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Laufe Lebe Liebe

von A.D. WiLK (Autor:in)
304 Seiten

Zusammenfassung

Wir handeln in unserem Leben oft nicht so, wie wir es uns hinterher wünschen würden. Immer wieder fühlt es sich an, als träfen wir falsche Entscheidungen, die uns an einen Ort führen, an dem wir niemals enden wollten. Uns und die Menschen, die wir lieben. Ein verschütteter Kaffee und ein verlorenes Handy zwingen Ella zu einem Wettlauf mit der dreizehnjährigen Milly. Dabei erwacht etwas in ihr, von dem sie glaubte, es vor acht Jahren verloren zu haben. Sie lässt das Mädchen zu einem Teil ihres Lebens werden, auch wenn ihre innere Stimme sie davor warnt. Und sie wird selbst ein Teil von Millys Welt, zu der auch Tom gehört, der wie ein Geist durch die Wohnung schleicht. Und dann ist da Lias, dessen Blick verrät, dass er Ellas Geheimnis kennt. Aber wie wird er reagieren, wenn er die gesamte Wahrheit erfährt? „Laufe Lebe Liebe“ ist der dritte Roman der Bild-Bestseller Autorin A.D.WiLK. Wenn du authentische und greifbare Charaktere magst, gern tiefgründige und berührende Liebesromane ohne Kitsch aber mit Happy End liest, und es genießt, wenn Worte Bilder in deinem Kopf entstehen lassen, wirst du Ellas bewegende Geschichte lieben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

Der blaue Kunststoff der Laufbahn quietschte leicht, als ich mit meinen nackten Zehenspitzen darüberfuhr. Ich spürte es mehr, als dass ich es hörte. An meinen Armen glänzte die Haut von der Feuchtigkeit, die der Schweiß bei dem Versuch, meinen Körper zu kühlen, auf ihr hinterließ. Die Hitze drang dennoch darunter und mein Kopf schmerzte unter dem hellen Basecap. Ich war einfach schon zu lange hier. Aber diese eine Runde wollte ich noch laufen. Ein letztes Intervall, bevor ich das Training für den heutigen Tag beendete. Ich starrte auf meine blauen Fingernägel und drückte die Kopfhörer tiefer in die Ohren. Thirty Seconds To Mars schrien mich an, ich sollte davonlaufen und ich wartete auf den Moment, in dem mein Herz das Blut wieder mit weniger als sechzig Prozent seiner Kraft durch meinen Körper pumpte, spannte die Muskeln an und rannte los.

Der Boden federte meine Schritte ab, ich baute mehr und mehr Geschwindigkeit auf und die Bewegung, die mich voranbrachte, fühlte sich immer weniger an, als würde ich laufen. Ich flog. Die grüne Fläche des Fußballfeldes raste links an mir vorbei und auf der rechten Seite nahm ich die Konturen der Tribüne nur verzerrt wahr. Ich achtete nicht darauf. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, hielt die Schritte kurz genug, um eine hohe Trittfrequenz zu erzielen, und weit genug, um die Länge meiner Beine optimal auszunutzen. Ich berührte den Boden nur für Sekundenbruchteile und trotzdem wusste ich, dass mich meine Fußsohlen für den Rest des Tages mit einem Brennen an jeden Kontakt mit dem rauen Gummi erinnern würden. Es störte mich nicht.

Ich konzentrierte mich auf den Bewegungsablauf und auf meine Atmung. Ich musste die Luft durch den Mund ein- und ausströmen lassen, um meinen Körper mit ausreichend Sauerstoff versorgen zu können. Und nach der Hälfte der Strecke zog sich das vertraute Brennen durch die Muskulatur in meinen Waden und den Oberschenkeln. Ich stellte mich den nachlassenden Kräften entgegen und beschleunigte meinen Lauf ein wenig mehr. Ein Blick auf die Uhr an meinem Handgelenk verriet mir, dass meine Geschwindigkeit dennoch zu niedrig lag, um damit einen Preis zu gewinnen. Es wunderte mich nicht. Ich trainierte schon eine Weile. Meine Beine waren müde. Die Hitze schwächte mich zusätzlich.

Kurz bevor ich die Distanz beendete, nahm ich eine Bewegung in meinem rechten Blickfeld wahr. Jemand rannte. Rannte auf mich zu. Das Lied endete und ich hörte diesen Jemand rufen. Nein, schreien. Meinen Namen schreien. Das Geräusch wurde durch die Kopfhörer gedämpft, aber die Intensität drang dennoch in jeden Winkel meines Körpers. Ich verlor die Fähigkeit, meine Beine zu kontrollieren, und fiel, als das nächste Lied begann. Aber das Kopfhörer-Kabel wurde aus meinem MP3-Player gerissen und eine tiefe Stille erfüllte die Umgebung. Meine Trainerin legte mir die Hand auf die Schulter.

Feuchtigkeit lag auf ihren Wangen und ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass es nicht der Schweiß war, der Tröpfchen auf ihrer Haut gebildet hatte. Ich ignorierte den Schmerz, den die Schürfwunden an meinen Beinen verursachten, zog die Kopfhörer aus den Ohren, richtete mich auf und wartete auf die Worte, mit denen sie ihre Aufregung erklären würde.

Sie schluckte. Ich erkannte es an ihrem Kehlkopf, der sich hob und senkte. Dann atmete sie tief durch und sagte: „Wir müssen ins Krankenhaus fahren. Sofort.”

Ich sprang auf. „Was? Warum? Was ist passiert?”

Sie schüttelte den Kopf, griff meine Hand, rannte los und zog mich hinter sich her über den Platz. Mein Blick fiel auf die Digitalanzeige, die über der Südkurve hing. Dort stand 15:28. Mein Bewusstsein schien Minuten zu brauchen, um die Zahlen in eine für mich verständliche Uhrzeit umzuwandeln. Und als sie zu mir durchdrang und ich erkannte, was ich vergessen hatte, wen ich vergessen hatte, stoppte mein Herz und es drang keine Luft mehr in meine Lungen.

Eins

Ich zog die Tür des Chapleenes hinter mir zu. Ein Klingeln ertönte und dann, als die Tür schloss, das typische Klacken von zwei aufeinandertreffenden Holzelementen. Ich hielt einen Moment inne und schloss die Augen, um das Geräusch nachhallen zu lassen. Es verkündete meinen Feierabend oder den Beginn meines freien Nachmittags, denn es war erst halb drei. Und auch wenn ich ihn nicht unbedingt genießen würde, hatte ich doch diesen Teil des Tages hinter mich gebracht. Ich würde in den Park gehen, mein Buch in die Hand nehmen und darauf warten, dass auch die kommenden Stunden irgendwie vergingen. Aber schon nach wenigen Sekunden verpuffte das Gefühl in den lauten Stimmen zweier Personen. Ich seufzte, öffnete die Augen und trank einen Schluck von dem Milchkaffee, den ich mir jeden Tag nach der Arbeit mit auf den Weg nahm. Ich wollte die Stimmen ignorieren, doch aus dem Augenwinkel sah ich, wie fünfzehn Meter von mir entfernt ein Mann, der mindestens 45 Jahre alt war, ein Mädchen festhielt, das höchstens dreizehn Jahre alt sein konnte. Ich hätte weitergehen können, aber ich wollte sie nicht mit ihm allein lassen.

Ich dachte darüber nach, einzugreifen, aber sie riss sich von ihm los und rannte in meine Richtung. Und bevor ich ausweichen konnte, rammte sie ihre Schulter gegen meinen Arm. Gegen den Arm, in dessen Hand ich meinen Kaffeebecher hielt. Ich hatte meinen eigenen Becher zuhause vergessen und eine der Pappvarianten aus dem Café nehmen müssen. Um der Umwelt zumindest etwas Plastik zu ersparen, verzichtete ich auf den Deckel. Für die Natur war das gut. Für mich in diesem Fall nicht. Die Wucht des Aufpralls schleuderte meinen Arm zu meinem Oberkörper, der Becher kippte und die warme Mischung aus Kaffee crema, Milchschaum und Kakao-Pulver ergoss sich über mein hellblaues Shirt. Und da ich bisher nur einen Schluck getrunken hatte, beinhaltete der Becher ausreichend Kaffee, um meine Hose ebenfalls zu tränken und sich auch den Weg zu meinen Beinen zu bahnen.

Das Mädchen sah mich für einen Moment erschrocken an, warf dann einen Blick über meine Schulter zu dem Mitvierziger, formte mit den Lippen eine Entschuldigung und lief weiter. Die Tränen in ihren Augen erstickten die in mir aufkeimende Wut sofort und ich verwarf den Gedanken, ihr hinterherzurennen.

Stattdessen blickte ich an mir herab, um das Ausmaß der Kaffeetränkung einzuschätzen und zu entscheiden, ob ich in diesem Zustand weiter durch die Straßen gehen konnte. Und da erblickte ich neben meinen Schuhen ein schwarzes Rechteck. Ich tastete von außen meine Jackentasche ab, um sicherzugehen, dass es nicht mein Telefon war, das dort am Boden lag, bückte mich und hob es auf. Ich sah dem Mädchen hinterher, öffnete den Mund und rief „Hey, warte!“ Aber sie hatte schon etwa fünfzig Meter und eine Straße zwischen uns gebracht und entweder hörte sie mich nicht oder sie ignorierte den Ruf.

Also steckte ich das Handy in meine andere Jackentasche, stellte meinen Kaffeebecher auf den Boden, spannte den Beckenboden an und rannte ihr hinterher. Sie war schnell, aber ich hielt ihr Tempo problemlos. Meine Beine, mein gesamter Körper führten ein vertrautes Programm aus, setzten einen Fuß vor den anderen und verringerten den Abstand Meter für Meter. Sie bog um eine Ecke und ich folgte ihr den gepflasterten Fußweg entlang, vorbei an einem kleinen Buchladen. Dann bog sie ein weiteres Mal ab und rannte in den Park, an dessen anderem Ende das Café lag. Der Park, in dem ich jetzt eigentlich auf einer Bank sitzen wollte. Sie steuerte auf den See zu und ich raste hinter ihr her. Zwischendurch drehte ich mich immer wieder um, aber der Mann schien uns nicht zu folgen.

Als sie den Park durchquert hatte und auf die Straße zusteuerte, wandte sie den Kopf das erste Mal zurück. Uns trennten noch etwa vierzig Meter und sie sah mich nicht sofort. Aber als sie erkannte, dass ich ihr folgte, legte sich ein erschrockener Ausdruck auf ihr Gesicht und sie beschleunigte ihr Tempo, ohne wieder nach vorn zu sehen. Was glaubte sie, was ich von ihr wollte?

„Vorsicht!” Mein Ruf kam zu spät. Sie konnte nur noch schwach abbremsen und prallte gegen die Metallstange, die ein Schild hielt, auf dem sich die Stadt dafür bedankte, dass der Besucher den Park verließ, ohne seinen Müll auf Wegen und Grünflächen zu hinterlassen.

Ich rannte weiter, bis ich sie erreichte, blieb stehen und musterte sie. „Ist alles okay?“

Sie nickte langsam, rieb sich die Stirn und sah mich an. Ich erwartete, dass sie zu mir aufblickte, denn normalerweise erreichten nur Männer oder Frauen in Schuhen mit sehr hohen Absätzen eine Höhe, von der aus sie mir ohne aufzusehen in die Augen blicken konnten. Aber das Mädchen war fast genauso groß wie ich. Das nahm ich erst in diesem Moment wahr. Sie sah an mir vorbei und suchte den Weg ab. Ich folgte ihrem Blick, hielt Ausschau nach dem Mitvierziger, konnte ihn aber nicht entdecken.

„Ich glaube, er ist dir nicht gefolgt. Was wollte er von dir?“

Sie schüttelte den Kopf und dann musterte sie mein T-Shirt und meine Hose. „Entschuldigung.” Ihre Stimme war so leise, dass die Worte erst nach ein paar Sekunden bei mir ankamen.

„Hm?“ Ihr Zusammenstoß mit der Laterne hatte mich für einen Moment vergessen lassen, warum ich ihr überhaupt hinterhergerannt war.

„Ihr Shirt.” Sie senkte den Kopf. „Und die Hose.” Sie hielt den Blick weiter gesenkt, aber ich hatte das Grinsen in ihren Worten gehört.

„Das ist nicht witzig.” Plötzlich stieg Wut in mir auf. Machte sie sich tatsächlich lustig über mich?

Sie schüttelte den Kopf und hob ihn wieder. „Nein, tut mir leid. Das ist es echt nicht.” Es gelang ihr nicht nur nicht, das Grinsen zu unterdrücken. Nein, sie versuchte es nicht einmal mehr länger und lachte so laut auf, dass auch die ältere Dame auf der Bank fünfzig Meter hinter uns es gehört haben musste.

„Hey! Das ist deine Schuld.”

„Ich weiß.” Sie lachte weiter. „Aber witzig ist es trotzdem.”

„Nein, das ist es nicht. Die Klamotten kann ich wegschmeißen.“ Natürlich könnte ich es erst einmal mit Waschen versuchen, aber wirklich gut war ich darin nicht und ich rechnete mir die Chancen, die Flecken herauszubekommen, nicht besonders hoch aus.

Sie räusperte sich und versuchte nun endlich, das Lachen zu unterdrücken. Es gelang ihr nicht und ich spürte, wie auch meine eigene Wut wich und einem Auflachen Platz machen wollte. Ich schluckte dagegen an, hob die rechte Augenbraue und ließ meine Hände vor meinem Körper auf und ab gleiten. „Außerdem schuldest du mir einen Kaffee.” Der Satz kam weniger bestimmt aus meinem Mund, als ich es gehofft hatte.

„Als hätten Sie den selbst bezahlt. Sie arbeiten doch da, oder?“ Sie seufzte. „Entschuldigung. Natürlich haben Sie …“ Ihre Augen verengten sich und sie sah wieder an mir vorbei.

Ich folgte ihrem Blick und erkannte den Mitvierziger. Als ich mich wieder zu ihr wandte, sagte sie noch einmal „Entschuldigung“, drehte sich in die andere Richtung und rannte ein weiteres Mal los. Diesmal löste sich mein Körper nicht rechtzeitig aus der Starre und ich konnte ihr nur dabei zusehen, wie sie zwischen den Autos verschwand. Der Mitvierziger sah offenbar auch keine Chance, sie einzuholen, denn er stoppte in der etwa fünfzig Meter von uns entfernt, stemmte die Hände auf die Oberschenkel und atmete schwer ein und aus. Und dann schlug er mit der rechten Hand gegen sein Bein, richtete sich auf und trat den Rückweg an.


„Mann, Ella. Wie siehst du denn aus?” Ich schloss die Tür zu meiner Wohnung auf. Dahinter wartete meine Schwester Sofi.

„Frag nicht!”

„Mach ich aber.”

Ich antwortete nicht, ließ die Tür ins Schloss fallen und ging in mein Schlafzimmer. Sofi folgte mir bis zur Tür.

„Nun sag schon.”

„Musst du nicht irgendwo anders hin?”

Sie blieb im Türrahmen stehen, lehnte sich dagegen und musterte mich grinsend. „Nein, muss ich nicht.”

„Aber ich. Und zwar raus aus diesen Klamotten.” Ich schloss die Tür und ließ Sofi dahinter stehen. Für einen Moment lehnte ich mich gegen das Holz, aber als mir der abgestandene Kaffeegeruch entgegenstieg, der sich mit meinem Parfüm vermischt hatte, schälte ich mich aus meinen Klamotten. Ich schmiss das T-Shirt achtlos durchs Zimmer. Es landete auf einer der unzähligen Kisten, die ich noch immer nicht ausgeräumt hatte. Seit vier Monaten wohnte ich schon hier und brachte es nicht fertig, die alten Sachen in den Kartons nach etwas zu durchsuchen, das ich gebrauchen könnte. Ich hatte Angst. Ich wollte nicht auf etwas stoßen, das ich vor acht Jahren zwischen den Pappen versteckt hatte. Oder auf Dinge, vor denen ich mich in den vergangenen acht Jahren versteckt hatte.

Ich ging ins Bad, um den Kaffee von meiner Haut zu waschen und während ich mich danach abtrocknete, hörte ich ein fremdes Geräusch. Erst nach ein paar Sekunden erkannte ich, dass es sich um das Klingeln eines Handys handelte. Und da fiel es mir wieder ein. Ich hatte dem Mädchen das Telefon nicht zurückgegeben. Ich rannte aus dem Bad zu meiner Jacke, zog das Handy aus der Tasche und nahm das Gespräch an.

„Milly, wo steckst du?” Es war eine männliche Stimme.

Ich schwieg, zu überrumpelt, um zu antworten.

„Milly? Was ist los? Ist alles in Ordnung?”

Ich räusperte mich. „Ähm, hier ist nicht Milly. Hier ist Ella.”

„Hey Ella, gibst du mir mal Milly? Sie wollte vor einer Stunde zuhause sein.”

„Ähm, das geht nicht.” Wie hatte ich nur vergessen können, ihr das Telefon zurückzugeben?

Nun schwieg er, ich hörte Geräusche im Hintergrund und dann sagte er: „Oh, ich sehe schon, warum nicht.” Seine Stimme wurde leiser. „Hey Milly, sieht so aus, als hättest du dein Telefon bei Ella vergessen.” Die Stimme wurde wieder lauter. „Ella, bringst du es ihr morgen mit in die Schule?”

Er hielt mich für ein Schulmädchen. „Nein, ähm, ich würde es lieber jetzt vorbeibringen.” Es gab ein paar Stunden zu füllen.

„Oh, okay. Na gut. Aber es reicht wirklich, wenn …”

Ich unterbrach ihn: „Wo muss ich denn hin?”

Er nannte mir die Adresse und den Nachnamen der Familie und ich beendete das Gespräch, um zu duschen und mich in frischen Klamotten auf den Weg zu Millys Zuhause zu machen.


Sie wohnte nur zwei Kilometer von mir entfernt und ich ging die Strecke zu Fuß. Es gab keine direkte Busverbindung zwischen unseren Straßen und die viel zu warme Februarluft erinnerte mich an die Monate, die ich vor meiner Rückkehr in Australien verbracht hatte. Dort war der Frühling gerade dem Sommer gewichen, als ich das Flugzeug bestiegen hatte und hier hatten mich grauer regennasser Asphalt und ein verfrühter Kälteeinbruch empfangen. Die Kälte und die Tristesse hatten mich nicht gestört. Manchmal war ich ihr sogar hinterher gereist. Aber die Wärme erinnerte mich daran, wie viel leichter es war, nicht hier zu sein, weit entfernt zu leben. Und die Schuldgefühle, die ich deshalb meinen Eltern gegenüber hatte, konnten dieses Gefühl nicht aufwiegen.

Es war ein altes Haus, gebaut um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Von der burgunderroten Fassade platzte der Putz ab und statt moderner Kunststoff-Isolierfenster ließen alte Holz-Doppelfenster Licht ins Innere des Hauses fallen und Blicke nach draußen schweifen. Ich stieg die sechs Stufen zur Haustür hinauf und drückte auf den Knopf neben dem Schild mit dem Namen ‚Meyer‘.

Als ich die Haustür aufstieß, hörte ich schnelle Schritte, die ebenfalls die Treppe hinter mir hocheilten. Ich wandte den Kopf und blickte in das Gesicht des Mitvierzigers. Er runzelte die Stirn, hielt mir die Tür auf und gemeinsam stiegen wir in die zweite Etage, wo bereits eine Tür offenstand, in der ein Mann wartete. Ich musste zu ihm aufsehen, um ihm in die Augen blicken zu können. Er wirkte ein paar Jahre älter als ich und nickte mir zu: „Sie sind sicher Ella. Kommen Sie doch bitte herein.” Er musterte mein Gesicht für einen Moment und ich wandte den Kopf von ihm ab, um diesen Moment so kurz wie möglich zu halten. So wie jedes Mal, wenn mich jemand zu genau ansah. Dann bemerkte er den Mitvierziger und musterte nun ihn. „Und wer sind Sie?”

In diesem Moment schob sich das Mädchen in den Türrahmen. „Was wollen Sie denn hier?”

„Oh, das weißt du genau.” Die Stimme des Mannes war aggressiv und er fixierte Milly mit einem Blick, der so feindselig war, dass ich ein weiteres Mal das Gefühl hatte, sie vor ihm beschützen zu müssen.

„Nein, das weiß ich nicht. Ich habe Ihnen schon vorhin gesagt, dass ich damit nichts zu tun habe. Lias, schick ihn weg.”

Der Mann in der Wohnung sah sie stirnrunzelnd an. „Was ist hier los?”

Eine weitere Tür öffnete sich und eine ältere Frau steckte den Kopf in das Treppenhaus. Lias nickte ihr zu. „Guten Abend, Frau Rose.“ Dann wandte er sich wieder an uns: „Bitte kommen Sie doch beide herein.”

Ich sah zu der älteren Frau, nickte ihr ebenfalls zu, sagte „Hallo”, und folgte dem Mitvierziger in die Wohnung. 

„Also nochmal, was ist hier los?” Wir standen in der Diele zwischen Schuhen und Jacken und einem großen Koffer.

Da niemand etwas sagte, machte ich den Anfang: „Ihre Tochter hat mich heute Nachmittag angerempelt und mir dabei einen vollen Becher Kaffee über die Klamotten gekippt.” Was sagte ich denn da? Das war weder der Grund für meine Verfolgung gewesen, noch dafür, dass ich hier stand. Die Jeans und das T-Shirt hatte ich seit Jahren. Sie waren weder teuer gewesen, noch hatten sie einen immateriellen Wert, der durch ein paar Flecken geschmälert werden würde. Davon abgesehen konnte eine Reinigung sie höchstwahrscheinlich entfernen. Mein Gesicht wurde heiß und es wäre angenehm gewesen, wenn sich in diesem Moment die Dielenbretter unter mir gelöst hätten, um mich in die Erde sinken zu lassen. Oder zumindest in die unter den Dielen liegende Wohnung.

Ein Schmunzeln legte sich in Lias’ Mundwinkel.

Ich schluckte. „Und dabei hat sie ihr Handy verloren und ich wollte es zurückbringen.”

„Aha. Nun gut. Danke. Die Reinigung übernehmen selbstverständlich wir.” Er sah zu Milly. „Und ich nehme an, du hast dich bereits entschuldigt.”

„Ja, das hat sie. Es war auch überhaupt nicht schlimm und eigentlich konnte sie nichts dafür.”

Er hob eine Augenbraue. „Nicht?”

„Nein, Ihre Tochter ist …” Ich sah zu dem Mann, der mit mir die Wohnung betreten hatte. Was sollte ich sagen? Ich hatte keine Ahnung, worum es in ihrem Streit ging. Andererseits hatte ein Vater doch das Recht zu erfahren, wenn seine Tochter von einem fremden Mann festgehalten wurde, oder? Aber war er überhaupt ihr Vater? Abgesehen davon, dass er etwas zu jung dafür wirkte, hatte Milly ihn Lias genannt.

„Meine Nichte.” Lias durchschnitt meine Gedanken und beantwortete gleichzeitig meine unausgesprochene Frage, was mich aus dem Konzept brachte.

„Wie bitte?”

„Milena ist meine Nichte.”

„Oh.” Sie war tatsächlich nicht seine Tochter.

„Also, warum war es nicht ihre Schuld?”

Ich atmete tief durch. „Sie ist vor ihm weggerannt.” Ich deutete mit dem Kopf auf den Mitvierziger.

Lias’ Augen verdunkelten sich und er schien ein paar Zentimeter zu wachsen, als er sich vor dem anderen Mann aufbaute. „Und wieso ist meine Nichte vor Ihnen weggerannt? Wer sind Sie überhaupt?”

„Ron Becker.“ Ich hätte erwartet, dass er ihm die Hand reichte, aber das tat er nicht. „Ich bin Milenas Klassenlehrer.”

„Aha. Und warum rennt Milly vor Ihnen weg?”

„Ich habe sie dabei erwischt, wie sie mein Auto zerkratzt hat.”

„Das stimmt nicht.“ Milly schrie fast. „Sie lügen. Ich habe damit nichts zu tun. Diese Kratzer sind schon seit Tagen an Ihrem Auto. Sie suchen nur jemanden, der den Schaden bezahlt.” Milly stellte sich zu ihrem Onkel.

Lias sah zwischen den beiden hin und her und ich fühlte mich fehl am Platz.

„Und Sie haben sie dabei beobachtet?”

Ich zog das Telefon aus meiner Jackentasche und reichte es dem Mädchen, während Becker Lias erklärte, wann er Milly dabei beobachtet haben wollte, mit einem Taschenmesser den Lack seines Autos zerkratzt zu haben.

Sie lächelte zaghaft, formte ein Sorry mit den Lippen und ich wollte mich umdrehen und die Wohnung verlassen. In diesem Moment trat ein weiterer Mann in den Flur. Er trug eine ausgebeulte Jeans, ein graues T-Shirt und einen Bart auf Wangen und Kinn, der dort seit mindestens fünf Tagen wuchs. Seine dunklen Haare hingen ihm strähnig in die blauen, blassen Augen. Er wirkte, als hätte er seit Monaten nicht geschlafen. Es war ein vertrauter Anblick.

„Was ist denn hier los?” Seine Stimme war kratzig und trotz der Frage teilnahmslos. Es wirkte nicht, als würde ihn die Antwort tatsächlich interessieren.

„Ach nichts. Milly hat ein paar Leute eingeladen und wir haben uns spontan zu einer Stehparty entschlossen. Holst du mal die Häppchen und mixt ein paar Drinks?” Niemand würdigte Lias’ Witz. Milly sah noch einmal zu mir und verschwand dann hinter einer Tür, an die ihr Kosename mit fünf Holzbuchstaben geklebt war. Darunter hing ein mit Buntstiften gemaltes Bild, auf dem eine Frau, ein Mann und ein Mädchen mit langen dunklen Zöpfen, das etwa halb so groß war wie die Erwachsenen, zu sehen war. Milly wirkte zu alt für ein Zimmer hinter solch einer Tür, aber sie war es noch nicht sehr lange.

Ich wandte mich ebenfalls zum Gehen, aber Lias’ Stimme hielt mich auf: „Ella, warten Sie. Es tut mir leid. Ich werde die Reinigung bezahlen.” Er nahm sein Portemonnaie aus der Hosentasche, öffnete es und fluchte. Dann sah er zu dem Mann mit dem Fünf-Tage-Bart. „Tom, hast du Geld im Haus?”

Tom antwortete nicht und verließ den Flur durch eine weitere Tür. Lias atmete tief ein und wandte sich wieder zu mir. „Es tut mir leid. Geben Sie mir Ihre Nummer, dann klären wir das später.”

„Das ist wirklich nicht nötig.” Ich griff nach der Türklinke und wollte einfach nur noch raus, aber Lias’ Worte hinderten mich ein weiteres Mal daran.

„Doch, das ist es.”

Ich seufzte, sagte „Also gut”, und nannte ihm meine Telefonnummer. Es kam mir kurz in den Sinn, ihm eine falsche Nummer zu geben. Aber ich tat es nicht. Was, wenn er sie sofort auf ihre Richtigkeit überprüft hätte? Nachdem er die Zahlen in sein Smartphone getippt hatte, entschuldigte er sich noch einmal und ich verließ die Wohnung.

Zwei

Als ich die sechs Stufen wieder hinunterstieg, dämmerte es bereits und ich beschloss, den Heimweg erneut zu Fuß zurückzulegen. Obwohl ich mir meinen Nachmittag anders vorgestellt hatte, war ich froh über die Ablenkung. Ich fühlte mich ein klein wenig lebendiger und die vergangenen Stunden hatten die Stille um mich herum mit Geräuschen gefüllt.

Und Milly und ihre Geschichte. Hatte sie wirklich das Auto ihres Klassenlehrers zerkratzt? Sie erschien mir nicht kriminell, aber taten Jugendliche nicht andauernd Dinge, die nicht zu ihnen passten? Gingen sie nicht häufig Risiken ein, um damit zu provozieren und Aufmerksamkeit zu erregen? Und wer war der Mann, der wie ein Geist durch die Wohnung schlich? Aber es ging mich nichts an. Und ich wollte auch nicht, dass es mich beschäftigte. Dass sie mich beschäftigte. Und das Gefühl, das sich in den letzten Stunden in mir ausgebreitet hatte, würde wieder verschwinden. Sie war nur irgendein Mädchen und wahrscheinlich kam ich langsam in ein Alter, in dem mein Beschützerinstinkt automatisch geweckt wurde, sobald es um ein Kind ging.

Ich erreichte mein Haus viel zu schnell und entschied mich, weiterzulaufen. Die Luft wurde kühler, aber sie war noch immer zu warm für Mitte Februar. Bald würde der Frühling der Natur einen neuen Anfang schenken und auch ich steckte irgendwie inmitten eines solchen Neubeginns. Vor vier Monaten, zwei Monate vor Weihnachten, hatte ich einen Anruf meiner Mutter erhalten, hatte innerhalb weniger Stunden meinen Job gekündigt, meine Sachen gepackt, meine Affäre beendet und war in Sydney in ein Flugzeug gestiegen, um zurück nach Hause zu fliegen.

Es hätte zu spät sein können, aber als ich einunddreißig Stunden nach dem Telefonat das Krankenhaus erreichte, hatte mein Vater die Operation überstanden und konnte schon wieder leise Witze über meine Frisur reißen. Aber ihn in diesem Zustand zu sehen, schwach, grau und alt, und die Angst zu spüren, mich möglicherweise nie wieder in eine seiner Umarmungen fallenlassen zu können, hatten mir bewusst gemacht, was ich in den vergangenen Jahren verpasst hatte und was ich meine Eltern hatte verpassen lassen. Ich hatte diese Gefühle immer von mir schieben können, so lange ich sie nicht gesehen hatte. Aber nun hatten sie mich übermannt und ich beschloss, meiner Flucht ein Ende zu setzen. Ihr einen neuen Anfang folgen zu lassen.

Mein Telefon klingelte und unterbrach meine Gedanken. Ich kannte die Nummer nicht und ignorierte den Anruf. Nach einer Minute piepste es erneut. Eine Nachricht:

‚Hallo Ella, hier schreibt Milly. Die Sache mit dem Kaffee tut mir echt leid. Ich zahle die Reinigung selbst.’

Ich starrte auf die Nachricht, aber bevor ich darauf reagieren konnte, piepste es erneut: ‚Und ich habe kein Auto zerkratzt.’

Ich runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und antwortete auf die erste Nachricht: ‚Ist schon okay, das brauchst du nicht. Es war nicht deine Schuld.’

Milly: ‚Doch, das war es. Kann ich dich wenigstens auf einen Kaffee einladen?’

Nochmal Milly: ‚Oh, sorry. Ich meinte, kann ich Sie wenigstens zu einem Kaffee einladen?’

Ich schmunzelte und drückte auf das Hörersymbol, um sie anzurufen.

Sie nahm nach dem ersten Klingeln ab. „Oh, hallo.”

„Hey. Ich muss mich bei dir entschuldigen.”

„Was? Wofür denn?”

„Ich habe dir dein Handy nicht zurückgegeben.”

„Ja, weil ich weggerannt bin. Du … ich meine Sie hatten …”

„Du.”

„Was?”

„Ich bin Ella und du kannst gern ‚Du’ sagen. Dann fühle ich mich weniger alt.”

„Sie sind … du bist doch nicht alt.”

Ich lächelte. „Stimmt.”

„Also, gehen wir einen Kaffee trinken. Vielleicht morgen?”

Ich runzelte wieder die Stirn. Warum hatte sie es so eilig? „Weiß dein Onkel eigentlich, dass du mich anrufst?”

„Ja, klar. Ich habe ihm gesagt, dass ich diese Sache kläre.” Sie betonte das Wort ‚diese’.

„Und er kümmert sich um die andere Sache?”

„Hm-hm.” Sie zögerte, als wollte sie mehr dazu sagen, tat es aber nicht. „Also morgen? Treffen wir uns vor diesem Café? Wir könnten ja dort …”

„Nein, ich arbeite dort.” Ich zögerte und suchte nach einer Ausrede. Mir fiel keine ein. „Aber wir können uns davor treffen und ein paar Schritte gehen, wenn du möchtest. Gleiche Zeit wie heute?”

„Okay, super! Dann bis morgen.”

„Bis morgen.”

Sie beendete die Verbindung. Ich war während des Gesprächs weitergelaufen und brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. Inzwischen war es dunkel, die dünne Jacke wärmte mich nicht länger ausreichend und Milly hatte ein paar große Fragezeichen in meinen Gedanken hinterlassen. Warum wollte sie mich unbedingt wiedersehen? Sie hätte es ihrem Onkel oder ihren Eltern überlassen können, die Sache mit mir zu klären. Und warum war es ihr so wichtig, dass ich den Worten ihres Klassenlehrers nicht glaubte? Und warum hatte ich dem Kaffeetrinken zugestimmt?


Dreißig Minuten später saß ich mit einer Tasse Tee neben Sofi am Küchentisch. Sie lehnte mit verschränkten Armen in ihrem Stuhl und sah mich herausfordernd an. „Du schuldest mir eine Antwort, Schwesterlein.”

„Das tue ich nicht.”

„Aber sicher tust du das. Du hast mir meine Frage nicht beantwortet.”

„Stimmt. Und ich will auch nicht darüber reden.”

„Ach bitte, erzähl es mir trotzdem. Wie hat es sich angefühlt?”

Ich trank einen Schluck Tee und seufzte. „Also gut.”

Sie klatschte in die Hände und lehnte sich nach vorne. Ganz so, als würden wir eine Märchenstunde beginnen. Als sie klein war, hatte ich ihr jeden Abend ein Märchen vorgelesen oder mir andere Geschichten ausgedacht. Geschichten, in denen Prinzessin Sofi und ihre große Schwester Helena das Schloss nach verloren gegangenen Schmuckstücken durchsuchten und sich vor dem bösen Berater ihres Vaters, dem König, versteckten. Aber das hier war etwas anderes.

„Ich hätte den Tag gern anders verbracht. Aber irgendwie … Ach, ich weiß auch nicht. Es war schön, die Zeit nicht alleine herumbringen zu müssen. Allerdings hätte ich auf die Kaffeedusche verzichten können.”

Ich grinste, aber sie erwiderte es nicht, sondern fragte: „Sie war schneller als du, hm?”

„Sofi.”

„Was? Ich kannte nie viele Mädchen, die schneller waren als du. Genau genommen keine. Und Jungs auch nur ein paar.”

Ich stand auf, um das Gespräch zu beenden. Über das Laufen wollte ich nicht reden. Vor allem nicht mit ihr. Ich ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. „Was esse ich denn nur zu Abend?”

„Heli!”

Ich scannte die Regalfächer und klappte die Tür wieder zu. „Ich denke, ich bestelle eine Pizza.”

„Heli!” Sie zog das ‚i‘ in die Länge.

„Oder weißt du was? Ich habe überhaupt keinen Hunger. Gute Nacht, Sofi.”

„Helena, es ist halb neun.”

„Genau, und ich muss morgen früh raus. Gute Nacht.”

„Du kannst dich nicht ewig davor verstecken. Und vor mir schon gar nicht.”

Ihre Worte hallten durch die Wohnung und noch länger durch meinen Kopf. Niemand wusste besser als ich, wie recht sie mit ihnen hatte. Aber das hinderte mich nicht daran, es immer wieder zu versuchen.

Drei

Und warum wirft er dir das mit dem Auto vor?” Milly und ich saßen auf einer Bank an dem kleinen See vor dem Chapleene. Ich hatte ihr einen Milchkaffee mitgebracht. Koffeinfrei. Irgendwie fand ich die Vorstellung falsch, ein so junges Mädchen mit dem Stress-Energie-Schub eines normalen Kaffees zu versorgen.

„Weil er keine Lust hat, den Schaden selber zu bezahlen. Meine Freunde glauben, dass es seine Ex war. Und dass sie einen Grund dafür hatte und er sie deshalb nicht anzeigt.”

Ich hob die Augenbrauen. „Und dann beschuldigt er dich?”

„Er mag mich nicht. Er ist erst seit ein paar Wochen an unserer Schule und …”

„Und was?”

„Ach, nichts.”

Sie schwieg, ich bohrte nicht weiter nach und sie wechselte das Thema: „Warum bist du so schnell?”

Ich antwortete mit der gleichen nichtssagenden und schlichten Erklärung, die ich immer anbrachte, wenn jemand mir diese Frage stellte: „Wahrscheinlich, weil ich so groß bin. Was ist mit dir? Warum bist du so schnell?”

„Na dann wohl auch, weil ich so groß bin.” Sie sprang auf. „Ich sollte nach Hause gehen.”

Ich nickte, langsam und irritiert. „Okay.”

„Musst du zufällig in dieselbe Richtung? Zuhause liegt noch das Geld für die Reinigung.”

Ich fragte nicht, warum sie es nicht bei sich trug, obwohl wir uns doch deshalb getroffen hatten. Ich wollte es ohnehin nicht. „Milly, ich will kein Geld von dir. Die Klamotten sind hundert Jahre alt, wertlos und wenn überhaupt müsste dein Lehrer die Kosten übernehmen.”

„Das wird er aber nicht tun. Also komm jetzt mit. Lias wird echt sauer, wenn ich es dir nicht gebe.”

Der Klang ihrer Stimme verriet, dass es noch einen anderen Grund gab, aus dem sie mich mitnehmen wollte, und ich wollte diesen Grund erfahren, wollte wissen, wer dieses Mädchen war. Auch wenn etwas in mir mein Handgelenk festhielt, um mich von all dem wegzuziehen. Aber ich ignorierte es und ging mit ihr.


Die Wohnung war heller als am Vortag. Der Nachmittag war nicht so weit fortgeschritten wie gestern und das Licht der untergehenden Sonne flutete die hohen Räume. Wir standen wieder im Flur.

„Kommst du kurz rein?”

Ich hob eine Augenbraue.

„Ach, bitte.”

Eine Tür öffnete sich und der Mann mit dem Fünf-Tage-Bart, der über Nacht zu einem Sechs-Tage-Bart gewachsen war, schlurfte mit einem Stapel Blätter in der einen und einer Brille in der anderen Hand durch den Flur. Er warf uns einen Blick zu und nickte kurz, als er mich sah. Er trug das gleiche T-Shirt und dieselbe Hose wie am Vortag.

„Papa, das ist Ella. Ella, das ist Tom, mein Vater.” Milly sah Tom erwartungsvoll an. Ich hatte vermutet, dass dieser Mann ihr Vater war, aber sein Auftreten passte auch heute nicht zu seiner Rolle.

Ich hob die Hand und winkte. Ich winkte? Schnell ließ ich die Hand wieder sinken, aber er hatte die Geste registriert und für den Bruchteil einer Sekunde hob sich sein rechter Mundwinkel. Aber er sank genauso schnell wieder. Dann nickte er noch einmal und ging weiter in eines der anderen Zimmer.

Milly seufzte lautstark, zuckte mit den Schultern und griff schließlich in ihre Jackentasche. Als sie die Hand wieder herauszog, hielt sie einen Geldschein. Ich hob erneut die Augenbraue. „Meintest du nicht …?”

„Ja ja, entschuldige. Ich dachte …” Sie beendete den Satz nicht.

„Was dachtest du?”

„Ach nichts. Ich muss noch Hausaufgaben für Beckers Unterricht machen. Danke für den Kaffee.”

Ohne meine Verabschiedung abzuwarten oder darauf, ob und dass ich die Wohnung wirklich wieder verließ, verschwand sie hinter der Tür mit dem Kinderbild, über dem ‚Milly‘ stand. Ein paar Sekunden lang blieb ich in der Diele stehen, unschlüssig, was ich nun tun sollte. Aber dann drehte ich mich zur Tür, öffnete sie und trat aus der Wohnung und schließlich nach draußen auf den Gehweg.

Als ich die Straße überqueren wollte, hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Eine männliche Stimme. Ich sah mich um und entdeckte die verwuschelten, dunklen Haare von Lias einige Meter von mir entfernt. Ich winkte ihm zu, schon wieder winkte ich, und wollte meinen Weg fortsetzen, aber er beschleunigte seinen Schritt und schloss zu mir auf.

„Hallo, Ella. Hat Milly Ihnen das Geld gegeben?”

„Ja, das hat sie.” Ich holte den Geldschein aus meiner Hosentasche und streckte ihm diesen entgegen. „Aber ich will es nicht haben.”

„So ein Unsinn.”

„Nein wirklich. Wer bringt denn schon eine Jeans und ein T-Shirt in die Reinigung?

Er zuckte mit den Schultern. „Ich wahrscheinlich. Zumindest hätte ich keine Ahnung, wie ich die Flecken wieder rausbekomme.“

Ich musterte ihn und sagte: „Okay, ja. Ich auch nicht. Aber trotzdem, ich will das Geld nicht.” Ich drückte ihm den Schein in die Hand und beschleunigte meinen Schritt. Er fiel zurück, aber dann holte er wieder auf.

„Also gut, aber dann schulden wir Ihnen etwas anderes. Wie wäre es mit einem Abendessen?”

Ich stoppte und er lief zwei Schritte weiter, bevor er darauf reagierte und ebenfalls stehenblieb.

„Ein Essen? Da ist eine Reinigung aber günstiger.“ Ich runzelte die Stirn. „Warum seid ihr beide denn so scharf darauf, mich wiederzusehen?” Das wurde er sicher nicht oft gefragt. Ich kniff die Augen zusammen und öffnete sie langsam wieder. Wo kam denn diese Frage her?

Lias hob eine Augenbraue und atmete tief durch. „Milly spricht seit gestern ununterbrochen von Ihnen und …”

„Und warum siezt ihr mich? Können wir bitte zum ‚Du’ wechseln?”

Er lächelte und nickte. „Gern. Trinkst du einen Kaffee mit mir? Dann erkläre ich es dir.”

Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. Ich könnte nach Hause gehen. Aber wieder zog es mich nicht dorthin, sondern in Millys Welt. Ich biss kurz auf meine Unterlippe und gab dann dem Gefühl nach. Auch, wenn ich wusste, dass ich es vielleicht nicht tun sollte. „Könnten wir auch ein Bier draus machen?”

Er lächelte wieder, diesmal zeigte er dabei eine Reihe relativ weißer, nicht ganz gerader Zähne, und nickte noch einmal. „Klar.”


„Bist du Toms Bruder? Oder ist Millys Mutter deine Schwester?” Wir verließen den Kiosk, in dem wir unser Bier gekauft hatten, und traten auf die Straße zwischen die anderen Menschen, die entweder auf dem Heimweg waren oder in eine der Bars gingen, die sich auf beiden Straßenseiten aneinanderreihten.

„Nein, Tom ist nicht mein Bruder.”

„Ah.” Ich hätte gern gefragt, wo Millys Mutter war. Ich hatte sie noch nicht gesehen. Das war zwar nicht ungewöhnlich, schließlich war es möglich, dass sie nachmittags lange arbeitete. Aber ich hatte weder Damenschuhe noch -jacken, noch irgendeinen anderen Hinweis auf einen weiteren, einen erwachsenen, weiblichen Mitbewohner bemerkt.

Lias beantwortete meine Frage ein weiteres Mal, ohne dass ich sie stellen musste: „Millys Mutter war meine Schwester. Sie … sie hieß Rina und ist vor einem Jahr gestorben.”

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Unbewusst griff ich nach Lias’ Arm und drückte ihn. „Das tut mir sehr leid.“ Ich schwieg für einen Moment und fragte dann leise: „Was ist passiert?” Dann besann ich mich, schüttelte den Kopf und warf hinterher: „Entschuldige, du musst es mir natürlich nicht erzählen.“

„Nein, das ist schon okay.“ Wir standen an einer roten Ampel und er sah mir direkt in die Augen, aber als er weitersprach, senkte er den Blick. „Rina war immer stark. Sie war nie krank und wenn, dann erholte sie sich in wenigen Tagen wieder. Sie war wahnsinnig sportlich, hat auf ihre Ernährung geachtet und … und dann wurde sie zum zweiten Mal schwanger und verlor das Baby. Bei der Nachuntersuchung wurde festgestellt, dass sie Tumore in ihrer Brust hatte und ein paar Tage später fanden sie Metastasen im Rest ihres Körpers. Die Ärzte rieten ihr davon ab, eine Therapie zu versuchen.” Für einen Moment wunderte ich mich, dass er mit mir, einem fremden Menschen, so offen darüber sprach. Aber er ratterte den Text fast emotionslos herunter, so als hätte er diese Informationen schon oft mit anderen Menschen teilen müssen und als würde er es noch immer nicht langsamer können, weil jedes einzelne Wort zu schmerzhaft war, um es achtsam auszusprechen. Er schluckte. „Sie starb fünf Wochen später.”

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber jedes Wort, das meine Zunge erreichte, fühlte sich falsch, zu unbedeutend an und ich schluckte es wieder hinunter. Ich dachte an Milly. Sie hatte ihre Mutter in einem Alter verloren, in dem ein Mädchen sie am meisten brauchte.

Lias hob den Blick wieder. „Milly hat fast alles aufgegeben, nachdem Rina starb. Sie trifft sich nicht mehr mit Freunden, macht keinen Sport mehr und wenn wir telefonieren, ist sie fast immer zuhause. Eine Zeit lang hat sie versucht, Tom …” Er runzelte die Stirn. „Das ist der Geist, der gestern durch den …”

Ich nickte zur Bestätigung und dann in Richtung Ampel, die inzwischen auf Grün geschaltet hatte. Wir überquerten die Straße und schlugen den Weg zum Fluss ein.

„Sie hat versucht, ihn aus seiner Lethargie zu holen. Erst mit jeder Menge Aufmerksamkeiten. Sie hat gekocht, ihn zu Spaziergängen geschleppt und ständig die Wohnung geputzt und seine Lieblingsmusik aufgelegt. Und als all das nichts brachte, hat sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen. Sie hat schlechte Noten mit nach Hause gebracht, wurde beim Klauen erwischt und einmal hat sie sich sogar geprügelt. Aber er nimmt nichts davon wahr und Milly spielt nach außen hin die Starke.”

Ich dachte an den Mann mit den Bartstoppeln und den ausgebeulten Jeans. Es war offensichtlich, dass er in einer eigenen Welt lebte. In einer Welt, in der es keinen Platz für die Verantwortung für ein Kind gab.

„In den letzten Monaten hat sie es aufgegeben.”

„Wohnst du auch dort?”

Er zögerte und schüttelte den Kopf. „Ich konnte die Wohnung nicht mehr betreten und bin sofort nach ihrem Tod zurück nach London geflüchtet. Ich habe die zwei einfach allein gelassen.”

Ich nickte und verstand.

„Aber das will ich nicht länger. Seit ein paar Tagen schlafe ich auf der Couch. Milly tut es gut, glaube ich. Ob Tom es schon mitbekommen hat, kann ich dir nicht sagen.” Er lächelte schief, aber seine Mundwinkel senkten sich sofort wieder. „Als Milly gestern nach Hause kam, war sie wie ausgewechselt. Die Mutlosigkeit war aus ihren Augen verschwunden. Sie war wütend, ja, aber auch lebendig. So habe ich sie lange nicht mehr erlebt. Und seitdem du die Wohnung verlassen hattest, hat sie nur noch von dir gesprochen.”

Ich setzte meine Bierflasche an den Mund, hielt dann aber inne und sah ihn erstaunt an. „Warum?”

Er schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf und sagte dann: „Du hast etwas in ihr geweckt.”

Ich bewegte die Flasche noch immer nicht und Lias richtete seinen Blick lächelnd darauf. Ich bemerkte meine erstarrte Haltung und ließ den Arm wieder sinken, ohne einen Schluck getrunken zu haben.

„Ich glaube einfach … und ich weiß, dass es viel verlangt ist, aber … Der Kontakt zu dir würde ihr guttun.”

„Sie kennt mich doch gerade mal seit einem Tag.”

„Ja, aber seither konnte ich das Funkeln der alten Milly wieder in ihren Augen sehen.”

Ich atmete tief durch und überlegte, was ich in ihr ausgelöst haben könnte. Ich hatte keine Ahnung. Oder vielleicht doch, denn sie hatte auch etwas in mir ausgelöst.

„Es war nur ein Gedanke. Du hast sicher viel zu tun. Es geht mir auch nur um dieses Abendessen.” Er zögerte und dann sackten seine Schultern nach unten. „Ich habe einfach keine Ahnung, was ich hier eigentlich mache. Ich würde ihr so gern helfen, aber ich bin vollkommen ratlos und verunsichert. Ich könnte einfach ein bisschen Starthilfe gebrauchen.“

Sein ausweichender Blick sagte mir, dass das nicht alles war. Aber abgesehen davon, spürte ich seine Hilflosigkeit.

„Du hast geglaubt, es würde reichen, wenn du einfach für sie da wärst und sie unterstützt.“

„Ja, ich hatte es ihr gesamtes Leben lang geschafft, sie zum Lachen zu bringen. Und vielleicht dachte ich auch, dass es meine Schuld ist, dass es bei den beiden nicht besser läuft. Weil ich sie allein gelassen hatte. Und dass ich nur meine Füße in ihre Wohnung setzen müsste, um ihre Welt wieder in Ordnung zu bringen. Aber natürlich ist das Unsinn.“

Ich überlegte und suchte nach Gründen, ihm seine Bitte abzuschlagen, aber ich fand keine und er sprach weiter: „Aber dann bist du aufgetaucht und plötzlich war da dieses Strahlen in ihren Augen. Verstehst du, warum ich dich fragen musste?“

Ich nickte und sagte schließlich: „Okay.”

Seine Augen schnellten wieder zu mir. „Wirklich?”

„Ja.” Wie könnte ich bei so einer Geschichte ‚Nein‘ sagen, dachte ich, aber ich sagte es nicht. Und dann fragte ich mich, wie ich bei dieser Geschichte hatte ‚Ja’ sagen können. Aber ich hatte es getan.

„Wow. Danke! Wann kannst du? Morgen?”

Ich lächelte über seine Begeisterung und sah zum ersten Mal ein Leuchten in seinen Augen. Erhielt zum ersten Mal einen Blick auf den Mann, der er wahrscheinlich bis vor einem Jahr gewesen war. 

Als ich zuhause eintraf, erzählte ich Sofi von der Begegnung mit Lias und dem Nachmittag mit Milly, aber sie hatte an diesem Abend keine Lust zu reden, und ich ging mit einem Gefühl ins Bett, das ich lange nicht verspürt hatte. Ich freute mich auf den nächsten Tag. Zumindest tat dies ein Teil von mir.

Vier

Zum dritten Mal stieg ich innerhalb von drei Tagen die sechs Stufen zu Millys Hauseingang hinauf. Sie öffnete mir sofort und als ich die Wohnungstür erreichte, stand sie bereits im Flur und umarmte mich, als wäre ich eine alte Freundin, die sie monatelang nicht gesehen hatte. Ich erwiderte die Umarmung unsicher und etwas steif.

„Komm rein. Es ist so schön, dass du da bist.” Sie zog mich in den Flur, nahm mir die Tasche und die Weinflasche ab, die ich mitgebracht hatte, und schob mich ins Wohnzimmer. Dort stand Tom am Fenster. Als ich den Raum betrat, drehte er sich zu mir. Er hatte sich rasiert. Ich vermutete, dass er es auf Millys Wunsch hingetan hatte. Vermutlich aus demselben Grund trug er eine gut sitzende Hose und ein hellblaues frisches Polo-Shirt. Die Haare waren noch immer zu lang, aber er hatte sie gewaschen und sie fielen ihm glatt auf die Schultern. Nur der Blick in seinen Augen hatte sich nicht verändert. Es war eindeutig, dass er weder seine Verwandlung noch Teil dieser Dinnergesellschaft sein wollte. Er nickte mir zu und ich erwiderte die Geste.

„Ella, schön, dass du da bist.” Lias tauchte neben mir im Türrahmen auf. Er reichte mir die Hand.

Ich ergriff sie. „Vielen Dank für die Einladung. Was gibt es denn? Es riecht wunderbar.”

„Milly hat darauf bestanden, eine Paella zuzubereiten.”

„Jaha, und die kann ich wirklich gut kochen.” Das Mädchen gesellte sich zu uns und reichte mir ein Glas Weißwein. Ich ergriff es, froh darüber, meine Anspannung etwas in Alkohol ertränken zu können.

„Danke. Es riecht auf jeden Fall toll.” Ich wiederholte mich, weil ich eigentlich keine Ahnung hatte, was ich hier tat. Warum hatte ich diesem Essen zugestimmt?

„Lias, hilfst du mir mal in der Küche?” Milly zog ihren Onkel am Ärmel und er folgte ihr in den Flur.

Ich blieb etwas verloren im Türrahmen stehen und sah wieder zu Tom. Er starrte noch immer aus dem Fenster. Ich schaute mich um, entdeckte eine gemütliche Fernsehecke mit einem großen Stapel Zeitschriften auf dem Couchtisch, gut gefüllte Bücherregale und eine Wand, an der dutzende Fotos hingen und vor der ein großer Lesesessel neben einer alten Bogenlampe stand. Ich ging auf die Bücher zu und las die Buchrücken, mehr, um mir die Zeit zu vertreiben, als aus wirklichem Interesse. Doch dann erregte ein Regalfach meine Aufmerksamkeit. Die Bücher stammten alle vom selben Autor: Tom Meyer.

Ich drehte mich zu Millys Vater, der seine Position nicht verändert zu haben schien. „Sind das Ihre?”

Er reagierte nicht und ich fragte mich, ob ich meine Frage zu leise gestellt hatte. Also setzte ich an, um sie zu wiederholen, aber er unterbrach mich: „Ja, das sind meine.”

„Sie sind Schriftsteller?”, fragte ich überflüssigerweise und fühlte mich unwohl und fehl am Platz. Ich hätte nicht kommen sollen. Es war seine Wohnung und vielleicht wollte er mich hier gar nicht.

Er nickte, noch immer das Gesicht zum Fenster gewandt.

„Und Journalist.” Milly betrat gefolgt von Lias das Wohnzimmer und stellte eine Pfanne so groß wie der Reifen eines Kinderfahrrads auf den Tisch zwischen die Teller. „Kommt, lasst uns essen.”


Die Paella war wirklich lecker. Ich hatte einige Zeit in Spanien verbracht und es gab nicht viele Restaurants, die mit Milly mithalten konnten. Eigentlich schafften es nur eine ältere Frau, die mich einmal in ihre kleine Wohnung zum Essen eingeladen hatte, nachdem ich ihr die Einkäufe nach Hause trug, und ein Pärchen, das ich auf einer Party kennengelernt hatte. Die beiden Männer führten ein kleines Restaurant in der Nähe vom Strand in La Pared.

„Und was machst du, Ella?” Milly verschränkte die Beine zum Schneidersitz und nahm einen Schluck von ihrer Cola. Über Koffein brauchte ich mir offenbar keine Gedanken zu machen.

„Ähm, was ich mache? Was meinst du?“

Sie grinste schief. „Na, beruflich.“

„Ich arbeite im Chapleene.”

Sie runzelte die Stirn und sah mich an. „Ist das alles?”

„Milena.” Lias warf ihr einen strafenden Blick zu. Tom sagte nichts. Die kleine Portion, die Milly ihm aufgetan hatte, lag noch immer nahezu unberührt auf seinem Teller.

„Nein, das ist schon okay.” Ich sah zu Milly, die meinem Blick standhielt, mir aufmerksam zuhörte. „Ich war in den letzten Jahren nicht hier und sehe mich noch nach einem anderen Job um.” Und nach irgendetwas anderem, das meinem Leben Sinn gab.

„Wo warst du denn?”

„Ähm, überall eigentlich.”

Sie hob eine Augenbraue und dann grinste sie. „Also warst du auch in Sibirien.”

Ich nickte und ihre Augen wurden größer. Sie reflektierten das Licht der Kerze und ihr Blau wirkte, als würde die Sonne darin versinken. Draußen hatte sie es inzwischen getan.

„Aber warum? Da ist es doch total trostlos.”

Ich schüttelte kauend den Kopf.

„Nicht? Was gibt es denn da zu sehen?” Lias mischte sich in unser Gespräch. Tom schwieg.

„Wildpferde zum Beispiel.” Ich zögerte. „Allerdings habe ich sie nicht in der Wildnis gesehen. Sie lebten auf einer Farm. Das war in einem Vorgebirge des Altai.”

„Wow.” Millys Mund stand offen. Sie schloss ihn, um weiterzusprechen: „Und wo warst du noch?”

„Ich habe eine Liste und eine riesige Landkarte, auf der alle Orte markiert sind. Wenn du möchtest, zeige ich sie dir.” Warum hatte ich das gesagt? Ich wollte ihr die Karte nicht zeigen. Außerdem lag sie zusammengerollt zwischen den Kisten in meinem Schlafzimmer.

„Ja, das wäre toll.” Milly nickte aufgeregt und lächelte und Lias sagte: „Ich will sie auch sehen.”

„Papa, findest du das nicht auch spannend?” Milly griff über den Tisch und rüttelte Tom am Arm.

Er schien aus einem Traum zu erwachen, sah jeden einzelnen von uns für ein paar Sekunden an und nickte. „Ja, ja sicher.” Er war unserem Gespräch nicht gefolgt und Millys Lächeln erlosch.

„Hast du auch einen Blog?” Lias stellte seine Worte gegen die aufkeimende Stimmung.

Ich wandte den Blick von Millys enttäuschtem Gesichtsausdruck ab und sah zu ihm. „Ja, den habe ich.”

Das Mädchen fand ihre Neugier wieder und fragte: „Wirklich? Oh, wie spannend. Wie heißt er?”

Ich nannte ihr den Namen und sie zog ihr Handy hervor, um danach zu suchen. Als sie die Website gefunden hatte, scrollte sie durch die Beiträge und hin und wieder entfuhr ihr ein „Oh” oder ein „Wow”. Wir beobachteten sie still, bis Lias sagte: „Du bist ganz schön rumgekommen.”

Ich nickte und wartete auf das Gespräch, das nun folgen würde. Die Fragen, was mir am besten gefallen hätte. Ob ich nicht Sehnsucht nach meiner Familie gehabt hätte. Was mich dazu getrieben hätte und wie ich die Reisen finanzierte. Aber er stellte sie nicht. Keiner der drei fragte danach. Milly war zu vertieft in die Bilder, die ich in den vergangenen acht Jahren mit den Menschen geteilt hatte, die meinen Blog kannten oder durch Zufall darauf stießen. Tom starrte teilnahmslos aus dem Fenster und wahrscheinlich hätte er auf Nachfrage nicht einmal das Thema unseres Gespräches wiedergeben können. Und Lias musterte mich mit gerunzelter Stirn von der Seite.

Ich ertrug seinen Blick nicht, fühlte mich unwohl in diesem Schweigen, für das jeder seinen eigenen Grund hatte und durchbrach es: „Gibt es denn auch ein Dessert?”

Milly starrte noch immer auf ihr Handy und ihr Mund hatte sich wieder ein Stück weit geöffnet. Sie reagierte nicht auf meine Frage. Lias räusperte sich und hielt die Hand vor das Display, woraufhin sie verwirrt aufblickte. „Was ist?”

„Ella hat dich etwas gefragt.”

Genau genommen hatte ich nicht sie gefragt. Lias hätte mir diese Frage auch selbst beantworten können.

„Oh, entschuldigt. Dein Blog ist der Wahnsinn! Kannst du mir bitte alles erzählen? Hast du wirklich in einem Reservat gewohnt? Und sind die Nordlichter wirklich so schön? Und hattest du Angst, als du in diesem Haikäfig warst?”

„Ähm, wow. Ja, aber nur für eine Nacht. Ja, aber ich musste drei Reisen unternehmen, um sie zu sehen. Und ja, auf jeden Fall, ja.”

Sie ordnete die Antworten den Fragen zu und grinste. Und dann schüttelte sie den Kopf. „Und was hast du mich gefragt?”

„Ich wollte nur wissen, ob es ein Dessert gibt.” Ich sah auf die Uhr. Es war erst halb neun und trotzdem sagte ich: „Aber ich sollte jetzt langsam gehen. Ihr wisst schon, Frühschicht.”

„Ach nein. Bleib noch ein bisschen. Bitte. Warum machst du eigentlich die Frühschicht?”

„Sie war frei. Außerdem mag ich es, den Tag früh zu beginnen und den Nachmittag damit zu verbringen, kleinen Mädchen hinterherzurennen.” Ich grinste und sie tat es mir gleich.

„Also gut.”

Lias und Milly erhoben sich mit mir. Ich wollte das Geschirr zusammenräumen, aber beide unterbanden mein Vorhaben und brachten mich in die Diele. Ich verabschiedete mich von Tom. Er drehte verwirrt den Kopf in meine Richtung, nickte und stand dann ebenfalls auf, um das Zimmer zu verlassen.

„Wann kann ich denn deine Landkarte sehen?” Milly reichte mir meine Handtasche.

„Ähm, ich weiß nicht. Ich habe sie noch gar nicht aufgehängt.”

„Oh, das ist ja perfekt. Kannst du sie nicht mitbringen und wir können sie uns gemeinsam ansehen? Papa fände das bestimmt toll. Seine Bücher spielen in den verschiedensten Ländern und er war früher selbst ganz viel auf Reisen, um sich die Orte anzusehen, über die er schreiben wollte.”

„Milly, ich bin sicher, Ella hat keine große Lust, so eine riesige Karte durch die Straßen zu schleppen. Du meintest doch, dass sie riesig wäre, oder Ella?” Er sah zu mir und ich nickte. „Ähm, ja. So zwei Meter lang, würde ich sagen.“

„Na, dann helfen wir ihr.”

Er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. „Das lass mal Ella entscheiden.”

Ich folgte dem Gespräch schweigend, nicht sicher, ob ich etwas beitragen sollte. Ich entschied mich dagegen. „Ich muss jetzt los, ihr zwei.”

„Entschuldige, wir wollten dich nicht aufhalten.” Lias reichte mir die Hand, zog mich ein Stück zu sich und küsste mich auf die Wange.

Bevor ich die zarte Berührung richtig wahrgenommen hatte, sagte Milly: „Na gut. Ich hör ja schon auf.” Sie trat einen Schritt auf mich zu, schob Lias zur Seite und umarmte mich wieder. Nun fiel es mir leichter, die Umarmung zu erwidern, auch wenn sich dieser eine Teil in mir noch immer dagegen wehrte, einen anderen Menschen so nah an mich heranzulassen. Die körperliche Nähe machte mir nicht so viel Angst als das, was sich nach den wenigen Tagen, in denen ich das Mädchen kannte, in meinem Inneren aufbaute. Ich begann, sie in mein Herz zu schließen. Vielleicht, wahrscheinlich hatte ich es sogar schon getan.

Fünf

In den folgenden acht Tagen hörte ich nichts von Milly oder Lias. Vielleicht war ihnen klar geworden, dass ich nicht in ihr Leben gehörte. Sicher hatte Lias gemerkt, dass ich ihm keine große Hilfe sein konnte und dass Milly vor allem ihre Familie brauchte. Was hätte ich auch tun können? Wie konnte gerade ich ihr die Schuldgefühle nehmen? Wie sollte ich jemandem dabei helfen, über den Verlust eines geliebten Menschen hinwegzukommen? In den vergangenen acht Jahren hatte ich das selbst nicht geschafft. Ich war geflüchtet und hatte den Schmerz mit Abenteuern zwischen wilden Tieren und nicht ganz so wilden Männern zu übertönen versucht. Es hatte nicht funktioniert.

Ich hätte also dankbar dafür sein sollen, dass ich nichts von Lias und Milly hörte. Und trotzdem kontrollierte ich mein Handy im Fünf-Minuten-Takt und hoffte, dass einer von ihnen sich melden würde. Hoffen war vielleicht das falsche Wort. Aber ich war enttäuscht, dass weder ein Nachrichtensymbol noch ein kleiner Telefonhörer ihre Kontaktversuche anzeigten. Ich schob das Gefühl zu all den anderen. Hinter die große rote Mauer, die man möglicherweise öffnen konnte, wenn man mit einem Zauberstab oder einem pinkfarbenen Regenschirm gegen einzelne Backsteine klopfte. Aber ich hatte keine Phönixfedern, die ich in ein Stück Holz einarbeiten konnte. Und Pink war nicht meine Farbe.

Ich wischte über den Tresen und sah auf die Uhr. In dreißig Minuten war meine Schicht zu Ende. Und wieder, wie so oft seit dem Abendessen, hallte Millys Frage in meinem Kopf nach. „Ist das alles?“ Ich fuhr mit dem Lappen über ein paar Wassertropfen und ließ den Blick durch das Café schweifen. Es waren nur wenige Tische besetzt. Normalerweise füllte es sich bei Regen um diese Zeit. Aber heute traten nur vereinzelt Leute durch den schweren Vorhang.

War das alles? Nein, das war nicht alles. Das war ganz und gar nicht alles. Aber den Plan, mit dem ich aufgewachsen war, hatte das Leben mit ein paar großen schwarzen Strichen durchkreuzt. Und so weitermachen wie in den vergangenen acht Jahren konnte ich auch nicht, wenn ich mehr Zeit mit meiner Familie verbringen wollte. Und das wollte ich. Zumindest wollte ich in ihrer Nähe sein. An ihrem Leben teilnehmen und irgendwie versuchen, wiedergutzumachen, dass wir uns in den vergangenen acht Jahren nur dann gesehen hatten, wenn sie sich ins Flugzeug gesetzt hatten, um mich für ein paar Wochen zu besuchen und so zu tun, als wäre es normal, dass es nicht anders war.

Ich spülte den Lappen aus und hängte ihn über den Wasserhahn. Dann lehnte ich mich gegen die Schränke hinter mir und zog mein Telefon aus der Tasche. Mein Herz hüpfte ein Stück nach oben, als ich das Nachrichtensymbol erblickte. Ich öffnete das Programm und das Lächeln, das sich in meine Mundwinkel verirrt hatte, verschwand.

Mama: ‚Hallo Schatz, kommst du uns dieses Wochenende besuchen?‘

Ich seufzte. War tatsächlich schon wieder Freitag? Einerseits vergingen die Tage, besonders die Nachmittage, in einem Tempo, in dem sich sehr alte Schnecken mit sehr großen Gehäusen und bei langanhaltender Trockenheit fortbewegen. Und andererseits schien die Zeit selbst zu fliegen. Ich war zwar dankbar für die Möglichkeit, das Wochenende in Gesellschaft verbringen zu können. Aber es fiel mir noch immer schwer, das Haus meiner Eltern zu betreten.

Ich tippte: ‚Okay, ich fahre nach der Arbeit los.‘

Ein Gast hob den Finger und bedeutete mir, dass er zahlen wollte. Ich schob das Telefon zurück in die Hosentasche, druckte die Rechnung aus und ging zu seinem Tisch. Als der Mann das Café wenige Minuten später gemeinsam mit seiner Frau verließ, trat durch die geöffnete Tür eine Gruppe von etwa zwanzig Personen ein. Die Hälfte von ihnen trug einen Kameragurt um den Hals, die Kameras selbst wurden von atmungsaktiven Regenjacken geschützt und auf ihren Rücken hingen Wanderrucksäcke in verschiedenen Farben. Sie sprachen laut und in einem spanischen Dialekt, den ich nur teilweise verstand. Sie schüttelten die Tropfen aus ihren Regenschirmen, verteilten sie über den Holzfußboden, und sahen sich neugierig um, während sie die Kapuzen von den Köpfen zogen. Und sie tauschten sich mit lauten Stimmen darüber aus, wie gemütlich es doch bei uns wäre und welche Plätze sie bevorzugen würden.

Einer von ihnen, ein groß gewachsener Mann mit einem Bauch und einer zurückgewichenen Kopfbehaarung, die mich an Wills Onkel aus Bel Air erinnerten, trat zu mir an den kleinen Tisch, von dem ich soeben die benutzten Kaffeetassen abräumte und fragte auf Englisch, ob sie die Tische am Fenster zusammenstellen könnten. Ich bejahte auf Spanisch und bot an zu helfen. Aber er winkte ab und bestellte zwanzig Cappuccini. Drei davon koffeinfrei, zwei mit einem doppelten Espresso, fünf mit laktosefreier, zwei mit Soja-Milch. Von der Gruppe rief eine Frau zu uns herüber, dass sie lieber einen Milchkaffee trinken wolle und ein Mann erklärte, er hätte gern einen ganz normalen Kaffee. Ich fragte den Reiseführer, zumindest hielt ich den Mann vor mir dafür, ob diese beiden Sonderwünsche einen normalen Cappuccino ersetzen würden und versuchte ihm zu verdeutlichen, dass es eine Weile dauern würde, bis diese Menge an Getränken zubereitet wäre. Er nickte nur, lachte und bestellte eine Flasche Wodka und zwanzig Stück Kuchen sowie Kekse und Croissants, um die Wartezeit zu verkürzen.


Anderthalb Stunden später trat ich durch die Tür des Cafés in den Regen. Wie auch in den letzten beiden Tagen sah ich mich um. Keine Milly. Ich zog die Kapuze meines Parkas über, trank einen Schluck von meinem Milchkaffee und lächelte. Inzwischen fand ich den Gedanken selbst witzig, mit kaffeegetränkten Klamotten durch die Stadt zu rennen. Ob ich mich bei Milly melden sollte? Ich zog das Handy aus der Tasche. Drei verpasste Anrufe und vier Textnachrichten begrüßten mich und verdrängten den Gedanken an das Mädchen und seine Familie.


14:15 Uhr Mama: ‚Super. Wann kommst du an? Wir holen dich mit dem Auto von der S-Bahn ab. Und Papa fährt dich am Sonntag nach Hause. Dann kannst du gleich noch die eine Kiste mitnehmen. Die, die du das letzte Mal vergessen hast.‘

14:29 Uhr Mama: ‚Fährst du sofort los oder musst du nochmal nach Hause?‘

14:53 Uhr Mama: ‚Müsstest du nicht schon Schluss haben? Ist alles okay?‘

15:19 Uhr Mama: ‚Ich habe jetzt dreimal versucht, dich anzurufen, und langsam mache ich mir Sorgen. Bitte melde dich.‘


Als ich einen der verpassten Anrufe beantworten wollte, klingelte mein Telefon erneut.

„Hallo Mama! Es tut mir leid, aber ich habe gerade fünf Liter Milch zu Schaum verarbeitet. Zwischenzeitlich hatten wir keine Tetra-Packs mehr und ich musste eine Kuh melken, damit der letzte koffeinfreie Cappucino nicht schwarz blieb.“

Meine Mutter lachte nicht. „Du weißt genau, wie schnell ich mir Sorgen mache.“

Ich schluckte. „Entschuldige, Mama. Ich hatte wirklich keine freie Sekunde und habe gerade erst gesehen, dass du überhaupt angerufen hast. Meine Kollegin kam zu spät und das Café war bis auf den letzten Platz besetzt.“

Ich hörte, wie sie durchatmete. „Schon gut. Fährst du jetzt sofort los?“

„Nein, ich will mich noch umziehen. Ich ...“

„Gut, dann holen wir dich ab.“

Ich hörte eine Autotür zuschlagen. „Mama, das ist nicht nötig.“

„Ich weiß, aber als du nicht ans Telefon gegangen bist ... Na ja, wir sind schon vor deiner Tür.“

„Ihr seid was?“

„Papa bringt gerade die Kiste nach oben. Wann bist du hier?“

Die Kiste. Die Kiste, die ich ganz bewusst nicht mitgenommen hatte. „Mama, das sind nicht meine Sachen.“

„Doch, auch.“

Ich seufzte. Ich würde die Kiste einfach zu den anderen stellen.

„Ich bin in fünfzehn Minuten da.“


Es war schön, meine Eltern zu sehen. Doch sobald wir das Haus erreicht hatten, in dem ich aufgewachsen war, verschwand die Wärme, die mich erfüllt hatte, als ich den alten blauen Kombi meines Vaters vor meinem Haus erkannte. Mein Herz zog sich zusammen, mein Gehirn schaffte es nicht, den Fragen meiner Mutter ausführliche Antworten entgegenzusetzen, und mein Instinkt forderte mich dazu auf, das Haus zu verlassen und in die nächste Bahn zu springen. Ich schaffte es einen Abend lang, meine Gefühle vor meinen Eltern zu verbergen. Zumindest glaubte ich das. Ich erzählte von der spanischen Touristengruppe und meine Mutter sprach nicht über Sofi. Stattdessen redete sie von Tante Alexa, die im nächsten Sommer das vierte Mal heiraten würde. Es würde die dritte Hochzeit sein, an der ich nicht teilnahm. Dennoch nahm ich die Einladung, die meine Mutter mir zuschob und verstaute sie in meiner Tasche.

Wir spielten Skat, hörten dazu einen bunten Achtziger-Jahre-Mix und aßen Pizza. Früher hatte meine Mutter immer dann Pizza zum Abendessen gemacht, wenn ich nach einer harten Trainingsphase eine Pause einlegte. Sie fertigte den Teig selbst an und wir belegten ihn gemeinsam. Ich tat ihr auch an diesem Abend den Gefallen und positionierte Salami- und Schinkenscheiben unter Pilzen, Käse und Peperoni. Ich mochte es klassisch. Der Wein schaffte es mal wieder, die Anspannung zu einem Grad zu lösen, der mich auf der Couch hielt.

Aber als der Alkohol in der schlaflosen Nacht aus meinen Blutbahnen schwand, kam der Drang, das Haus zu verlassen. Ich verschwand am folgenden Morgen nach dem Frühstück. Meine Mutter versuchte nicht, mich davon abzuhalten, aber ihr Blick drückte den Schmerz aus, der seit acht Jahren in ihr tobte und der nicht weniger zu werden schien.

Ich umarmte erst sie und dann meinen Vater, schlug sein Angebot, mich nach Hause zu fahren, aus und verließ das Haus. Die Wolken hatten sich über Nacht ausgeregnet und die Luft roch frisch. Der Wald, der an das Grundstück meiner Eltern grenzte, duftete nach Tannennadeln und Erde. Ich sog alles in meine Lungen, schloss die Augen und ließ die kühle, feuchte Luft meine Haut benetzen. 

Ein Auto fuhr die Straße entlang und stoppte beim Nachbarhaus. Die Tür wurde geöffnet und die Stimme eines kleinen Mädchens schallte durch die Straße, in der zuvor einzig das ferne Summen eines Staubsaugers zu hören gewesen war. Ich atmete noch einmal tief ein und öffnete dann die Augen. Was sollte ich jetzt tun? Zurück nach Hause fahren? Was erwartete mich dort, abgesehen von vollen Kisten und Sofi, die mir meine eigenen Fragen stellte?

Ich könnte mit der Bahn im Kreis fahren, bis mir etwas anderes einfiel. Ich könnte in diesen kleinen Buchladen gehen, der um die Ecke vom Café lag. Auch wenn ich keines der Bücher kaufen würde, könnte ich doch etwas stöbern und die Zeit würde vergehen.

Ich blickte auf mein Handy. Keine Nachrichten. Keine Anrufe. Warum meldete sich Milly nicht? Nach dem Abendessen hatte ich fest damit gerechnet, sie von da an täglich zu sehen. Ich war mir sicher gewesen, dass ich spätestens am nächsten Morgen eine Nachricht von ihr auf meinem Telefon finden würde, in der sie mich bat, die Landkarte vorbeizubringen oder mich zu einem Frühstück mit selbst gebackenen Brötchen einlud oder in der sie sich ein weiteres Mal dafür entschuldigte, mich angerempelt zu haben. Ob es ihr gutging? War sie vielleicht krank? Sollte ich mich bei ihr melden und nachfragen? Sollte ich ihr ein Foto der Landkarte schicken? Wollte ich das?

Ich entschied mich, es nicht zu tun. Wahrscheinlich hatte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit erregt. Mädchen, und auch Jungs, in diesem Alter waren sprunghaft, oder? Und trotzdem enttäuschte es mich. Die wenigen Tage, die ich in ihrer Welt verbringen durfte, hatten meine eigene belebt, hatten sie mit Energie gefüllt. Es war etwas in meinem Leben geschehen, das nichts mit mir zu tun hatte, abgesehen von den kaffeegetränkten Klamotten vielleicht. Für kurze Zeit war ich nur ein Nebendarsteller gewesen. Ein Zuschauer. Ich war weder Opfer noch Täterin und meine Gedanken hatten sich für einen Moment nicht um mich drehen müssen. Ich öffnete meine Textnachrichten-App und tippte: ‚Hey Milly! Wie geht’s euch? Was macht ...‘ Aber dann löschte ich den Text wieder. Ich wollte mich nicht aufdrängen. Es gab sicher einen Grund, warum sie sich nicht meldete. Und ich würde ihn respektieren, selbst wenn ich ihn nicht kannte.


Ich verzichtete darauf, den Bus zu nehmen. Der Fußmarsch würde mir guttun und es würde etwas Zeit vergehen. Ich steckte Kopfhörer in meine Ohren, drehte die Musik einen Strich unter die maximale Lautstärke, damit ich zwar die Außenwelt ausblenden konnte, der Ton aber nicht verzerrte, und ging los. Ich schloss die Augen, wann immer ich etwas sah, das mich an meine Kindheit erinnerte, und konzentrierte mich auf all die neuen Häuser, die neu angelegten Radwege und die Menschen, deren Gesichter ich nicht kannte.

Und dann stieg ich in die Bahn, zog das Buch hervor, das ich nicht zu Ende lesen konnte, und ließ mich gemeinsam mit den anderen Fahrgästen durchrütteln. Ich hatte die Geschichte unzählige Male bis zu dem Eselsohr gelesen, das Sofi in die obere rechte Ecke auf Seite 271 geknickt hatte. Es fehlten noch 56 Seiten bis zu dieser Stelle und ich las die Worte, ohne ihre Bedeutung wirklich zu erfassen. Meine eigenen Gedanken überschatteten die Bilder, die die Zeilen im Sinne des Autors in meinem Kopf hinterlassen sollten, und sie waren so laut, dass auch meine Umwelt an mir vorbeizog, ohne dass ich sie wahrnahm. Ich verpasste die Gelegenheit, in die Bahn umzusteigen, die in einem unendlichen Kreis den Stadtkern umrundete, und fuhr an der Station vorbei, die meiner Wohnung am nächsten lag. Ich bemerkte es, als die Türen sich schlossen, sprang auf, um noch hindurchzuschlüpfen, aber ein Mann hielt mich am Arm fest. Ich sah zu ihm auf. Er trug die Uniform eines Sicherheitsdienstes und einen ernsten Blick auf dem Gesicht. Ich presste die Lippen aufeinander, zog meinen Arm aus seiner Hand und ging zu einer anderen Tür. Ich würde von der nächsten Station aus nach Hause laufen.


Aber nachdem ich den Bahnhof verlassen hatte, trugen meine Beine mich nicht nach Hause. Sie führten mich in die kleine Seitenstraße zu dem Altbau mit den sechs Stufen vor der grünen Haustür. Ich war noch immer so in Gedanken versunken, dass mir mein Ziel erst bewusst wurde, als ich es erreichte. Ich blieb erschrocken stehen und wandte mich wieder zum Gehen. Was tat ich hier? In einem Film hätte einer der drei vor der Tür gestanden oder wäre mit Einkaufstüten die Straße entlanggelaufen. Rein zufällig. Aber das hier war kein Film und die einzige Person auf dem Gehweg war eine Frau, die leise vor sich hinmurmelte und alle paar Sekunden die Stimme erhob, um ein Schimpfwort zwischen den Fassaden aufhallen zu lassen.

Ich blieb stehen und ließ sie vorbeiziehen. In diesem Moment unterbrach das Signal einer eintreffenden Nachricht die Musik in meinen Ohren. Ich zog das Telefon aus der Tasche und las.

Milly: ‚Nimm’s nicht persönlich. Für sie ist jeder ein fettes Warzenschwein.‘ Dahinter stand ein lachender Smiley. Ich nahm einen Kopfhörer aus dem Ohr und blickte mich um. Die Straße war noch immer leer.

„Hier oben.“ Ein Ruf ertönte aus einem der Fenster über mir. Ich suchte die Fassade mit den Augen ab und entdeckte in der zweiten Etage einen Kopf und lange dunkle Haare, die vom Wind durcheinander geweht wurden. Mist. Ich hob die Hand und winkte. Dieser Ort schien das Winken zu triggern.

„Warte, ich komme runter.“ Millys Kopf verschwand und ich blieb unschlüssig zurück. Ich konnte nicht einfach abhauen. Aber wie sollte ich ihr erklären, warum ich hier war?

Die Haustür sprang auf und Milly raste in rosafarbenen Pyjama-Hosen und einem weißen, langärmligen T-Shirt, auf dem ein grauer Hase abgedruckt war, die Treppe herunter. Sie trug keine Schuhe. Und keine Socken.

„Ella, du bist hier.“ Sie rannte den Fußweg entlang und ich scannte die Steine auf Glasscherben. Als sie mich erreichte, sprang sie mir in die Arme und hätte mich dabei fast umgeworfen. Aber ich hielt der Wucht stand und ließ es zu, dass sie ihre Arme um mich schlang. Auch dieses Mal konnte ich die Umarmung nur steif erwidern, aber zumindest tat ich es und es war wieder ein kleines Bisschen leichter als noch vor einer Woche.

„Was machst du hier?“ Sie löste sich von mir und stellte den linken Fuß auf den rechten. Ihre Arme schlang sie um die Schultern.

„Was machst du hier unten im Schlafanzug?“ Ohne dass ich darüber nachdachte, öffneten meine Finger den Reißverschluss meiner Jacke und ich schob sie mir von den Schultern und legte sie um Millys. Sie strahlte mich dankbar an.

„Na, ich hab dich gesehen, wie du mit Mrs Norris Freundschaft geschlossen hast, und wollte wissen, was du hier machst.“

„Mrs Norris?“ Ich sah mich um und konnte keine Katze entdecken.

„Ach, so nennen wir die fluchende Frau, die gerade an dir vorbeigelaufen ist.“

Ich lachte auf und sagte: „Aha.“

„Wir haben sogar darüber abgestimmt. Papa war für Muffi Schlumpf, aber Mama und ich hatten gerade ein Harry-Potter-Wochenende hinter uns. Er hatte keine Chance.“ Sie grinste. Und dann legte sich ein Schatten auf ihr Gesicht und ihr Blick löste sich von meinem. Er glitt in die Ferne und ich war unschlüssig, ob ich sie aus ihrer traurigen Erinnerung herausholen oder ihr Zeit geben sollte, wieder zu sich zu kommen.

Aus meinen Kopfhörern drang noch immer Musik. Ein kratziger Bass und eine piepsige Frauenstimme. Ich zog den Stecker aus dem Handy und sah dabei auf das Display. Es war schon fast Mittag. Oder erst? Was sollte ich mit dem Rest des Tages anfangen? Ich sah auf Millys Füße. Etwas Straßenstaub hatte sich zwischen den schwarz lackierten Zehen gesammelt. Irgendwann wählte wohl jedes Mädchen diese Farbe. Ich war damals fünfzehn. Sofi, die mir damals alles nachmachte, war zehn. Sie war bei der Farbe, die man nicht als Farbe bezeichnen durfte, geblieben und ich war zu Blau zurückgekehrt.

„Also, was machst du hier?“ Ihre Stimme klang vollkommen normal. Ganz so, als hätte sie die vergangenen Sekunden nicht in einer anderen Welt verbracht.

Ich blickte auf. Sie hatte ihr Strahlen wiedergefunden, aber ihre Augen waren leicht gerötet. Wie oft sie wohl die Tränen hinunterschluckte? Ich ließ die Schultern sinken, die ich hochgezogen hatte, um der Kälte und der Unsicherheit etwas entgegenstellen zu können. „Ich habe keine Ahnung.“

Sie lachte auf. „Du weißt es nicht?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Wo kommst du denn her?“

„Von meinen Eltern. Ich habe meine Station verpasst.“

„Warum?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich habe gelesen.“

„Oh wirklich? Was?“

„Ein Buch.“

„Ein Buch?“

Ich schmunzelte. „Ja, ein Buch. Sowas kennst du doch, oder?“

„Also, hör mal. Mein Papa schreibt schließlich selber welche. Und ich liebe es zu lesen. Ich habe eine ganze Wand voll mit Bücherregalen.“

Das überraschte mich.

„Also, welches ist es?“

Ich holte es aus der Tasche und zeigte es ihr.

„Die Bücherdiebin?“ Sie seufzte. „Das ist aber eine traurige Geschichte.“

„Ja?“ Sie hatte recht, aber ich hatte die Worte bisher nicht so nah an mich herangelassen, um die Traurigkeit selbst zu spüren.

„Ja, natürlich. Wie weit bist du?“ Sie nahm es mir aus der Hand, schlug die Seite auf, die mein Lesezeichen markierte, und entdeckte dann das Eselsohr. Ihr Kopf schnellte nach oben und sie sah mich mit aufgerissenen Augen an. Ganz so, als hätte sie eine Notiz entdeckt, die mich als Entführerin des Lindbergh-Babys enttarnte. „Wer hat das getan?“

Ich schluckte und sagte nichts.

Sie blätterte durch die Seiten und entdeckte Sofis Notizen. „Und wer hat hier reingeschrieben?“

Ich wollte noch einmal schlucken, aber sie sah wieder zu mir auf und ihr Gesichtsausdruck brachte mich stattdessen zum Lachen. Es war kein leises, verhaltenes Lachen. Nein, ich prustete laut los, krümmte mich nach vorne und spürte, wie Tränen, die ich gerade noch hatte herunterschlucken wollen, nun meine Wangen hinunterliefen. Es waren dieselben Tränen und dennoch stand hinter ihnen ein anderes Gefühl. Milly verschränkte die Arme vor der Brust, presste die Lippen zusammen und öffnete sie wieder. „Was ist denn bitte daran so witzig?“

Ich versuchte, mich zu beruhigen, und sagte: „Du ... du siehst ...“ Ein weiterer Lachschub hinderte mich am Weitersprechen.

„Was?“

Ich atmete tief ein und aus. Fünfmal und schließlich hatte ich mich wieder halbwegs unter Kontrolle. Ich schlang einen Arm um ihre Schultern und dirigierte sie zum Hauseingang. „Du hast ausgesehen wie diese alte Bibliothekarin aus der Bücherei in meiner Schule.“ Ich atmete noch einmal tief durch, um den nächsten Lachanfall zu verhindern. „Sie taxierte mich immer mit genau demselben Blick, wenn ich ein Buch einen Tag zu spät zurückgebracht hatte.“ Ich gluckste noch einmal. „Aber auf deinem Gesicht wirkt dieser Blick so fehl am Platz wie ein Ast an einem Auto.“

„Ein Ast an einem Auto? Echt jetzt?“

„Entschuldige, mein Gehirn ist noch etwas matschig von den letzten Minuten. Wahrscheinlich liegt das daran, dass das Lachen meinem Gehirn den Sauerstoff geklaut hat. Müssen nicht Astronauten auch unter verringerter O2-Zufuhr Matheaufgaben lösen und können am Ende nicht mal mehr vier plus vier rechnen?“ Ich grinste noch immer. „Ich habe keine Ahnung, wann ich das letzte Mal so gelacht habe.“ Vermutlich mit Sofi.

„Hast du dich jetzt für den miesen Witz oder für das Auslachen entschuldigt?“

„Für den Witz, meine Liebe.“ Ich zog sie etwas näher an mich. „Das Lachen musst du schon aushalten, wenn du solche Blicke bringst.“

Sie wollte mich von sich schieben, aber ich zog sie fest an mich. Plötzlich war es leicht.

„Also gut, aber dafür kommst du jetzt mit hoch.“

Die gute Laune verschwand mit ihren Worten. Sollte ich das wirklich tun?

„Nun, komm schon. Ich hab dich vermisst.“

„Du hast mich vermisst?“

„Ja, klar. Ich mag dich. Du bist nett. Nicht so wie die meisten anderen Erwachsenen.“

Ich bin nicht erwachsen, dachte ich. „Und warum hast du dich dann nicht gemeldet?“

Sie verzog den Mund.

„Milly?“

„Na ja, also, Lias meinte ...“

„Was meinte Lias?“

„Er dachte, wir ... also vielmehr ich wäre vielleicht zu aufdringlich. Dass du eigentlich gar keine Lust hättest, uns so oft zu sehen.“

„Hm.“ Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Irgendwie stimmte das ja ein bisschen. Zumindest hatte ich das anfangs gedacht.

„Auf jeden Fall hat er gesagt, dass ich mich nicht bei dir melden soll. Er meinte, wenn du uns sehen wollen würdest, dann würdest du schon schreiben oder anrufen oder vorbeikommen.“

Ich schwieg weiter und war unsicher, ob ich dankbar für seine Umsicht sein sollte oder sauer, weil er mich nicht darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass er die Spielregeln änderte.

„Warum hast du dich denn nicht gemeldet? Hatte er recht?“

Wir erreichten die Treppe und sie blieb auf der ersten Stufe stehen. Sie zog sich die Jacke von den Schultern und reichte sie mir.

Ich schüttelte den Kopf. Sehr langsam und kaum merklich.

„Und was war dann der Grund?“

„Ich weiß es nicht.“

„Du weißt ja eine ganze Menge Sachen nicht.“

„Kann schon sein.“

Wir sahen uns schweigend an. Und dann zog ihr rechter Mundwinkel nach oben. Der linke folgte und ich erwiderte das Lächeln.

„Also, was ist? Kommst du mit hoch?“

Ich schloss für einen Moment die Augen und spürte in mich hinein, um zu erfassen, was ich wirklich wollte. Ich hatte Milly auch vermisst und ich war traurig gewesen, weil sie sich nicht gemeldet hatte. Ich mochte sie und ihre Familie und es hatte mir gutgetan, Zeit mit ihnen zu verbringen. Dennoch war ich nicht sicher, ob ich tiefer in ihre Welt eindringen wollte. Ob ich es durfte, das Recht dazu hatte. Mein Kopf schrie ‚Nein‘, aber mein Bauch zog mich die Stufen nach oben. Ich nahm Milly die Jacke aus der Hand und nickte. „Also gut.“

Sechs

Millys Zimmer war genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte. Bis auf eine Sache. Unter einem riesigen Hochbett und zwischen Sofaecke, einem weißen Schreibtisch, Postern von Popstars und Schauspielern, Kuscheltieren und der angekündigten Bücherwand standen auf einem Regal an der Wand Pokale. Ich trat näher, um sie mir anzusehen. Vor allem deshalb, weil sie mir sehr bekannt vorkamen.

„Du hast …“ Ich rechnete Millys Alter auf das Jahr zurück, das auf einem der größeren Pokale stand „Mit zehn den ersten Platz über 800 Meter bei den Landesmeisterschaften erzielt?“

„Das ist lange her.“ Sie schloss das Fenster, das noch immer offen gestanden hatte.

„Drei Jahre. Das ist nicht lange.“

„Für jemanden, der so alt ist wie du, bestimmt nicht.“ Sie schob mich zum Sofa.

„Hey, was soll das denn heißen?“ Ich ließ mich zwischen die Kissen fallen und Milly setzte sich neben mich.

„Wann hast du dich denn eigentlich aufs Laufen spezialisiert?“

„Ähm, na ja, so richtig eigentlich nie. Ich bin immer noch jede Woche zum Hochsprung-Training gegangen. Ich mochte das und war auch immer richtig gut. Aber ich hab jetzt wirklich überhaupt keine Lust, darüber zu reden.“ Sie zog eines der Kissen vor die Brust und sah mich erwartungsvoll an.

„Was ist?“ Ich fühlte mich unwohl unter ihrem Blick.

„Wann kann ich die Landkarte sehen?“


Wir redeten. Ich konnte nur erahnen wie lange, aber als sich irgendwann die Tür öffnete, warf ich einen Blick auf mein Telefon und erschrak. Wir saßen seit über zwei Stunden auf dieser Couch und sprachen über alle möglichen Unwichtigkeiten des Lebens. Meine Reisen. Millys beste Freundin Amelie, die wieder mit Tristan zusammen war, nachdem sie gerade das vierte Mal getrennt gewesen waren. Über unser gemeinsames Abendessen. Das Essen, nicht aber über ihren Vater und sein Verhalten. Über das neue Album von Shawn Mendes und wie sehr man seine Leidenschaft für die Musik spüren konnte, wenn man ihn auf der Bühne sah. Aber wir redeten nicht über ihren Klassenlehrer oder meine Vergangenheit oder über ihre Mutter. Und es tat gut. Mit Milly zusammenzusitzen und die Leichtigkeit des Augenblicks zu erleben, war genau das, was ich brauchte.

„Milly, hast du schon gefrühstückt?“ Tom schob die Tür auf und ließ den Blick erst zum Hochbett und dann durchs Zimmer streifen. Es wirkte nicht, als hätte er sich seit dem Abendessen rasiert. Aber zumindest trug er ein anderes T-Shirt. Es war schwarz. „Oh, hallo.“ Er machte eine Pause und sah an die Decke. „Ähm, entschuldigen Sie, ich habe Ihren Namen vergessen.“

Ich hob beide Augenbrauen. Es war eindeutig gewesen, dass er beim Abendessen nicht ganz anwesend war, aber dass er sich nicht einmal an meinen Namen erinnerte, hätte ich nicht erwartet. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Milly rot wurde. „Aber Papa, das ist doch Ella. Wir haben zusammen gegessen. Weißt du noch?“

Er sah mich mehr als eine halbe Minute lang mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Und dann nickte er. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob er sich wirklich erinnerte.

„Und ich habe schon vor vier Stunden gefrühstückt.“

Bei mir war es sogar schon sechs Stunden her. Wir brauchten dringend etwas zum Mittagessen. Ich musterte Tom und entschied, dass er uns bei diesem Problem nicht würde helfen können.

„Und was ist mit dir? Ich habe den Frühstückstisch für dich gedeckt gelassen. Hast du etwas gegessen?“

Er schüttelte den Kopf, verließ das Zimmer und Milly seufzte. Ich legte ihr eine Hand auf den Rücken, doch sie erhob sich ruckartig. „Ich muss mal aufs Klo.“ Ich auch und ich hatte Durst.

Ich stand ebenfalls auf. „Kann ich mir Wasser aus der Küche holen?“

„Ja, klar. Bedien dich.“ Sie war schon an der Tür. Ich folgte ihr und bog in die Küche ab.

Dort öffnete ich drei Schranktüren, bis ich die Gläser gefunden hatte. Ich ignorierte das schmutzige Geschirr in der Spüle und weil ich keine Wasserflaschen finden konnte, ließ ich das Leitungswasser für fünfzehn Sekunden ablaufen und füllte mein Glas am Wasserhahn. Ich hatte so viel Zeit in Ländern mit gechlortem Leitungswasser verbracht, dass ich diese Möglichkeit noch immer für Luxus hielt. Ich ließ den Blick durch die unordentliche Küche schweifen. Offenbar hatte Lias beim Thema Ordnung noch keine Lösung gefunden. Aber mich störte das Chaos nicht. Ich fühlte mich hier wohler als in der penibel geputzten Wohnung des Typens, bei dem ich für ein paar Wochen in New York, nein New Jersey gewohnt hatte.

Am Kühlschrank hingen die Flyer von einigen Schnellrestaurants. Ich löste die Magnete und studierte das Angebot. Mit den Menüs vorm Gesicht ging ich in Richtung Flur. „Hey Milly, was hältst du davon, wenn wir etwas zum Essen ...“ Ich wollte die Küche verlassen, knallte jedoch gegen einen Widerstand. Einen großen Widerstand, der etwas weicher war als eine Wand. Ich ließ die Flyer sinken und sah in dunkle Augen. Lias.

„Bestellen? Das ist eine hervorragende Idee. Ich bin für Indisch. Bestellst du mir ein Chicken Curry? Extra scharf.“

„Du bist so langweilig, Lias.“ Milly trat durch eine andere Tür in den Flur und mir fiel wieder ein, dass mein Körper noch ein weiteres Bedürfnis hatte.

„Wieso bin ich denn langweilig?“

„Es gibt fünfhundert Gerichte auf dieser Karte und du bestellst immer nur dasselbe.“

„Ähm, hi.“ Ich wollte mich an Lias vorbei in den Flur schieben, aber er blieb im Türrahmen stehen.

„Hallo Ella, schön, dich zu sehen.“

Ich nickte und lächelte. „Es ist auch schön, dich zu sehen, aber können wir die weiteren Floskeln überspringen? Ich müsste mal ziemlich dringend wohin.“

Sein Grinsen wurde breiter. Natürlich. Hätte ich nicht etwas anderes sagen können? „Na klar, aber wenn du mir sagst, was du essen möchtest, bestelle ich schon mal. Ich habe einen riesigen Hunger.“

Meine Augen weiteten sich. War das sein Ernst? „Was?“

„Was willst du essen?“

„Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich kann nicht in fünf Sekunden entscheiden, was ich essen will.“

„Nicht?“ Sein Erstaunen konnte nicht gespielt sein.

„Nein, natürlich nicht. Ich kenne doch die Karte nicht.“

Hinter Lias grinste Milly und er sagte: „Es gibt offensichtlich sehr viele Gründe, warum du und Milly euch so gut versteht.“

„Darf ich jetzt durch?“

„Erst wenn du mir sagst, was du essen möchtest.“ Warum tat er das?

„Ich könnte schon längst wieder hier sein, wenn du mich endlich gehen lassen würdest.“

Er hob nur die Augenbrauen und meine Willenskraft ging ohne mich in Richtung Badezimmer. „Also gut, ich nehme ... ähm ...“ Jemand hatte sämtliche indischen Gerichte aus meinem Gedächtnis gelöscht. „Keine Ahnung. Bestell einfach irgendwas. Nein, warte.“ Ich sah zu Milly. „Ich nehme das, was sie nimmt.“

Er lachte auf. „Bist du dir da ganz sicher?“

„Nein, aber wenn ich noch fünf Sekunden länger hier stehen muss, haben wir ein ganz anderes Problem.“

Er lachte lauter, ließ mich aber endlich vorbei.


„Ich wusste nicht, dass man beim Inder auch Pommes bekommt.“ Ich tunkte einen von ihnen widerwillig in die Mayonnaise, die jemand in den Plastikteller geklatscht hatte. Sie waren weich und auch das Salz, das ich über sie gestreut hatte, konnte an dem faden Geschmack nichts ändern.

„Ich habe dich ja gewarnt.“ Lias grinste.

„Das hast du nicht.“ Ich steckte den frittierten Kartoffelstreifen in den Mund. Ich mochte keine Pommes. Und am allerwenigsten mochte ich sie, wenn sie für den Weg zwischen der Fritteuse und meinem Mund länger als drei Minuten brauchten.

„Irgendwie schon.“

„Konntest du nicht irgendwas anderes bestellen?“ Ich sah zu Milly, die ein Stück Pommes vor sich hielt und ihm dabei zusah, wie er hin- und herwabbelte.

Sie verzog das Gesicht. „Sorry.“ Und dann leuchteten ihre Augen auf. „Vielleicht will Papa sie essen. Er mag Pommes.“

„Ganz sicher nicht.“ Lias stupste mit dem Finger dagegen. Er brach in der Mitte durch und fiel auf Millys Teller.

„Okay, das reicht.“ Sie schob den Teller von sich und warf eine Serviette darauf. Ich tat es ihr gleich.

„Also, was machen wir jetzt?“ Sie sah zwischen uns hin und her.

Lias sah zu mir und ich fragte: „Wie kommst du eigentlich darauf, dass ich nichts mit euch zu tun haben will?“

Er hob die Augenbrauen. Aber dann löste sich sein Erstaunen, er verzog den Mund und sah zu Milly. „Du hast es ihr erzählt?“

Sie zuckte mit den Schultern.

Er sah wieder zu mir. „Du hast den Eindruck gemacht. Milly ist einfach in dein Leben geschneit und hat sich an dich gehängt.“

Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Du warst es doch, der mich darum gebeten hat ...“

Er hob eine Hand, aber Millys Neugier war geweckt. „Worum hat er dich gebeten?“

Ich sah weiter Lias an und sie fragte nun ihn: „Lias, worum hast du sie gebeten?“

Wir antworteten beide nicht und starrten uns an. Ich konnte Lias Blick nicht deuten. Er presste die Lippen aufeinander und ich hätte gern die Worte aus seinem Mund gezogen, die er offenbar zurückzuhalten versuchte. Was sollte das? Bei unserem Gespräch war er verzweifelt gewesen, warum ruderte er nun zurück und tat so, als wäre Milly die einzige Person, die meine Hilfe einforderte? Wobei sie das genau genommen gar nicht tat. Es wirkte, als wollte sie einfach nur Zeit mit mir verbringen. Welcher Grund auch immer dafür vergraben in ihrem Inneren lag, sie selbst schien nichts als ein bisschen Zeit von mir zu erwarten. Und Aufmerksamkeit.

„Hallo? Habt ihr Geheimnisse vor mir?“

Lias löste unseren Blick nicht, als er antwortete: „Ich dachte, Ella könnte vielleicht mal mit dir laufen gehen.“

Ich vergaß, meinen Speichel hinunterzuschlucken, und er löste einen Hustenanfall aus. Milly schlug mir auf den Rücken. „Ist alles okay?“

Ich atmete tief durch und nickte. Und dann blickte ich auf und sah in Lias’ Augen, die mich ungerührt musterten. Zu ruhig musterten. Endlich drehte er den Kopf zu Milly. „Na ja, ich kenne nicht viele Leute, die mit dir Schritt halten können. Und offenbar hat Ella das Zeug dazu, dich etwas anzutreiben.“ Er sah wieder zu mir und hob eine Augenbraue.

„Wer sagt denn, dass ich wieder mit dem Laufen anfangen will?“ Milly stand auf und warf ihren Teller in den Müll. Sie blickte auf meinen und dann zu mir. Ich nickte und sie knallte auch diesen in den blauen Eimer.

„Wer sagt denn, dass du es nicht willst?“

Sie presste die Lippen aufeinander, aber dann öffnete sie sie wieder. „Ich sage das.“

Sie wollte die Küche verlassen, aber Lias hielt sie am Handgelenk fest.

„Lass mich los. Ich will nicht übers Laufen reden.“ Sie versuchte, ihren Arm frei zu reißen, aber Lias gab nicht nach. Ich biss mir auf die Unterlippe und überlegte, wann und ob ich eingreifen sollte. Es sah nicht so aus, als ob Lias ihr wehtat, aber hatte er das Recht dazu, sie festzuhalten?

„Lias!“ Milly schrie nun.

Er seufzte und gab sie frei. „Du hast es immer geliebt.“

„Ja, und jetzt tue ich das nicht mehr.“

Das Spiegelbild, das ich in Millys Widerstand sah, erschrak mich und ich stand auf, um es nicht weiter ansehen zu müssen. „Wisst ihr was? Ich sollte gehen.“

Milly sah zu mir, kniff die Augen zusammen und schien einen Moment zu brauchen, bevor sie realisierte, dass ich mit ihnen im Raum war. Sie atmete tief durch und schluckte. Und dann verschwand sie aus der Küche.

Ich stand auf, als sie ihre Zimmertür zuschlug. „Was war das denn?“

„Sie ist manchmal so. Sehr impulsiv. Rina war auch so.“

Ich schüttelte irritiert den Kopf. „Ich meine doch nicht Milly.“

Lias legte den Kopf schief. „Nicht?“

„Nein! Erst bittest du mich, euch zu helfen und dann sagst du ihr, sie soll sich nicht mehr bei mir melden? Ich dachte, sie will nichts mehr mit mir zu tun haben. Kein schönes Gefühl nach all der Nähe, die sie vorher gesucht hat. Und dann soll ich plötzlich ihre Lauftrainerin mimen?“

„Ich habe nichts von Training gesagt. Warum solltest du denn die Kompetenz dazu haben, sie zu trainieren?“ Sein Blick war herausfordernd.

„Ich … ich habe keine Ahnung. Das ist aber auch vollkommen egal, weil weder sie noch ich das wollen.“

Er ging nicht auf meine Wut ein. „Also, wenn sie es wollen würde, würdest du es machen?“

„Was machen?“

„Mit ihr laufen gehen.“

„Nein.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum nicht?“

„Ich laufe nicht.“

„Nach der Kaffeedusche hast du es getan.“

„Ich werde jetzt gehen. Und ich werde Milly schreiben, dass sie gern zu mir kommen kann, um sich die Karte anzusehen. Und dass sie sich melden kann, wann immer sie das möchte.“

Ein Grinsen schob sich in seine Mundwinkel und mein Herz schlug schneller, um der Wut in meinem Bauch Energie zu liefern. Ich stürmte in ähnlichem Tempo wie Milly aus der Küche, zog Schuhe und Jacke an und lief aus der Wohnung.


„Wer hat dich denn geärgert?“ Sofi saß auf dem Karton, den mein Vater am Vortag im Flur deponiert hatte. 

„Lass mich in Ruhe.“

„War es dieser Lias?“

Ich ging in die Küche, nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und hielt sie mir gegen die Stirn.

„Oder Milly? Oder war es Tom?“

Alle drei. Irgendwie. „Lass mich bitte in Ruhe.“ Ich lehnte mich gegen die Wand.

„Nun komm schon. Haben sie über das Laufen gesprochen? Und wie war es eigentlich bei Mama und Papa? Hast du ihnen endlich erzählt, dass ich noch immer da bin?“

Sofi verschwamm für einen Moment vor meinen Augen und ich blinzelte ein paar Mal, um sie wieder klarer sehen zu können. „Ich muss mich hinlegen.“ Ich schritt an ihr vorbei, ging in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Sie folgte mir nicht und ich ließ mich aufs Bett fallen und dachte über die vergangenen Stunden nach. Die Leichtigkeit zwischen Milly und mir, die durch Tom unterbrochen wurde. Immerhin hatte er heute mehr Worte zu mir gesagt als bei unseren letzten Treffen. Und dann Lias, der mich vom ersten Moment an provoziert hatte. Und der nicht akzeptieren konnte, dass Milly einen Schlussstrich unter das Laufen gezogen hatte. Auf diese Weise würde er ihr nicht helfen. Sie würde sich noch weiter zurückziehen und das Vertrauen in die Menschen, denen sie vertrauen wollte, endgültig verlieren. Und ich war abgehauen. Der Vater teilnahmslos, der Onkel alles andere als einfühlsam und die einzige Person, der sie versucht hatte, sich zu öffnen, lief weg, sobald es etwas stürmischer wurde.

Ich legte die Hände aufs Gesicht und drehte mich auf den Bauch. War es richtig oder falsch, Milly in mein Leben zu lassen? Selbst ein Teil ihrer Welt zu werden? Ich drehte mich zurück auf den Rücken und starrte an die Decke. Was war die Alternative? Die Nachmittage lesend im Park zu verbringen, mit einem Buch, dessen letzte Zeilen niemals in meinen Kopf dringen würden? Alle paar Wochen nicht mehr als eine Nacht bei meinen Eltern zu verbringen, weil ich es nicht länger in ihrem Haus aushielt? Und jeden Abend mit Sofi zu streiten?

Ich sprang auf und öffnete die Tür zum Flur. Sofi war verschwunden. Ich ging zu meiner Jacke, zog mein Telefon heraus und schrieb: ‚Hey Milly! Entschuldige, dass ich abgehauen bin. Wenn du magst, holen wir unser Mittagessen morgen nach.‘ Ich zögerte, zählte bis vierzig und noch einmal bis dreißig und dann schickte ich die Nachricht ab.

Sie antwortete weniger als eine Minute später und ich lächelte, weil mir ihre schnelle Reaktion bereits so vertraut war und in den vergangenen Tagen gefehlt hatte.

Milly: ‚Kein Problem. Lias kann schon ein echter Idiot sein. Aber er hat sich bei mir entschuldigt. Warte.‘

Am oberen Displayrand erschien die Info, dass sie eine Sprachnachricht aufnahm. Ich wartete, aber dann wuchs meine Ungeduld, ich schüttelte den Kopf und drückte auf das Videokamera-Symbol.

Sie nahm sofort ab. „Hey, ich habe dir gerade eine Nachricht aufgenommen.” Sie zog die Augenbrauen zusammen und ihr Gesicht vergrößerte sich auf dem Display, als sie sich ihrem eigenen Telefon näherte, um mich besser sehen zu können. „Hast du geweint?“

Ich sah auf das kleine Bild, das mich zeigte. Meine Augen waren deutlich gerötet und unter ihnen war meine Wimperntusche zu dunklen Schatten zusammengelaufen. „Nein.“ Ich wischte die verschmierte Schminke mit den Fingern weg. „Geschlafen.“

„Geschlafen? Um diese Zeit?“ Sie lachte. „Du bist wohl doch älter, als ich dachte.“

„Ich bin 27.“

„Das ist nicht das richtige Alter für einen Mittagsschlaf.“ Sie saß auf dem Boden, im Rücken eines ihrer Bücherregale, in dem sich Fantasy-Klassiker an Jugendbücher reihten. Dazwischen standen Steinbeck, Goethe und T.C. Boyle. Für einen Moment scannte ich die Bücher, obwohl ich das vor ein paar Stunden bereits getan hatte. 

„Du wolltest mir etwas erzählen, das nicht in eine Textnachricht gepasst hat.“

„Richtig.” Sie atmete tief durch und schaute schräg zur Decke, so als würde sie überlegen, welche Worte sie bereits in der Sprachnachricht verwendet hatte. Dann sah sie wieder zu mir und sagte: „Also, er hat sich entschuldigt und gesagt, dass er einfach nicht weiß, was er tun soll.“ Sie biss sich auf die Unterlippe.

„Er will dir nur helfen.“

„Ja, das weiß ich doch.“

„Aber so klappt es nicht?“

„Nein.“

„Bist du denn froh, dass er da ist?”

Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. „Ja. Ja, natürlich. Lias ist toll.”

„Und?”

„Und endlich …” Sie zögerte und ich schwieg, um ihr die Gelegenheit zu geben, zu entscheiden, ob sie sich mir weiter öffnen wollte. Sie sah mir unsicher in die Augen, aber schließlich trat Entschlossenheit in ihren Blick. „Ich kann das nicht mehr alleine.” Sie wartete, ob ich antworten würde, aber ich nickte nur. „Mit Papa, meine ich. Ich habe wirklich alles versucht. Ich habe gekocht und geputzt und mir lustige Dinge ausgedacht, die wir hätten zusammen machen können.” Sie atmete tief durch. „So wie Mama. Aber er wollte nicht essen, hat das saubere Bad vermutlich nicht mal bemerkt und wollte nicht eine der Sachen mit mir unternehmen, die ich ihm vorgeschlagen habe. Ich wollte ihn sogar mit dir verkuppeln.”

Das hatte ich mir gedacht, aber ich sagte nichts.

„Das war natürlich Unsinn. Außerdem, was solltest du denn mit so einem alten Knacker?” Sie versuchte sich an einem schrägen Grinsen, scheiterte aber bei dem Versuch.

„Dein Vater ist nicht alt.” Ich zögerte. „Aber ich denke, er ist noch lange nicht bereit dazu, sich auf einen anderen Menschen einzulassen.” Nicht, dass ich mich auf ihn einlassen wollte.

Sie schüttelte langsam den Kopf. „Er lässt sich auf überhaupt niemanden ein.”

„War das von Anfang an so?”

Wieder schüttelte sie den Kopf. „Nein, am Anfang war es ganz anders. Es war, als wollte er Mama ersetzen, sobald Lias nach der Beerdigung weggeganen war. Er hat mich zur Schule gebracht und wieder abgeholt. Er hat die Pflanzen auf dem Balkon umgetopft, weil sie es nicht mehr geschafft hatte. Die Küche war blitzsauber und es gab immer etwas Leckeres zu essen. Für manches Mittagessen hat er sicher den gesamten Vormittag in der Küche gestanden. Wir waren oft nach der Schule in einem Café und haben dort Schach gespielt oder uns durch das Kuchenangebot gefuttert.” Ich registrierte die Information, dass sie Schach spielen konnte, legte sie aber in meiner ‚Später ansehen’-Schublade ab. Ich wollte sie nicht unterbrechen. „Jeden Abend hat er mir vorgelesen, wir haben Computerspiele gespielt, sind am Wochenende auf Konzerte oder schwimmen gegangen.”

Sie endete abrupt und ich sah, wie sie schluckte und sich ihre Augen mit Tränen füllten. Ich wartete einen Moment und sagte dann: „Er hat jede Minute des Tages gefüllt, um nicht an sie denken zu müssen.”

Sie schloss die Augen und eine Träne schob sich durch die Wimpern und lief langsam ihre Wange hinunter.

„Wie lange hat er das durchgehalten?”

Sie schluckte wieder, öffnete die Augen und wischte die Träne von ihrem Gesicht. „Drei Wochen.”

„Und dann?”

„Wir waren gerade auf dem Heimweg vom Einkaufen. Er hatte in jeder Hand eine volle Papiertüte. Wir wollten ein Rezept von Jamie Oliver nachkochen.” Sie schloss wieder die Augen und weitere Tränen rollten über ihre Wangen.

Jetzt bereute ich es, dieses Gespräch am Telefon ins Rollen gebracht zu haben. Oder hatte sie damit angefangen? „Milly, wir müssen nicht jetzt darüber reden. Ich würde dich viel lieber …”

Sie schüttelte heftig mit dem Kopf, öffnete die Augen und in ihnen erkannte ich die Bitte, sie die Worte endlich aussprechen zu lassen. Wie lange hoffte sie schon, sie mit jemandem teilen zu können? Den Schmerz nicht länger allein ertragen zu müssen. In diesem Moment spürte ich eine so tiefe Zuneigung zu dem Mädchen, das ich gerade einmal ein paar Wochen kannte, wie zu keinem anderen Menschen. Ich wusste, ich würde ihr helfen, egal, wie falsch es sich für mich selbst anfühlte.

„Eine Frau kam auf uns zu. Ich erkannte sie erst, als sie schon direkt vor uns stand.”

„Wer war es?”

„Es war Mamas Schulfreundin Natalie. Sie zog einen großen Koffer hinter sich her und ihre Haut war tiefbraun. Sie begrüßte uns und fragte, ob ihre letzte Postkarte angekommen wäre. Sie hatte die vergangenen drei Monate in Asien verbracht. Ohne Handy und ohne Internet.”

Ich schlug die freie Hand vor den Mund. „Oh, nein.”

Sie nickte und presste die Lippen aufeinander. Und dann brachte sie hervor: „Sie hat nach Mama gefragt. Sie sagte, sie würde einfach direkt mit uns mitkommen und sie überraschen.” Sie machte eine Pause und ich wartete. Irgendwann presste sie unter Tränen hervor: „Ich hab nur den Knall gehört, als Papa die Tüten fallen gelassen hat.” Sie atmete ein paar Mal tief durch und ihre Stimme beruhigte sich. „Es war nur ein Knall. Sie fielen genau gleichzeitig auf den Boden. Ich weiß nicht, warum ich mich ausgerechnet daran erinnere. Für einen Moment stand er einfach nur da und starrte sie an. Und dann ging er los. Er ging einfach weg.”

Er hatte es ihr überlassen, der Freundin ihrer Mutter von deren Tod zu erzählen. Mein Mund öffnete sich und ich schüttelte leicht den Kopf.

„Natalie half mir, die Einkäufe zurück in die Tüten zu räumen. Sie stellte keine Fragen, aber als ich zu zittern begann, nahm sie mich in den Arm, führte mich zu einer Bank und hielt mich fest. Sie brachte mich nach Hause und dort sah sie die Traueranzeige, die noch immer im Flur auf dem kleinen Tisch neben der Tür lag.”

Wo war diese Natalie in den letzten Monate gewesen? Wo war sie jetzt? Ich traute mich nicht zu fragen.

„Ich schickte Natalie irgendwann weg und sagte ihr, dass wir schon klarkommen würden. Ich ertrug ihre Fürsorge nicht. Keine Ahnung warum.”

Ich konnte es mir denken. „Bevor sie aufgetaucht war, konntet ihr …” Ich zögerte und sagte dann aber doch: „Ihr konntet die Gedanken ausschließen. Ihr konntet euch auf Dinge konzentrieren, die nichts mit dem Tod deiner Mama zu tun hatten.”

Sie nickte und biss sich wieder auf die Lippen. „Papa kam drei Tage nicht zurück.”

Ich schloss die Augen und versuchte, das Bild der zwölfjährigen Milly, die verzweifelt auf ihren Vater wartete, aus meinem Kopf zu verbannen. Mit dem Auftauchen von Natalie hatte sich in Toms Kopf ein Schalter umgelegt und seither war er nicht mehr imstande, seine Rolle als Vater zu erfüllen. Das verstand ich. Aber hätte er nicht dennoch dafür sorgen müssen, dass sich jemand um Milly kümmerte?

„Ich dachte, er wäre auch tot.” Sie sagte es ohne Gram und auch die Tränen waren versiegt.

„War Natalie in den drei Tagen bei dir? Oder sonst jemand?“

„Ja. Ja, sie war da. Auch ein paar andere Freunde versuchten zu helfen. Natalie verschwand nach ein paar Wochen wieder an irgendeinen Ort ohne Internet. Sie war seither nicht mehr hier.“

„Was ist denn mit deinen Großeltern?“

„Mama hatte nur ihre Mutter. Die ist seit drei Jahren tot.“

„Und die Eltern deines Vaters?“

„Sie wohnen ewig weit weg, sind uralt und haben sich noch nie für mich interessiert. Sie haben nie akzeptiert, dass Papa Schriftsteller geworden ist. Er sollte in die Anwaltskanzlei seines Vaters einsteigen, wollte das nicht und ist mit siebzehn von zuhause abgehauen. Und dann hat er Mama kennengelernt. Sie waren nicht mal bei ihrer Beerdigung.“

Ich seufzte. „Und was hat dein Vater gemacht, als er zurückkam?“

„Er hat sich an seinen Computer gesetzt und begonnen zu schreiben. Ich dachte, er schriebe sich alles von der Seele. Das hört man doch überall. Die Leute machen das, um ihre Trauer zu verarbeiten. Aber das tat er nicht. Sonst hätte sich doch an seinem Zustand etwas verbessert, oder?”

Ich wollte ihr nicht sagen, dass ihm das Schreiben vielleicht geholfen hatte, einen schlimmeren Zustand zu verhindern. „Hast du gelesen, was er geschrieben hat?”

Sie nickte. „Eine furchtbare Geschichte, in der alle traurig sind und jedem etwas Schreckliches passiert. Und am Ende bringt er den Mann, der die Frau liebt, um. Diese Szene war zuerst fertig. Er stirbt einen schrecklichen Tod. Er stirbt für sie. Rettet ihr Leben. Sie haben keine Chance, einander ein letztes Mal zu berühren, ein Wort zu wechseln oder sich in die Augen zu sehen. Die Frau hat einen Autounfall und liegt im Koma und irgendwie haben die beiden die gleiche Blutgruppe oder so. Auf jeden Fall kommt er als Organspender für sie in Frage. Ich weiß nicht mal, ob das möglich ist. Aber in Papas Buch schlitzt der Mann sich im Krankenhaus die Kehle auf. Direkt vor den Op-Sälen und er schreit ‚Gebt meiner Frau mein Herz!’”

Ein kalter Schauder überlief mich. Egal, ob diese Geschichte in unserer Welt möglich wäre, sie zeigte klar, dass Tom alles dafür getan hätte, um Rina zu retten.

Ich schwieg. Es gab nichts mehr zu sagen. Ich fühlte mich ausgelaugt, spürte die Leere, die sich seit dem Tag, an dem Tom in seiner einsamen Welt verschwunden war, in Milly ausgebreitet haben musste, und war unfähig, etwas zu sagen, was sie oder mich aufmuntern konnte. Auch sie schwieg und so hingen wir beide unseren Gedanken nach. Es war seltsam, dies während eines Video-Telefonats zu tun. Aber aufzulegen hätte ich nicht gewagt und nicht gewollt. Ich konnte sie in diesem Moment nicht allein lassen.

Irgendwann hörte ich ein Geräusch, das hinter ihrem Telefon entstanden sein musste. Sie sagte mit kratziger Stimme: „Ja?” Vermutlich hatte jemand an die Tür geklopft. Sie wurde geöffnet und ich hörte Lias, der sagte: „Hey Milly, gehen wir …” Er zögerte und sagte dann: „Entschuldige, ich wollte nicht stören.”

„Du störst nicht. Ich telefoniere mit Ella. Komm her und erzähl ihr, dass du ein Volltrottel bist.”

Ich überprüfte mein Gesicht in dem kleinen Bild und erschrak. Ich war bleich, meine Augen waren gerötet und die Wangen feucht. Ich legte das Telefon zur Seite und wischte mir übers Gesicht. Als ich das Handy wieder anhob, saß Lias neben Milly und winkte mir zu. Er winkte. Meine Mundwinkel schoben sich gemeinsam mit seinen nach oben. „Hey”, sagte ich.

„Hey”, erwiderte er und dann blickte er von Milly zu mir und wieder zurück. „Ihr seht ziemlich scheiße aus.”

„Na, vielen Dank auch.” Milly boxte ihn in den Bauch.

Lias schnappte nach Luft und ich sagte: „Von mir auch, bitte!“

Dieses Mal war er vorbereitet und griff nach ihrer Faust. Sie schob dagegen und für einen Moment ließ er sie glauben, dass sie ihn besiegen könnte, aber dann sah er zu mir, legte den Kopf grinsend schräg und schob ihre Faust und ihren gesamten Körper von sich. Sie kippte zusammen mit dem Telefon um und er stürzte sich auf sie und kitzelte ihren Bauch. Ich wartete, lächelnd. Er hatte die richtige Entscheidung getroffen, als er London verlassen hatte. Sie brauchte ihn.

Nach ein paar Minuten richteten sie sich lachend und schnaufend wieder auf und Lias schaute zwischen uns hin und her: „Ist alles okay?”

„Nicht weniger als sonst.”

Er kniff ein Auge halb zu und sah wieder zwischen uns hin und her. „Also gut. Zuerst einmal …” Er sah zu mir. „Milly hat recht. Ich bin ein Volltrottel. Nicht immer, aber manchmal, und vorhin war einer dieser glitzerfreien Momente in meinem Dasein. Ella, es tut mir leid. Ich stehe vollkommen neben mir und mein soziales Intelligenzzentrum funktioniert momentan nur über eine Tastatur. Normalerweise bin ich ziemlich liebenswürdig.”

Ich glaubte ihm und lächelte. Er erwiderte mein Lächeln wie vorhin, aber diesmal senkte er für einen kurzen Moment den Blick und mein Magen zog sich sanft zusammen. Ich schüttelte den Kopf und das Gefühl fort.

Lias sprach weiter: „Was haltet ihr davon, wenn wir drei uns einen schönen Abend machen? Wir gehen etwas essen, holen uns danach ein Eis, laufen am Fluss entlang, vielleicht gehen wir später ins Kino oder in eine Bar.”

„Lias, ich bin dreizehn.”

Er warf ihr einen Blick zu, bei dem ich auflachen musste. Beide wandten den Kopf wieder zu mir und Lias fragte: „Was hältst du davon? Führen wir Milly in die Welt der alkoholfreien Cocktails ein?”

Ich nickte. „Das hört sich fantastisch an.” Das tat es, aber nicht nur. Ein kleiner Stich erinnerte mich daran, dass ich mir diese realistische Form von Fantasie eigentlich nicht erlaubte. Ich ignorierte ihn. Hier ging es nicht nur um mich. Milly brauchte diesen Abend und vor ein paar Minuten hatte ich mich selbst dazu verpflichtet, ihr zu helfen, zurück ins Leben zu finden.

Sieben

Wir gingen in ein spanisches Restaurant, das ich mit meiner Mutter entdeckt hatte, als mein Vater im Krankenhaus lag. Die Tapas waren großartig und wir bestellten vierzehn verschiedene von ihnen. Als die Kellner unseren Tisch mit den Tellern und Schüsseln zu füllen versuchten, fragte ich einen von ihnen, ob wir die Reste mitnehmen könnten. Sicher würde Tom auch am Abend das leere Gefühl in seinem Bauch missdeuten und nichts essen. Aber ich hatte nicht mit dem Appetit von Lias und Milly gerechnet, der dem einer kompletten Fußball-Mannschaft nach einem Pokal-Finalspiel mit Verlängerung und Elfmeter-Schießen gleichkam.

Am Ende wurde auch nach dem Verzehr der Essensberge auf unserem Tisch keiner von ihnen satt und noch bevor die letzten Bissen in ihren Mündern verschwunden waren, diskutierten sie, bei welchem Eisladen wir danach einkehren würden. Ich hatte nur halb so viel gegessen wie jeder von ihnen, aber der Gedanke an Eiscreme schien diese Menge zu verfünffachen und mir wurde schlecht bei der Vorstellung, meinen Magen noch weiter zu füllen. Ich würde nicht einmal die kleine Waffel herunterkriegen, die in der Kugel steckte.

„Ihr habt sie doch nicht mehr alle.” Ich lehnte mich auf der hölzernen Bank zurück und hielt mir mit beiden Händen den Bauch.

Milly und Lias grinsten sich an und er sagte: „Oh, nein.”

„Wir haben sie geschafft.”

Ich richtete mich auf. Mein Ego war aktiviert und reagierte auf Autopilot. „Was soll das heißen? Was meint ihr damit, ihr habt mich geschafft?”

Sie grinsten breiter und Milly sagte: „Du musst dich deshalb nicht schlecht fühlen, Ellalein.” Ellalein. Ich unterdrückte ein Lächeln.

„Nein, das musst du wirklich nicht.” Lias griff nach seiner Bierflasche und lehnte sich zurück. „Ellalein.” Sie lachten beide und ich stimmte ein.

„Also, was war das jetzt hier? Ein Test?”

Milly nickte. „Und du hast ihn leider nicht bestanden.”

Lias schüttelte den Kopf. „Aber ich kann dich beruhigen. Mit uns konnte es nur eine aufnehmen.”

Ich wartete auf die Wolke, die die indirekte Erwähnung von Rina über unseren Tisch pusten würde. Aber das Grinsen der beiden verwandelte sich in ein Lächeln, hinter dem sich dutzende Erinnerungen an Abende in Restaurants und am heimischen Esstisch verbargen, bei denen sie andere Menschen mit dem Volumen ihrer Mägen verblüfft hatten.

Für einen Augenblick versanken sie in dieser Erinnerung und dann sagte Lias: „Ich weiß, wo wir hingehen. Luigi hat seit letzter Woche wieder geöffnet.” Er warf einen Blick auf die Uhr. „Und wenn wir sofort losgehen, verkauft er uns noch ein paar Kugeln.”

Milly sprang auf. „Sehr gut.” Sie griff nach meiner Hand und ich erhob mich ebenfalls. „Hat dir das in Sibirien nicht gefehlt, Ella?”

Ich runzelte die Stirn. „Was meinst du?”

„Abends um zehn noch eine Kugel Eis kaufen zu können.” Sie nahm ihren Mantel von dem Stuhl, auf dem wir unsere Jacken und Taschen abgelegt hatten. „Oder warte. War es da zu kalt?”

Ich legte meinen Arm um ihre Schultern und zog sie an mich, um ihr eine Kopfnuss zu geben. Als mir bewusst wurde, was ich tat, ließ ich von ihr ab und griff nach meiner eigenen Jacke. „Ähm, nein, es war nicht zu kalt. Aber es gab auch keinen Eisladen und ja, manchmal hat es mir sehr gefehlt, abends um zehn in einen Späti oder ein Restaurant oder zu einem Eishändler gehen zu können.”

„Dann bist du sicher froh, wieder hier zu sein.” Lias zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche und legte es auf den Tisch.

Ich zuckte mit den Schultern und deutete auf die Geldbörse. „Wir teilen.”

Er schüttelte den Kopf, schlüpfte in die Ärmel seiner Jacke und griff nach der Börse. „Unsinn, du hast doch kaum was gegessen. Wir laden dich ein.”

Ich wollte protestieren, aber er ging bereits zum Tresen, um die Rechnung dort zu begleichen.


Wir verließen das Restaurant und nach zehn Minuten erreichten wir den Fluss. Lias fragte uns, welche Eissorten wir wollten, und ich nannte irgendeine und drückte ihm einen Geldschein in die Hand. Einer der beiden würde mein Eis schon noch hinunterbekommen. Er rollte mit den Augen und ich war nicht sicher, ob es an meinem Wunsch zu bezahlen oder seinem Unverständnis darüber lag, dass ich nicht wie seine Nichte drei Kugeln bestellte.

Milly und ich gingen zu dem dunkelgrauen Metallgeländer, das Nacht- und Tagschwärmer davor bewahren sollte, die Wassertemperatur vollbekleidet zu prüfen, und blickten auf den Fluss. Unzählige Lichter erleuchteten die kleinen Wellen, die der Wind über das Wasser trieb. Die Bootsaison hatte noch nicht begonnen, aber vereinzelt säumten bereits Ausflugsdampfer die Anlegestellen. Die Luft kühlte ab. Ich dachte an den vergangenen Morgen und konnte kaum glauben, dass zwischen dem Frühstück bei meinen Eltern und diesem Moment mit Milly am Fluss nicht einmal ein ganzer Tag lag.

„Willst du denn gar nicht wissen, warum ich nicht mehr laufe?”

Ihre Frage riss mich aus den Gedanken an die unfreiwillig verlängerte Bahnfahrt und das enttäuschte Gesicht meiner Mutter. Ich öffnete den Mund, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wollte ich das wissen? Konnte ich es mir nicht denken? Hatte Lias mich nicht bereits eingeweiht? Ich schloss die Lippen wieder und nickte. „Doch, das möchte ich.” Ich wollte es von ihr hören. Und wenn sie bereit war, darüber zu sprechen, war das gut. Zumindest für sie.

Milly atmete tief durch, legte die Unterarme auf das Geländer und starrte zu der Kirche, die auf der anderen Seite des Flusses lag. Ich tat es ihr gleich und sie begann zu reden: „Bevor sie ... In den Wochen, als sie ... Das Laufen war mir wichtiger als sie zu sehen. Ich habe es über sie, über uns gestellt. Papa hat jeden Tag nach der Schule auf mich gewartet, um mit mir zusammen ins Krankenhaus zu fahren. Er war schon den ganzen Vormittag dort und ist extra von ihr weg, um mich zu holen. Die ersten paar Tage ging ich mit ihm. Aber irgendwann habe ich einen anderen Ausgang genommen, hab die letzte Stunde geschwänzt und zweimal habe ich so lange auf dem Schulklo gewartet, bis ich sicher war, dass er weg war.”

Sie legte den Kopf auf die Hände und ich strich ihr über den Rücken.

„Ich wollte, dass er ohne mich zurückfährt. Aber das hat er nie getan. Er hat solange nach mir gesucht, bis er mich gefunden hat. Meistens auf der Laufstrecke. Irgendwann hat er angefangen, dort auf mich zu warten und ich bin woanders gelaufen. Ich bin so schnell gerannt, dass ich nicht mehr an Mamas Krankheit denken musste. Oder an irgendetwas anderes. Wenn er mich dann gefunden hat, war ich kurz vorm Zusammenbrechen und er konnte mich nicht mehr zu ihr ins Krankenhaus bringen.” Sie hob den Kopf. Keine Tränen. Noch nicht.

„Er wollte nicht, dass sie dich so sieht.”

Sie nickte. „Verstehst du, warum es sich so falsch anfühlt, weiterhin zu laufen?“

Ich nickte. Natürlich verstand ich das. „Aber … Milly, das bedeutet nicht, dass dir das Laufen wichtiger war als deine Mama.”

„Nicht?“

Ich schüttelte den Kopf. „Du hast einen Weg gesucht, mit der Krankheit deiner Mutter umzugehen. Du hast dich nicht zurückgezogen, weil sie dir nichts bedeutet hat, sondern weil du den Gedanken, sie zu verlieren, nicht zulassen konntest.“

Ihr Gesicht verzog sich und sie schlug die freie Hand vor die Augen. Meine Hand lag noch immer auf ihrem Rücken und ich zog sie ein Stück zu mir.

Ihre Hand rutschte auf ihren Mund und ein unterdrücktes Schluchzen erklang. „Sie fehlt mir so.“

Ein Kloß stieg meinen Hals empor und Tränen traten jetzt auch in meine Augen. „Ja, Süße. Und das wird auch so bleiben.“

Sie schloss die Augen und weinte. Ich sagte nichts. Irgendwann löste sie die Hand von den Lippen und wischte sich über die Wangen. Dann sah sie mich mit großen Augen an. „Es wird immer so bleiben?“

Ich atmete tief durch. Eigentlich wusste ich das nicht und das sagte ich ihr.

„Es wird doch irgendwann besser, oder?“

Ich hätte ihr so gern gesagt, dass es eines Tages möglich sein würde, an sie zu denken, ohne diese Leere zu spüren, die in jede Faser des Körpers eindringt und die man nur durch andere Dinge verdrängen, nie aber verschwinden lassen kann. Aber ich wollte sie nicht anlügen. „Es wird immer mehr ein Teil von dir. Und irgendwann lernst du damit umzugehen.“

Sie atmete tief ein und dann seufzte sie. „Ella?“

„Ja?“

„Das mit dem Aufmuntern musst du echt noch üben.“

„Was muss sie noch üben?” Lias trat zu uns, beladen mit drei Eistüten. An den Waffeln lief geschmolzene Eiscreme herunter. Er hatte gewartet, bis wir das Gespräch beendet hatten. Ich lächelte, aber dann sah ich mir die Eistüten genauer an. Auf meiner Kugel Erdbeereis, die ungefähr so groß war, wie die drei verschiedenen Kugeln von Milly zusammen, thronte ein Sahneberg, der in etwa der Masse der Eiscreme entsprach, eine weitere Waffel, zwei Schokostäbchen und ein blauer Löffel. Das Ganze war garniert mit bunten und braunen Streuseln und drei verschiedenen Soßen.

Ich starrte ihn an. Er versuchte, zurückzustarren, aber seine Lippen bewegten sich verräterisch und irgendwann konnte er das Grinsen nicht länger zurückhalten. Und dann lachte er. Milly folgte meinem ungläubigen Blick und prustete los, als sie die wackelnde Eistüte sah. Und ich stimmte ein, lachte so heftig, dass ich mir eine Hand auf den Bauch und die andere auf den Mund legte und mit dem Rücken am Zaun auf den Boden sank. Milly und Lias folgten mir auf die Pflastersteine, zwischen denen sich vereinzelt Grasbüschel hervorgekämpft hatten.

„Ihr werdet mich danach in einer Schubkarre nach Hause bringen müssen.” Ich griff nach dem Eis und zog den Löffel heraus. Das blaue Plastik schob sich über den Nagel meines Mittelfingers und ich starrte für einen Moment darauf. Dann schüttelte ich langsam den Kopf und steckte den Löffel wieder in den Sahneberg.

Acht

Vor 22 Jahren

Immer wenn ich einen Fuß schneller vor den anderen setzte, flog auch der Wind schneller um mich herum. Er rannte mit mir, versuchte, mich einzuholen, und schaffte es jedes Mal. Manchmal trieb er mich von hinten an, drückte gegen meinen Rücken und ich konnte die Füße noch schneller voreinander setzen. Und manchmal war er wie eine Wand, gegen die ich anrennen musste, die ich wegschieben musste. Das Rennen wurde dann so schwer, dass ich langsamer war, als ich es sein wollte. Dann versuchte ich, meine Arme stärker zu schwingen und meine Beine mit mehr Druck auf dem Boden aufzusetzen. Aber ich erreichte nie dieselbe Geschwindigkeit, wie wenn der Wind mich von hinten anschob.

An diesem Tag schien die Sonne auf den Schnee, der auf den Wiesen lag. Die Eisbahnen auf dem Gehweg verwandelten sich in Pfützen und jedes Mal, wenn ich mit einem meiner Gummistiefel hineintrat, spritzten Eis und Schnee und Wasser zu den Seiten und Mama rief „Ieh!”, wenn einer der Spritzer sie traf. Sie lief an Papas Arm, der eigentlich versuchen sollte, mich zu fangen, aber er stützte Mama, die auf dem glatten Boden nicht ausrutschen durfte. Denn sie trug jemand in ihrem großen runden Bauch, der sie nicht nur daran hinderte, sich zu bücken, wenn ihr etwas herunterfiel, sondern auch daran, mich hochzuwerfen oder ihre Jacke zu schließen.

Papa hatte gesagt, dass ich in wenigen Monaten eine kleine Schwester haben würde und ich hatte schon viele Spielsachen aussortiert, die ich ihr schenken wollte. Ich würde ihr auch ein paar von meinen Lieblingskleidern geben, die mir zu klein waren. Und ich freute mich darauf, endlich jemanden zu haben, der immer dann mit mir Fangen spielte, wenn ich Lust dazu hatte, und nicht nur dann, wenn Papa gerade nichts mit Mama zu besprechen hatte oder mit irgendjemandem von der Arbeit telefonierte.

Ich lief zur Wiese und versuchte, aus dem matschigen Schnee einen Ball zu formen. Es gelang mir nicht und das eiskalte Wasser lief in meine Ärmel bis zu meinen Ellenbogen. Ich schrie auf und schüttelte meinen Arm, damit das Wasser wieder herausfloss, aber mein Pullover war bereits nass. Ich erinnerte mich daran, dass Papa einmal gesagt hatte, mir würde warm werden, wenn ich rannte. Also tat ich es. Ich versuchte, darauf zu achten, dass ich nicht auf eine Eisfläche trat und freute mich, wenn mein Fuß in einer Pfütze landete.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752140774
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Liebesroman liebesgeschichte Trauer coming of age berührend Tod tiefgründig Leben

Autor

  • A.D. WiLK (Autor:in)

Ich bin Andrea, wurde 1983 geboren, lebe in Berlin und schreibe Liebesromane. Ich will meinen Figuren Leben einhauchen, ihre Welt in deinem Kopf neu entstehen lassen und dich hineinziehen in ihre Gefühle, Gedanken und Erlebnisse. Ich will dich berühren und auch immer wieder zum Schmunzeln und Nachdenken bringen. Kommst du mit mir?
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Titel: Laufe Lebe Liebe