißen Terrors. So erhob er sich gerade in der Unpersönlichkeit des eigenen Kanzleidespotismus auf die Stufe eines Vertreters eines imperialistischen Staates im „Befreiungs“-Krieg. In diese Sinn war er wohl ein „würdiges“ Ziel für die Kugel eines Terroristen.

Aber Fritz Adler, so wie wir ihn kannten, war kein Terrorist. Er war Sozialdemokrat nach Famillientradition und persönlich eroberter Überzeugung, ein allseitig gebildeter Marxist und keineswegs geneigt zu terroristischem Subjektivismus, zu dem naiven Glauben, dass ein gut gezieltes Geschoss den Knoten der größten historischen Probleme zerhauen könne. Dieser „Stubengelehrte“, wie ihn mit einer gewissen äußerlichen Berechtigung offizielle und offiziöse Telegramme charakterisieren, brachte unbeugsam die „Idee des vierten Standes“ in dem alten allumfassenden revolutionären Sinn zum Ausdruck, in welchem sie im Manifest der Kommunistischen Partei eingeprägt ist.

Gerade deshalb schien es in den ersten Stunden unwahrscheinlich, dass Fritz Adler als Internationalist sein Leben auf die gleiche Karte mit dem Leben des Habsburgers Stürgkh setzte. Die Telegramme der französischen Presse aus der Schweiz nährten das natürliche Misstrauen. Sie versetzten erst Adler nach Deutsch-Böhmen, bezeichneten ihn als Sekretär der Prager Handelskammer, dann vermengten sie ihn offensichtlich mit seinem jüngeren Bruder und rechneten ihn zur literarischen Boheme hinzu, zur Gruppe der „Anarchisten“ der Wiener Cafés, wie Peter Altenberg, Karl Kraus und andere. Jetzt, wo die Telegramme das Echo der deutschen Presse auch einschließlich der Wiener „Arbeiter-Zeitung“ auf die Ereignisse bringen, kann Zweifel bereits nicht mehr am Platze sein: es war gerade Fritz Adler, der Redakteur des „Kampfs“, der revolutionäre Internationalist, unser Gleichgesinnter und Freund, der den österreichischen Ministerpräsidenten Stürgkh ermordete.

Und an Stelle des ursprünglichen inneren Bedürfnisses – Zweifel – erwächst jetzt das neue Bedürfnis – Erklärung –, sogar gebieterischer als das Bedürfnis nach politischer Einschätzung.

Wir sagten, dass Stürgkh, wobei wir keineswegs seine Größe vergrößern, sich automatisch auf den Stand eines vollendeten Vertreters des Systems erhob. Dies wäre genug für einen Doktrinär des Terrorismus, aber nicht für Fritz Adler. Die unmittelbaren und stärksten Motive für seine Handlung müssen wir im Zustand und den inneren Beziehungen der österreichischen Sozialdemokratie selbst suchen.

Victor Adler, der Vater von Fritz und tatsächliche Begründer der österreichischen Arbeiterpartei, eine der größten Gestalten der Zweiten Internationale, erschien in den 80er Jahren in der politischen Arena als jüngerer Freund Friedrich Engels', mit ernsthaftem theoretischem Gepäck und echtem Temperament eines Revolutionärs. und noch jetzt kann man nicht ohne Bewegung dessen damalige wöchentliche „Gleichheit“ durchblättern, die einen prächtigen Kampf gegen die Habsburger Zensur, Polizei, Monarchie und gegen die Klassengesellschaft insgesamt führte. Diese heroische Epoche, von der Victor Adler einen beträchtlichen Teil in den Gefängnissen der Monarchie verbrachte, umgab dessen Haupt mit einer revolutionären Aureole. Die österreichische Sozialdemokratie beutete die Ohnmacht der Bürokratie vor dem Chaos der nationalen Ansprüche geschickt aus und weitete systematisch die offene Arena des politischen Kampfes für sich aus. Der Autorität des revolutionären Sozialisten fügte Victor Adler die Autorität des feinen Strategen hinzu. Die Partei befand sich in einer Periode ununterbrochenen Wachstums. In dieser Atmosphäre eines außerordentlichen politischen Einflusses und persönlichen Charmes von Adler senior formierte sich eine junge Generation österreichischer Marxisten: Karl Renner, Max Adler, Rudolf Hilferding, Gustav Eckstein, Fritz Adler, Otto Bauer und andere. Alle von ihnen nahmen in größerem oder geringerem Maße die offizielle Taktik der Partei als von oben gegeben ohne Kritik hin, beschränkten ihre Aufgabe auf das Gebiet theoretischer Erforschung und marxistischer Propaganda.

Die russische Revolution verlieh der politischen Aktivität des österreichischen Proletariats neue Spannweite. Unter dem direkten Druck unseres Oktoberstreiks im Jahre 1905, der ein mächtiges Echo in den Straßen von Wien und Prag hervorrief, oktroyierte die von zentrifugalen nationalen Kräften desorganisierte Monarchie das allgemeine Wahlrecht. Vor der Partei eröffneten sich, schien es auf den ersten Blick, die weitesten Perspektiven. Die „österreichische“ Methode – verwickelte Manöver, halbe Drohungen und halbe Vereinbarungen – schien umso siegreicher, als offensichtlich die russische Revolution mit ihrer „Vereinfachung“ des Massenkampfes zur Neige ging.

Aber die politische Wirklichkeit bildete sich den optimistischen Erwartungen der Enthusiasten und Bürokraten der „österreichischen“ Methode zum Trotz. Die von der schnellen Entwicklung des jungen österreichischen Kapitalismus gedrängten regierenden Spitzen suchen einen Ausweg aus den inneren Schwierigkeiten auf dem Wege der äußeren Erfolge. Die Politik des Imperialismus verdammte mächtigere Parlamente als das österreichische zur Nichtigkeit. Das allgemeine Wahlrecht stellte sich als kraftlos heraus, dieses Gesetz zu ändern. Der Militarismus schnitt sich in den lebenden Leib der verschiedenstämmigen Bevölkerung der Monarchie ein, aber der Widerstand ihrer zahlreicheren bäuerlichen und kleinbürgerlichen Massen wurde ohne Resultat im Aufruhr der nationalen Zusammenstöße neutralisiert. Die Minister beriefen nach Willkür das Parlament ein und sandten die Deputierten nach Willkür nach Hause.

Nur eine unversöhnliche, revolutionäre Offensivpolitik konnte das verschiedenstämmige österreichisch-ungarische Proletariat zusammenlöten, es vor der Ansteckung mit Provinzialismus und Nationalismus bewahren und gleichzeitig die Monarchie in eine geregeltere, „konstitutionelle“ Verbindung mit den besitzenden Klassen stellen. Aber die „österreichische“ Methode der abwartenden Halbherzigkeit, der Gänge hinter den Kulissen, der vollen Stellvertretung der Massen durch führende Strategen hatte sich bereits in verknöcherte Traditionen verwandelt und gleichzeitig ihre ganzen demoralisierenden Züge entfaltet.

Rings um Victor Adler, das erste und größte Opfer der eigenen Methode, gruppierten sich Mittelmäßigkeit, Politiker des Vordergrunds, Routiniers und Karrieristen, welche nicht, wie ihre Führer, im erschöpfenden Getümmel der österreichischen Politik den Weg von revolutionären Konzeptionen zu vollem Skeptizismus machen mussten, um Erzfeinde jeder revolutionären Initiative und Massenhandelns zu bleiben. Die jämmerliche Kraftlähmung der offiziellen Spitzen des österreichischen Sozialismus enthüllte sich am Anfang des Krieges als unbändiger Servilismus vor dem österreichisch-ungarischen Staate.

Im umfangreichen „Manifest der österreichischen Internationalisten“, das bald nach der Zimmerwalder Konferenz in der sozialistischen Presse veröffentlicht wurde, wurde eine erschöpfende Charakteristik des inneren Regimes der Monarchie und eine noch tödlichere Charakteristik des Regimes der österreichischen Sozialdemokratie gegeben. Der Autor dieses Manifests, das die Forderung aufstellte, dass die sozialistische Partei unabhängig vom Verlauf des Krieges, als „die beständige Armee der sozialen Revolution“ bestehen bleibe und handele, war Fritz Adler, der an die Spitze der sozialistischen Opposition gekommen war.

Wenn die junge Generation der österreichischen Marxisten bis zum Krieg keine eigenständige Politik führte und diesen Bereich Adler Senior anheim gab, dann erhob sich nun, im Moment der größten Prüfung, das Gefühl der politischen Verantwortung mit majestätischer Kraft in der Brust von Adler junior. Er lebte nicht, sondern brannte. Der Konflikt der zwei Generationen im Sozialismus erhielt auf österreichischem Boden in seiner Dramatik erschütternden Ausdruck. In Deutschland war Bebel bereits nicht mehr. Seinen Platz nahmen Dutzendparteibürokraten ein. In Frankreich ist Jaurès nicht mehr. Zweitrangige Epigonen leiten die sozialpatriotische Verwesung des Sozialismus. In Österreich steht zum Schutz der offiziellen sozialpatriotischen Politik immer noch Victor Adler, die Verkörperung der ganzen Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie. Umso schwieriger, umso dramatischer war die Aufgabe des Sohnes. An den Spitzen der Partei begegnete er dem herablassend-feindseligen Widerstand von selbstzufriedenen Parlamentariern ohne Parlament, von Journalisten, die die Ereignisse zwischen Frühstück und Mittagessen zu Papier bringen, kleinen Karrieristen oder, im besten Falle, organischen Nationalisten. Die Gleichgültigkeit der Philister, welche nichts Ernst nehmen, mussten umso stärker seine Seele mit Zorn füllen, als die Möglichkeiten des direkten Appells an die Massen beschränkt waren. Die Telegramme berichten, dass in einer kürzlichen Beratung der leitenden Elemente der Partei Fritz Adler entschlossenes Handeln forderte. „Wir müssen überall Manifestationen organisieren“ – rief er aus – „ansonsten erlegt das Volk die Verantwortung für den Krieg den Führern des Sozialismus auf“. Ihm antworteten zuckende Schultern. Diese Leute nahmen nichts ernst. Aber er, Fritz, nahm seine sozialistische Pflicht ernst1. Er beschloss, mit allen seinen Kräften die proletarischen Massen aufzurufen, dass der Weg des Sozialpatriotismus der Weg zu Knechtschaft und geistigem Tod ist. Er wählte dafür jenes Verfahren, welche ihm das wirksamste schien. Wie ein heroischer Weichensteller am Bahndamm der Eisenbahn, welcher sich die Vene öffnet und eine Gefahr mit einem mit eigenem Blut getränkten Tuch signalisiert, verwandelte Fritz Adler sich selbst, sein Leben, in eine Signalbombe im Angesicht der betrogenen und ausgebluteten Arbeitermassen …

Folglich schlägt noch das Herz dieser unglücklichen Menschheit, wenn sich unter ihren Söhnen solche Ritter der Pflichten befinden!


  1. Bekanntlich verriet in der Zukunft (im Jahre 1918) Friedrich Adler den revolutionären Internationalismus und ging und von neuem in die Reihen der österreichischen Sozialdemokratie über. [Anmerkung Trotzkis]

In Paris

18. März 1919/24. April 1922

[„Krieg und Revolution", Band. I, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926}, S. 48 f.]

Die französische sozialistische Partei befand sich in einem Zustand voller Demobilisierung. Jaurès war am Vorabend des Krieges getötet worden. Vaillant, der alte Antimilitarist, kehrte mit dem ersten Tag des deutschen Angriffs zu den patriotischen Traditionen Blanquis zurück und gab täglich im Zentralorgan der Partei, „L'Humanité", Artikel im Geiste des angespanntesten Chauvinismus von sichh. Jules Guesde, der Führer des marxistischen Flügels, der sich in einem langen kräftezehrenden Kampf gegen den Fetisch Demokratie erschöpfte hatte, erwies sich nur dazu fähig, ähnlich seinem Freund Plechanow die Reste seines politischen Denkens und seiner sittlichen Autorität auf dem Altar der „nationalen Verteidigung" darzubringen. Der oberflächliche Feuilletonist Marcel Sembat sekundierte Guesde im Kabinett Briand. Der heimliche Macher, der große Meister in kleinen Dingen, Pierre Renaudel erwies sich vorübergehend als „Leiter" der Partei, nachdem er automatisch den leer gewordenen Platz Jaurès eingenommen hatte, auf welchem er sich überanstrengte, dessen Gesten und Donnerstimme nachzuahmen. Longuet ahmte Renaudel nach, jedoch mit einer gewissen Verlegenheit. Der offizielle Syndikalismus, vertreten durch den Vorsitzenden der allgemeinen Konföderation der Arbeit, den Werwolf Jouhaux, ging denselben Weg. Selbstgefällig stülpte sich der „revolutionäre" Kasper Hervé, der extreme Antimilitarist, um und blieb in der Eigenschaft eines extremen Patrioten ganz derselbe Kasper. Einzelne oppositionelle Elemente waren hier und dort zerstreut – zeigten jedoch beinahe keine Lebenszeichen. Es schien, als gäbe es keinerlei Schimmer einer besseren Zukunft.

Im Milieu der russischen Emigration in Paris, besonders der SR -Intelligenz, erblühte der Patriotismus in vollen Farben. Als sich die militärische Bedrohung von Paris abzeichnete, trat eine beträchtliche Zahl Emigranten als Freiwillige in die französische Armee ein. Die übrigen klebten an den Deputierten und der bürgerlichen Presse und demonstrierten auf jede Art und Weise, dass sie jetzt nicht einfach Emigranten, sondern kostbare Verbündete seien. Die breite untere Emigration, die proletarischen Elemente, waren desorientiert und verwirrt. Gewisse Arbeiter, besonders die, die es geschafft hatten, französische Familien zu gründen, erlagen der patriotischen Strömung. Jedoch im Allgemeinen hielten sie sich, strebten zu verstehen und einen Ausweg zu finden.

Eine Epoche vergeht

(Bebel – Jaurès – Vaillant)

[Paris, 22. Dezember 1915 „Kijewskaja Mysl" Nr. 1, 1./14. Januar 1916, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926}, S. 49-55]

Heute verbrannten sie den Leib Eduard Vaillants.

Eine ganze Epoche im europäischen Sozialismus vergeht. Und sie vergeht nicht nur ideell, sondern physisch in Gestalt ihrer hervorragendsten Vertreter. Bebel starb in der Periode der Bukarester Friedenskonferenz, zwischen dem Balkan- und dem derzeitigen Krieg. Ich erinnere mich, wie ich auf dem Bahnhof in Ploiești von Gherea1, dem Auswanderer aus Russland und bekannten rumänischen Schriftsteller, diese Kunde erfuhr. Sie schien so unglaublich wie auch die Kunde vom Tode Tolstois; in den Augen aller mit dem deutschen politischen Leben Verbundenen war Bebel dessen unlösbarer Teil. In jener entfernten Epoche hatte das Wort Tod allgemein in der menschlichen Sprache noch einen völlig anderen Inhalt als in unseren Tagen. „Bebel starb. Was ist mit der deutschen Sozialdemokratie?" Ich erinnerte mich, wie mir einst, vor fünf Jahren, Ledebour über das innere Leben seiner Partei antwortete: 20% sind entschlossene Radikale, 30% Opportunisten, die Übrigen folgen Bebel.

Bereits der Tod Liebknechts (Wilhelms. Red.) war eine erste Warnung an die ältere Generation – in dem Sinn, dass sie die Bühne verlassen könne, ohne das zu erfüllen, was sie als ihre historische Mission erachtete. Aber, solange Bebel lebendig war, blieb die lebendige Verbindung mit der heroischen Periode der Bewegung bestehen, und die unheroischen Züge der leitenden Leute des zweiten Aufgebots drangen nicht so hell nach außen.

Als der Krieg begann und bekannt wurde, dass die Sozialisten für die Kriegskredite stimmten, kam erzwungenermaßen die Frage auf, wie in diesem Falle Bebel gehandelt hätte? „Ich halte es nicht für möglich,“ – sagte in Zürich P. B. Axelrod, – „dass Bebel einen solchen Sturz der Parlamentsfraktion zugelassen hätte: er hatte die Erfahrung des Krieges des Jahres 1870 und die Traditionen der erste Internationale im Rücken – nein, niemals!" Aber Bebel war nicht am Leben, die Geschichte entfernte diesen aus der Bahn, um den Gefühlen und Stimmungen volle Freiheit zu geben, sich zu zeigen, welche sich in der deutschen Sozialdemokratie im Verlauf der Jahrzehnte ihres langsamen organischen Wachstum beinahe unmerklich, aber umso unaufhaltsamer ansammelten.

In der Zeit war auch Jaurès bereits nicht mehr am Leben. Die Kunde darüber, dass er umgebracht war, traf mich noch in Wien, das ich dringend verlassen musste, und löste auf seine Art keinen kleineren Eindruck aus als das damalige erste Donnern des Weltgewitters. Die kolossalen Ereignisse stimmen fatalistisch: eine Person lässt sich einschüchtern, wenn aus den Überschneidungen von entfernten und unmittelbaren, tiefen und oberflächlichen Ursachen der Zusammenstoß bewaffneter Völker erwächst. Aber der Tod von Jaurès, der den Zusammenstoß der unpersönlichen Massen vorher ankündigte, drückte den nahenden Ereignissen den Stempel ergreifendег individueller Tragik auf. Dies war dieselbe majestätische Variation des alten, aber nicht alternden Themas des Kampfes des Heroen mit dem Verhängnis. Das Verhängnis wurde für dieses Mal Sieger. Jaurès lag mit durchschossenem Kopf da. Der französische Sozialismus erwies sich als geköpft, und unverzüglich kam die Frage auf: welchen Platz wird er in den derzeitigen Ereignissen einnehmen?

Es schien, dass die Geschichte sich zur Vorbereitung des Zerfalls der Zweiten Internationale, wie sie sich in 25 Jahren ihrer Existenz einwickelt hatte, die Arbeit erleichterte, indem sie zwei Menschen beseitigte, welche die Bewegung dieser ganzen Epoche symbolisierten: Bebel und Jaurès.

In der Persönlichkeit Bebels verkörperte sich die beharrliche und unaufhörliche Bewegung der neuen Klasse von unten nach oben. Dieser zerbrechliche hagere Greis schien ganz geschaffen aus auf ein einziges Ziel gerichtetem Willen. In seiner Denkweise, in seiner Redegewandtheit und in seinen literarischen Werken ließ er überhaupt keinen Aufwand geistiger Energie zu, welcher nicht unmittelbar zum Ziele führte. Er war nicht nur ein Feind von Rhetorik, sondern auch der selbstsüchtigen ästhetischen Verführung unbedingt fremd. Daraus bestand übrigens auch die höchste Schönheit von seinem politischen Pathos. Er spiegelte eine Klasse wider, welche in den wenigen freien Stunden lernt, jede Minute wertschätzt und dann gierig verschlingt, was streng erforderlich ist.

Jaurès war hingegen ganz Flug; seine geistige Welt bestand aus ideologischen Traditionen, philosophischen Phantasien, poetischer Vorstellungskraft und hatte so deutlich ausgedrückte aristokratische Züge, wie das geistige Aussehen Bebels plebejisch-demokratisch war. Außer diesen psychologischen Differenzen der zwei Typen – des ehemaligen Drechslers und des ehemaligen Professors der Philosophie – waren zwischen Bebel und Jaurès noch tiefe logische und politische Unterschiede der Weltanschauung: Bebel war Materialist, Jaurès eklektischer Idealist, Bebel war unversöhnlicher Anhänger der Prinzipien des Marxismus, Jaurès Reformist, Ministerialist und so weiter. Aber ungeachtet aller dieser Unterschiede, spiegelten sie in der Politik durch das Prisma der deutschen und französischen politischen Kultur eine und dieselbe historische Epoche wider. Dies war die Epoche des bewaffneten Friedens – in den internationalen Beziehungen wie auch in den inneren.

Die Organisation des deutschen Proletariat wuchs unaufhörlich, die Kasse füllte sich, die Zahl der Zeitungen, Deputierten, Stadträte vermehrte sich ununterbrochen. In der selben Zeit hielt sich die Reaktion fest auf allen ihren Positionen. Von hier aus entfloss die Unausbleiblichkeit des Zusammenstoßes zwischen den zwei polaren Kräften der deutschen Öffentlichkeit. Aber der Zusammenstoß brach so lange nicht herein, und die Kräfte und Mittel der Organisation wuchsen so automatisch, dass eine ganze Generation es schaffte, sich an eine solche Lage der Dinge zu gewöhnen, und obgleich alle von der Unausbleiblichkeit eines entscheidenden Konflikts schrieben, sprachen oder lasen, – wie von dem unausbleiblichen Zusammenstoß zweier Züge, die einander auf ein und denselben Schienen entgegenfahren, – hörten sie doch schließlich innerlich auf, diese Unausbleiblichkeit zu empfinden. Der Greis Bebel unterschied sich von vielen anderen auch darin, dass er bis zum Ende seiner Tage in der tiefen Gewissheit dessen lebte, dass die Ereignisse fatal einer Auflösung entgegengehen, und am Tag seines siebzigsten Geburtstags sprach er mit Worten konzentrierter Leidenschaft über die künftige Stunde.

In Frankreich gab es weder dieses planmäßige Wachstum der Arbeiterorganisation noch diese offene Herrschaft der Reaktion. Im Gegenteil zeigte sich die Staatsmaschine auf Grundlage des demokratischen Parlamentarismus vollkommen zugänglich. Wenn Jaurès eine Attacke des Klerikalismus und verborgenen oder offenen Monarchismus zurückschlug, wie in der Periode des Dreyfus-Falles, dachte er, dass unmittelbar danach eine Periode reformatorischer „Errungenschaften" beginnen werde. Sein Antagonist, Jules Guesde, verlieh den marxistischen Tendenzen und Perspektiven unter den französischen Bedingungen einen sektiererischen Charakter; als tiefer und unerschütterlicher Fanatiker erwartete er im Verlauf der Jahrzehnte, geistig brennend im Feuer seines Glaubens und angespannter Ungeduld, befreiende Schläge. Jaurès stellte sich auf den Boden der Demokratie und Evolution. Er erachtete als seine Aufgabe den Weg von reaktionären Hindernissen zu säubern und den Parlamentsmechanismus zum Werkzeug tiefster sozialer Reformen zu machen, welche die ganze Gesellschaftsordnung umbauen, rationalisieren und gesund machen müssen. Aber die ökonomische Entwicklung Frankreichs bewegte sich überaus langsam, – die sozialen Beziehungen bewahrten stagnierenden Charakter, Wahlen folgten auf Wahlen und tauschten zwar politische Gruppierungen im Parlamentskaleidoskop aus, verletzen aber nicht die Verhältnisse ihrer grundlegenden Kräfte. Wie sich in Deutschland eine ganze Generation an das selbstzufriedene Wachstum der Organisation gewöhnte, so gingen in Frankreich Persönlichkeiten minderer Größe und Spannweite im Kopf im Parlamentsalltag auf und erinnerten sich nur in feierlichen Reden an die End-„Errungenschaften".

Ein gleichartiger psychologischer Prozess fand auch auf dem Gebiet der Fragen der internationalen Politik statt. Nach dem Kriege des Jahres 1870 war die Erwartung seiner Wiederaufnahme natürlich. Der Militarismus wuchs ununterbrochen, aber der Krieg wurde ganz beiseite geschoben. Im Kampf mit dem inneren Militarismus auf beiden Seiten des Rhein sprachen sie beständig über die Gefahr des Krieg, aber schließlich hörte die Mehrheit auf, an sie wirklich zu glauben. An das Wachstum des Militarismus gewöhnte man sich wie auch an das Wachstum der Arbeiterorganisationen. 45 Jahre bewaffneter Frieden, innerer und äußerer, vernichteten allmählich im Bewusstsein der Gesamtheit einer Generation die Züge der Katastrophenpsychologie. Und gerade dann, als diese Arbeit wohlbehalten vollendet war, stürzte die Geschichte auf das Haupt der Menschheit die größte Katastrophe, welche andere ankündigt und im Gefolge hat. Da ist nichts zu machen; das ist auch die Dialektik der Entwicklung.

Bebel und Jaurès spiegelten, jeder auf eigene Weise, ihre Epoche wider, aber als geniale Menschen überragten beide sie um einen Kopf, lösten sich nicht in ihr auf und konnten deshalb in viel geringerem Grade als ihre mittelmäßigen Mitarbeiter von ihr plötzlich überrascht werden. Aber sie gingen rechtzeitig aus der Arena ab, um der Geschichte die Möglichkeit zu liefern, im reiner Form den Versuch des Einflusses der Katastrophe auf das nicht-katastrophale Bewusstsein zu machen.

Heute beerdigten sie Eduard Vaillant.

Er war der einzige, der von den lebenden Vertretern der Tradition des nationalen französischen Sozialismus, des Blanquismus, verblieben war, welcher extreme, bis zur Insurrektion reichende Methoden des Handelns mit extremem Patriotismus verband. Blanqui wollte im Jahre 1870 in seiner Zeitung „Patrie en danger" („Vaterland in Gefahr") keine anderen Feinde außer den Preußen kennen. Und Gustav Tridon, der Freund Blanquis, trat zusammen mit Malon, am 3. März 1871, zum Protest in der Nationalversammlung auf, die sich erdreistetе den Frankfurter Vertrag, folglich, das Zugeständnis Elsass-Lothringens an die Deutschen zu befürworten. „Ich werde unversöhnlich diesem verbrecherischen Vertrag entgegentreten,“ – schrieb Tridon seinen Wählern, – „bis zu dem Tag, an dem die Revolution oder Ihr Patriotismus diesen zerstören wird". In diesem allen war kein Widerspruch: wie Vaillant aus Blanqui hervor ging, so ging Blanqui aus Babeuf und der Großen Revolution hervor. Diese Kontinuität erschöpfte für sie die Entwicklung des politischen Denkens und und schloss sie ab. Für Vaillant, obgleich er auch zu den an Zahl wenigen Franzosen gehörte, welche tatsächlich die deutsche Sprache und deutsche Literatur kannten, blieb Frankreich unveränderlich als messianisches Land, auserwählte Befreiungsnation bestehen, deren Berührung schon andere Völker zu geistigem Leben erweckte. Ihr Sozialismus war tief patriotisch, wie ihr Patriotismus befreiungsmessianisch. Das derzeitige Frankreich mit seinem verzögerten Wachsen der Bevölkerung und ökonomischer Rückständigkeit, mit seinen konservativen Formen des Denkens und Lebens schien ihm noch ganz als im Wesen einziges Land der Bewegung und des Fortschritts.

Nachdem Vaillant die Prüfungen der Jahre 1870-1871 durchlaufen hatte, wurde er ein fanatischer Gegner des Krieges und empfahl im Kampf mit ihm dieselben extremsten Mittel wie auch dessen Mitkämpfer auf den letzten internationalen Kongressen, der Engländer Keir Hardie, der einige Monate vor Vaillant die Bühne verlassen hatte. Aber als der Krieg ausbrach, konzentrierte sich die ganze europäische Geschichte, die durchlaufene und künftige, für Vaillant in der Frage des Schicksals Frankreichs. So wie für ihn alle Siege des Denkens und alle Erfolge der Gerechtigkeit unmittelbar aus der Großen Revolution entflossen, welche französisch war und blieb, musste er einfach schließlich ihre Ideen mit dem Blut der Rasse verbinden. Die Sache ging um die Rettung des Gottesträger-Volks, und für diese Ziele bereitete Vaillant vor, alle Kräfte in Bewegung zu bringen. Und Vaillant begann damals, Artikel im Stil des „Vaterland in Gefahr" Blanquis zu schreiben. Er segnete das Schwert des Militarismus, gegen welches er in der Friedenszeit so grausam kämpfte – unter der Bedingung, dass dieses von der Großen Revolution geerbte Schwert die deutsche Monarchie und den deutschen Militarismus niederwerfe. Vaillant war extremster Anhänger des Krieges jusqu'au bout (bis zum Ende). Die Leitartikel, welche er zu Anfang des Krieges täglich schrieb, atmeten eine solche Anspannung nationaler Gefühle, dass die mittelmäßigeren Nationalisten des Typs des derzeitigen Chefs der Partei Renaudel, sich nicht ohne Grund verlegen fühlten. Im 75-jährigen Kopf des Blanquisten wurde die alte messianisch-revolutionäre Konzeption geweckt. Der deutsche Militarismus handelte unter seiner Feder nicht als Produkt deutscher sozialer Bedingungen, sondern als äußerer ungeheurer Aufbau, den man mit dem Schlag des republikanischen Schwerts von außen niederwerfen könne. Vaillant war abschließend enttäuscht von der deutschen Rasse. und als sich in Stuttgart Opposition gegen den Militarismus und den offiziellen Parteikurs erhob, begann er Zufügungen von gallischem Blut im Süden Deutschlands zu suchen, um den Mut der Württemberger Sozialisten zu erklären …

Renaudel, Compère-Morel, Longuet und andere ausgeglichene Parlamentarier schauten mit Unruhe auf den alten Blanquisten, auf den Don Quixote des revolutionären Messianismus Frankreichs, welcher wie durch seine unveränderlich dunkle Brille den tiefen Wandel in den historischen Bedingungen überhaupt nicht bemerkte. Einige Monate später entfernte sich Vaillant vollkommen von der Zeitung. Deren Leitung ging in die Hände Pierre Renaudels über, der ein Vulgarisator unter Jaurès war und alle schwachen Züge des eigenen genialen Lehrers erbte…

ich traf Vaillant einige Monate vorher im Aktionskomitee (eine „Kriegs"-Gründung, bestehend zur Hälfte aus Delegierten der Partei, zur Hälfte aus Vertretern der Gewerkschaften). Vaillant ähnelte seinem Geist – dem Geist des Blanquismus in der Tradition der sanscoulottischen Kriege in der Epoche des imperialistischen Weltkriegs. Er erlebte noch den Moment, als das Schwert der Republik, welches für die Vernichtung der Hohenzollern-Monarchie vorherbestimmt war, dem royalistischen Katholiken Castelnau ausgehändigt wurde. In diesem Kapitel der politischen Geschichte Frankreichs und des ganzen Krieges starb der alte Blanquist, und gab auf solche Weise auch seinem Tod einen Zug politischen Stils.

Frankreich und zuallererst der französische Sozialismus wurden um einen großen Menschen kleiner. Die Mittelmäßigkeit der Epoche des Interregnum wird sich – leider, auch anderen! – noch beträchtlicher vorkommen. Aber nicht für immer und nicht einmal für lange Zeit. Die alte Epoche verlässt mit ihren Leuten die Bühne, die neue Epoche wird neue Leute finden.


  1. s. über ihn in diesem Band den Artikel den „Dobrogeanu-Gherea" auf S. XX. Red.]

Karl Kautsky

[Unser Wort. Halbmonatszeitung der IKD, Jahrgang 7, Nr. 1 (92), Mitte Februar 1939, S. 3]

Der Tod Karl Kautskys ist beinahe unbemerkt vorbeigegangen. Der jungen Generation sagt dieser Name relativ wenig. Es war jedoch eine Zeit, wo Kautsky im wahren Sinne des Wortes der Lehrer der proletarischen Avantgarde war. Allerdings war sein Einfluss in den angelsächsischen Ländern und zum Teil auch in Frankreich weniger stark; das aber erklärt sich aus dem schwachen Einfluss des Marxismus in diesen Ländern überhaupt; in Deutschland. Österreich, Russland und den anderen slawischen Ländern war Kautsky eine unbestrittene marxistische Autorität geworden. Die Versuche der gegenwärtigen Geschichtsschreibung der Komintern, die Dinge so darzustellen, als ob Lenin schon in seinen jungen Jahren in Kautsky einen Opportunisten gesehen und ihm den Krieg erklärt hätte, steilen eine grobe Fälschung der. Fast bis zum Weltkriege sah Lenin in Kautsky den wahren Fortsetzer der Sache von Marx und Engels.

Dieser Irrtum findet seine Erklärung im Charakter der Epoche, die eine Ära kapitalistischen Aufschwungs, eine Ära der Demokratie und der Anpassung des Proletariats war. Die revolutionäre Seite des Marxismus hatte sich in eine unbestimmte, jedenfalls ferne Perspektive verwandelt. Kampf um Reformen und Propaganda standen auf der Tagesordnung. Kautskys Werk bestand darin, die Politik der Reformen vom Standpunkt einer revolutionären Perspektive aus zu kommentieren und zu rechtfertigen. Selbstverständlich hätte Kautsky bei einer Änderung der objektiven Bedingungen die Partei mit anderen Methoden ausrüsten können. Das traf jedoch nicht ein. Das Einsetzen einer Epoche großer Krisen und großer Erschütterungen offenbarte den durch und durch reformistischen Charakter der Sozialdemokratie und ihres Theoretikers Kautsky. Zu Beginn des Krieges brach Lenin entschlossen mit Kautsky. Nach der Oktoberrevolution veröffentlichte er ein schonungsloses Buch über den „Renegaten Kautsky". Was den Marxismus angeht, so war Kautskys Haltung seit Beginn des Krieges unbestreitbar die eines Renegaten. Was jedoch seine Person betrifft, so war er seiner Vergangenheit gegenüber sozusagen nur zur Hälfte ein Renegat: als die Probleme des Klassenkampfes sich in ihrer ganzen Schärfe stellten, sah sich Kautsky gezwungen, die letzten Schlussfolgerungen seines organischen Opportunismus zu ziehen.

Kautsky hinterlässt zweifelsohne eine Reihe wertvoller Arbeiten auf dem Gebiet der marxistischen Theorie, die er erfolgreich auf den verschiedensten Gebieten anwandte. Sein analytisches Denken zeichnete sich durch eine außergewöhnliche Kraft aus. Aber er besaß nicht den universellen schöpferischen Geist eines Marx, Engels oder Lenin: Kautsky war im Grunde sein Leben lang nur ein talentierter Kommentator. Seinem Charakter und seinem Denken fehlte jene Kühnheit und jener Gedankenflug, ohne die eine revolutionäre Politik unmöglich ist. Beim ersten Kanonenschuss nahm er eine schwankende pazifistische Haltung ein, dann wurde er einer der Führer der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, die eine Internationale 2½ schaffen wollte, um schließlich mit den Trümmern der Unabhängigen Partei In den Schoß der Sozialdemokratie zurückzukehren. Kautsky begriff nichts von der Oktoberrevolution, hatte vor ihr den Schrecken eines kleinbürgerlichen Gelehrten und widmete ihr eine ganze Reihe von Arbeiten, die von einem Geiste erbitterter Feindschaft durchdrungen sind. Seine Werke aus dem letzten Vierteljahrhundert zeichnen sich durch vollständigen theoretischen und politischen Verfall aus.

Der Zusammenbruch der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie war ebenfalls der Zusammenbruch der gesamten reformistischen Konzeption Kautskys. Gewiss versicherte er in der letzten Zeit auch weiter noch seine Hoffnung auf eine „bessere Zukunft", auf eine „Wiedergeburt" der Demokratie usw.; dieser passive Optimismus war nur die Erschlaffung eines langen, arbeitsamen Lebens und auf seine Weise ehrlich, aber er enthielt keine selbständige Perspektive. Wir gedenken Kautskys als unseres alten Lehrers, dem wir seinerzeit viel zu verdanken hatten, der sich aber von der proletarischen Revolution lossagte und von dem wir uns folglich lossagen mussten.

Coyoacan, D.F., den 8. November 1938.

Flüchtige Gedanken über G. W. Plechanow

[25. April 1922, aus „Krieg und Revolution“, Band I, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926}, S. 56-61]

Der Krieg fasste eine ganze Epoche im Sozialismus zusammen, wog die Führer dieser Epoche ab und schätzte sie ein. Erbarmungslos liquidierte er unter ihnen auch G. W. Plechanow. Das war ein großer Mensch. Es ist kränkend zu denken, dass die ganze derzeitige junge Generation des Proletariat, die sich im Jahre 1914 und später in die Bewegung einreihte, Plechanow nur als Gönner Alexinskis, Mitarbeiter Awksentjews, beinahe – als Gleichgesinnten der berüchtigten Breschkowskaja kennt, d.h. den Plechanow der Epoche des „patriotischen“ Verfalls. Er war ein großer Mensch. Und als große Figur trat er in die Geschichte des russischen gesellschaftlichen Denkens ein.

Plechanow schuf die Theorie des historischen Materialismus nicht, bereicherte sie nicht durch neue wissenschaftliche Errungenschaften. Aber er führte sie in das russische Leben ein. Und das ist ein Verdienst von riesiger Wichtigkeit. Es war notwendig die revolutionär-exzeptionalistischen Vorurteile der russischen Intelligenz zu besiegen, in welchen der Hochmut der Rückständigkeit ihren Ausdruck fand. Plechanow „nationalisierte“ die marxistische Theorie und entnationalisierte somit das russische revolutionäre Denken. Über Plechanow begann sie erstmals die Sprache der tatsächlichen Wissenschaft zu sprechen, ihre Ideenverbindung mit der Arbeiterbewegung der ganzen Welt aufzustellen, die realen Möglichkeiten und Perspektiven der russischen Revolution aufzudecken, nachdem sie Halt in den den objektiven Gesetzen der wirtschaftlichen Entwicklung gefunden hatte.

Plechanow schuf nicht die materialistische Dialektik, aber er war ihr unerschütterlicher, leidenschaftlicher und glänzender Kreuzritter in Russland seit Anfang der 80er Jahre. Auch dafür war größter Scharfsinn, breiter historischer Gesichtskreis und vornehmer Mut des Denkens erfordert. Mit diesen Eigenschaften verknüpfte Plechanow noch den Glanz der Darstellung und das Talent zum Scherz. Der erste russische Kreuzritter des Marxismus arbeitete ruhmvoll mit dem Schwert. Wie viele Wunden fügte er zu! Manche von ihnen, wie die Wunden, die er dem talentierten Epigonen des Narodnikitums Michailowski zufügte, hatten tödlichen Charakter. Um die Kraft des Plechanowschen Denkens einzuschätzen, muss man eine Vorstellung von der Dichte jener Atmosphäre der Narodniki-, subjektivistischen, idealistischen Vorurteile haben, welche in den radikalen Zirkeln Russlands und der russischen Emigration herrschten. Aber diese Zirkel vertraten das Revolutionärste, was das Russland der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts aus sich hervorbrachte.

Die geistige Entwicklung der derzeitigen fortschrittlichen Arbeiterjugend geht (zum Glück!) völlig andere Wege. Der größte soziale Einsturz in der Geschichte trennt uns von jener Zeit, als das Duell Beltow-Michailowski1 ausgetragen wurde. Deshalb ist die Form der besten, d.h. gerade der hellsten polemischen Werke Plechanows, veraltet, wie die Form des Engelsschen „Anti-Dühring“ veraltet ist. Die Sichtweise Plechanows ist jungen intelligenten Arbeitern unvergleichlich verständlicher und näher, als jene Sichtweisen, welche Plechanow zerschlägt. Deshalb muss der junge Leser viel größere Aufmerksamkeit und Vorstellungskraft darauf aufwenden, die Gedanken der Sichtweise der Narodniki und Subjektivisten zu rekonstruieren, als darauf, die Kraft und Treffsicherheit der Plechanowschen Schläge zu verstehen. Deshalb können die Bücher Plechanows jetzt keine breite Verbreitung bekommen. Aber ein junger Marxist, welcher die Möglichkeit hat, richtig an der Verbreiterung und Vertiefung seiner Weltanschauung zu arbeiten, wird sich unbedingt zur ersten Urquelle des marxistischen Denkens in Russland wenden – zu Plechanow. Dafür wird er sich jedes Mal rückblickend in die Ideenatmosphäre des russischen Radikalismus der 60-90er Jahre einarbeiten müssen. Die Aufgabe ist schwierig. Dafür wird auch die Belohnung die Ausweitung des theoretischen und politischen Horizonts und der ästhetische Genuss sein, welchen die siegreiche Arbeit klaren Denkens im Kampf mit Vorurteilen, Konservatismus und Torheit gibt.

Trotz des kräftigen Einflusses der französischen Meister des Wortes auf ihn, blieb Plechanow ganz Vertreter der alten russischen Schule der Publizistik (Bjelinski – Herzen – Tschernyschewski). Er liebte es, weitschweifig zu schreiben, genierte sich nicht, abzuschweifen und den Leser unterwegs mit einem Scherz, einem Zitat – und noch einen Scherz zu unterhalten … Für unsere „Sowjet“-Zeit, die allzu lange Worte in Teile schneidet und danach ihre Splitter zusammenpresst, scheint die Plechanowsche Manier veraltet. Aber sie spiegelt eine ganze Epoche wider und bleibt in ihrer Art vorzüglich. Die französische Schule drückte ihm ihren vorteilhaften Stempel auf, in Form der Genauigkeit der Formulierungen und durchsichtigen Klarheit der Darstellung.

Als Redner sticht Plechanow mit denselben Eigenschaften, wie auch als Schriftsteller heraus, zu seinem Vorteil und zu seinem Nachteil. Wenn Sie Bücher Jaurès' lesen, sogar seine historischen Werke, fühlen Sie eine aufgeschriebene Rede. Bei Plechanow ist es umgekehrt. in seinen Reden hören Sie einen Reden haltenden Schriftsteller. Reden haltende Schriftstellerei, wie auch schriftstellernde Reden können die allerhöchsten Vorbilder geben. Aber ungeachtet dessen sind Schriftstellerei und Reden zwei verschiedene Elementarkräfte und zwei verschiedene Künste. Deswegen strengen die Bücher Jaurès' wegen ihrer rednerischen Anspannung an. Und aus derselben Ursache erzeugte der Redner Plechanow nicht selten den zwiespältigen und deshalb ernüchternden Eindruck des geschickten Vorlesers seiner eigenen Artikel.

Höher als alles stand er in theoretischen Disputen, in welchen sich eine ganze Generation der russischen revolutionären Intelligenz so unermüdlich badete. Hier bringt der Streitgegenstand selbst Schriftstellerei und Reden einander näher. Am allerschwächsten war er immer in Reden rein-politischen Charakters, d.h. in solchen, welche zur Aufgabe haben, die Zuhörer mit einer wirkungsvollen Schlussfolgerung zu einer Einheit zu verbinden, ihre Willen zu vereinen. Plechanow sprach wie ein Beobachter, wie ein Kritiker, wie ein Publizist, aber nicht wie ein Führer. Sein ganzes Schicksal verweigerte ihm die Möglichkeit sich unmittelbar an die Masse zu wenden, sie zum Handeln aufzurufen, sie zu führen. Seine schwache Seite entfließt aus derselben Quelle wie auch sein Hauptverdienst; er war ein Vorläufer, der erste Kreuzritter des Marxismus auf russischem Boden.

Wir sagten, dass Plechanow beinahe keine solchen Arbeiten hinterließ, welche in den breiten Ideenalltag der Arbeiterklasse eintreten könnten. Eine Ausnahme bildet vielleicht nur die „Geschichte des russischen gesellschaftlichen Denkens“; aber diese Arbeit ist in theoretischer Beziehung bei weitem nicht tadellos: die kompromisslerischen und patriotischen Tendenzen der Plechanowschen Politik in der letzten Periode schafften zumindest teilweise sogar seine theoretischen Pfeiler zu unterminieren. Verwirrt in den ausweglosen Widersprüchen des Sozialpatriotismus, begann Plechanow, Direktiven von außerhalb der Theorie des Klassenkampfs zu suchen, – mal im nationalen Interesse, mal in abstrakten ethischen Prinzipien. in seinen letzten Schreibereien macht er ungeheure Zugeständnisse an die normative Moral und versucht sie zum Kriterium der Politik zu machen („Verteidigungskrieg – gerechter Krieg“). in der Einführung zu seiner „Geschichte des russischen gesellschaftlichen Denkens“ beschränkt er die Handlungssphäre des Klassenkampfs auf den Bereich der inneren Beziehungen und ersetzte sie für die internationalen Beziehung durch nationale Solidarität2. Das war schon nicht mehr nach Marx, sondern nach … Sombart. Nur wer weiß, welchen unversöhnlichen, glänzenden und siegreichen Kampf Plechanow im Verlauf von Jahrzehnten gegen den Idealismus allgemein, die normative Philosophie im Besonderen, gegen die Schule Brentanos und seinen quasi-marxistischen Fälscher Sombart führte, – nur der kann auch die Tiefe des theoretischen Sturzes einschätzen, den Plechanow unter dem Gewicht der national-patriotischen Ideologie vollendete.

Aber der Sturz war vorbereitet. Wiederholen wir: Das Unglück Plechanows entsprang aus der selben Wurzel wie auch sein unsterbliches Verdienst: er war Vorläufer. Er war nicht der Führer des heutigen Proletariats, sondern nur sein theoretischer Vorbote. er machte sich polemisch stark für die Methoden des Marxismus, aber hatte nicht die Möglichkeit, sie im Handeln anzuwenden. Obwohl er einige Jahrzehnte in der Schweiz wohnte, blieb er russischer Emigrant. Der opportunistische Schweizer Kommunal- und Kantonalsozialismus auf überaus niedriger theoretischer Höhe, interessierte ihn beinahe nicht. Eine russische Partei gab es nicht. Sie ersetzte für Plechanow die Gruppe „Befreiung der Arbeit“, d.h. der enge Zirkel Gleichgesinnter (Plechanow, Axelrod, Sassulitsch und Deutsch, der sich in Zwangsarbeit befand). Plechanow strebte umso mehr, die theoretischen und philosophischen Wurzeln seiner Position zu festigen, je mehr ihr die politischen Wurzeln mangelten. In der Eigenschaft eines Beobachters der europäischen Arbeiterbewegung überging er ohne jede Aufmerksamkeit die größten politischen Ausprägungen von Kleinlichkeit, Kleinmut, Kompromisslertum der sozialistischen Parteien; aber er war immer auf der Wacht bei theoretischen Häresien der sozialistischen Literatur.

Die aus dem ganzen Schicksal Plechanows erwachsene Verletzung des Gleichgewichts zwischen Theorie und Praxis erwies sich als für ihn verhängnisvoll. Auf größere politische Ereignisse erwies er sich trotz seiner ganzen große theoretischen Vorbereitung auf sie unvorbereitet. Schon die Revolution des Jahres 1905 erwischte ihn kalt. Dieser tiefe und glänzende marxistische Theoretiker orientierte sich in den Ereignissen der Revolution mit Hilfe des empirischen, im Grunde spießbürgerlichen Augenmaßes, fühlte sich unsicher, nach Möglichkeiten schwieg er sich aus, wich bestimmten Antworten aus, kam mit algebraischen Formeln oder geistreichen Anekdoten davon, für welche er eine große Vorliebe hegte.

Ich erblickte Plechanow erstmals am Ende des Jahres 1902, d.h. in jener Periode, als er seine vorzügliche theoretische Kampagne gegen das Narodnikitum und gegen den Revisionismus3 abschloss und sich von Angesicht zu Angesicht politischen Fragen der nahenden Revolution gegenüber befand. Mit anderen Worte, für Plechanow fing die Epoche des Verfalls an. Nur ein Mal ergab es sich für mich, Plechanow sozusagen in aller Kraft und in allem seinem Ruhm zu sehen und zu hören: das war in der Programmkommission des II. Parteitag (in Juli des Jahres 1903, in London). Die Vertreter der Gruppe „Rabotscheje Djelo“, Martynow und Akimow, der Vertreter des „Bund“, Liber, und andere, irgendwer von den Provinzdelegierten, quälten sich, in der Mehrheit theoretisch falsche und wenig durchdachte Abänderungen zum hauptsächlich von Plechanow ausgearbeiteten Programmentwurf der Partei hereinzubringen. In den Kommissionsdebatten war Plechanow unnachahmlich und … gnadenlos. Zu jeder aufgekommenen Frage, und sogar Spitzfindigkeit, mobilisierte er ohne alle Bemühungen seine hervorragende Gelehrsamkeit und nötigte den Zuhörern und selbst den Opponenten, sich davon zu überzeugen, dass die Frage dort erst beginnt, wo die Autoren der Abänderungen dachten, dass sie ende. Mit einer klaren, wissenschaftlich-geschliffenen Konzeption des Programms im Kopf, zuversichtlich in sich, in sein Wissen, in seine Kraft, mit lustigen ironischen Flämmchen in den Augen, mit stacheligem und gleichfalls lustigem Schnurrbart, mit ein wenig theatralischen, aber lebendigen und ausdrucksvollen Gesten erleuchtete Plechanow, der amtierende Vorsitzende, die ganze zahlreiche Sektion, wie ein lebendiges Feuerwerk von Gelehrsamkeit und Scharfsinn. Sein Widerschein ließ Vergötterung auf allen Gesichtern und sogar auf den Gesichtern der Opponenten aufleuchten, auf denen Begeisterung mit Verlegenheit kämpfte.

Bei der Erörterung taktischer und organisatorischer Fragen auf dem selben Parteitag war Plechanow unvergleichlich schwächer, schien manchmal wirklich hilflos, rief Befremden selbst bei jenen Delegierten hervor, welche ihn in der Programmsektion bewunderten.

Schon auf dem Züricher internationalen Kongress im Jahre 1893 erklärte Plechanow, dass die revolutionäre Bewegung in Russland als Arbeiterbewegung siegen werde, oder ganz und gar nicht siegen werde. Das bedeutete, dass es eine zum Siegen fähige revolutionäre bürgerliche Demokratie in Russland nicht gibt und nicht geben wird. Aber von hier aus entfloss die Schlussfolgerung, dass eine vom Proletariat durchgeführte siegreiche Revolution nicht anders als mit dem Übergang der Macht in die Hände des Proletariats beendet werden kann. Von dieser Schlussfolgerung prallte Plechanow jedoch mit Entsetzen zurück. Damit verzichtete er politisch auf seine alten theoretischen Voraussetzungen. Neue schuf er nicht. Hieraus seine politische Hilflosigkeit, seine Schwanken, die mit seinem schweren patriotischen Sündenfall abschlossen.

In der Epoche des Kriegs wie auch in der Epoche der Revolution blieb für die wahren Schüler Plechanows nichts anderes, als gegen ihn einen unversöhnlichen Kampf zu führen.

Die nicht selten überraschenden und ohne Ausnahme minderwertigen Anhänger und Verehrer von Plechanows Epoche des Verfalls sammelten nach seinem Tod in einer Einzelausgabe alles höchst Fehlerhafte, was von ihm gesagt wurde. Damit halfen sie nur, den scheinbaren Plechanow vom tatsächlichen zu scheiden. Der große Plechanow, der richtige, gehört ganz und uneingeschränkt uns. Es ist unsere Verpflichtung, für die junge Generation die geistige Figur Plechanows in ihrer ganzen Größe wiederherzustellen. Die vorliegenden flüchtigen Zeilen sind selbstverständlich nicht einmal ein Zugang zu dieser Aufgabe. Aber sie zu lösen, ist nötig, und es ist sehr dankbar. Es ist Zeit, über Plechanow ein gutes Buch niederzuschreiben.


  1. Unter dem Pseudonym Beltow gelang es Plechanow im Jahre 1895 sein erfolgreichstes und glänzendes Pamphlet „Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung“ durch die zaristische Zensur zu bringen. [Anmerkung aus dem Sammelband „Krieg und Revolution“, 1922

  2. „Der Entwicklungsgang jeder gegebenen in Klassen getrennten Gesellschaft wird bestimmt durch den Entwicklungsgang dieser Klassen und ihre gegenseitigen Beziehungen, d.h., erstens, ihren gegenseitigen Kampf dort, wo die Sache ihre innere gesellschaftliche Organisierung betrifft, und, zweitens, ihre mehr oder weniger einträchtige Zusammenarbeit dort, wo die Rede vom Schutz des Landes vor äußeren Angriffen ist“. (G. W. Plechanow. „Geschichte des russischen gesellschaftlichen Denkens“, S. 11, Moskau 1919) [Anmerkung aus dem Sammelband „Krieg und Revolution“, 1922]

  3. Revisionismus – eklektische Theorie, begründet auf der Revision des Marxismus im opportunistischen Geist. [Anmerkung aus dem Sammelband „Krieg und Revolution“, 1922]

Lassen Sie uns in Ruhe

[„Nasche Slowo“ Nr. 216, 14. Oktober 1915, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926}, S. 62-64]

„…Ich ersuche Sie, falls Sie mit mir einverstanden sind, dann telegrafieren Sie mir, nachdem Sie mit anderen Genossen Deputierten gesprochen haben: „seien Sie gelassen“…

(Aus einem Brief G. Plechanows an den Deputierten Burjanow.)

Ideell und politisch ist Plechanow für den Sozialismus und für unsere Partei gestorben. Aber er will alle zwingen sich zu erinnern, dass er den eigenen geistigen Tod physisch überstand. Er will so viel wie möglich Unruhe und Verwirrung in die Parteireihen hereinbringen und so viel wie möglich Gift ins Bewusstsein rückständiger Arbeiter gießen; ihm scheint offensichtlich, dass in dem unsinnigen Chaos, welches er rings um den eigenen Namen schafft, sein geistiger Sturz nicht so bemerkbar ist.

Plechanow tritt in der chauvinistischen italienischen Presse gegen die italienische sozialistische Partei auf, die er noch vor kurzem gegen den italienischen Nationalreformismus verteidigte; er zieht zur Verteidigung der Zarendiplomatie aus, mit einem Seil um den Nacken zum Canossa des Kantianismus, nachdem er mit dem Zarismus und Kantianismus das ganze Leben kämpfte; er vereinigt sich mit frei schwebenden Nationalnarodniki gegen die revolutionäre Sozialdemokratie; stiftet – zuerst verstohlen, danach offen – unsere Deputierten zum Partei-Streikbrechertum an, – als wäre er im Kampf mit der eigenen Vergangenheit wild geworden, als würde er versuchen, mit der zunehmenden Zügellosigkeit seiner Reden den Protest seines erschöpften politischen Gewissens zu übertönen.

Plechanow weiß sehr genau, dass unsere Deputierten gegen die Kredite stimmen werden, dass fünf von ihnen für ihre Treue zur Fahne bereits in der Verbannung sind, dass das ganze fortschrittliche Proletariat mit den sozialdemokratischen Deputierten ist, und versucht wenigstens einen von ihnen abzusprengen und ergänzt die jämmerliche Ohnmacht seiner Argumente mit Maßnahmen der individuellen Einschüchterung. Er schreibt, indem er sich persönlich an Burjanow wendet, dass „eine Stimmabgabe gegen die Kredite Verrat wäre“. Er wirft zur Zeit des Krieges die Anschuldigung des Verrats gegen die revolutionäre Partei, die durch das Kriegsrecht an Händen und Füßen gefesselt ist.

Nehmen Sie, liberale Chauvinisten, die Anschuldigung, nehmen Sie sie, falls Sie sich nicht ekeln – sie ist genau passend für Sie: wenn die Sozialdemokratie Ihnen die Anschuldigung der Mittäterschaft an den Kräften, welche den Krieg vorbereiteten, entgegen wirft, rechtfertigen Sie sich nicht, verteidigen Sie sich nicht, – werfen Sie als Antwort die Anschuldigung des Verrats!

Und Sie, Nowowremenzen, Sie, Leute aus der „Semschtschina“ und anderen reaktionären Lasterhöhlen, nun können Sie mit dem Segen des Stammvaters des russischen Marxismus Halali blasen gegen die „Verräter“ Petrowski und Muranow oder Tschcheïdse oder Skobelew ein „fass!“ hinterher schreien.

Und Sie, ihr Herren Staatsanwälte Schtscheglowitowscher und anderer Härtung, stecken Sie den Plechanowschen Brief in Ihre Brieftasche: er wird Ihnen nützlich sein, wenn Sie denselben Burjanow, welchen Plechanow „werter Genosse“ tituliert, mit dem Sträflingskittel einkleiden müssen…

Ich möchte mit verschlossenen Augen an dem abstoßenden Anblick vorbei gehen: dem vom Chauvinismus besoffen und geistig entkleideten „Vater“ der Partei. Aber man darf es nicht: dieser Skandal ist ein politisches Faktum.

Jede neue Rede Plechanows gegen die russische Sozialdemokratie übermittelt unverzüglich der Telegraf den bürgerlichen Zeitungen des ganzen Landes; nicht deshalb, weil Plechanow irgendetwas nach seiner Bedeutsamkeit Ungewöhnliches sagte, – umgekehrt, man kann sich schwer flachere Ausdrücke für banalere Gedanken ausdenken, aber die geistige Leiche des marxistischen Theoretikers ist immer noch vollauf gut, um als Damm gegen den proletarischen Internationalismus gebraucht zu werden. Aber darüber hinaus sieht sich die „liberale“ und „demokratische“ Intelligenz im Spiegel des Plechanowschen Sturzes und findet, dass sie also nicht so geistig armselig, nicht so moralisch minderwertig ist, weil sie im eigenen Namen nicht gewagt hätten, von den Sozialisten ein Abschwören zu fordern und sie für ihre Standhaftigkeit als Verräter zu brandmarken… In Twer und in Nowotscherkassk, in Odessa und in Irkutsk, überall übermittelt der Telegrafendraht, dass Plechanow das Verhalten der sozialdemokratischen Fraktion als „Verrat“ bezeichnete. Welche Verwirrung in den Geistern junger, vom Sozialismus bloß gestreifter Arbeiter! Welche Triumphe für alle Abtrünnigen – für die, die schon am Anfang der Konterrevolution den Degen verkauften, und für die Überläufer des letzten „patriotischen“ Aufgebots.

Welcher Sturz!

Es wäre möglich, eine lehrreiche psychologische Schilderung der persönlichem Tragödie des Menschen zu geben, welcher im Verlauf von drei Jahrzehnten die Klassenpolitik in voller Isolation von der Klasse verteidigte, sich für die Prinzipien der Revolution im am allerwenigsten revolutionären Eckchen Europas stark machte und ein fanatischer Propagandist des Marxismus war, während er in der am allerwenigsten „marxistischen“ Atmosphäre des französischen Denkens lebte.

Es wäre möglich, den Abriss des Lebens eines Revolutionärs zu geben, welcher im Verlauf eines Dritteljahrhunderts – vorbereitet durch die Theorie von Marx – die russische Revolution erwartete und zu ihr aufrief, aber als sie kam, in seinem geistigen Arsenal keine Analyse ihrer treibenden Kräfte, keine größeren historischen Verallgemeinerungen, schließlich, kein wenigstens helles oder kräftiges Wort fand, nichts, außer flacher Räsoniererei und taktischer Nörgelei im Rückblick.

Es wäre möglich eine Charakteristik des kräftigen und glänzenden, aber rein dogmatischen, formell-logischen Verstandes niederschreiben, – und man hätte erläutern können, warum gerade einem solchen Verstand die Geschichte – unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Misere Russlands – die Verteidigung und Propaganda des Marxismus anvertraute – der am allerwenigsten dogmatischen, am allerwenigsten formellen Doktrin, in welcher durch das Gewebe der Verallgemeinerungen das lebende Fleisch und hitzige Blut von sozialem Kampf und Leidenschaften durchschaut: da, wo die Doktrin noch ohne eigenen sozialen Körper blieb, im Bewusstsein der Intelligenz nistete, musste ihre Verkünder als Polemiker, Logiker und – leider – nicht selten als Sophist auftreten. Und in diesem Widerspruch zwischen dem Charakter der Weltanschauung und der persönlichen geistigen Ausstattung, zwischen der Lebensaufgabe und seinen Bedingungen, lag die Quelle aller späteren Schwankungen und Fehler, die jetzt mit dem unwiederbringlichen Sturz abschlossen.

Aber jetzt ist keine solche Zeit, um psychologische Studien zu schreiben. Die Plechanowiade ist nicht nur eine persönliche Tragödie, sondern ein politisches Faktum. Und da neben Plechanow, in dem ihn umgebenden Gefolge von Nullen, niemand ist, der ihn zwingen könnte zu verstehen, dass sein Auftreten nicht nur ihn ins Verderben stürzt, sondern auch hoffnungslos das Bild verdunkelt, das bereits einen Besitz der Parteigeschichte bildet, – bleibt uns nicht nur die Pflicht, sondern auch das Recht, herablassend zu sein.

Er, Plechanow, beschwört die Fraktion, ihn über den Telegrafen zu „beschwichtigen“ – ein Akt des politischen Renegatentums, und von der Fraktion, welche auf dem Posten bleiben will, und von der Partei, in welcher vollauf die Kräfte sind, um über die geistige Leiche des eigenen Begründers hinweg zu schreiten, muss Plechanow die Antwort bekommen:

Ob Sie gelassen sind oder nicht, ist uns ganz gleich; aber wir ersuchen Sie, uns ein für allemal in Ruhe zu lassen!

Zum Gedenken an Plechanow1

[Archiv 1918, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926, S. 65 f.]

Genossen! Wir leben in einer solchen Epoche, in der ein individuelles menschliches Leben nichts oder fast nichts im kolossalen Strudel der Ereignisse zu sein scheint. In der Zeit des Krieges starben und verschieden Millionen und Hunderttausende starben in der Zeit der Revolution. In einer solchen Bewegung und in einem solchen Kampf der Menschenmassen ist der einzelne Mensch nicht wahrnehmbar. Dennoch gibt es selbst in der Epoche der größten Massenereignisse einzelne Todesfälle, an denen man nicht schweigend ohne Anmerkung vorbeigehen darf. Solcherart ist der Tod G. W. Plechanows.

In dieser großen von oben bis unten gefüllten Versammlung gibt es keinen einzigen Menschen, der den Namen Plechanow nicht kennt.

Plechanow gehörte zu jener Generation der russischen Revolution und zu der Zeit ihrer Entwicklung, als nur kleine Abteilungen der Intelligenz im revolutionären Kampf standen. Plechanow durchlief die Semlja i Wolja, die Tschorny Peredjel und organisierte 1883, zusammen mit seinen engsten Mitarbeitern, Vera Sassulitsch und Pawel Axelrod, die Gruppe „Befreiung der Arbeit", die die erste Zelle des russischen Marxismus wurde, zunächst nur ideenmäßig. Wenn hier nicht ein einziger Genosse den Namen Plechanows nicht kennt, dann gibt es unter uns, den Marxisten der älteren Generation, keinen, der nicht Plechanows Arbeiten studierte.

Er war es, der 34 Jahre vor dem Oktober bewies, dass die russische Revolution nur in Form einer revolutionären Arbeiterbewegung siegen könne. Er versuchte, das Faktum der Klassenbewegung des Proletariats dem revolutionären Kampf der ersten intellektuellen Zirkel zugrunde zu legen. Das lernten wir von ihm, und das ist nicht nur die Grundlage für Plechanows Tätigkeit, sondern für unseren gesamten revolutionären Kampf. Dem bleiben wir bis heute treu. In der weiteren Entwicklung der Revolution entfernte sich Plechanow von der Klasse, der er in der schwersten Epoche der Reaktion ausgezeichnet gedient hatte. Es kann keine größere Tragödie für eine politische Persönlichkeit geben, die jahrzehntelang unermüdlich dafür plädierte, dass die russische Revolution nur als eine Revolution der Arbeiterklasse sich entwickeln und zum Sieg kommen kann – für eine solche Persönlichkeit kann es keine größere Tragödie geben als in der entscheidenden historischen Periode, in der Epoche der siegreichen Revolution sich zu weigern, an der Bewegung der Arbeiterklasse teilzunehmen. In einer solchen tragischen Lage befand sich Plechanow. Er hat die Sowjetmacht, das proletarische Regime und die Partei der Kommunisten, zu der ich wie viele von Ihnen gehöre, nicht mit Schlägen verschont, und natürlich haben wir mit Schlägen auf seine Schläge geantwortet. Und am offenen Grab von Plechanow bleiben wir unserem Banner treu, machen Plechanow, dem Kompromissler und Nationalisten, keine Zugeständnisse und nehmen keine der Schläge zurück, die wir ihm zufügten, ohne zu erwarten, dass unsere Gegner uns schonen. Aber zur gleichen Zeit, da in unser Bewusstsein das Faktum eingedrungen ist, dass Plechanow nicht mehr unter den Lebenden ist, fühlen wir in uns selbst, zusammen mit der unversöhnlichen revolutionären Feindschaft gegenüber all denen, die im Weg der Arbeiterklasse stehen, genug Ideen-Großzügigkeit, um uns jetzt an Plechanow nicht als den zu erinnern, gegen den wir mit aller Entschlossenheit gekämpft haben, sondern als den, bei dem wir das ABC des revolutionären Marxismus gelernt haben. In das eiserne Inventar der Arbeiterklasse nahm Plechanow nicht nur ein scharfes Schwert und nicht nur einen schonungslos stechenden Speer auf. Im Kampf gegen unsere Klassenfeinde und gegen ihre bewussten und unbewussten Diener, wie auch im Kampf gegen Plechanow selbst in der letzten Periode seines Lebens, benutzen wir den besten Teil des geistigen Erbes, das uns Plechanow hinterließ, und werden ihn weiterhin benutzen. Er starb, aber die Ideen, die er zur besten Zeit seines Lebens schmiedete, sind unsterblich, wie die proletarische Revolution unsterblich ist. Er starb, aber wir, seine Schüler, leben und kämpfen unter dem Banner des Marxismus, unter dem Banner der proletarischen Revolution. Und bevor wir mit den nächsten Aufgaben unseres heutigen Kampfes gegen Unterdrückung und Ausbeutung, gegen Lügen und Verleumdungen fortfahren, fordere ich Sie alle auf, Plechanows Gedächtnis still und feierlich zu ehren, indem Sie sich erheben.


  1. Rede des Genossen Trotzki in der 17. gemeinsamen Sitzung des vom Vierten Sowjetkongress gewählten Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees, des Moskauer Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, des Allrussischen und Moskauer Zentralrats der Gewerkschaften, von Vertretern aller Moskauer Gewerkschaften, Fabrik- und Betriebskomitees und anderer Arbeiterorganisationen vom 4. Juni 1918 [Hg. der Сочинения]

Martow

[18. März 1919, 24. April 1922 „Krieg und Revolution", Band I, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926, S. 66-68]

Martow ist unbestritten eine der tragischsten Figuren der revolutionären Bewegung. Martow ist ein begabter Schriftsteller, einfallsreicher Politiker, scharfsinniger Verstand, der die marxistische Schule durchlief, und er wird trotzdem in die Geschichte der Arbeiterrevolution mit dem größten Minus eingehen. Sein Denken hatte nicht genügend Mut, sein Scharfsinn brachte nicht den Willen auf. Hartnäckigkeit ersetzte ihn nicht. Das richtete ihn zugrunde. Der Marxismus ist eine Methode der objektiven Analyse und ist gleichzeitig eine Voraussetzung revolutionären Handelns. Er setzt ein Gleichgewicht von Denken und Willen voraus, das dem Denken „physische Kraft“ vermittelt und den Willen durch die dialektische Unterordnung des Subjektiven und Objektiven diszipliniert. Das Denken Martows entbehrte der Willenssprungfeder und die ganze Kraft seiner Analyse leitete unveränderlich darauf hin, theoretisch die Linie des geringsten Widerstands zu rechtfertigen. Es ist unwahrscheinlich, dass es einen anderen sozialistischen Politiker gibt und geben wird, welcher mit solchem Talent den Marxismus für die Rechtfertigung der Abweichung von ihm und den direkten Verrat an ihm ausbeuten würde. In dieser Beziehung kann Martow ohne jede Ironie Virtuose genannt werden. Die in ihrem Feld gebildeteren Hilferding, Bauer, Renner und selbst Kautsky sind doch im Vergleich mit Martow plumpe Lehrlinge, insoweit sich die Sache um die politische Fälschung des Marxismus handelt, d.h. um die Auslegung von Passivität, Anpassung, Kapitulation, als allerhöchste Form von unversöhnlichem Klassenkampf.

Zweifellos war in Martow revolutionärer Instinkt angelegt. Sein erstes Echo auf große Ereignisse zeigte immer revolutionäres Streben. Aber nach jeder solchen Bemühung zerfällt sein nicht von der Sprungfeder des Willens gestützt Gedanke in Teile und sinkt zurück. Das konnte man zu Anfang des Jahrhunderts, bei den ersten Merkmalen der revolutionären Brandung („Iskra“), beobachten, später im Jahr 1905, weiter am Anfang des imperialistischen Krieges, teilweise noch am Anfang der Revolution im Jahre 1917. Aber vergeblich! Der Einfallsreichtum und die Geschmeidigkeit seines Denken verausgabte sich ganz darauf, grundlegende Fragen zu umgehen und alle neuen Argumente zum Nutzen dessen zu finden, was man nicht verteidigen kann. Die Dialektik wurde bei ihm dünnste Kasuistik. Die ungewöhnliche rein katzenhafte Hartnäckigkeit – Wille der Willenlosigkeit, Hartnäckigkeit der Unschlüssigkeit – erlaubte ihm, sich Monate und Jahre in der allerwidersprüchlichsten und ausweglosesten Lage zu halten. Wenn er bei entscheidenden historischen Erschütterungen Bestrebungen gezeigt hatte, eine revolutionäre Position einzunehmen, und Hoffnung hervorgerufen hatte, wurde er jedes Mal betrogen: die Sünden ließen ihn nicht los. Und als Resultat rollte er immer tiefer hinab. Letztendlich wurde Martow der raffinierteste, feinste, unerreichbarste, scharfsinnigste Politiker der blödsinnigen, abgeschmackten und feigen kleinbürgerlichen Intelligenz. Und dass er selbst dies nicht sieht und nicht versteht, zeigt auf, wie gnadenlos sein Mosaik-Scharfsinn über ihn lacht. Jetzt, in der Epoche der größten Aufgaben und Möglichkeiten, welche die Geschichte jemals stellte und eröffnete, kreuzigte Martow sich zwischen Longuet und Tschernow. Es reicht aus, diese zwei Namen zu nennen, um die Tiefe des Ideen- und politischen Sturzes dieses Menschen auszumessen, welchem mehr als vielen anderen gegeben war.

Der Schurke

„Natschalo“ Nr. 20, 22. Oktober 1916, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926, S. 68 f.]

„Der Schurke, der Geistesfürst der Jetztzeit“

(Saltykow)

„Ja ich befasse mich mit Denunziationen“.

(stolze Wort eines Deputierten)

In diesem Deputierten war von Natur etwas Niederträchtiges angelegt. Leute, die ihn das erste Mal gesehen und gehört haben, waren gezwungen, sich an das Bibelwort zu erinnern: „Er aber wird dich in die Ferse stechen“. Die Bestrebung, zu stechen, und obendrein gerade in die Ferse, ist die Hauptsprungfeder seiner Psyche. In seiner öffentlichen Tätigkeit neigte er fatal zur äußeren Flanke, um für den Stich möglichst großen Raum zu haben: dem Wesen der Sache nach ist ihm gleichgültig, ob die Sache um „rechte“ oder „linke“ Ideen geht. Wenn Purischkjewitsch den Platz rechts, er aber links einnahm, war das Sache des Zufalls. Er kann ins Zufallsspiel eine Abänderung hereinbringen und auf der äußersten Rechten Platz nehmen: er muss als geborenes Reptil eine Seite beschirmt haben, um umso zuversichtlicher alle zu stechen, die sich auf der anderen befinden. Wir erwähnten Purischkjewitsch, aber bei ihm gibt es viele selbstsüchtige Narrenstreiche, was zwar nicht im Geringsten die Bosheit auflöst, aber zu ihr sozusagen ein Element von ästhetischer Uneigennützigkeit hinzufügt, und obgleich das die Ästhetik eines adligen Lakaien, d.h. eine unbeschreibliche Scheußlichkeit ist, so trägt doch eine mildernde Note in die gesamte Musik hinein, die aus Dorn und Klirren besteht. Aber beim Schurken gibt es auch diese „schmückende“ Eigenschaft nicht: der Narrenstreich ist ihm nicht fremd, im Gegenteil, – aber er ist bei ihm nicht ein eigenständiges ästhetisches Bedürfnis, sondern das Produkt der Nichtübereinstimmung zwischen seinem angespannten Willen des giftigen Reptils und der Unzulänglichkeit seiner Ressourcen. Er kann bis zur letzten Grenze der Torheit gehen, aber diese Torheit ist immer „gerichtet“, vergiftet; und sie versöhnt sich nicht für eine Minute mit ihm – wie nichts Versöhnendes in der Gestalt eines Skorpions ist, welcher sich aus Übermaß an Bosheit selbst mit dem Schwanz sticht.

Der Schurke war auf der Linken linker als alle – und mit dieser Aureole des „Linksradikalismus“ konnte er aus der Ferne anders erscheinen, als er in der Tat war. Aber jenes Milieu, in welchem er durch den Willen einer Laune der russischen Geschichte tätig war, konnte ihn nicht genieren. Es gibt keine Notwendigkeit, das „linke“ Milieu zu idealisieren: aber es lebt für eine Idee, und letztlich sind seine Leidenschaften, große, kleine und sogar mickrige, dieser Idee unterworfen, sie sind diszipliniert und veredelt. Bei ihm aber, beim Schurken, gibt es über seine vergiftete Bosheit keine Kontrolle, und wenn er sticht, um in seinen Augen seine Existenz zu rechtfertigen, will und kann er keine Beschränkungen kennen.

… Leute haben viel Gutmütigkeit und Naivität, und sind geneigt zu denken: „Nein, dazu ist er dennoch unfähig“ … und sie irren sich: denn er ist zu allem fähig. Für ihn gibt es keine Notwendigkeit, Geld oder Rang zu erhalten (das wird von selbst kommen), um Scheußlichkeiten zu machen: dafür gibt es bei ihm vollauf innere Motive. Gerade deshalb kennt er bei Lügen, Verleumdungen und Denunziationen nicht einmal jene Grenzen, welche die Behutsamkeit diktiert. Der morgige Tag wird dann über ihn erzählen, was viele heute noch nicht glauben wollen …

Naive Leute, nehmt euch vor dem Schurken in Acht!

Ch. Rakowski und W. Kolarow

[„Kijewskaja Mysl“ Nr. 294, 23. Oktober/5. November 1915, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926, S. 77-80]

Im Raum der Redaktion der „Berner Tagwacht“ („Berner Wache“) traf ich eine internationale Gesellschaft in einer für heutige Zeiten vollkommen ungewöhnlichen Zusammensetzung. Hier waren zwei Berliner Redakteure, eine Persönlichkeit der Arbeiterinnenbewegung aus Stuttgart, zwei französische Syndikalisten – der Sekretär des Bundes der Metallarbeiter Merrheim und des Bundes der Böttcher Bourderon, – der Doktor Rakowski aus Bukarest, ein Pole und eine Schweizerin. Diese waren die ersten Delegierten, die zur Konferenz eintrafen. Grimm war nicht da, – er machte eine unbedeutende Agitationsreise in seinem Bezirk und sollte bis zum Abend zurückkehren. Morgari befand sich in London, und von ihm erwarteten sie von Stunde zu Stunde ein Telegramm über die Ausreise der Engländer.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752140842
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Sozialismus Trotzki Oktoberrevolution Sowjetunion Biographie

Autoren

  • Leo Trotzki (Autor:in)

  • Wolfram Klein (Autor:in)

Russischer Revolutionär, nach der Oktoberrevolution Kopf der Roten Armee, bevor er von der Bürokratie unter Stalin vertrieben und in Mexiko ermordet wurde..
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Titel: Politische Profile