Millys Zimmer war genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte. Bis auf eine Sache. Unter einem riesigen Hochbett und zwischen Sofaecke, einem weißen Schreibtisch, Postern von Popstars und Schauspielern, Kuscheltieren und der angekündigten Bücherwand standen auf einem Regal an der Wand Pokale. Ich trat näher, um sie mir anzusehen. Vor allem deshalb, weil sie mir sehr bekannt vorkamen.
„Du hast …“ Ich rechnete Millys Alter auf das Jahr zurück, das auf einem der größeren Pokale stand „Mit zehn den ersten Platz über 800 Meter bei den Landesmeisterschaften erzielt?“
„Das ist lange her.“ Sie schloss das Fenster, das noch immer offen gestanden hatte.
„Drei Jahre. Das ist nicht lange.“
„Für jemanden, der so alt ist wie du, bestimmt nicht.“ Sie schob mich zum Sofa.
„Hey, was soll das denn heißen?“ Ich ließ mich zwischen die Kissen fallen und Milly setzte sich neben mich.
„Wann hast du dich denn eigentlich aufs Laufen spezialisiert?“
„Ähm, na ja, so richtig eigentlich nie. Ich bin immer noch jede Woche zum Hochsprung-Training gegangen. Ich mochte das und war auch immer richtig gut. Aber ich hab jetzt wirklich überhaupt keine Lust, darüber zu reden.“ Sie zog eines der Kissen vor die Brust und sah mich erwartungsvoll an.
„Was ist?“ Ich fühlte mich unwohl unter ihrem Blick.
„Wann kann ich die Landkarte sehen?“
Wir redeten. Ich konnte nur erahnen wie lange, aber als sich irgendwann die Tür öffnete, warf ich einen Blick auf mein Telefon und erschrak. Wir saßen seit über zwei Stunden auf dieser Couch und sprachen über alle möglichen Unwichtigkeiten des Lebens. Meine Reisen. Millys beste Freundin Amelie, die wieder mit Tristan zusammen war, nachdem sie gerade das vierte Mal getrennt gewesen waren. Über unser gemeinsames Abendessen. Das Essen, nicht aber über ihren Vater und sein Verhalten. Über das neue Album von Shawn Mendes und wie sehr man seine Leidenschaft für die Musik spüren konnte, wenn man ihn auf der Bühne sah. Aber wir redeten nicht über ihren Klassenlehrer oder meine Vergangenheit oder über ihre Mutter. Und es tat gut. Mit Milly zusammenzusitzen und die Leichtigkeit des Augenblicks zu erleben, war genau das, was ich brauchte.
„Milly, hast du schon gefrühstückt?“ Tom schob die Tür auf und ließ den Blick erst zum Hochbett und dann durchs Zimmer streifen. Es wirkte nicht, als hätte er sich seit dem Abendessen rasiert. Aber zumindest trug er ein anderes T-Shirt. Es war schwarz. „Oh, hallo.“ Er machte eine Pause und sah an die Decke. „Ähm, entschuldigen Sie, ich habe Ihren Namen vergessen.“
Ich hob beide Augenbrauen. Es war eindeutig gewesen, dass er beim Abendessen nicht ganz anwesend war, aber dass er sich nicht einmal an meinen Namen erinnerte, hätte ich nicht erwartet. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Milly rot wurde. „Aber Papa, das ist doch Ella. Wir haben zusammen gegessen. Weißt du noch?“
Er sah mich mehr als eine halbe Minute lang mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Und dann nickte er. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob er sich wirklich erinnerte.
„Und ich habe schon vor vier Stunden gefrühstückt.“
Bei mir war es sogar schon sechs Stunden her. Wir brauchten dringend etwas zum Mittagessen. Ich musterte Tom und entschied, dass er uns bei diesem Problem nicht würde helfen können.
„Und was ist mit dir? Ich habe den Frühstückstisch für dich gedeckt gelassen. Hast du etwas gegessen?“
Er schüttelte den Kopf, verließ das Zimmer und Milly seufzte. Ich legte ihr eine Hand auf den Rücken, doch sie erhob sich ruckartig. „Ich muss mal aufs Klo.“ Ich auch und ich hatte Durst.
Ich stand ebenfalls auf. „Kann ich mir Wasser aus der Küche holen?“
„Ja, klar. Bedien dich.“ Sie war schon an der Tür. Ich folgte ihr und bog in die Küche ab.
Dort öffnete ich drei Schranktüren, bis ich die Gläser gefunden hatte. Ich ignorierte das schmutzige Geschirr in der Spüle und weil ich keine Wasserflaschen finden konnte, ließ ich das Leitungswasser für fünfzehn Sekunden ablaufen und füllte mein Glas am Wasserhahn. Ich hatte so viel Zeit in Ländern mit gechlortem Leitungswasser verbracht, dass ich diese Möglichkeit noch immer für Luxus hielt. Ich ließ den Blick durch die unordentliche Küche schweifen. Offenbar hatte Lias beim Thema Ordnung noch keine Lösung gefunden. Aber mich störte das Chaos nicht. Ich fühlte mich hier wohler als in der penibel geputzten Wohnung des Typens, bei dem ich für ein paar Wochen in New York, nein New Jersey gewohnt hatte.
Am Kühlschrank hingen die Flyer von einigen Schnellrestaurants. Ich löste die Magnete und studierte das Angebot. Mit den Menüs vorm Gesicht ging ich in Richtung Flur. „Hey Milly, was hältst du davon, wenn wir etwas zum Essen ...“ Ich wollte die Küche verlassen, knallte jedoch gegen einen Widerstand. Einen großen Widerstand, der etwas weicher war als eine Wand. Ich ließ die Flyer sinken und sah in dunkle Augen. Lias.
„Bestellen? Das ist eine hervorragende Idee. Ich bin für Indisch. Bestellst du mir ein Chicken Curry? Extra scharf.“
„Du bist so langweilig, Lias.“ Milly trat durch eine andere Tür in den Flur und mir fiel wieder ein, dass mein Körper noch ein weiteres Bedürfnis hatte.
„Wieso bin ich denn langweilig?“
„Es gibt fünfhundert Gerichte auf dieser Karte und du bestellst immer nur dasselbe.“
„Ähm, hi.“ Ich wollte mich an Lias vorbei in den Flur schieben, aber er blieb im Türrahmen stehen.
„Hallo Ella, schön, dich zu sehen.“
Ich nickte und lächelte. „Es ist auch schön, dich zu sehen, aber können wir die weiteren Floskeln überspringen? Ich müsste mal ziemlich dringend wohin.“
Sein Grinsen wurde breiter. Natürlich. Hätte ich nicht etwas anderes sagen können? „Na klar, aber wenn du mir sagst, was du essen möchtest, bestelle ich schon mal. Ich habe einen riesigen Hunger.“
Meine Augen weiteten sich. War das sein Ernst? „Was?“
„Was willst du essen?“
„Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich kann nicht in fünf Sekunden entscheiden, was ich essen will.“
„Nicht?“ Sein Erstaunen konnte nicht gespielt sein.
„Nein, natürlich nicht. Ich kenne doch die Karte nicht.“
Hinter Lias grinste Milly und er sagte: „Es gibt offensichtlich sehr viele Gründe, warum du und Milly euch so gut versteht.“
„Darf ich jetzt durch?“
„Erst wenn du mir sagst, was du essen möchtest.“ Warum tat er das?
„Ich könnte schon längst wieder hier sein, wenn du mich endlich gehen lassen würdest.“
Er hob nur die Augenbrauen und meine Willenskraft ging ohne mich in Richtung Badezimmer. „Also gut, ich nehme ... ähm ...“ Jemand hatte sämtliche indischen Gerichte aus meinem Gedächtnis gelöscht. „Keine Ahnung. Bestell einfach irgendwas. Nein, warte.“ Ich sah zu Milly. „Ich nehme das, was sie nimmt.“
Er lachte auf. „Bist du dir da ganz sicher?“
„Nein, aber wenn ich noch fünf Sekunden länger hier stehen muss, haben wir ein ganz anderes Problem.“
Er lachte lauter, ließ mich aber endlich vorbei.
„Ich wusste nicht, dass man beim Inder auch Pommes bekommt.“ Ich tunkte einen von ihnen widerwillig in die Mayonnaise, die jemand in den Plastikteller geklatscht hatte. Sie waren weich und auch das Salz, das ich über sie gestreut hatte, konnte an dem faden Geschmack nichts ändern.
„Ich habe dich ja gewarnt.“ Lias grinste.
„Das hast du nicht.“ Ich steckte den frittierten Kartoffelstreifen in den Mund. Ich mochte keine Pommes. Und am allerwenigsten mochte ich sie, wenn sie für den Weg zwischen der Fritteuse und meinem Mund länger als drei Minuten brauchten.
„Irgendwie schon.“
„Konntest du nicht irgendwas anderes bestellen?“ Ich sah zu Milly, die ein Stück Pommes vor sich hielt und ihm dabei zusah, wie er hin- und herwabbelte.
Sie verzog das Gesicht. „Sorry.“ Und dann leuchteten ihre Augen auf. „Vielleicht will Papa sie essen. Er mag Pommes.“
„Ganz sicher nicht.“ Lias stupste mit dem Finger dagegen. Er brach in der Mitte durch und fiel auf Millys Teller.
„Okay, das reicht.“ Sie schob den Teller von sich und warf eine Serviette darauf. Ich tat es ihr gleich.
„Also, was machen wir jetzt?“ Sie sah zwischen uns hin und her.
Lias sah zu mir und ich fragte: „Wie kommst du eigentlich darauf, dass ich nichts mit euch zu tun haben will?“
Er hob die Augenbrauen. Aber dann löste sich sein Erstaunen, er verzog den Mund und sah zu Milly. „Du hast es ihr erzählt?“
Sie zuckte mit den Schultern.
Er sah wieder zu mir. „Du hast den Eindruck gemacht. Milly ist einfach in dein Leben geschneit und hat sich an dich gehängt.“
Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Du warst es doch, der mich darum gebeten hat ...“
Er hob eine Hand, aber Millys Neugier war geweckt. „Worum hat er dich gebeten?“
Ich sah weiter Lias an und sie fragte nun ihn: „Lias, worum hast du sie gebeten?“
Wir antworteten beide nicht und starrten uns an. Ich konnte Lias Blick nicht deuten. Er presste die Lippen aufeinander und ich hätte gern die Worte aus seinem Mund gezogen, die er offenbar zurückzuhalten versuchte. Was sollte das? Bei unserem Gespräch war er verzweifelt gewesen, warum ruderte er nun zurück und tat so, als wäre Milly die einzige Person, die meine Hilfe einforderte? Wobei sie das genau genommen gar nicht tat. Es wirkte, als wollte sie einfach nur Zeit mit mir verbringen. Welcher Grund auch immer dafür vergraben in ihrem Inneren lag, sie selbst schien nichts als ein bisschen Zeit von mir zu erwarten. Und Aufmerksamkeit.
„Hallo? Habt ihr Geheimnisse vor mir?“
Lias löste unseren Blick nicht, als er antwortete: „Ich dachte, Ella könnte vielleicht mal mit dir laufen gehen.“
Ich vergaß, meinen Speichel hinunterzuschlucken, und er löste einen Hustenanfall aus. Milly schlug mir auf den Rücken. „Ist alles okay?“
Ich atmete tief durch und nickte. Und dann blickte ich auf und sah in Lias’ Augen, die mich ungerührt musterten. Zu ruhig musterten. Endlich drehte er den Kopf zu Milly. „Na ja, ich kenne nicht viele Leute, die mit dir Schritt halten können. Und offenbar hat Ella das Zeug dazu, dich etwas anzutreiben.“ Er sah wieder zu mir und hob eine Augenbraue.
„Wer sagt denn, dass ich wieder mit dem Laufen anfangen will?“ Milly stand auf und warf ihren Teller in den Müll. Sie blickte auf meinen und dann zu mir. Ich nickte und sie knallte auch diesen in den blauen Eimer.
„Wer sagt denn, dass du es nicht willst?“
Sie presste die Lippen aufeinander, aber dann öffnete sie sie wieder. „Ich sage das.“
Sie wollte die Küche verlassen, aber Lias hielt sie am Handgelenk fest.
„Lass mich los. Ich will nicht übers Laufen reden.“ Sie versuchte, ihren Arm frei zu reißen, aber Lias gab nicht nach. Ich biss mir auf die Unterlippe und überlegte, wann und ob ich eingreifen sollte. Es sah nicht so aus, als ob Lias ihr wehtat, aber hatte er das Recht dazu, sie festzuhalten?
„Lias!“ Milly schrie nun.
Er seufzte und gab sie frei. „Du hast es immer geliebt.“
„Ja, und jetzt tue ich das nicht mehr.“
Das Spiegelbild, das ich in Millys Widerstand sah, erschrak mich und ich stand auf, um es nicht weiter ansehen zu müssen. „Wisst ihr was? Ich sollte gehen.“
Milly sah zu mir, kniff die Augen zusammen und schien einen Moment zu brauchen, bevor sie realisierte, dass ich mit ihnen im Raum war. Sie atmete tief durch und schluckte. Und dann verschwand sie aus der Küche.
Ich stand auf, als sie ihre Zimmertür zuschlug. „Was war das denn?“
„Sie ist manchmal so. Sehr impulsiv. Rina war auch so.“
Ich schüttelte irritiert den Kopf. „Ich meine doch nicht Milly.“
Lias legte den Kopf schief. „Nicht?“
„Nein! Erst bittest du mich, euch zu helfen und dann sagst du ihr, sie soll sich nicht mehr bei mir melden? Ich dachte, sie will nichts mehr mit mir zu tun haben. Kein schönes Gefühl nach all der Nähe, die sie vorher gesucht hat. Und dann soll ich plötzlich ihre Lauftrainerin mimen?“
„Ich habe nichts von Training gesagt. Warum solltest du denn die Kompetenz dazu haben, sie zu trainieren?“ Sein Blick war herausfordernd.
„Ich … ich habe keine Ahnung. Das ist aber auch vollkommen egal, weil weder sie noch ich das wollen.“
Er ging nicht auf meine Wut ein. „Also, wenn sie es wollen würde, würdest du es machen?“
„Was machen?“
„Mit ihr laufen gehen.“
„Nein.“
Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum nicht?“
„Ich laufe nicht.“
„Nach der Kaffeedusche hast du es getan.“
„Ich werde jetzt gehen. Und ich werde Milly schreiben, dass sie gern zu mir kommen kann, um sich die Karte anzusehen. Und dass sie sich melden kann, wann immer sie das möchte.“
Ein Grinsen schob sich in seine Mundwinkel und mein Herz schlug schneller, um der Wut in meinem Bauch Energie zu liefern. Ich stürmte in ähnlichem Tempo wie Milly aus der Küche, zog Schuhe und Jacke an und lief aus der Wohnung.
„Wer hat dich denn geärgert?“ Sofi saß auf dem Karton, den mein Vater am Vortag im Flur deponiert hatte.
„Lass mich in Ruhe.“
„War es dieser Lias?“
Ich ging in die Küche, nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und hielt sie mir gegen die Stirn.
„Oder Milly? Oder war es Tom?“
Alle drei. Irgendwie. „Lass mich bitte in Ruhe.“ Ich lehnte mich gegen die Wand.
„Nun komm schon. Haben sie über das Laufen gesprochen? Und wie war es eigentlich bei Mama und Papa? Hast du ihnen endlich erzählt, dass ich noch immer da bin?“
Sofi verschwamm für einen Moment vor meinen Augen und ich blinzelte ein paar Mal, um sie wieder klarer sehen zu können. „Ich muss mich hinlegen.“ Ich schritt an ihr vorbei, ging in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Sie folgte mir nicht und ich ließ mich aufs Bett fallen und dachte über die vergangenen Stunden nach. Die Leichtigkeit zwischen Milly und mir, die durch Tom unterbrochen wurde. Immerhin hatte er heute mehr Worte zu mir gesagt als bei unseren letzten Treffen. Und dann Lias, der mich vom ersten Moment an provoziert hatte. Und der nicht akzeptieren konnte, dass Milly einen Schlussstrich unter das Laufen gezogen hatte. Auf diese Weise würde er ihr nicht helfen. Sie würde sich noch weiter zurückziehen und das Vertrauen in die Menschen, denen sie vertrauen wollte, endgültig verlieren. Und ich war abgehauen. Der Vater teilnahmslos, der Onkel alles andere als einfühlsam und die einzige Person, der sie versucht hatte, sich zu öffnen, lief weg, sobald es etwas stürmischer wurde.
Ich legte die Hände aufs Gesicht und drehte mich auf den Bauch. War es richtig oder falsch, Milly in mein Leben zu lassen? Selbst ein Teil ihrer Welt zu werden? Ich drehte mich zurück auf den Rücken und starrte an die Decke. Was war die Alternative? Die Nachmittage lesend im Park zu verbringen, mit einem Buch, dessen letzte Zeilen niemals in meinen Kopf dringen würden? Alle paar Wochen nicht mehr als eine Nacht bei meinen Eltern zu verbringen, weil ich es nicht länger in ihrem Haus aushielt? Und jeden Abend mit Sofi zu streiten?
Ich sprang auf und öffnete die Tür zum Flur. Sofi war verschwunden. Ich ging zu meiner Jacke, zog mein Telefon heraus und schrieb: ‚Hey Milly! Entschuldige, dass ich abgehauen bin. Wenn du magst, holen wir unser Mittagessen morgen nach.‘ Ich zögerte, zählte bis vierzig und noch einmal bis dreißig und dann schickte ich die Nachricht ab.
Sie antwortete weniger als eine Minute später und ich lächelte, weil mir ihre schnelle Reaktion bereits so vertraut war und in den vergangenen Tagen gefehlt hatte.
Milly: ‚Kein Problem. Lias kann schon ein echter Idiot sein. Aber er hat sich bei mir entschuldigt. Warte.‘
Am oberen Displayrand erschien die Info, dass sie eine Sprachnachricht aufnahm. Ich wartete, aber dann wuchs meine Ungeduld, ich schüttelte den Kopf und drückte auf das Videokamera-Symbol.
Sie nahm sofort ab. „Hey, ich habe dir gerade eine Nachricht aufgenommen.” Sie zog die Augenbrauen zusammen und ihr Gesicht vergrößerte sich auf dem Display, als sie sich ihrem eigenen Telefon näherte, um mich besser sehen zu können. „Hast du geweint?“
Ich sah auf das kleine Bild, das mich zeigte. Meine Augen waren deutlich gerötet und unter ihnen war meine Wimperntusche zu dunklen Schatten zusammengelaufen. „Nein.“ Ich wischte die verschmierte Schminke mit den Fingern weg. „Geschlafen.“
„Geschlafen? Um diese Zeit?“ Sie lachte. „Du bist wohl doch älter, als ich dachte.“
„Ich bin 27.“
„Das ist nicht das richtige Alter für einen Mittagsschlaf.“ Sie saß auf dem Boden, im Rücken eines ihrer Bücherregale, in dem sich Fantasy-Klassiker an Jugendbücher reihten. Dazwischen standen Steinbeck, Goethe und T.C. Boyle. Für einen Moment scannte ich die Bücher, obwohl ich das vor ein paar Stunden bereits getan hatte.
„Du wolltest mir etwas erzählen, das nicht in eine Textnachricht gepasst hat.“
„Richtig.” Sie atmete tief durch und schaute schräg zur Decke, so als würde sie überlegen, welche Worte sie bereits in der Sprachnachricht verwendet hatte. Dann sah sie wieder zu mir und sagte: „Also, er hat sich entschuldigt und gesagt, dass er einfach nicht weiß, was er tun soll.“ Sie biss sich auf die Unterlippe.
„Er will dir nur helfen.“
„Ja, das weiß ich doch.“
„Aber so klappt es nicht?“
„Nein.“
„Bist du denn froh, dass er da ist?”
Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. „Ja. Ja, natürlich. Lias ist toll.”
„Und?”
„Und endlich …” Sie zögerte und ich schwieg, um ihr die Gelegenheit zu geben, zu entscheiden, ob sie sich mir weiter öffnen wollte. Sie sah mir unsicher in die Augen, aber schließlich trat Entschlossenheit in ihren Blick. „Ich kann das nicht mehr alleine.” Sie wartete, ob ich antworten würde, aber ich nickte nur. „Mit Papa, meine ich. Ich habe wirklich alles versucht. Ich habe gekocht und geputzt und mir lustige Dinge ausgedacht, die wir hätten zusammen machen können.” Sie atmete tief durch. „So wie Mama. Aber er wollte nicht essen, hat das saubere Bad vermutlich nicht mal bemerkt und wollte nicht eine der Sachen mit mir unternehmen, die ich ihm vorgeschlagen habe. Ich wollte ihn sogar mit dir verkuppeln.”
Das hatte ich mir gedacht, aber ich sagte nichts.
„Das war natürlich Unsinn. Außerdem, was solltest du denn mit so einem alten Knacker?” Sie versuchte sich an einem schrägen Grinsen, scheiterte aber bei dem Versuch.
„Dein Vater ist nicht alt.” Ich zögerte. „Aber ich denke, er ist noch lange nicht bereit dazu, sich auf einen anderen Menschen einzulassen.” Nicht, dass ich mich auf ihn einlassen wollte.
Sie schüttelte langsam den Kopf. „Er lässt sich auf überhaupt niemanden ein.”
„War das von Anfang an so?”
Wieder schüttelte sie den Kopf. „Nein, am Anfang war es ganz anders. Es war, als wollte er Mama ersetzen, sobald Lias nach der Beerdigung weggeganen war. Er hat mich zur Schule gebracht und wieder abgeholt. Er hat die Pflanzen auf dem Balkon umgetopft, weil sie es nicht mehr geschafft hatte. Die Küche war blitzsauber und es gab immer etwas Leckeres zu essen. Für manches Mittagessen hat er sicher den gesamten Vormittag in der Küche gestanden. Wir waren oft nach der Schule in einem Café und haben dort Schach gespielt oder uns durch das Kuchenangebot gefuttert.” Ich registrierte die Information, dass sie Schach spielen konnte, legte sie aber in meiner ‚Später ansehen’-Schublade ab. Ich wollte sie nicht unterbrechen. „Jeden Abend hat er mir vorgelesen, wir haben Computerspiele gespielt, sind am Wochenende auf Konzerte oder schwimmen gegangen.”
Sie endete abrupt und ich sah, wie sie schluckte und sich ihre Augen mit Tränen füllten. Ich wartete einen Moment und sagte dann: „Er hat jede Minute des Tages gefüllt, um nicht an sie denken zu müssen.”
Sie schloss die Augen und eine Träne schob sich durch die Wimpern und lief langsam ihre Wange hinunter.
„Wie lange hat er das durchgehalten?”
Sie schluckte wieder, öffnete die Augen und wischte die Träne von ihrem Gesicht. „Drei Wochen.”
„Und dann?”
„Wir waren gerade auf dem Heimweg vom Einkaufen. Er hatte in jeder Hand eine volle Papiertüte. Wir wollten ein Rezept von Jamie Oliver nachkochen.” Sie schloss wieder die Augen und weitere Tränen rollten über ihre Wangen.
Jetzt bereute ich es, dieses Gespräch am Telefon ins Rollen gebracht zu haben. Oder hatte sie damit angefangen? „Milly, wir müssen nicht jetzt darüber reden. Ich würde dich viel lieber …”
Sie schüttelte heftig mit dem Kopf, öffnete die Augen und in ihnen erkannte ich die Bitte, sie die Worte endlich aussprechen zu lassen. Wie lange hoffte sie schon, sie mit jemandem teilen zu können? Den Schmerz nicht länger allein ertragen zu müssen. In diesem Moment spürte ich eine so tiefe Zuneigung zu dem Mädchen, das ich gerade einmal ein paar Wochen kannte, wie zu keinem anderen Menschen. Ich wusste, ich würde ihr helfen, egal, wie falsch es sich für mich selbst anfühlte.
„Eine Frau kam auf uns zu. Ich erkannte sie erst, als sie schon direkt vor uns stand.”
„Wer war es?”
„Es war Mamas Schulfreundin Natalie. Sie zog einen großen Koffer hinter sich her und ihre Haut war tiefbraun. Sie begrüßte uns und fragte, ob ihre letzte Postkarte angekommen wäre. Sie hatte die vergangenen drei Monate in Asien verbracht. Ohne Handy und ohne Internet.”
Ich schlug die freie Hand vor den Mund. „Oh, nein.”
Sie nickte und presste die Lippen aufeinander. Und dann brachte sie hervor: „Sie hat nach Mama gefragt. Sie sagte, sie würde einfach direkt mit uns mitkommen und sie überraschen.” Sie machte eine Pause und ich wartete. Irgendwann presste sie unter Tränen hervor: „Ich hab nur den Knall gehört, als Papa die Tüten fallen gelassen hat.” Sie atmete ein paar Mal tief durch und ihre Stimme beruhigte sich. „Es war nur ein Knall. Sie fielen genau gleichzeitig auf den Boden. Ich weiß nicht, warum ich mich ausgerechnet daran erinnere. Für einen Moment stand er einfach nur da und starrte sie an. Und dann ging er los. Er ging einfach weg.”
Er hatte es ihr überlassen, der Freundin ihrer Mutter von deren Tod zu erzählen. Mein Mund öffnete sich und ich schüttelte leicht den Kopf.
„Natalie half mir, die Einkäufe zurück in die Tüten zu räumen. Sie stellte keine Fragen, aber als ich zu zittern begann, nahm sie mich in den Arm, führte mich zu einer Bank und hielt mich fest. Sie brachte mich nach Hause und dort sah sie die Traueranzeige, die noch immer im Flur auf dem kleinen Tisch neben der Tür lag.”
Wo war diese Natalie in den letzten Monate gewesen? Wo war sie jetzt? Ich traute mich nicht zu fragen.
„Ich schickte Natalie irgendwann weg und sagte ihr, dass wir schon klarkommen würden. Ich ertrug ihre Fürsorge nicht. Keine Ahnung warum.”
Ich konnte es mir denken. „Bevor sie aufgetaucht war, konntet ihr …” Ich zögerte und sagte dann aber doch: „Ihr konntet die Gedanken ausschließen. Ihr konntet euch auf Dinge konzentrieren, die nichts mit dem Tod deiner Mama zu tun hatten.”
Sie nickte und biss sich wieder auf die Lippen. „Papa kam drei Tage nicht zurück.”
Ich schloss die Augen und versuchte, das Bild der zwölfjährigen Milly, die verzweifelt auf ihren Vater wartete, aus meinem Kopf zu verbannen. Mit dem Auftauchen von Natalie hatte sich in Toms Kopf ein Schalter umgelegt und seither war er nicht mehr imstande, seine Rolle als Vater zu erfüllen. Das verstand ich. Aber hätte er nicht dennoch dafür sorgen müssen, dass sich jemand um Milly kümmerte?
„Ich dachte, er wäre auch tot.” Sie sagte es ohne Gram und auch die Tränen waren versiegt.
„War Natalie in den drei Tagen bei dir? Oder sonst jemand?“
„Ja. Ja, sie war da. Auch ein paar andere Freunde versuchten zu helfen. Natalie verschwand nach ein paar Wochen wieder an irgendeinen Ort ohne Internet. Sie war seither nicht mehr hier.“
„Was ist denn mit deinen Großeltern?“
„Mama hatte nur ihre Mutter. Die ist seit drei Jahren tot.“
„Und die Eltern deines Vaters?“
„Sie wohnen ewig weit weg, sind uralt und haben sich noch nie für mich interessiert. Sie haben nie akzeptiert, dass Papa Schriftsteller geworden ist. Er sollte in die Anwaltskanzlei seines Vaters einsteigen, wollte das nicht und ist mit siebzehn von zuhause abgehauen. Und dann hat er Mama kennengelernt. Sie waren nicht mal bei ihrer Beerdigung.“
Ich seufzte. „Und was hat dein Vater gemacht, als er zurückkam?“
„Er hat sich an seinen Computer gesetzt und begonnen zu schreiben. Ich dachte, er schriebe sich alles von der Seele. Das hört man doch überall. Die Leute machen das, um ihre Trauer zu verarbeiten. Aber das tat er nicht. Sonst hätte sich doch an seinem Zustand etwas verbessert, oder?”
Ich wollte ihr nicht sagen, dass ihm das Schreiben vielleicht geholfen hatte, einen schlimmeren Zustand zu verhindern. „Hast du gelesen, was er geschrieben hat?”
Sie nickte. „Eine furchtbare Geschichte, in der alle traurig sind und jedem etwas Schreckliches passiert. Und am Ende bringt er den Mann, der die Frau liebt, um. Diese Szene war zuerst fertig. Er stirbt einen schrecklichen Tod. Er stirbt für sie. Rettet ihr Leben. Sie haben keine Chance, einander ein letztes Mal zu berühren, ein Wort zu wechseln oder sich in die Augen zu sehen. Die Frau hat einen Autounfall und liegt im Koma und irgendwie haben die beiden die gleiche Blutgruppe oder so. Auf jeden Fall kommt er als Organspender für sie in Frage. Ich weiß nicht mal, ob das möglich ist. Aber in Papas Buch schlitzt der Mann sich im Krankenhaus die Kehle auf. Direkt vor den Op-Sälen und er schreit ‚Gebt meiner Frau mein Herz!’”
Ein kalter Schauder überlief mich. Egal, ob diese Geschichte in unserer Welt möglich wäre, sie zeigte klar, dass Tom alles dafür getan hätte, um Rina zu retten.
Ich schwieg. Es gab nichts mehr zu sagen. Ich fühlte mich ausgelaugt, spürte die Leere, die sich seit dem Tag, an dem Tom in seiner einsamen Welt verschwunden war, in Milly ausgebreitet haben musste, und war unfähig, etwas zu sagen, was sie oder mich aufmuntern konnte. Auch sie schwieg und so hingen wir beide unseren Gedanken nach. Es war seltsam, dies während eines Video-Telefonats zu tun. Aber aufzulegen hätte ich nicht gewagt und nicht gewollt. Ich konnte sie in diesem Moment nicht allein lassen.
Irgendwann hörte ich ein Geräusch, das hinter ihrem Telefon entstanden sein musste. Sie sagte mit kratziger Stimme: „Ja?” Vermutlich hatte jemand an die Tür geklopft. Sie wurde geöffnet und ich hörte Lias, der sagte: „Hey Milly, gehen wir …” Er zögerte und sagte dann: „Entschuldige, ich wollte nicht stören.”
„Du störst nicht. Ich telefoniere mit Ella. Komm her und erzähl ihr, dass du ein Volltrottel bist.”
Ich überprüfte mein Gesicht in dem kleinen Bild und erschrak. Ich war bleich, meine Augen waren gerötet und die Wangen feucht. Ich legte das Telefon zur Seite und wischte mir übers Gesicht. Als ich das Handy wieder anhob, saß Lias neben Milly und winkte mir zu. Er winkte. Meine Mundwinkel schoben sich gemeinsam mit seinen nach oben. „Hey”, sagte ich.
„Hey”, erwiderte er und dann blickte er von Milly zu mir und wieder zurück. „Ihr seht ziemlich scheiße aus.”
„Na, vielen Dank auch.” Milly boxte ihn in den Bauch.
Lias schnappte nach Luft und ich sagte: „Von mir auch, bitte!“
Dieses Mal war er vorbereitet und griff nach ihrer Faust. Sie schob dagegen und für einen Moment ließ er sie glauben, dass sie ihn besiegen könnte, aber dann sah er zu mir, legte den Kopf grinsend schräg und schob ihre Faust und ihren gesamten Körper von sich. Sie kippte zusammen mit dem Telefon um und er stürzte sich auf sie und kitzelte ihren Bauch. Ich wartete, lächelnd. Er hatte die richtige Entscheidung getroffen, als er London verlassen hatte. Sie brauchte ihn.
Nach ein paar Minuten richteten sie sich lachend und schnaufend wieder auf und Lias schaute zwischen uns hin und her: „Ist alles okay?”
„Nicht weniger als sonst.”
Er kniff ein Auge halb zu und sah wieder zwischen uns hin und her. „Also gut. Zuerst einmal …” Er sah zu mir. „Milly hat recht. Ich bin ein Volltrottel. Nicht immer, aber manchmal, und vorhin war einer dieser glitzerfreien Momente in meinem Dasein. Ella, es tut mir leid. Ich stehe vollkommen neben mir und mein soziales Intelligenzzentrum funktioniert momentan nur über eine Tastatur. Normalerweise bin ich ziemlich liebenswürdig.”
Ich glaubte ihm und lächelte. Er erwiderte mein Lächeln wie vorhin, aber diesmal senkte er für einen kurzen Moment den Blick und mein Magen zog sich sanft zusammen. Ich schüttelte den Kopf und das Gefühl fort.
Lias sprach weiter: „Was haltet ihr davon, wenn wir drei uns einen schönen Abend machen? Wir gehen etwas essen, holen uns danach ein Eis, laufen am Fluss entlang, vielleicht gehen wir später ins Kino oder in eine Bar.”
„Lias, ich bin dreizehn.”
Er warf ihr einen Blick zu, bei dem ich auflachen musste. Beide wandten den Kopf wieder zu mir und Lias fragte: „Was hältst du davon? Führen wir Milly in die Welt der alkoholfreien Cocktails ein?”
Ich nickte. „Das hört sich fantastisch an.” Das tat es, aber nicht nur. Ein kleiner Stich erinnerte mich daran, dass ich mir diese realistische Form von Fantasie eigentlich nicht erlaubte. Ich ignorierte ihn. Hier ging es nicht nur um mich. Milly brauchte diesen Abend und vor ein paar Minuten hatte ich mich selbst dazu verpflichtet, ihr zu helfen, zurück ins Leben zu finden.