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Trajanas Träume

von Simon Nebeling (Autor:in)
325 Seiten

Zusammenfassung

Der Psychotherapeut Dr. Frank Kramer steht vor einem Rätsel. Mehrere seiner Patienten träumen offenbar Nacht für Nacht denselben sonderbaren Albtraum: Sie durchwandern einen langen, dunklen Flur, in dem ihnen düstere Schatten auflauern. Getrieben von panischer Angst versuchen sie, der bedrohlichen Finsternis zu entkommen. Ein Lichtschalter an der Wand scheint die Rettung zu sein, doch diese Hoffnung ist trügerisch. Schließlich erreichen sie eine Tür am Ende des Flures. Sie zieht die Träumenden magisch an, obwohl sie große Angst haben, was sich dahinter verbergen mag. Noch bevor der Therapeut die Zusammenhänge erkennen kann, sterben Menschen an einem unaufhaltsamen Fluch – und niemand scheint sicher zu sein. Nicht nur die Polizei tappt bei diesem Fall im Dunkeln. Auch der erfahrene Privatdetektiv Kolja Novak ist zunächst völlig ratlos. Erst als er die Vergangenheit der Opfer durchleuchtet, stößt Kolja auf ein mysteriöses Kinderheim in der Nähe der Stadt. Obwohl dieses Heim vor vielen Jahren bei einem Brand zerstört wurde, birgt die Ruine noch immer ein finsteres Geheimnis. Und bald wird klar: Was dort geschah, hätte niemals in Vergessenheit geraten dürfen. Nach seinem düsteren Reise-Thriller „Blasket Islands“ nimmt Simon Nebeling den Leser nun mit auf eine Reise in die Welt des Übernatürlichen. „Trajanas Träume“ ist ein Mystery-Thriller, dessen furchteinflößende Spannung nicht nur auf einer Geistergeschichte, sondern vor allem auf dem Schrecken menschlicher Grausamkeiten basiert.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

Sie konnte sich nicht rühren. Die engen Fesseln, mit denen sie an den harten Stuhl gebunden war, schnitten in ihre Haut. Noch immer spürte sie den Schmerz, dort, wo er in sie eingedrungen war. Ein Gefühl, wie sie es noch nie erlebt hatte. Hart und leidenschaftlich, brutal und überwältigend. Sie hatte geschlafen, war erst durch seine Hand auf ihrem Mund aufgewacht. Sein Griff war erbarmungslos gewesen und das Blut ihrer aufgeplatzten Lippe hatte süß geschmeckt.

Draußen hallten nun seine Schritte durch den Flur, gedämpft durch die Tür ihres Zimmers. Er kam zurück und er würde es mitbringen, so wie immer. Nichts fürchtete sie mehr als die scharfe Klinge seines Messers. Und doch gehörte es dazu. Er brauchte es und sie ließ es geschehen. Jedes Mal.

Mit einer eigenartigen Mischung aus Angst und gespannter Erwartung hörte sie, wie der Griff heruntergedrückt wurde und sich die Tür leise quietschend öffnete. Seine Schritte waren nun ganz in ihrer Nähe. Noch ahnte sie nicht, dass sich die Tür gerade zum letzten Mal hinter ihm schloss.

Kapitel 1

Oktober 2011

Endlich war es so weit. An jedem einzelnen Tag der vergangenen Wochen hatte er sich die Herbstferien herbeigesehnt und nun waren sie gottlob gekommen. Voller Begeisterung stürmte Leon aus der Wohnung. Seine Schritte polterten durchs Treppenhaus und es kümmerte ihn gar nicht, dass die alte Frau im Vierten garantiert wieder rummeckern würde. Sein bester Freund Michael wohnte drei Stockwerke unter ihm. Leon erreichte seine Haustür in Rekordzeit und klingelte Dauerfeuer.

»Was zur Hölle ...«, fauchte Michaels Mutter wütend, als sie die Tür aufriss. Sie beruhigte sich jedoch schnell wieder, als sie den Störenfried erkannte. »Ach du bist es.«

»Hallo Frau Jung. Ist Michi schon fertig?«, fragte Leon.

»Na logisch, Alter«, rief sein Kumpel und erschien mit Jacke und Gummistiefeln im Flur. Für die beiden Jungen gab es kaum etwas Schöneres, als ihre freie Zeit gemeinsam im Wald zu verbringen. Viele Nachmittage des gerade vergangenen Sommers hatten sie vergnügt am Bachlauf hinter der alten Eiche gespielt. Es war Leons Idee gewesen, diesen Bach zu stauen und begeistert hatten die Jungen notwendige Äste und Zweige zusammengesucht. Sogar ein großes, unbehandeltes Brett hatte Michael aus dem Gestrüpp in der Nähe des Parkplatzes gezogen. Es war ihnen eine große Hilfe beim Bau gewesen. Stundenlang hatten sie an ihrem Damm gearbeitet, nur um einen Tag später vor den Trümmern ihres zerstörten Werkes zu stehen. Zerknirscht hatten sie einem schimpfenden Förster erklären müssen, warum das Wasser den kleinen Hang hinunter bis in die Waldhütte gelaufen war. Zum Glück kannte der Förster die beiden Jungen nicht. Michael war erst vor wenigen Monaten in das triste Neubaugebiet gezogen und Leons Familie hatte kaum Kontakte, obwohl sie schon seit einigen Jahren hier lebte.

»Wo wollt ihr beiden denn hin?«, fragte Frau Jung.

»Typisch Erwachsene!«, dachte Leon. »Immer müssen sie den Aufpasser spielen.«

»Wir gehen nicht weit weg«, versicherte Michael mit ernstem Gesicht. »Wir wollen bloß in den Wald, Mum.«

»Na schön, aber zum Mittagessen bist du zu Hause. Und sau dir nicht schon wieder die ganzen Klamotten ein. Ich hab sie gerade erst gewaschen.«

»Nein, nein, wir wollen nur Verstecken spielen.« Michael drehte sich zu Leon und verzog dabei genervt das Gesicht. Der konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Das habe ich gesehen, junger Mann.«

»Tut mir leid, hab dich lieb, tschüss!«, rief Michael und rannte wie ein geölter Blitz die Treppenstufen hinunter.

»Wiedersehn, Frau Jung«, sagte Leon lächelnd und folgte seinem Freund. Sekunden später erreichten die beiden Jungen die Haustür und stürmten ins Freie. Sie wohnten in einem düsteren Häuserblock unweit des Waldes. Leon hasste dieses Gemäuer von ganzem Herzen, doch seine Familie hatte nicht viel Geld und konnte sich deshalb nur hier eine Wohnung leisten. In der Schule waren die Zugezogenen so etwas wie Menschen zweiter Klasse. Wer nicht von Geburt an in dieser Gegend lebte, hatte bei den Jungen des Dorfes keine Chance. Sie bildeten eine eingeschworene Gemeinschaft, die Fremde bestenfalls ignorierte, meist aber ausgrenzte und schikanierte. Leons erstes Jahr in diesem Kaff war eine Zerreißprobe gewesen. Dies sollte sich jedoch mit einem Schlag ändern, als Michael in seine Klasse kam. Er erinnerte sich noch gut an den Morgen, als der rothaarige Junge von Frau Maier in den Klassenraum geschoben wurde. Nach einer entsprechenden Aufforderung der Lehrerin hatte er sich unsicher und schüchtern vorgestellt. Seine großen, abstehenden Ohren waren förmlich am Glühen gewesen und hatten dadurch fast die gleiche Farbe wie das feuerrote Haar angenommen, das sich stets auf seinem Kopf kräuselte. Leon hatte bei jedem einzelnen Wort mitgelitten. Zu gut kannte er das Gefühl, vor dieser Klasse zu stehen und nicht zu wissen, was man sagen sollte. Nach seiner Vorstellung hatten die anderen Kinder sofort begonnen, über Michael zu tuscheln und hinter vorgehaltener Hand zu lachen. Deutlich hatte Leon die Stimme des Klassenclowns Kevin herausgehört, wie er immer wieder ein einziges Wort sagte: Feuerpinsel. Dann war das Stimmengewirr jäh unterbrochen worden, als Frau Maier von den Kindern wissen wollte, wo sich der Neue denn hinsetzen könne.

»Bei mir, ... er kann bei mir sitzen!«, hatte Leon laut in die lang anhaltende Stille gerufen. Nie würde er den folgenden Moment vergessen: Ein Blickkontakt und ein Lächeln – die Geburtsstunde einer Freundschaft.

»Hey, wo bleibst du denn?«, rief Michael und riss Leon damit aus seiner Erinnerung. Der andere Junge hatte bereits das Ende der Straße erreicht. »Bist du am Träumen, oder was?«

»Nein, nein, ich komme«, antwortete er und rannte los so schnell er konnte. Er war bei Weitem nicht so sportlich wie sein Freund, ließ sich aber nicht anmerken, wie sehr dessen Tempo ihm zusetzte.

Schon fünfzehn Minuten später erreichten sie den kleinen Waldweg. Die Blätter der Bäume waren bereits vollständig verfärbt und das Laub raschelte bei jedem Schritt unter ihren Füßen. Eigentlich war das Versteckspiel nur eine Ausrede gewesen, doch es war zu kalt geworden, um am Bach zu spielen und ihnen fiel nichts Besseres ein. So wurde aus der Lüge kurzerhand eine Wahrheit.

»Du suchst als Erster!«, schlug Leon vor und Michael nickte zustimmend. Er entschied sich für einen großen Baum am Rand des Weges und lehnte sich dagegen, sodass seine Augen verdeckt waren. »Also los, hau ab!«, rief er und begann zu zählen.

Leon rannte los, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Sein Kumpel zählte unglaublich schnell, deshalb musste er bald ein geeignetes Versteck finden. Eilig schaute der Junge links und rechts ins Unterholz. Sollte er sich hinter den breiten Baum hocken? Oder in das kleine Gebüsch daneben? Er verwarf beide Ideen, denn er war sich absolut sicher, dass diese Verstecke viel zu schnell entdeckt würden. Andererseits konnte er in der Ferne hören, dass Michael bereits bis 78 gekommen war. Mann, konnte der schnell zählen! Schon bald würde er »Ich komme!« rufen.

Kurzentschlossen hielt Leon auf das nächstgelegene Gebüsch zu und kroch hinein. Auf allen Vieren robbte er immer tiefer in das Geäst, als er plötzlich stutzte. Irgendetwas hatte er mit seiner Hand berührt. Es war kalt gewesen und hatte sich glitschig angefühlt. Sofort untersuchte er, was dort auf dem Boden lag. Als er einen Zweig zur Seite schob, gefror ihm das Blut in den Adern.

* * *

Michael lehnte an dem Baum und ratterte die Zahlen nur so herunter. Es war üblich bis Hundert zu zählen und je schneller man dies tat, desto weniger Zeit blieb dem anderen, sich ein gutes Versteck auszusuchen. »Achtundachtzig, neunundachtzig ...«, rief er, hielt dann aber plötzlich inne. Hatte da nicht gerade Leon geschrien? Erschrocken hob Michael den Kopf. Als er die Augen öffnete, musste er einige Male blinzeln, denn die kalte Herbstsonne schien zwischen den Bäumen hindurch und stach ihm in die Augen. Er schaute sich um, aber sein Freund war weit und breit nirgends zu sehen. Wieder schrie jemand aus Leibeskräften und Michael zuckte zusammen. Es war definitiv die Stimme seines besten Freundes. Nie zuvor hatte er einen Menschen derartig schreien gehört. Der Schrei verstummte erst, als dem anderen Jungen offenbar die Luft ausging. Es folgte ein kurzer Moment der Stille, ehe Leon in der Ferne zu wimmern begann.

»Ich muss ihn finden!«, dachte Michael und bemerkte erst jetzt, dass er bereits einige Schritte gegangen war. Er folgte dem Waldweg und blickte sich dabei immer wieder suchend um. »Leon!«, schrie er so laut wie möglich. »Alles okay bei dir?« Keine Antwort. Nur das gleichbleibende Wimmern seines Freundes war zu hören. Panisch rannte Michael noch ein wenig schneller, doch das Rascheln des Laubs übertönte Leons Stimme. Deshalb musste er kurz stehen bleiben, um sich zu orientieren. Angestrengt lauschte er, richtete sich an dem Weinen aus und setzte sich wieder in Bewegung. »Leon, wo bist du?«, rief er. Dann kam ihm plötzlich ein Verdacht. Sollte das alles bloß ein Streich sein? Es sah Leon so gar nicht ähnlich, ihm absichtlich einen Schrecken einzujagen, aber sicher war Michael nicht. Und der Peinlichkeit, wegen eines dummen Scherzes ausgelacht zu werden, wollte er sich nicht aussetzen. Also rief er: »Hör auf mit dem Scheiß, das ist nicht lustig!«

Das Jammern wurde wieder lauter und sofort war er sich absolut sicher, dass dies kein Scherz war. Etwas Schlimmes musste passiert sein. Michael malte sich aus, wie Leon gestürzt war und nun mit einem gebrochenen Bein oder einer blutenden Wunde auf dem Waldboden lag. Er schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken beiseite zu schieben. Es half nichts, sich derartige Dinge auszumalen. Die Stimme seines Freundes wurde lauter, er war auf dem richtigen Weg. Dann endlich erkannte er, etwa zehn Schritte entfernt, Leons Gummistiefel in einem Gebüsch. Schnell lief er darauf zu und hockte sich neben ihn. Der Junge saß zusammengekauert da, hatte die Arme um die angezogenen Beine verschränkt und wippte mit dem Oberkörper vor und zurück. Tränen liefen ihm über die Wange und er starrte dabei mit ausdruckslosem Blick ins Leere.

»Mensch, hier bist du! Was ist denn los?«, fragte Michael und legte seine rechte Hand auf Leons Knie. Erst in diesem Moment schien der seine Anwesenheit zu bemerken und schaute ihn panisch an als kenne er ihn gar nicht. Sein starrer Gesichtsausdruck ließ Michael schaudern. Was konnte ihm so eine Angst gemacht haben? »Nun sag schon, was ist los mit dir? Bist du gestürzt?« Der andere Junge schüttelte den Kopf. »Hast du dich verletzt?«

Wieder schüttelte er den Kopf. Dann hob er langsam seinen Arm und deutete auf den Boden, etwas weiter hinten im Gebüsch. Michael stand auf und ging einen Schritt näher an die Stelle heran, auf die sein Kumpel deutete.

»Da ... da ... sieh doch ...«, brachte Leon ohne Stimme hervor. Und dann entdeckte Michael auch, was seinen Freund so geängstigt hatte. Auf dem Waldboden, umgeben von Zweigen und Blättern, lag die blasse Hand eines Menschen. Michael schluckte und spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er streckte seine Hand nach einem Zweig des Gebüsches aus.

»Nein ... tu das nicht!«, rief Leon noch, doch es war bereits zu spät. Michael hatte den Zweig zur Seite geschoben und erstarrte. Er blickte direkt in das Gesicht eines Toten. Die Augen des Mannes waren weit aufgerissen, aber trübe. In seinem offenen Mund tummelten sich Maden und andere Insekten. Er sah aus, als wäre er schreiend gestorben. Große Angst und unglaubliche Schmerzen waren das Letzte gewesen, das dieser Mann gespürt hatte, und sie hatten ihn im Sterben gezeichnet. Dunkelblaue Adern überzogen das blasse Gesicht und Blut war aus seinem Mund auf den Waldboden getropft. Es war inzwischen getrocknet. Michael zwang sich, den Blick von der Leiche abzuwenden. Alles um ihn herum schien sich zu drehen und er taumelte, bevor er sich zwei Schritte weiter übergab. Angewidert spukte er auf den Waldboden und versuchte dann tief durchzuatmen. Dabei schaute er zu Leon hinüber und kapierte mit einem Mal, dass sie nicht alleine waren. Hinter seinem Freund stand ein dunkel gekleideter Mann, der gerade nach ihm greifen wollte. Michael erkannte den Kerl sofort und wusste, dass dies kein Mensch war! Erst vor Kurzem hatte er einen Videofilm gesehen, in dem diese gemeine Killermaschine unschuldige Menschen gejagt hatte.

»Hinter dir!«, schrie er und Leon reagierte sofort. Er drehte sich um und bemerkte den Fremden gerade noch rechtzeitig, um seinem Griff auszuweichen. Blitzschnell war er auf den Beinen und wollte wegrennen, doch der Roboter packte ihn an der Schulter.

»Lassen Sie mich los!«, brüllte Leon und zappelte vergeblich. Der Griff dieses Mannes war einfach zu stark. »Hilfe!«

Endlich überwand Michael seinen Schrecken. Das konnte unmöglich der Roboter aus dem Film sein! Mit einem wilden Schrei und dem Mut der Verzweiflung rannte er auf den Fremden zu und traf ihn mit dem Kopf voran im Magen. Der finstere Kerl gab einen jammernden Laut von sich und sank auf die Knie. Leon schaffte es, sich zu befreien.

Die Kinder verloren keine Zeit und rannten weg. Michael hörte noch, wie der Fremde ihnen nachrief: »Hey, Kinder, bleibt stehen ...!«

* * *

Der Mann hielt sich den Unterleib und verfluchte diese beiden Strolche. Seinen Lippen entfuhr ein Stöhnen, als er sich wieder aufrichtete und die flüchtenden Kinder mit seinem Blick verfolgte. Für einen Moment überlegte er, ob er ihnen folgen oder sich um die Leiche kümmern sollte. Dann sammelte er hastig einige Blätter zusammen und bedeckte den Toten damit notdürftig. Zum Glück lag die Leiche etwas abseits des nahe gelegenen Weges und außerdem hinter einem Gebüsch versteckt. Niemand würde ihn finden – vorerst zumindest und auch nur vorausgesetzt, er konnte diese beiden Kinder daran hindern, Alarm zu schlagen.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die sterblichen Überreste vollständig mit Laub bedeckt waren. Dann schaute der Mann wieder nach den Kindern. Er konnte sie noch immer sehen, obwohl sie nur noch kleine Punkte waren, die zwischen den weiter entfernten Bäumen entlanghuschten. Endlich ließen auch die Schmerzen nach, die ihm dieser verfluchte Rotschopf beigebracht hatte. Er rannte los, doch folgte er nicht den beiden Jungen, sondern lief zu dem schmalen Weg hinüber und dann in die entgegengesetzte Richtung. Er war sich völlig sicher, dass er die beiden Kinder niemals zu Fuß einholen würde. Wenn er aber rasch sein Auto auf dem Parkplatz erreichte, hatte er eine gute Chance, die beiden noch vor der Ortschaft zu kriegen.

* * *

Noch nie in seinem Leben war Leon derart schnell gelaufen. Er war zwar nicht unbedingt übergewichtig, zählte aber auch nicht zu den Sportlichen. Er spürte wie sein Herz raste und rang bei jedem Schritt, den er weiterlief, nach Luft. Einmal schien es, als würde ihm schwarz vor Augen werden, aber die Angst vor dem finsteren Kerl hielt ihn bei Bewusstsein. Michael war Fußballer und dadurch wesentlich fitter. Er lief einige Meter vor ihm und drehte sich immer wieder zu ihm herum. »Na los, komm schon!«, rief er schließlich und legte selbst noch einen Zahn zu.

Leon konnte jedoch nicht schneller rennen. Alles tat ihm weh. Er presste seine Hand auf die schmerzende Stelle und fluchte. Anders als im Sportunterricht, gab es hier nicht die Möglichkeit, sich mit der Ausrede Seitenstechen auf die Bank zu setzen. Er musste einfach durchhalten! Also bemühte er sich, den Schmerz zu ignorieren und konzentrierte sich nur darauf, weiter zu atmen. Irgendwie gelang es ihm, ein Stück aufzuholen und er hörte, dass auch Michael keuchte und nach Luft rang. Bis jetzt hatte er sich nicht getraut, nachzuschauen, ob der Mann ihnen immer noch folgte. Doch nun fasste er all seinen Mut zusammen und blickte über seine linke Schulter. Nichts. Hinter ihm war keine Menschenseele. Leon drehte den Kopf zur anderen Seite, aber auch dort konnte er den Fremden nicht entdecken. Er wollte seinem Freund zurufen, dass sie langsamer laufen konnten, aber Michael war nicht mehr vor ihm. Panisch schaute er sich um. Michael war verschwunden! Leon verlangsamte sein Tempo und blieb schließlich stehen. Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen und ihm wurde schwarz vor Augen. Die Schmerzen in seiner Seite waren unerträglich und er beugte sich nach vorne, während er die Hände auf seinen Bauch presste.

Leon musste noch einige Male schwer atmen, bis er sicher war, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Dann erst konnte er seine Suche fortsetzen. Wohin war Michael bloß verschwunden? So sehr er sich auch anstrengte, er konnte ihn nirgends entdecken. »Michi?«, rief er atemlos.

»Hier!«, antwortete eine Stimme irgendwo im Wald. Leon drehte sich um, denn er hatte den Ruf irgendwo hinter sich ausgemacht. Jetzt endlich entdeckte er die Hand seines Freundes. »Hier drüben bin ich!«, rief er und winkte. Scheinbar war Michael gestürzt. Leon lief auf ihn zu und erkannte schon von Weitem, worüber sein Freund gestolpert war. Ein Stück hinter ihm ragte eine Baumwurzel aus dem Boden. Michael saß zusammengekauert davor und hielt sich das rechte Knie. Seine Jeans war an dieser Stelle aufgerissen und Blut quoll aus einer klaffenden Wunde.

»Alles okay bei dir?«, fragte Leon und hockte sich neben ihn.

»Es geht schon wieder«, antwortete Michael, »ist der Kerl noch hinter uns her?«

»Nein, ich kann ihn nirgends sehen. Ich glaube, dass er uns gar nicht gefolgt ist.«

»Wir sollten trotzdem nicht hier bleiben! Hilf mir bitte hoch!«

Leon griff nach der ausgestreckten Hand des anderen Jungen. Michael zog sich hoch, nur um mit einem Schmerzenslaut wieder auf den Boden zu sinken. Leon war besorgt. »Was ist los?«

»Es tut höllisch weh!«, jammerte Michael und hielt sich das Bein, ein Stück unterhalb der Wunde.

»Ist es gebrochen?«

»Ich weiß nicht!« Michael versuchte langsam sein Bein auszustrecken. »Ich glaube nicht.«

Leon betrachtete die Wunde genauer und nickte. »Ist nichts zu sehen!«, stellte er dann fachmännisch fest. »Meinst du, es wird gehen?«

»Wir müssen es einfach versuchen«, sagte Michael, »hilf mir auf, aber langsam!«

Diesmal schaffte der Junge es, trotz heftiger Schmerzen stehen zu bleiben. Langsam humpelte er los und Leon stützte ihn, so gut es eben ging. Bei jedem Schritt verzog Michael das Gesicht. So kamen sie nur langsam voran, aber Leon war trotzdem zuversichtlich, weil der Fremde noch immer nicht zu sehen war. Sicherheitshalber hatte er sich noch einmal umgeschaut. »Alles klar?«, fragte er nun.

Michael nickte. »Ich schaffe das schon!« Der rothaarige Junge ging ein wenig schneller, als wollte er seinem Freund beweisen, dass er es auf jeden Fall schaffen konnte.

Doch Leon bemerkte nur, wie sehr ihn jeder Schritt offenbar schmerzte. »Lass dir Zeit«, sagte er deshalb, »ich bin mir sicher, dass wir nicht verfolgt werden!«

* * *

Ihr Verfolger hatte inzwischen fast seinen Wagen erreicht. Er fuhr einen schwarzen SUV, den er nahe einer rot-weißen Absperrschranke geparkt hatte. Diese Absperrung sollte offenbar verhindern, dass Unbefugte mit ihrem Auto in den Wald hineinfuhren. Doch genau das war es, was der Mann nun beabsichtigte. Er erreichte die Schranke und versuchte sie hochzudrücken. Nichts rührte sich. Daraufhin stieß er einen leisen Fluch aus und untersuchte den Pfosten am vorderen Teil der Schranke. Eine halbrunde Metallvorrichtung hielt die Schranke in ihrer Position und war direkt am Pfahl mit einem großen Sicherheitsschloss befestigt. Der Mann rüttelte an dem Schloss, doch nichts tat sich. Mit bloßen Händen würde er es nicht öffnen können, so viel stand fest. Und jeder weitere Versuch kostete wertvolle Zeit, brachte die beiden Kinder der Siedlung im Westen des Waldes ein beträchtliches Stück näher. Wieder fluchte er, diesmal lauter und trat kraftvoll gegen den Pfosten. Dann setzte er seinen Weg zum Auto fort. Dabei überlegte er, was jetzt zu tun wäre.

Es gab nur noch eine Möglichkeit. Er musste den Weg, den er gekommen war, zurückfahren. Irgendwie musste es doch möglich sein, außen herum zu dem anderen Ausgang des Waldes zu gelangen. »Ich hätte den verdammten Straßenplan dieser Gegend genauer studieren müssen«, dachte er wütend. Es ärgerte ihn besonders, denn so was hielt er für einen typischen Anfängerfehler. Vorbereitung war das A und O in seinem Geschäft.

Endlich näherte er sich seinem Wagen und öffnete schon von Weitem die Zentralverriegelung mit der Fernbedienung. Das Licht der Warnblinkanlage erlosch gerade, als er die Fahrertür erreichte. Er riss sie auf und sprang hinein. Nervös und dadurch ungeschickt versuchte er, den Zündschlüssel an seinem Schlüsselbund zu finden. Mit zitternden Händen führte er den Schlüssel in das Zündschloss und drehte ihn herum. Der Wagen sprang augenblicklich mit kraftvollem Raunen an.

* * *

»Wir haben es fast geschafft!«, sagte Leon aufmunternd zu Michael. Er konnte bereits den Querweg sehen, der nach wenigen Minuten zum Dorf führte. Normalerweise. So langsam wie sie jetzt liefen, würden sie bestimmt noch einmal eine halbe Stunde brauchen.

»Oh Mann, meine Mutter bringt mich um!«, brachte Michael unter Schmerzen hervor. »Die Hose haben wir letzte Woche erst gekauft.«

»Scheiß auf die Hose!«, antwortete Leon. »Dein Bein ist jetzt erst mal wichtiger.«

Inzwischen waren sie auf dem Feldweg angekommen. Das Geräusch des Motors hörten die Kinder nicht, das Quietschen der Reifen erst, als es beinahe zu spät war. Im letzten Moment sprang Leon zur Seite und riss Michael mit sich. Der stürzte der Länge nach auf den Boden und schrie vor Schreck auf. Der große, dunkle Geländewagen kam wenige Zentimeter vor ihm zum Stehen. Ehe Leon es realisiert hatte, war der Fahrer auch schon aus dem Auto gesprungen und zu Michael hinübergelaufen. »Mensch Kinder, könnt ihr nicht aufpassen? Ich hätte euch beinahe überfahren!«, schrie er.

Als Leon bemerkte, was vor sich ging, setzte sein Herz einen Schlag aus. Er erkannte in dem Autofahrer den Fremden aus dem Wald. Auch Michael schien ihn wiedererkannt zu haben, denn er riss die Augen entsetzt auf, als der Unbekannte sich zu ihm hockte und die Verletzung an seinem Bein betrachtete.

»Das sieht ziemlich schlimm aus«, stellte der Fremde nun deutlich ruhiger fest.

»E ... Entschuldigung!«, stammelte Michael.

Mit einem Satz war Leon zu ihm hinübergerannt und hielt sich an dessen Schulter fest. »Ja ... es tut uns leid, aber wir ...«

Der Mann schien an ihren Entschuldigungen nicht interessiert zu sein. »Seid ihr in Ordnung?«, fragte er jetzt und seine Stimme klang tatsächlich besorgt. Doch Leon konnte nicht glauben, dass dieser Kerl wirklich etwas Gutes im Schilde führte. Jeden Moment würde er eine Waffe ziehen und sie beide töten, wie den armen Mann im Wald.

Sein Herz hämmerte wie wild. »Ha ... Haben Sie ...«, seine Stimme versagte.

»Habe ich was?«, fragte der Fremde, als hätte er tatsächlich keine Ahnung, worum es ging.

Leon deutete in Richtung des Waldes. »De ... den Mann?«, stammelte er.

Der Fremde hob seine Hände, mit den Handflächen nach vorne. »Ich versichere euch, ich habe diesem Mann nichts getan«, sagte er dann und schaute den Jungen, einen nach dem anderen, in die Augen.

»Sie lügen!«, brachte Michael hervor und Leon bewunderte seinen Mut. Gleichzeitig verfluchte er aber auch seine Dummheit. Doch jetzt war es raus und ihm blieb keine andere Wahl, als seinen Freund zu unterstützen.

»Genau! Sie haben diesen Mann getötet!«, sagte er und schaute den finsteren Kerl möglichst grimmig an.

»Was redet ihr nur für einen Unsinn?«, antwortete der und griff nach seiner hinteren Hosentasche. Jetzt war es also so weit. Jeden Moment würde er seine Waffe ziehen. Leon krallte sich in die Schulter des anderen Jungen. Er wagte kaum aufzublicken. Als er es dennoch tat, erkannte er sofort die Pistole. Sie steckte in einem Gürtelholster.

»Nein!«, schrie Leon und ging hinter seinem Freund in Deckung.

»Werden Sie uns jetzt auch töten?«, fragte Michael und schaute ängstlich zu dem Unbekannten hoch. Der zog statt der Waffe ein schwarzes Lederetui heraus und klappte es auf. Darin steckte ein Dienstausweis, den er den staunenden Jungen in die Hand drückte. Das Dokument zeigte ein Bild des Unbekannten, auf dem er etwas jünger wirkte, als er tatsächlich war. Prüfend verglich Leon, über die Schulter seines Freundes blickend, das Bild mit dem Gesicht des Mannes. Dann las er den Text daneben. Dienstausweis stand dort in großen Buchstaben und das Wort Kriminalpolizei etwas kleiner darunter. Schneider hieß der Unbekannte, sein Vorname war Jochen.

»Ihr seht also, dass ihr keine Angst haben müsst, Kinder«, erklärte der Fremde. »Ich bin bei der Polizei und suche seit einigen Tagen nach dem Mann im Wald. Danke für eure Hilfe. Ich übernehme ab hier!«

Leon spürte, wie die Angst von ihm abfiel. »Hat der Mann etwas Schlimmes angestellt?«, fragte er neugierig.

»Darüber darf ich mit euch nicht sprechen«, antwortete Jochen Schneider und schaute die Kinder dann sehr ernst an. »Und ihr dürft übrigens auch nicht über das sprechen, was ihr im Wald gesehen habt.« Dann blickte er sich um, als wolle er sichergehen, dass niemand sie belauschte. »Das ist nämlich streng geheim!«

Michael nickte verständnisvoll. »Und unseren Eltern? Dürfen wir es denen ...«, fragte er und seine Stimme klang, als gehörte er einer geheimen Verschwörung mit diesem Polizisten an.

»Auf keinen Fall!«, sagte der eilig. »Wenn ihr jemals über heute sprecht, müsste ich euch verhaften lassen!« Daraufhin hielt er ihnen seine rechte Hand entgegen. »Habe ich euer Wort?«

Leon nickte und sah, dass sein Freund das Gleiche tat. Noch einmal streckte der Mann ihnen seine Hand hin. Zuerst schüttelte Michael sie, dann auch Leon.

»Gut, dann macht, dass ihr nach Hause kommt«, sagte Jochen Schneider und blickte dann wieder auf das Bein des verletzten Jungen. »Soll ich euch ins Dorf bringen?«

»Nein«, erwiderte Michael, »es geht schon so!«

Leon stützte seinen Freund wieder und gemeinsam machten sie sich auf den Nachhauseweg. Sie waren noch nicht weit gekommen, als Leon noch einmal die Stimme des Fremden hinter ihnen hörte. »Und denkt an euer Versprechen!«, rief er.

* * *

Kolja Novak blickte den Kindern nach und grinste, als er wieder in sein Auto stieg. Er warf das Etui neben sich auf den Beifahrersitz. Sein Blick fiel auf den Dienstausweis, der ein wenig herausgerutscht war. Wie oft ihm dieses Ding wohl schon gute Dienste geleistet hatte? Kolja konnte die Male nicht mehr zählen. Darunter schaute ein anderes Dokument hervor. Presseausweis stand groß darauf und der angebliche Name des Eigentümers war Marc Debus. »Ach wie gut, dass niemand weiß ...«, sagte Kolja zu sich selbst und startete den Motor seines Autos. Er konnte sich ein weiteres, selbstzufriedenes Grinsen nicht verkneifen, als er aufs Gaspedal trat.

Kapitel 2

Jens lag auf dem Boden, als er die Augen aufschlug. Um ihn herum war es vollkommen dunkel. Nachdem sich seine Augen daran gewöhnt hatten, erkannte er die tristen, weißen Wände eines langen Flures. Direkt über ihm, an der dunklen Decke, hing eine Lampe mit mehreren Neonröhren. Sie war an dünnen Drähten befestigt und leuchtete nicht. Sein Kopf schmerzte, als er es schaffte, sich aufzurichten. Der hintere Teil des Korridors verschwand in der Finsternis, wodurch er beinah endlos wirkte. Jens konnte sich mit Mühe und Not in der näheren Umgebung orientieren. Er fröstelte, denn dieser Ort hatte etwas Bedrohliches. Und plötzlich war da dieses Gefühl, als wäre er nicht alleine hier. Jens schaute sich ängstlich um. Niemand war zu sehen. Dann stand er langsam auf. Nicht weit von ihm entfernt war eine Tür. Daran konnte er ein schwarzes Schild erkennen, auf dem mit krakeligen, weißen Buchstaben sein Name stand: Jens Wegener. Gleich neben der Tür befand sich ein Lichtschalter. Jens machte einen Schritt darauf zu. Das Licht würde die unheimliche Dunkelheit verbannen. Eilig drückte er den Lichtschalter, doch nichts geschah. Es blieb genauso dunkel wie zuvor. Er betätigte den Schalter noch einige Male. Ohne Erfolg. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, denn dieser Moment war ihm sonderbar vertraut. Die Nacht wurde jäh von einem gleißenden Licht erhellt, doch es verschwand ebenso schnell wie es gekommen war. Draußen herrschte offenbar ein schlimmes Gewitter. Jens griff nach der Türklinke, wollte in sein Zimmer stürmen und sich unter der Bettdecke verstecken, doch die Tür war verschlossen. So sehr er auch daran rüttelte, sie bewegte sich nicht.

Wieder erhellte ein Blitz den Raum. Jens wirbelte herum und presste sich panisch mit dem Rücken an die Tür. Ganz deutlich hatte er mehrere schemenhafte Gestalten gesehen, die mit ihm in diesem Flur waren. Seine Augen gaukelten ihm noch immer ihre Umrisse vor. Vergeblich starrte er in das umgebende Nichts, auf der Suche nach ihnen. Voller Angst schaute er nach links, dann nach rechts. Die drohende Gefahr war verschwunden. Sein Herz raste und er musste sich zwingen ruhig zu atmen. Auf einmal war ihm, als würde er von etwas berührt. Eine kalte, unsichtbare Hand griff nach seinem Arm. Jens schaute auf seine Hand. Sie wurde blass – leichenblass. Adern traten als blaue Linien unter der bleichen Haut hervor und der Griff um sein Handgelenk wurde fester und fester. Wieder blitzte es, doch konnte er nichts erkennen. Die fremde Gestalt, die seinen Arm gepackt hatte, blieb unsichtbar. Einen Moment lang war er wie erstarrt gewesen, doch nun ergriff Panik sein Herz. Er schaffte es, sich aus dem Griff zu befreien und stürzte den Gang hinunter, in die Dunkelheit. Er rannte und rannte, doch blieb das Gefühl, die unheimliche Gestalt direkt bei sich zu haben. Ängstlich drehte er sich im Laufen herum, konnte aber nichts erkennen. Dadurch bemerkte er das Ende seines Fluchtweges zu spät und rannte mit voller Wucht gegen eine schwere Tür. Sein dumpfer Aufprall hallte durch das Haus, als Jens zu Boden fiel und schmerzhaft auf den Rücken knallte. Der Sturz presste ihm die Luft aus den Lungen und eine Weile lag er wie benommen am Boden. Alles tat ihm weh, als er es endlich schaffte, sich wieder aufzurichten. Aus seiner Perspektive schien die Tür riesig zu sein. Bedrohlich ragte sie über ihm auf.

Daneben hing das gleiche dunkle Schieferschild mit hellem Holzrahmen, das er auch neben seinem Zimmer gesehen hatte. Kein Name stand darauf. Doch plötzlich hörte er ein Quietschen, als würde Kreide über den Schiefer gerieben. Das Geräusch schmerzte in seinen Ohren und Jens presste die Hände auf sie so fest er konnte. Ohne Erfolg! Er hörte die schrecklichen Töne weiter. Es schien ihm, als mische sich das Quietschen der Kreide mit dem lauten und schrillen Schrei eines Mädchens. Immer lauter wurden die unerträglichen Geräusche und auch Jens schrie nun vor Schmerzen, während er sich die Hände fester auf die Ohren presste. Von einer unsichtbaren Hand wurden Buchstaben auf die Tafel neben der Tür geschrieben. Ehe Jens das Wort entziffern konnte, wachte er schreiend auf und fand sich in seinem Bett wieder. Er war allein, dessen vergewisserte er sich
gründlich – das tat er jedes Mal, wenn er diesen furchtbaren Albtraum hatte. Draußen war es schon lange hell und die Strahlen der Sonne schmerzten in seinen Augen. Er blinzelte einige Male und starrte dann auf den Radiowecker neben seinem Bett. Es war acht Minuten nach elf.

»Alles nur ein Traum«, bestätigte er sich selbst und versuchte die Erinnerungen an den Schrei des Mädchens zu verdrängen.

* * *

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Kolja Novak zum zweiten Mal den Waldparkplatz erreichte. Heute war kein guter Tag. Am Morgen hatte er eigentlich nur mit Thorsten Hauser sprechen wollen, jenem Mann, der nun tot unter einem Laubhaufen im Wald lag. Doch er war zu spät gekommen und darüber ärgerte er sich. Wäre er mehr auf Zack gewesen, hätte er das Ganze vielleicht verhindern können. Pünktlich um neun Uhr war er am Haus des Mannes angekommen, hatte geklingelt, anschließend geklopft. Es war ihm sofort ungewöhnlich vorgekommen, als niemand die Tür öffnete. Kolja hatte diesen Mann sorgfältig durchleuchtet, bevor er sich zu einem Gespräch entschied. Thorsten Hausers Leben war ihm geradezu zwanghaft geordnet erschienen: Aufstehen um sechs, Jogging um halb sieben, heiße Dusche um halb acht, dann ein leichtes Frühstück. Gegen Viertel nach neun war Thorsten dann stets an seinen Schreibtisch gegangen, um mit der Arbeit zu beginnen, wobei in seinen Unterlagen zumeist neun Uhr als Arbeitsbeginn stand. Der Mann war bei einer dubiosen Internetfirma angestellt gewesen und hatte seine Arbeit vom heimischen Arbeitszimmer aus erledigt. Ihn nicht anzutreffen hatte Kolja nervös gemacht, da er bereits wusste, was mit den anderen geschehen war. Also war er an den Joggingpfad, nicht weit vom Haus der Zielperson, gefahren und hatte, kaum dass er dort angekommen war, auch schon den Schrei des Jungen gehört. Er musste herausfinden, was mit all diesen Menschen passierte. Er war es seinem Auftraggeber schuldig. Und er war es ihr schuldig.

Es beunruhigte ihn etwas, festzustellen, dass bereits ein anderes Auto auf dem Waldparkplatz stand. Kolja parkte mit einigem Abstand neben dem rostigen Kleinwagen. Zuerst hatte er befürchtet, weitere Jogger seien inzwischen gekommen und würden nun ihre Runden im Wald drehen. Das hätte seine Arbeit erheblich erschwert. Doch als er sich dem Fahrzeug näherte, stellte Kolja fest, dass die Personen noch darin saßen. Es war ein junger Mann, höchstens zwanzig, und ein Mädchen, das er auf nicht mal siebzehn schätzte. Die beiden schienen mit ihren Lippen aneinandergewachsen zu sein, genauso wie die Hand des Jungen offenbar an ihrem Busen klebte. Das Knutschen der beiden erinnerte ihn mehr an einen Amateurringkampf als an ein erotisches Liebesspiel. Kolja grinste, als ihm eine Idee kam. So würde er das lästige Liebespaar zweifellos in die Flucht schlagen.

Zielstrebig ging er auf das Auto des Pärchens zu und lehnte sich an das Fenster der Fahrerseite. Mit der Hand schirmte er seine Augen gegen die Sonne ab. Der junge Mann im Innern hatte offenbar den plötzlichen Schatten bemerkt, den Koljas Körper in sein Auto warf, denn er drehte sich ruckartig um und schaute ihn verdattert an. Dann verzog er sein Gesicht zu einer grimmigen Fratze und bedeutete dem Störenfried mit einer Handbewegung, dass er verschwinden solle. Auch das Mädchen hatte inzwischen bemerkt, dass sie beobachtet wurden und wirkte peinlich berührt. Ihre auf einmal rot glühenden Pausbäckchen veranlassten Kolja, seine Schätzung ihres Alters noch einmal nach unten zu korrigieren. Kolja Novak ließ sich davon nicht beirren. Mit deutlicher Begeisterung starrte er ins Wageninnere und leckte sich eifrig die Lippen. Dies wurde dem Mädchen dann offenbar zu viel und sie befahl ihrem Freund, etwas zu unternehmen. Der rechnete sich scheinbar keine großen Chancen gegen den breitschultrigen, muskulösen Spanner aus und startete den Motor, während er Kolja einige Beleidigungen durch das geschlossene Fenster entgegenrief. Schotter wurde aufgewirbelt, als das Auto des Pärchens mit aufheulendem Motor davonjagte. Kolja grinste zufrieden und kehrte zu seinem eigenen Fahrzeug zurück. Er öffnete die Tür auf der rechten Seite und griff nach seinen schwarzen Lederhandschuhen, die auf dem Beifahrersitz lagen. Er zog sie sich über, während er auf den Waldrand zuging.

* * *

Jens hatte sich noch immer nicht von den unheimlichen Bildern seines Albtraumes erholt. Er saß auf der Bettkante und rieb sich mit den Händen das Gesicht. Für einen kurzen Moment sah er die Flammen, spürte die Hitze des Feuers. Sofort zog er seine Hände zurück und blickte sich erschrocken um. Kein Feuer. Alles war gut. Schnell öffnete er die oberste Schublade der kleinen Kommode, die neben seinem Bett stand. Mit zitternden Händen griff er nach einem kleinen, runden Döschen aus braunem Plastik. Er öffnete den weißen Deckel und ließ ein paar der roten Tabletten in seine Hand fallen. »Es sind äußerst starke Antidepressiva«, hatte der Arzt gesagt, als er ihm das Medikament verschrieb, »nehmen Sie nicht mehr als eine am Tag.« Jens neigte jedoch dazu, diesen Hinweis nicht ganz so ernst zu nehmen. Genauso wenig wie das Verbot, dieses Medikament mit Alkohol zu mischen. Weitere Döschen mit anderen Medikamenten, in allen erdenklichen Farben und Formen, folgten. Dann endlich fühlte er sich bereit für den Tag und machte sich auf den Weg in die Küche. Sein erstes Ziel war der Kühlschrank. Daran hingen, mit lustigen bunten Magneten aus verschiedenen Müsli-Packungen befestigt, weniger lustige, aber ebenso bunte Briefe. Jens hatte gelernt all dies zu übersehen. Das Kündigungsschreiben seines letzten Arbeitgebers, die Mahnungen der Gläubiger und das x-te Schreiben der Scheidungsanwältin seiner Frau außerhalb des Kühlschranks ignorierte er genauso wie den Schimmel am Rand einer Plastikschüssel im Inneren. Stattdessen griff er nach der Milchpackung in der Seitentür und schraubte den runden Plastikverschluss ab. Ein Schluck Milch würde den unangenehmen Nachgeschmack der Tabletten vertreiben, hoffte Jens und sollte nicht enttäuscht werden. Der säuerliche Geschmack der klumpigen Flüssigkeit drehte ihm augenblicklich den Magen um und er schaffte es gerade noch bis zum Spülbecken, bevor er sich übergeben musste.

»Oh Scheiße!«, brachte er hervor und spuckte noch einmal in das Becken. Dann drehte er den Wasserhahn auf und ließ eine Menge Wasser hineinlaufen, ehe er sich auf die Suche nach etwas Essbarem machte, das nicht verschimmelt oder verfault war. Er fand eine Packung Eier, die noch bis zum nächsten Montag genießbar waren und zwei
Toastbrot-Scheiben, die allem Anschein nach noch in Ordnung waren. Er schob sie in den Toaster und suchte anschließend nach der Pfanne. Merkwürdigerweise weckte es Erinnerungen an seine Kindheit, als er die Eier an der Arbeitstheke aufschlug und ihren Inhalt in die heiße Pfanne goss.

Nicht selten hatte er sich selbst das Frühstück machen müssen. Das alles war nun schon über 25 Jahre her, doch er wusste es noch, als wäre es gestern geschehen.

Mai 1985

Mutter hatte ihm verboten an den Herd zu gehen. Und wenn sie ihm etwas verbot, war es meistens besser auf sie zu hören. Diese simple Erkenntnis hatte mehr mit der Schlagkraft ihrer Hand als mit der Weisheit ihrer Worte zu tun. Doch er hatte keine andere Wahl. Seine Mutter lag im abgedunkelten Schlafzimmer und hatte ihre Migräne. Die bekam sie immer zwei Tage nachdem sie einen Großeinkauf im Schnapsladen um die Ecke gemacht hatte. Jens kannte das Ritual, solange er zurückdenken konnte: Seine Mutter nahm eine neue Arbeitsstelle an, schaffte es zwei oder drei Wochen, dort einigermaßen regelmäßig hinzugehen, dann kam der Besuch im Schnapsladen und schließlich die Migräne. Diesmal dauerte sie ungewöhnlich lange. Seit mehreren Tagen hatte sein Essen bloß aus den Überresten des Pausenbrotes einiger Mitschüler bestanden und natürlich aus den Äpfeln, die er manchmal im Supermarkt nahe der Schule mitgehen ließ.

Durch Zufall hatte er die Eier im Kühlschrank entdeckt. Echtes, warmes Essen war für ihn bloß noch eine schwache Erinnerung der Vergangenheit gewesen und er hatte in diesem Moment beschlossen, fortan selbst für sich zu sorgen. Zuvor jedoch hatte er sorgfältig geprüft, dass seine Mutter noch schlief. Anschließend hatte er die Tür zum Schlafzimmer geschlossen und das Fenster in der Küche geöffnet. Es war gar nicht so einfach gewesen, die Eier in die Pfanne zu bringen. Einen erfolglosen Versuch des Aufschlagens hatte er mit dem Küchentuch vom Boden aufwischen müssen, ein zweiter war nur knapp neben der Pfanne gelandet. Die Eier Nummer drei bis fünf waren heil in der Pfanne gelandet und brutzelten vor sich hin, während Jens versuchte, das Chaos in der Küche zu beseitigen.

Als er gerade die Margarine in den Kühlschrank zurückstellte, wurde plötzlich die Tür aufgerissen und seine Mutter stürmte herein. »Was zur Hölle machst du denn schon wieder hier?«, brüllte sie.

»Ich ... ich wollte bloß ...«, stammelte Jens ängstlich und schloss die Kühlschranktür. Ihre Hand traf ihn so fest im Gesicht, dass sein Kopf nach hinten geschleudert wurde. Für einen Moment sah Jens nur Sterne und seine Backe fühlte sich an, als wäre sie gerade explodiert. Danach packte sie die Bratpfanne, warf sie in den Ausguss und drehte das Wasser auf, als hätte etwas gebrannt. Tränen rannen ihm über die schmerzende Wange, während der Wasserdampf zur Zimmerdecke aufstieg.

»Kannst du nicht mal für einen Tag keinen Mist anstellen?«, brüllte seine Mutter.

Jens schwieg. Das tat er immer in solchen Momenten.

»Verdammt! Ist denn ein bisschen Rücksicht zu viel verlangt?« Sie starrte ihn an und wartete auf eine Antwort. Doch die kam nicht. »Ich habe dich etwas gefragt!« Ihre Stimme wurde nun schrill, sie verlor die Beherrschung. »Ist es zu viel verlangt, Rücksicht auf seine alte, kranke Mutter zu nehmen?«

»Nein«, brachte Jens weinend hervor, »ich hatte nur ...«

Wieder traf sie ihn mit voller Wucht im Gesicht, diesmal auf der anderen Seite. Den Abdruck ihrer Hand würde am nächsten Tag bestimmt jeder in der Schule sehen können.

»Nichts als Unsinn im Kopf und dann auch noch frech werden!«, schrie sie und holte zum nächsten Schlag aus. Doch diesmal war Jens vorbereitet. Flink duckte er sich ab und wich so ihrer Hand aus. Er kam ins Straucheln und musste sich am Waschbecken festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Seine Mutter war rasend vor Wut. »Was fällt dir ein?«

»Du bist nicht krank«, hörte er sich selbst sagen, noch ehe er begreifen konnte, was er da tat, »nur besoffen!«

»Na warte, jetzt kriegst du eine Abreibung, dass du drei Tage nicht sitzen kannst!«

Sie meinte es ernst, das wusste er. Schon einmal hatte sie diese Drohung wahr gemacht. Panik stieg in ihm auf, denn sie war ihm bei Weitem körperlich überlegen. Und in diesem Moment realisierte Jens die Pfanne im Waschbecken. Blitzschnell griff er nach dem Stiel und schleuderte sie in hohem Bogen auf seine Mutter. Das Wasser aus der Pfanne spritzte auf den heißen Herd, ihr Blut spritzte an die Tür des Kühlschrankes. Dann sank sie neben dem Herd zu Boden und wimmerte. Jens rannte aus der Küche und verschwand in seinem Zimmer.

Oktober 2011

Kolja schob das Laub zur Seite und stellte dabei fest, dass der Anblick der Leiche noch nichts von seinem Schrecken verloren hatte. Er schauderte bei der Vorstellung, wie sehr dieser Mensch vor seinem Tod gelitten haben musste. Die Augen waren das Schlimmste! Was hatten sie als Letztes gesehen? Nun ging er in die Hocke und untersuchte das Gesicht des Toten näher. In seiner Mundhöhle hatten sich bereits etliche Maden in unterschiedlichen Entwicklungsstadien daran gemacht, verwesendes Gewebe zu fressen. Das war mehr als ungewöhnlich, denn eigentlich konnte Thorsten Hauser noch gar nicht lange genug tot sein. Kolja begann nachzurechnen, wann er diesen Mann das letzte Mal lebend gesehen hatte. Angewidert drehte er den Kopf weg, als ihm der Gestank von Fäulnis in die Nase stieg. Daraufhin kramte er eilig ein Taschentuch aus seiner Jackentasche und hielt es sich vor Nase und Mund. Das half nur mäßig und Kolja musste aufstehen, um wieder frischere Luft atmen zu können. Mit etwas Abstand fiel ihm die Kleidung des Toten auf. Thorsten Hauser hatte im Moment seines Todes einen Jogginganzug getragen, was die Todeszeit auf die Stunde zwischen halb sieben und halb acht eingrenzte. Und zwar ohne Zweifel am heutigen Tag, denn gestern Vormittag hatten sie noch miteinander telefoniert.

Er schüttelte den Kopf. »Unmöglich«, sagte er zu sich, »dieser Körper liegt länger als 48 Stunden hier. Viel länger!« Weniger als sechs Stunden waren ausgeschlossen, das wusste er sicher, denn er hatte oft genug in seinem Leben den makabren Vorträgen des Leichenbeschauers zugehört.

Nun holte Kolja eine kleine Digitalkamera aus seiner Tasche. Er machte einige Fotos von dem Toten. Dazu ging er einmal um ihn herum, um möglichst alle Perspektiven zu erfassen. Dann blieb er am Kopfende stehen und betrachtete das kleine Display der Kamera, während er die Bilder im Schnelldurchlauf anschaute. Eines der Bilder weckte sein Interesse und er blickte genauer auf die Abbildung, dann zur Leiche. Er hatte sich nicht geirrt. Kolja erkannte etwas Gelbliches in der Hand des Toten und machte einen Schritt nach vorne. Nun hockte er sich hin, um die Hand untersuchen zu können. Sogar die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt, das bemerkte er, als er das Objekt an sich nehmen wollte. Auch das passte nicht zur vermuteten Todeszeit, denn bei solchen herbstlichen Temperaturen, wie sie gerade herrschten, würde es deutlich mehr als fünf oder sechs Stunden brauchen, bis die Leichenstarre den Arm erreicht hatte. Es dauerte eine Weile, bis Kolja es schaffte, einen gelben Notizzettel hervorzuziehen.

* * *

Im Fernsehen gab es die übliche Schlacht am Vormittag zu sehen. Ein modern gekleideter Moderator räkelte sich auf der Showtreppe seines Studios und interviewte weit weniger modisch gekleidete Menschen. Seit er seinen Job verloren hatte, kam Jens des Öfteren in den Genuss dieser Talkshows. Dies mochte der Grund sein, warum man es landläufig als Hartz-IV-Fernsehen bezeichnete. Die Kamera fing gerade die klatschende Zuschauermenge ein, offenbar hatte einer der Talkgäste etwas gesagt, was die Zustimmung der Massen erregte.

»Ich bin fertig mit dir«, sagte ein schlecht rasierter Mann, der zur Feier der Aufzeichnung seinen schönsten Jogginganzug auftrug.

»Aber ich liebe dich immer noch«, antwortete eine kleine, übergewichtige Blondine, deren Gesicht und Stimme Jens irgendwie an ein kleines, quiekendes Schweinchen erinnerten. »Bitte gib uns noch eine Chance!«, bettelte sie.

»Aber ich bin jetzt mit Achim zusammen!« Diese Information schlug bei der Ex-Freundin ein wie eine Bombe.

»Du ... du bist schwul?«, stammelte sie.

Diese überraschende Wendung des Gesprächs war Jens eindeutig zu viel. Er suchte nach der Fernbedienung und fand sie unter dem zerknäulten Couchkissen. Mit einem schnellen Knopfdruck machte er dem Trauerspiel ein Ende. Dann schob er seinen Frühstücksteller zur Seite, auf dem noch eine halb angebissene Scheibe Toastbrot, etwas Rührei und ein großer See aus Ketchup waren. Nun konnte er seine Beine auf den Couchtisch legen. Beinahe hätte er dabei ein sechseckiges Glas vom Tisch gestoßen, konnte es aber im letzten Moment retten. Er hielt es fest in seiner Hand, während er es sich bequem machte.

»Aber ich liebe dich immer noch«, hatte das Schweinchen gesagt. Jens standen die Tränen in den Augen, als er über diesen Satz nachdachte und er betäubte den Schmerz mit dem Rest der bräunlichen Flüssigkeit in seinem Glas. Der Alkohol brannte ihm die Kehle hinunter. Sein Blick fiel auf das Telefon. Es stand am anderen Ende der Couch, auf einem kleinen Hocker. Jens streckte sich in diese Richtung und bekam das Mobilteil des Telefons zu fassen. Er drückte auf die Taste, über der ein aufgeschlagenes Buch abgebildet war und ging die Einträge des Telefonbuches durch. Der dritte Name, der angezeigt wurde, war Carmen. Einen Moment schwankte er hin und her zwischen dem Anrufen der Nummer und dem Weglegen des Telefons. Erst nachdem er sich nachgegossen und einen weiteren, großen Schluck aus dem Glas genommen hatte, entschloss er sich dazu, die Abheben-Taste zu drücken.

* * *

Das Schreien ihres Babys riss sie aus dem Schlaf. Müde tastete sie nach ihrem Freund, doch die andere Bettseite war leer. Dann erst realisierte sie, dass es bereits helllichter Tag war. Maik war schon seit Stunden auf der Arbeit. Carmen fragte sich, wie er das bloß nach dieser Nacht geschafft hatte. Cathleen hatte keine Stunde am Stück geschlafen und abwechselnd waren sie aufgestanden, um sie zu beruhigen.

Sie gähnte und krümelte sich aus dem Bett. Es half alles nichts, sie musste nachschauen. Verschlafen taumelte sie ins Kinderzimmer. Über Cathleens Bettchen hing ein Mobile aus Wolken und niedlichen Engeln. Der Engel darunter schrie aus Leibeskräften und Carmen konnte bereits riechen weshalb, als sie die Kleine aus dem Bett hob.

»Uh«, brachte sie angewidert hervor, »da braucht wohl jemand eine frische Windel, wie?«

Sie ging zum Wickeltisch hinüber und begann, mit geschickten Fingern, die Schlafhose des Babys zu öffnen. Glücklicherweise hatte Cathleen aufgehört zu schreien und beobachtete ihre Mama nun bei jedem Handgriff ganz genau. Nachdem sie die Hose ausgezogen, die Windel geöffnet und entsorgt sowie den Po der Kleinen gereinigt hatte, griff sie nach einer neuen Windel. Sie griff ins Leere.

»Verdammt!«, sagte sie. »Wo sind denn die neuen Windeln?« Cathleen antwortete nicht, glotzte ihre Mutter nur groß an. »Du hast recht, die müssen noch in der Vorratskammer liegen!«, sagte die und legte sich ein weißes Tuch über die Schulter, ehe sie das Baby darauf packte. So machten sie sich auf den Weg in die Küche. Auf halbem Weg durch den Flur hörte sie das Telefon klingeln. »Auch das noch!«, stöhnte sie. Dann nahm sie das Telefon aus der Ladestation neben der großen Vase und drückte einen der Knöpfe. »Hallo?«

Die Stimme am anderen Ende war undeutlich und verrauscht. »Carmen?«

»Wer ist da?«

»Ich bin’s!«

Carmen seufzte. Wieso war sie überhaupt ans Telefon gegangen? Um diese Uhrzeit gab es ohnehin nur eine Person, die sie anrufen konnte. »Jens?«

»Ja, ...«, antwortete der, »... wie geht’s dir, Carmen?«

»Okay«, dachte sie sich genervt, »tun wir also so, als hätte es all die Gespräche davor nicht gegeben.« Dabei setzte sie ihren Weg zur Küche fort. »Wie soll es mir schon gehen? Cathleen ist gerade aufgewacht und ich habe alle Hände voll zu tun.«

»Wie geht es unserer Tochter?«, fragte Jens nun. Seine Stimme klang ehrlich interessiert, doch das kümmerte Carmen nicht im Geringsten. Er war kein Teil ihres Lebens mehr und sollte es auch nie wieder werden.

»Ganz gut, sie schläft jetzt die Nächte durch«, log sie, bloß um nicht noch mehr rührende, väterliche Sorge ertragen zu müssen.

Jens gab sich offenbar mit dieser Information zufrieden. »Das sind gute Nachrichten«, sagte er. »Und wie geht es Maik?«

Jetzt riss Carmen endgültig der Geduldsfaden. Sie war gerade damit beschäftigt, die weiße Schiebetür der Vorratskammer zu öffnen, was mit dem Baby auf der Schulter und dem Telefon in der Hand geradezu akrobatisch wirkte. Und zu allem Überfluss sabberte ihr das Kind in den Nacken. In solchen Momenten war Jens mit Sicherheit der letzte Mensch auf dem Planeten Erde, den sie hören wollte. »Komm bitte zur Sache. Was willst du?«, sagte sie schroff. Ihre Stimme klang unglaublich genervt, wie sie zufrieden feststellte.

Offenbar hatte Jens nicht mit dieser Frage gerechnet, denn er musste eine Weile darüber nachdenken, ehe er antworten konnte. »Ich wollte eigentlich nur fragen, ob das Geld bei dir angekommen ist«, sagte er dann und Carmen zweifelte die Aufrichtigkeit seines Interesses an. Zu gut kannte sie ihren Ex-Mann und ihre weibliche Intuition verriet ihr sofort, wenn er sie anlog.

»Wenn du damit die Unterhaltszahlungen für unsere gemeinsame Tochter meinst«, sagte sie mühsam beherrscht, »nein, es ist bis heute kein Geld angekommen.«

»Wirklich nicht?«, fragte Jens daraufhin. »Ich hatte es dir doch überwiesen.« Es folgte eine längere Pause, ehe ihr Ex-Mann plötzlich wütend ins Telefon schrie. »Verfluchte Scheiße!«

* * *

Ein bisschen schämte er sich dafür, Carmen so anzulügen, doch die Wahrheit würde ihr auch nicht helfen. Sein Arbeitgeber hatte ihn entlassen und die Unterstützung, die er vom Amt bekam, reichte kaum für den eigenen Lebensunterhalt. Das sah jedoch der überhebliche Schlipsträger auf dem Amt ganz anders. Er hatte Jens nüchtern vorgerechnet, weshalb bei den Zahlungen des Amtes genug Geld übrig bleiben müsste, um Cathleens Unterhalt zu zahlen. Einen Sonderantrag für Alkoholiker gab es offenbar nicht und so hatte Jens, wie auch in den Monaten davor, zwischen dem Geld für seine Tochter und dem Alkohol gegen seinen Kummer entscheiden müssen. Nicht, dass er da wirklich eine Wahl gehabt hätte.

Trotzdem fühlte er sich mies dabei und griff nach dem Überweisungsformular, das vor ihm auf dem Couchtisch lag. Der Betrag darauf war astronomisch. Nicht mal in guten Monaten konnte er hoffen, auch nur die Hälfte dieses Betrages übrig zu behalten, und dies war kein guter Monat. Als er das Papier auf den Tisch zurückwerfen wollte, landete es direkt in seinem schmutzigen Teller. Schnell nahm Jens die Beine vom Couchtisch und hob es wieder auf. Doch es war bereits zu spät. Der Ketchup tropfte von dem Formular und er schimpfte darüber.

»Verfluchte Scheiße«, rief er.

»Was ist denn los?«, fragte Carmen genervt.

»Ach, gar nichts«, stotterte er und streifte den Ketchup am Rand des Tellers ab. »Ich hatte nur ... also, mir ist ... egal, vergiss es!«

Einen Moment schwieg Carmen und ihre Stimme klang resigniert und unglücklich, als sie weitersprach. »Hast du wieder getrunken?«

»Wie kommst du denn darauf?«, antwortete Jens ein wenig zu schnell und er musste sich eingestehen, dass seine Stimme nicht unbedingt glaubwürdig klang. Er verfluchte den Alkohol, denn er wusste sehr wohl, was er ihm schon alles zerstört hatte.

»Wie ich darauf komme?« Ihre Stimme wurde lauter, während sie das sagte. »Weil ich dich in den zwei Jahren, die wir zusammen waren, keinen einzigen Tag nüchtern erlebt habe.«

Jens musste sich eingestehen, dass sie vermutlich die Wahrheit sagte. Es hatte in ihrer Beziehung zweifellos gute und schlechte Tage gegeben. An schlechten Tagen hatte er getrunken, um den Schmerz zu betäuben und an guten Tagen, um auf ihr gemeinsames Glück anzustoßen. Trotzdem verletzte es ihn, dass sie dies ansprach.

»Hey, mach mal halblang«, sagte er mit beleidigtem Tonfall. »Bist du deswegen mit Maik zusammengekommen?«

Sie atmete schwer am anderen Ende der Leitung. »Nein, deswegen habe ich dich verlassen«, stellte sie dann nüchtern fest. »Mit Maik bin ich zusammengekommen, weil er ein sympathischer Mann und ein liebevoller Vater ist.«

Ein liebevoller Vater! Diese Worte rissen Jens den Boden unter den Füßen weg. Er sollte Unterhalt für das Kind zahlen und dieser Maik war ein liebevoller Vater? Wütend starrte er auf den Überweisungsträger in seiner Hand. »So, so, ein liebevoller Vater also?«, brachte er mühsam beherrscht hervor. »Für meine Tochter, meinst du ...?« Seine Stimme vibrierte bei den letzten Worten.

»Jetzt hör endlich auf mit diesem Blödsinn«, rief sie kühl und distanziert. »Du hast dich doch noch nie für unsere Tochter interessiert. Und ich bin mir sicher, dass du auch kein Geld überwiesen hast. Deshalb frage ich mich, warum du angerufen hast.« Jens hätte nicht sagen können, was ihn mehr traf. Die Vorwürfe, die Carmen gegen ihn erhob oder der Umstand, dass sie den Tatsachen entsprachen. »Ich warte«, sagte Carmen erbarmungslos fordernd. »Also, Jens, zum letzten Mal: Warum hast du angerufen?«

Seine Stimme klang unglaublich wehleidig, als er antwortete. »Ist dir das nicht klar?«, jammerte er. »Ich liebe dich, Carmen.«

»Hör auf, ich will nichts mehr davon hören, die Trennung war das Beste an unserer Beziehung!«, sagte sie barsch und ihre Worte versetzten ihm einen neuerlichen Stich ins Herz. Jens ertrug Carmens schonungslose Ehrlichkeit nur noch mit Mühe. Ihre Worte waren so verdammt hart. Und er wusste, weshalb sie ihn verlassen hatte: Er war dazu nicht in der Lage gewesen. Wann immer ihm eine Beziehung in seinem Leben zu eng wurde, brachte er nicht den Mut auf, sie selbst zu beenden. Stattdessen provozierte und enttäuschte er die Frauen so lange, bis sie endlich mit ihm Schluss machten. Danach waren sie die Bösen und er konnte sich in Selbstmitleid suhlen. Diese Erkenntnis traf ihn nun wie ein Schlag und er rang augenblicklich mit den Tränen.

»Ich weiß, du bist sauer auf mich«, sagte er und versuchte überzeugend zu klingen, »und du hast auch allen Grund dazu! Aber ich weiß, ich kann mich ändern ...« Er machte eine Pause und wartete auf eine Antwort, irgendeine Reaktion am anderen Ende, die zeigte, dass seine Worte auf fruchtbaren Boden fielen. Doch die erhoffte Reaktion blieb aus. »Ich werde ...«

Weiter konnte er nicht sprechen, denn ihre Stimme unterbrach ihn rigoros. »Ich lege jetzt auf, Jens!«, sagte sie. Wenn ihr die Worte schwerfielen, war es nicht zu hören.

»Bitte, komm zu mir zurück«, flehte er.

»Leb wohl.«

Ein Klicken in der Leitung machte unmissverständlich klar, dass das Gespräch beendet war. Es folgte ein nervöses Tuten, bis Jens den Knopf zum Auflegen drückte. Mit Tränen in den Augen starrte er auf das Telefon. Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck, seine Trauer wich der Wut über diese gnadenlose Abfuhr. Hastig wischte er sich die Tränen weg und feuerte das Mobilteil achtlos auf die Couch.

»Ziege!«, rief er und griff nach der Whiskeyflasche, die unter dem Couchtisch stand. Er goss sein Glas halb voll und leerte es in einem Zug. Der Alkohol brannte beinahe genauso sehr wie die Ablehnung. Erst jetzt bemerkte er, dass er noch immer das Überweisungsformular in der Hand hielt. Er knäulte es entschlossen zusammen und warf es in die Zimmerecke, dabei verfehlte er den Mülleimer bloß um wenige Zentimeter.

Kapitel 3

Kolja vergewisserte sich gründlich, dass er nichts am Tatort zurückgelassen oder verloren hatte. Den gelben Zettel aus der Hand des Opfers steckte er in seine Hosentasche. Danach warf er noch einen letzten Blick auf die Leiche, spürte noch einmal das unangenehme Schaudern, bevor er sich endgültig davon abwandte. Er würde den Mörder dieses armen Mannes finden, das versprach er sich in diesem Moment. Und natürlich versprach er es auch ihr.

Dann zog er sein Handy aus der Hosentasche, ein billiges No-Name-Produkt mit aufladbarer Telefonkarte. Kolja kaufte stets ein paar dieser Dinger auf Vorrat und lagerte sie im Handschuhfach des Autos, denn Anonymität war in seinem Job ein Vorteil. Hastig wählte er die 110 und hielt sich das Gerät ans Ohr.

Es klickte in der Leitung, als der Polizist am anderen Ende abhob. »Polizeinotruf?«, sagte eine männliche Stimme.

Kolja Novak atmete zweimal tief ein, um einen aufgeregten, atemlosen Tonfall hinzubekommen. »Hallo? Polizei?«, keuchte er dann ins Telefon.

»Ja, was kann ich für Sie tun?«, fragte der Beamte mit professioneller Gelassenheit.

»Ich ... ich habe eine Leiche gefunden!«, stammelte Kolja.

»Keine Panik, ich werde Ihnen helfen. Sind Sie denn sicher, dass die Person tot ist?«

»Wenn ich es Ihnen doch sage ... tot!« Das letzte Wort schrie Kolja derart laut ins Telefon, dass er fürchtete, seinem Gesprächspartner einen dauerhaften Hörsturz anzutun. »Er liegt hier mitten im Wald«, erklärte er weiter, ehe der andere etwas sagen konnte, »am Joggingpfad, hinter der Mühle ...«

Der Polizist versuchte Kolja zu beruhigen. »Sie befinden sich also im Wald hinter einer Mühle ... und in welcher Ortschaft, bitte?«

Kolja setzte nun zum Finale seiner Inszenierung an, schaukelte sich selbst hoch. »Es ist so schrecklich ... all das Blut ... Sie müssen sofort kommen!«, schrie er.

»Das tun wir, aber Sie müssen mir zunächst noch die Ortschaft verraten!«

»Ja, ich bin ...« Weiter sprach er nicht. Stattdessen warf er das Telefon achtlos auf den Boden. »Ich muss euch die Ortschaft verraten?«, dachte er dabei. »Damit ihr am Tatort seid, bevor ich weg bin, wie? Diese Polizisten von heute wollen aber auch gar nichts mehr selbst tun!«

Mit einem selbstgefälligen Lächeln machte er sich auf den Weg zu seinem Auto. Wald, Joggingpfad, Mühle ... das musste ja wohl ausreichen. Und falls nicht, konnten sie ja immer noch das Signal seines Mobiltelefons orten. Auf halbem Weg zu seinem Fahrzeug fiel ihm der gelbe Zettel wieder ein. Er zog ihn aus der Hosentasche hervor und betrachtete ihn. Es war ein Notizblatt, wie es von Sprechstundenhilfen gebraucht wurde, um Termine für Patienten zu notieren. Der Aufdruck verriet die Arztpraxis, aus der der Zettel kam. Dr. Frank Kramer stand in großen Buchstaben darauf und in Klammern dahinter das Wort Psychotherapeut.

* * *

Die Praxis von Dr. Frank Kramer befand sich am anderen Ende der Stadt. Sie lag im dritten Stock eines Mietshauses, das allerlei Mediziner beherbergte. Hier gab es Zahnärzte, Orthopäden und eben Psychotherapeuten. Frank Kramer liebte seinen Beruf, normalerweise zumindest. Zuweilen konnte er aber auch ziemlich nervig sein. So wie in diesem Moment.

»Das hat alles mit meiner Mutter zu tun ... meinen Sie nicht auch, Herr Doktor?«, sagte die unvorteilhaft gekleidete Dame mittleren Alters gerade und versuchte ihre fehlende Disziplin beim Einhalten von Diäten mit der schlechten Erziehung durch die eigene Mutter zu erklären.

»Sie geben also Ihrer Mutter die Schuld daran, dass ...« Weiter kam er nicht, denn sie fiel ihm eilig ins Wort, um das Missverständnis richtigzustellen.

»Nein, ich gebe ihr natürlich keine Schuld«, erläuterte sie. »Das wäre ja eine Projektion meiner eigenen Probleme, nicht wahr? Ich vermute eher, dass ich ...«

Projektion meiner eigenen Probleme? Frank seufzte, während die Dame zu einem längeren Vortrag über ihre Kindheit ansetzte. Das Internet war doch ein Quell ewiger Freude. Immer mehr Menschen kamen nur noch in seine Praxis, um die Diagnosen aus diversen Psychologie-Webseiten bestätigt zu bekommen. Das einzig beruhigende an der Sache war, dass er sein Geld bekam, ob er nun eine echte Diagnose stellte oder den Weisheiten des Internets widersprach. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Mund seines Gegenübers endlich wieder stillstand. Wirklich neue Informationen waren in der Zwischenzeit keine herausgekommen.

»Ich würde Ihnen vorschlagen, sich Tag für Tag ein bestimmtes Ziel zu setzen. So können Sie sich kleine Erfolgserlebnisse verschaffen, statt immer an dem großen Fernziel zu scheitern«, schlug er vor. Die Patientin räkelte sich im Sessel und schien seinen Vorschlag ernstlich zu bedenken. »Meinen Sie nicht, dass ein gemeinsames Gespräch mit meiner Mutter sinnvoller wäre?«, fragte sie schließlich.

Frank musste sich auf die Zunge beißen, um keinen bösartigen Kommentar von sich zu geben. Das Summen der Gegensprechanlage rettete ihn.

»Was ist, Janine?«, fragte er, nachdem er den kleinen Knopf an seinem Telefon gedrückt hatte.

»Hier ist eine Frau Dr. Spengler. Sie sagt, sie hätte einen Termin bei Ihnen.«

»Ja, das ist richtig«, antwortete er freudig, »sie soll kurz warten. Bieten Sie ihr doch bitte eine Tasse Kaffee an.« Er überlegte einen kurzen Moment und betätigte dann noch einmal die entsprechende Taste. »Sie nimmt etwas Milch, keinen Zucker.«

Die Patientin schaute unsicher auf die Armbanduhr, die viel zu eng an ihrem Handgelenk saß. »Ist es schon so weit, Herr Doktor?«, fragte sie daraufhin.

»Ich fürchte, dass wir heute ganz pünktlich schließen müssen«, gab Frank zurück und fand, dass sein Bedauern beinahe ehrlich klang. »Aber was die Sache mit Ihrer Mutter betrifft, darüber sprechen wir in der nächsten Sitzung auf jeden Fall weiter.«

Niemals würde er ein gemeinsames Gespräch mit dieser Frau und ihrer Mutter veranstalten, bloß weil sie ein paar Pfund zu viel auf die Waage brachte, so viel wusste Frank mit Sicherheit. Trotzdem lächelte er freundlich, als er die Patientin zur Tür begleitete. »Also dann«, sagte er zum Abschied, »machen Sie es gut. Janine wird einen neuen Termin mit Ihnen vereinbaren.«

»Nochmals vielen Dank, Herr Doktor«, sagte sie und verließ dann endlich sein Büro.

* * *

Zurück an seinem Auto, ließ Kolja Novak sich auf den Fahrersitz gleiten und öffnete das Handschuhfach. Er entnahm einen Stapel gelber Mappen und schob sie auf seinem Schoß auseinander. Die Gesichter von fünf Männern und Frauen blickten ihn an. Ihre Bilder waren mit Büroklammern am oberen Rand der Mappen befestigt und zwei der Gesichter waren mit einem schwarzen Kreuz durchgestrichen. Das dritte Bild in der Reihe zeigte Thorsten Hauser, den Toten im Wald, zu Lebzeiten. Kolja griff in die Mittelkonsole seines Autos und nahm einen schwarzen Filzschreiber zur Hand. Damit machte er ein großes, schwarzes Kreuz über Thorsten Hausers zaghaftes Lächeln.

»Da waren‘s nur noch zwei!«, sagte er leise und schüttelte den Kopf. Die Bilder erinnerten ihn an die letzten beiden Tatorte. Erik John war in seiner eigenen Wohnung gestorben, augenscheinlich ertrunken in der Badewanne. Die Polizei hatte sich nicht weiter daran gestört, dass seine Lunge frei von Wasser war und etliche Knochenbrüche eher für einen Sturz aus großer Höhe sprachen. Herzinfarkt hatte der Leichenbeschauer in den Bericht geschrieben und eine gewagte Theorie über einen Sturz in die Badewanne aufgestellt. Niemand hatte die seltsam blasse Haut, die dunklen Adern oder den erschrockenen Gesichtsausdruck beachtet. Monika Seifert war zwei Wochen später gestorben. Sie hatte als Prostituierte gearbeitet und ihre Leiche war im Hinterzimmer eines ziemlich verrufenen Clubs entdeckt worden. Die offizielle Todesursache lautete in diesem Fall Überdosis, doch Kolja wusste es besser. Er kannte die Namen und ihren Zusammenhang. Was er nicht wusste, machte ihm mehr Sorgen. Was passierte hier bloß? Wieso mussten all diese Menschen sterben? Und wie konnte er verhindern, dass eine weitere Person zum Opfer wurde? Er betrachtete sich die verbliebenen Bilder genau. Ein Mann und eine Frau waren noch übrig. Die Frau hieß Susann-Kathrin Hofmann und der Mann Jens Wegener. Eine dieser beiden Personen war das nächste Opfer und die andere vermutlich der Täter. Bedauerlicherweise war keiner der beiden im Telefonbuch verzeichnet. Kolja brauchte weitere Informationen, das wusste er, und es gab vermutlich nur einen Menschen, der sie ihm geben konnte. Noch einmal griff er ins Handschuhfach und zog ein neues Handy hervor. Er schaltete es ein und blätterte, während das Gerät startete, auf die letzte Seite der Mappe. Dort stand eine Telefonnummer, die er nun in das Mobiltelefon eintippte. Es dauerte lange, bevor jemand abnahm. Zu lange. »Sie haben die Rufnummer 06090 - 48 23 612 gewählt«, begann eine verrauschte, monotone Bandansage. »Leider bin ich zurzeit nicht erreichbar. Sie können mir jedoch eine Nachricht hinterlassen.«

Kolja wartete den Signalton ab, ehe er sprach. »Hallo, ich bin’s!«, sagte er und schwieg dann einen Moment. Manchmal war sein Auftraggeber doch zuhause und nahm erst ab, sobald er wusste, wer anrief. Diesmal passierte das nicht. »Ich habe getan, worum Sie mich baten«, fuhr Kolja fort, »aber von den Personen, die Sie mir nannten sind inzwischen drei tot! Sie hatten offenbar recht. Allmählich wird mir die Sache hier zu heiß! Heute haben mich zwei Kinder am Tatort gesehen. Ich brauche weitere Informationen von Ihnen und versuche es später noch einmal!«

Er nahm das Handy vom Ohr weg und drückte die Auflegen-Taste. Nun startete er den Motor und fuhr davon, lange bevor die Polizei am Tatort ankam.

* * *

Dr. Frank Kramer strahlte freudig und empfing seinen Gast mit ausgebreiteten Armen. »Diana, meine Liebe, es freut mich, dass du es einrichten konntest«, sagte er und küsste sie, fast wie in alten Zeiten, zur Begrüßung auf die Wange.

»Wie hätte ich deiner geheimnisvollen Einladung widerstehen sollen?«, antwortete sie und lächelte ebenfalls. »Du hast also einen Fall, der in mein Spezialgebiet fällt?«

Frank nickte. »Das kannst du laut sagen«, antwortete er, »aber komm doch erst einmal rein.«

»Seit wann glaubst du denn an Traumdeutung?«, fragte sie und schaute ihn skeptisch an. »Ich dachte immer, so was hätte im Grunde gar nichts mit Psychologie zu tun.«

Frank schaute verlegen auf seine Füße. In der Tat war dies stets seine Überzeugung gewesen. Er und Diana hatten gemeinsam studiert. Traumdeutung war dabei eines ihrer Steckenpferde gewesen und Frank hatte sie dafür oftmals verspottet.

»Du hast ja recht«, gab er zu, »und wenn du mir bei dieser Sache helfen kannst, dann werde ich mich in Sack und Asche hüllen und bei unserem nächsten Kommilitonen-Treffen offiziell Abbitte bei dir leisten.«

»So weit würde ich niemals gehen!« Sie grinste. »Ein einfaches Abendessen mit dem besten Psychotherapeuten der Stadt würde mir absolut genügen!«

»Das müsste sich einrichten lassen«, sagte er mit schelmischem Blick und wurde dann plötzlich sehr förmlich. »Janine gibt Ihnen dann im Anschluss an unsere Sitzung einen Termin.«

»Wer sagt, dass ich dich damit gemeint habe?«, konterte sie und legte, von seinem fassungslosen Gesichtsausdruck amüsiert, ihren Mantel ab. Sie hängte ihn an die Garderobe im Vorzimmer. Wie aufs Stichwort erschien die Sprechstundenhilfe Janine mit einem silbernen Tablett. Darauf standen zwei weiße Porzellantassen, eine Kaffeekanne sowie Milch und Zucker.

»Vielen Dank, Janine«, sagte Frank und bedeutete seinem Gast mit einer Hand, dass er das Gespräch gerne im Behandlungszimmer fortführen wollte. Sie nahmen auf zwei hohen Lehnstühlen im hinteren Bereich des Raumes Platz.

»Schön hast du es hier«, bemerkte Diana und veranlasste Frank damit, zum ersten Mal seit Langem einen wirklichen Blick auf die Einrichtung seines Büros zu werfen. Sämtliche Möbel bestanden aus einer dunklen Holzart und waren mit grünem Samt bezogen. Der gleiche Farbton fand sich auch auf seinem Schreibtisch. Dort stand eine jener goldenen Lampen mit grünem Schirm, wie Frank sie aus der Bibliothek der Uni kannte. Über dem Schreibtisch an der Wand hing sein Diplom und war in einen Rahmen derselben Holzart eingefasst. Er musste sich eingestehen, dass sein Büro ziemlich bieder wirkte.

»Es freut mich, dass es dir gefällt.«

»Kommen wir zur Sache. Wie kann ich dir helfen?«

»Nun, ich habe im Augenblick Patienten mit sonderbaren Träumen«, erklärte er. Wieder summte die Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch. »Oh Mann, hat man hier denn niemals seine Ruhe?« Mit diesen Worten sprang er auf und eilte zu seinem Schreibtisch hinüber. »Was ist denn? Ich bin beschäftigt!«, brummte er.

»Verzeihen Sie die Störung, Dr. Kramer. Der Patient, den ich vorhin für Sie anrufen sollte, hat jetzt zurückgerufen. Sie wissen schon, dieser ... Jens Wegener.«

»Oh ja, das ist wichtig«, sagte Frank und zeigte seinem Gast mit dem erhobenen Zeigefinger an, dass es nur eine Minute dauern würde. »Stellen Sie durch.«

* * *

Jens lag ausgestreckt auf der Couch. Die Whiskeyflasche auf dem Tisch war mittlerweile vollkommen leer. Er hielt den Hörer in der linken Hand, während sein rechter Arm auf den Boden hing. Eigentlich hatte er bloß einen neuen Termin ausmachen wollen und nicht erwartet, Dr. Kramer selbst ans Telefon zu bekommen.

»Einen Moment, ich stelle durch«, sagte die Sprechstundenhilfe freundlich. Es war die niedliche, mit den langen blonden Haaren und den hinreißenden blauen Augen – das wusste Jens, denn er kannte ihre Stimme genau.

»Vielen Dank«, sagte er und lächelte. In Gedanken malte er sich ihren Körper aus und genoss diese Vorstellung, bis die Stimme des Therapeuten ihn aus seiner Traumwelt holte.

»Ja, Kramer?«

»Herr Doktor Kramer? Jens Wegener hier. Ich brauche dringend Ihre Hilfe!«

»Hallo Herr Wegener, ich wollte Sie ohnehin anrufen«, sagte der Psychotherapeut freundlich. »Sie haben unseren gestrigen Termin versäumt. Was ist geschehen?«

»Na ja, so einiges!«, gestand Jens ein und ahnte bereits, welche Frage als Nächstes folgen würde.

»Haben Sie wieder mit Ihrer Ex-Frau telefoniert?«, fragte
Dr. Kramer streng.

»Nein ... also, ja doch schon, aber darum geht es nicht«, stammelte Jens und bemühte sich, trotz der Wirkung des Alkohols seine Gedanken zu sortieren. »Herr Doktor, ich hatte wieder diesen Traum.«

Der Therapeut ließ sich davon nicht beirren. »Wie oft haben wir jetzt über die Anrufe bei Ihrer Ex-Frau gesprochen?«, fragte er und in seiner Stimme schwang eine ordentliche Portion Enttäuschung mit. »Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass es für Sie von außerordentlicher Wichtigkeit ist, Abstand zu dieser Beziehung zu gewinnen.«

Jens seufzte. »Wenn Sie das sagen, klingt das immer so einfach!«

»Ich weiß sehr wohl, dass das nicht einfach ist, aber es ist der einzige Weg!«, sagte Dr. Kramer und Jens fand, dass seine Stimme unglaublich belehrend klang. Es gab nur einen einzigen Weg, dieses Thema endlich zu beenden. Diese Therapeuten tickten alle ungefähr gleich. »Ich habe verstanden«, sagte er kleinlaut. »Ich verspreche Ihnen, meine Ex nicht mehr anzurufen. Aber jetzt hören Sie mir bitte zu! Ich hatte Ihnen doch von meinem Traum erzählt, oder?«

»Ja, das hatten Sie, aber Ihre Ex-Frau ist ...«

Jens riss der Geduldsfaden. Wie stur konnte ein einzelner Mann eigentlich sein? »Jetzt hören Sie endlich mit meiner Ex auf!«, platzte es aus ihm heraus. »Ich möchte mit Ihnen über diesen Traum sprechen ...«

»Und nichts anderes tue ich«, erwiderte Dr. Kramer.

»Äh ... wie bitte?« Jens suchte verzweifelt nach einem Zusammenhang.

»Ich halte Ihre Träume für eine direkte Folge der emotionalen Belastung, die aus dem Gespräch mit Ihrer ...«

Ein lautes und schrilles Lachen entfuhr seinen Lippen, bevor Jens es kontrollieren konnte. Dabei hatte er einen Moment lang den Eindruck, sein Lachen halle aus dem Telefon wider, als habe er eine Rückkopplung in der Leitung. »Direkte Folge ist gut!«, höhnte er. »Ich hatte den Traum heute Nacht! Mit meiner Frau ...«

»Ex-Frau, Herr Wegener, sie ist Ihre Ex-Frau!«

»Meinetwegen auch Ex-Frau«, gestand er zu. Allmählich nervte ihn dieser Wichtigtuer, aber bedauerlicherweise hatte er alle anderen Therapeuten in der näheren Umgebung bereits besucht und verworfen. »Jedenfalls«, fuhr er fort, »habe ich erst von der Tür geträumt und danach mit meiner Ex-Frau telefoniert.« Das Wort Ex-Frau betonte Jens derart übertrieben, dass Dr. Kramer garantiert merken musste, wie sehr ihn dieses Thema nervte. Zu seiner Überraschung war es jedoch ein ganz anderes Wort, das die Aufmerksamkeit des Therapeuten weckte.

»Ähm ... sagten Sie gerade Tür?«, fragte Dr. Kramer.

Diese Rückfrage verärgerte Jens, denn er mochte das Gefühl nicht, von anderen nicht beachtet zu werden. »Sagen Sie mal, hören Sie mir eigentlich überhaupt nicht zu?«, giftete er. »Bei unserer letzten Sitzung habe ich Ihnen doch detailliert von dem Traum erzählt, oder etwa nicht?«

* * *

Diana war von ihrem Stuhl aufgestanden und zu Franks Schreibtisch hinübergelaufen. Das Telefonat dauerte inzwischen deutlich länger als eine Minute, aber diese Art von Zeitangaben war sie aus ihrer eigenen Arbeit gewohnt. Niemals konnte man im Vorhinein sagen, wie lange ein Gespräch dauern würde. Vermeintlich kurze Gespräche zur Abklärung unwichtiger Sachverhalte konnten mitunter Stunden dauern, während lange geplante, zeitintensive Sitzungen nach wenigen Minuten abgehandelt sein konnten.

»Ich halte Ihre Träume für eine direkte Folge der emotionalen Belastung, die aus dem Gespräch mit Ihrer ...«, hatte Frank gesagt und ihr dabei mit der freien Hand ein Zeichen gegeben, näher heranzukommen. Daraufhin hatte er eine Taste an seinem Telefon gedrückt und den Lautsprecher aktiviert. Offenbar war der Anrufer einer der Fälle, über die Frank mit ihr sprechen wollte. Die Stimme des Mannes hatte amüsiert geklungen, aber auch genervt, als er die richtige zeitliche Reihenfolge von Traum und Telefonat darstellte. Diana vermutete, dass das Thema Ex-Frau ein zentraler Aspekt der Arbeit ihres Freundes mit diesem Patienten war. Nicht grundlos beharrte Frank derart darauf.

Als der Anrufer ihrem Studienfreund fehlende Aufmerksamkeit bei ihrer letzten Sitzung vorwarf, bemühte Frank sich, sachlich und gelassen zu antworten. Doch konnte Diana deutlich seinen Ärger heraushören. »Nun beruhigen Sie sich, bitte«, sagte er und blickte verstohlen zu ihr hinüber. »Sie haben mir von einem Flur erzählt, von einem nicht-funktionierenden Lichtschalter und einer Tür am Ende des Flures, nicht wahr?« Diese Aufzählung weckte Dianas Neugier. Was für ein sonderbarer Traum. Sie freute sich schon darauf, die Bedeutung der einzelnen Bilder zu erörtern.

»Ja, genau«, antwortete der Mann am anderen Ende der Leitung zufrieden.

»Sagen Sie, kamen jemals andere Personen in diesem Traum vor?«, fragte Frank nun und Diana blickte ihn verwundert an. Es war eigentlich nicht üblich, andere Bilder in die Berichte eines Patienten einzubringen. Die Gefahr war zu groß, ein Teil der Problematik zu werden. Ein Therapeut, der hier unvorsichtig agierte, konnte sein Gegenüber gar unbewusst in dessen Vorstellungen bestätigen oder beeinflussen.

Nun gab der Gesprächspartner ein lang gezogenes Stöhnen von sich. »Falls Sie jetzt wieder mit meiner Ex-Frau anfangen wollen, dann ...« Weiter kam er nicht, denn Frank unterbrach ihn eilig.

»Nein, ich meine ... also ... kam jemals ein junges Mädchen in Ihrem Traum vor?« Wieder blickte er verstohlen zu Diana und die fragte ihn mit einer verständnislosen Geste, was er denn da tue. Niemals zuvor hatte sie ihn derart unprofessionell erlebt.

Der Patient reagierte offenbar verstört, was nach Dianas fachlicher Meinung eine direkte Folge der unsachlichen Gesprächsführung war. »Was wollen Sie mir denn jetzt anhängen?«

»Ich will Ihnen überhaupt nichts anhängen!«, beteuerte Frank und bemühte sich offenbar, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »Wir sollten uns treffen. Wie passt Ihnen heute Nachmittag gegen 16.00 Uhr?«

»Da habe ich Zeit! Aber jetzt sagen Sie mir doch bitte,
was ...«

»Wir sehen uns dann nachher«, sagte Frank schnell und würgte den Anrufer ab. Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, stand er auf, vermied aber Dianas Blick. Sie hingegen war voll auf ihren Freund fokussiert.

»Sag mal, was war denn das gerade?«, fragte sie entrüstet.

»Wollen wir uns nicht wieder hinsetzen?« Franks Stimme klang verlegen. »Ich erkläre dir die Sache in Ruhe.«

»Ich bitte darum!« Diana ging zielstrebig zu den gepolsterten Stühlen am anderen Ende des Arbeitszimmers zurück. Als sie sich hingesetzt hatte, schlug sie die Beine übereinander und verschränkte die Arme. Sofort merkte sie aber, dass dies keine angemessene Haltung war und korrigierte es. »Raus mit der Sprache!«, sagte sie. »Was ist da los?«

* * *

Zum zweiten Mal in Folge warf Jens unzufrieden das Telefon weg. Er hatte sich von dem Anruf bei seinem Therapeuten deutlich mehr versprochen. Wieso war Dr. Kramer so sonderbar gewesen? Und wieso hatte er ihn nach einem Mädchen in seinen Träumen gefragt? Ahnte der Therapeut, was mit ihm los war und wollte es ihm bloß nicht sagen? War es etwas Schlimmes?

Frustriert schaltete er den Fernseher wieder ein. Er musste sich ablenken, sonst würde er ganz bestimmt verrückt werden. Statt der Dicken und dem Jogginganzug saßen nun zwei Zahnlose auf den Stühlen und sprachen vor einem Millionenpublikum über ihre Schwierigkeiten beim Geschlechtsverkehr. Das Publikum grölte, als Frau Zahnlos ihrem Freund vorwarf, es im Bett nicht mehr zu bringen. Jens schauderte. Diesen Gedanken fand er äußerst abstoßend. Er griff nach seinem Glas und stellte fest, dass es leer war. Auch die Flasche gab nichts mehr her. Er brauchte Alkohol! Irgendwo im Keller musste es doch noch einen geheimen Vorrat geben. Er atmete schwer, ehe er sich erhob und in Richtung der Ausgangstür schwankte.

Jens lebte in einem großen Mehrfamilienhaus und hatte, wie jede Mietpartei, einen kleinen Kellerraum, der durch das zentrale Treppenhaus erreichbar war. Es waren 96 Treppenstufen bis zur Haustür und noch einmal 32 bis in den Keller, das wusste Jens genau. Sein Weg führte ihn an der Haustür der Schönemanns vorbei, die einen unvergleichbar kitschigen Geschmack hatten und stets kleine Zwerge, Wichtel oder andere Hässlichkeiten vor ihrer Tür drapierten. Er schaffte es nie, daran vorbeizugehen, ohne dem übertrieben grinsenden Porzellankameraden in der vordersten Reihe seine Aufwartung zu machen. Auch diesmal bekam der Zwerg einen Tritt, dass er scheppernd umkippte. Jens bewunderte die Hartnäckigkeit von Frau Schönemann, die das Ding immer wieder ordentlich hinstellte und ihm vorher (wenn sie sich unbeobachtet fühlte) einen Schmatz auf die Backe drückte.

Als er an der Haustür vorbeikam und auf den Keller zusteuerte, merkte Jens, dass es dort sehr dunkel war. Er drückte den Schalter am oberen Treppenabgang, wobei ihn ein unangenehmes Déjà-vu beschlich. Fast hatte er erwartet, dass der Schalter nicht funktionierte, doch die Lampe am anderen Ende der Treppe leuchtete flackernd mit einem lauten Brummen auf. Langsam ging Jens hinunter. Dabei schaute er kurz über seine Schulter, denn er hatte plötzlich das Gefühl, nicht alleine zu sein. Er hatte sich geirrt. Niemand war da. Sein Kellerraum befand sich am anderen Ende eines langen, schmalen Flures. Zügig ging er darauf zu und kramte in der Tasche nach dem Schlüssel. Er schloss auf, öffnete die Tür und sofort schlug ihm der muffige Geruch des feuchten Kellerraumes entgegen. Es roch beinah, als wäre hier unten eine Ratte gestorben und würde irgendwo in den Wänden verwesen. Jens schluckte. Ihm war plötzlich unerträglich beklommen zumute und er verspürte den Drang, sich sehr zu beeilen. Die Getränkeflaschen lagerten gleich neben der Tür. Jens griff die letzte Whiskeyflasche am Hals und schloss die Tür dann hastig ab. Er hatte den Rückweg zur Hälfte geschafft, als das Licht ausging.

Panisch schrie Jens auf und wollte zur Treppe rennen, doch er kam nicht vorwärts. Irgendetwas hielt ihn in der Dunkelheit fest, hatte sein Handgelenk mit einem kalten Griff gepackt. Er riss und zerrte an seinem Arm, um sich zu befreien. Und plötzlich hörte er ganz deutlich das Geräusch der Kreide aus seinem Traum. Erst war das Quietschen nur ganz leise zu hören, dann immer lauter. Jens stürzte, als er es schaffte, sich zu befreien. Die Whiskeyflasche barst mit einem lauten Knall auf dem gefliesten Boden. Auf allen Vieren kroch er die letzten Meter bis zur Treppe und tastete nach dem Lichtschalter. Das Licht ging an und außer dem monotonen Brummen der Lampe war nichts zu hören. Der Whiskey hatte sich auf dem Boden verteilt, die Flasche lag in Scherben darin. Ansonsten war der Flur leer. Tränen liefen ihm die Wange hinunter, als er zusammengekauert auf der untersten Stufe der Treppe saß.

* * *

»Dieser Patient gerade, Jens Wegener, hat sonderbare Träume«, erklärte Frank zögernd.

Diana schaute ihn interessiert an. »Du hast etwas von einem Flur gesagt und von einer Tür, nicht wahr?«

Ihr Gegenüber nickte. »Ja, und ein Lichtschalter, der nicht funktioniert, kommt ebenfalls darin vor.«

»Alles interessante Bilder«, antwortete sie, »aber etwas Sonderbares kann ich an der ganzen Sache nicht entdecken.«

»Oh, das konnte ich anfangs auch nicht«, erwiderte der Therapeut mit geheimnisvollem Ton, »aber inzwischen weiß ich nicht mehr, wie ich all das rational erklären soll.«

»Wovon zur Hölle sprichst du?« Seine Heimlichtuerei nervte sie allmählich. »Jetzt sprich endlich!«

Frank erhob sich aus seinem Sessel und ging zu einer kleinen Kommode an der Wand hinter Diana. Dort öffnete er die oberste Schublade und nahm etwas heraus. Diana erkannte erst, dass es ein Diktiergerät war, als er wieder vor ihr saß. »Gestern hatte ich folgende Sitzung«, sagte er und drückte einen Knopf an der Seite des Geräts.

Das Tonband begann mit einem knirschenden Geräusch und einem darauffolgenden Rauschen. Darüber war die Stimme einer Frau zu hören. Diana konnte am Klang der Stimme deutlich erkennen, wie ängstlich sie war. Offenbar fiel es ihr sehr schwer, ihre Erinnerungen zu berichten.

»Letzte Nacht hatte ich einen Traum. Ich war wieder in diesem Flur, er lag finster und unheimlich vor mir. Und es war schrecklich kalt.«

»Sie brauchen sich nicht zu fürchten«, erklang nun die Stimme ihres Kollegen aus dem Gerät, »es ist schließlich nur ...«

»Ich bin mir im Klaren, dass das alles nur ein Traum war«, sagte die Frau bestimmt, »und ich weiß, dass Träume nicht real sind, aber schon bei der Erinnerung daran bekomme ich eine Gänsehaut!«

In diesem Moment realisierte Diana, worauf ihr Studienfreund mit dem Vorspielen des Tonbandes hinaus wollte. Diese Frau beschrieb denselben Traum, den der Mann am Telefon hatte. Die Psychologin starrte ihren Kollegen fassungslos an. Konnte es so etwas geben? Zwei Menschen mit demselben, ungewöhnlichen Traum? Was steckte dahinter? Folie à deux, vielleicht? Es kam durchaus vor, dass zwei Menschen dieselbe wahnhafte Störung entwickelten, doch es handelte sich um ein äußerst seltenes Phänomen. Sie selbst hatte nur einmal einen solchen Fall erlebt, ein Ehepaar, das Diana während der Ausbildung in einem Praktikum kennengelernt hatte. Ihr Mentor hatte die Frau zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr wegen einer ausgeprägten Form von Beziehungswahn behandelt. An schlechten Tagen hatte sie sogar Alien-Botschaften im Muster des Weinstocks an der Hauswand ihrer Nachbarn erkannt. Diana erinnerte sich noch gut daran, wie der Ehemann plötzlich ähnliche Symptome zeigte.

»Was denkst du?«, fragte Frank und riss sie damit aus ihren Gedanken.

»Kennen die beiden Patienten sich?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »War auch mein erster Gedanke. Aber sie hatten noch niemals Kontakt miteinander – soweit ich feststellen konnte. Zumindest nicht die letzten 20 Jahre.«

Damit schied Folie à deux als Erklärung aus. Es trat nur bei eng verbundenen Menschen, meist in sozialer Isolation auf. Plötzlich kam ihr eine andere Idee. Sie hatte Frank vorhin am Telefon gehört. Zögernd fragte sie: »Hast du jemals mit einem der beiden Patienten über den anderen gesprochen?«

»Um Himmels willen, nein!« Seine Stimme klang beleidigt. »Was denkst du von mir?«

»War ja nur eine Frage«, sagte sie beschwichtigend. Sie brauchte mehr Informationen, denn so einfach war die Lösung hier nicht zu finden. »Erzähl mir mehr von den Träumen dieser Patienten«, bat sie.

»Ich vermute, das kann meine Patientin besser als ich«, sagte er und schaltete erneut das Diktiergerät ein. Gespannt lauschte Diana der weiteren Therapiesitzung.

»Hier kann Ihnen nichts passieren. Entspannen Sie sich und schließen Sie die Augen. Versuchen Sie sich an den Traum zu erinnern. Ich verspreche Ihnen, dass Ihnen kein Leid geschehen wird! Was sehen Sie?«

»Es ist so dunkel in diesem Flur«, sagte die Frau auf dem Tonband mit ängstlicher Stimme.

Kapitel 4

Jens widmete seine volle Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher, da ihm das traurige Leben anderer Menschen wesentlich lieber war als das Nachdenken über sein eigenes. In der Regel schaffte er es keine fünfzehn Minuten lang, diese Talkshows anzuschauen, bevor er darüber einschlief. Diesmal stellte sich die Wirkung deutlich langsamer ein. Als Jens die Augen wieder öffnete, befand er sich nicht mehr auf seinem Sofa. Er lag am Boden und blickte verwundert auf die Neonröhren an der Decke eines finsteren Flurs. Er ahnte nichts davon, dass genau in diesem Moment, einige Blocks von seiner Wohnung entfernt, eine Stimme vom Tonband dieselben Bilder beschrieb, die er selbst gerade erträumte.

* * *

»Der Flur wirkt jedes Mal wieder unglaublich bedrohlich«, erklärte die Patientin in der Aufnahme gerade, »aber das ist nichts im Vergleich zu der Tür.« Diana hatte in ihre Handtasche gegriffen und einen kleinen Notizblock sowie einen Kugelschreiber herausgeholt. Nun machte sie sich eilig ein paar Notizen. Sie schrieb in einer Art eigener Steno, die nur sie selbst und ihre Assistentin lesen konnten.

»Was verbinden Sie mit dieser Tür?«, fragte Franks Stimme, die vom Tonband etwas tiefer klang als in Wirklichkeit.

»Hm ... schwer zu sagen, ich meine, man sieht täglich Hunderte von Türen, aber diese Tür ist irgendwie anders. Ich habe jedes Mal das Gefühl, dass sie nicht geöffnet werden sollte. Und trotzdem muss ich es versuchen! Verstehen Sie? Ich muss einfach zu dieser Tür gelangen!« Diana versuchte die Zusammenhänge so zu notieren, dass sie später darauf zurückgreifen konnte. Eine verschlossene Tür und der Drang, sie zu öffnen.

»Aber was macht diese Tür so bedrohlich für Sie?«, fragte Frank gerade.

»Ich weiß es nicht! Ich habe einfach das Gefühl, dass da etwas Dunkles und Bedrohliches ist! Es lauert hinter dieser Tür und wartet nur darauf, dass ich sie öffne.«

Diana stellten sich die Nackenhaare hoch. Ganz klar hatte sie bei dem letzten Satz der Patientin ein Bild im Kopf gehabt. Sie hatte sich ein Schlüsselloch vorgestellt und ein Auge dahinter, das mit finsterem Blick hindurchstarrte. Sie schloss einen Moment ihre Augen, versuchte dieses unheimliche Bild loszuwerden. Eigene Vorstellungen waren hinderlich in solchen Momenten.

Frank hatte das Tonband angehalten. »So weit erst mal. Was fällt dir dazu ein?«, fragte er. »Kannst du mit dem Traum etwas anfangen?«

Diana nickte langsam, starrte auf ihre Notizen und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. »Türen sind ein Durchgang«, sagte sie dann. »Das ist eigentlich ein recht klares Bild. Sie ermöglichen es, in andere Räume zu gelangen.«

»Klingt einleuchtend!«, bestätigte er. »Und was will uns ihr Auftauchen im Traum sagen?«

»Na ja, man kommt durch Türen an etwas heran. Vielleicht an die eigene Vergangenheit oder an ungelöste Probleme?«

»Klingt alles sehr nach Professor Lehnert«, kommentierte Frank und schaute seine Kollegin amüsiert an. Sie wusste, worauf er hinauswollte. Professor Lehnert war Meister der schwammigen Formulierungen gewesen.

»Im Klartext bedeutet das, es gibt etwas in der Vergangenheit deiner Patientin, das ihr Unbewusstes auf keinen Fall offengelegt haben will.« Noch einmal schaute sie auf ihre Notizen und merkte, dass diese Analyse nicht ganz zutreffend war. »Oder eben doch«, ergänzte sie, »denn es zieht sie ja magisch zu dieser Tür hin.«

Ihre Erklärung schien Frank zufriedenzustellen. »Du meinst also, wir müssen diese Tür öffnen, damit die Patientin symbolisch an die verschütteten Erinnerungen herankommt?«

»So in etwa«, bestätigte sie. »Eine Tür, die geöffnet werden muss, um in den dahinterliegenden Raum zu kommen. Das ist in vielen Träumen ein Zeichen für einen Neuanfang oder eine bessere Zukunft.«

»Danach klingt mir die Beschreibung meiner Patientin aber gar nicht«, sagte er nun und schien sich an die Worte vom Band zu erinnern. »Sagte sie nicht, sie hätte das Gefühl, die Tür dürfe nicht geöffnet werden?«

»Wie ich schon sagte, es kann beides bedeuten, dass die Tür geöffnet werden soll, oder eben nicht.«

»Sehr hilfreich!«, bemerkte Frank frustriert. »Und was ist, wenn die Tür verschlossen bleiben soll?«

»Dann geht es höchstwahrscheinlich um die tiefen Ängste dieses Menschen, um eine Bedrohung seiner Selbstsicherheit oder seiner Stabilität im Leben.«

»Du meinst, die Tür schützt ihn?«

»Ja, genau.«

* * *

Noch immer schlafend verzog Jens das Gesicht und drehte sich mit einem schluchzenden Geräusch auf die Seite. In seiner Traumwelt versuchte er gerade einen Lichtschalter zu drücken, der partout nicht funktionieren wollte. Für einen kurzen Moment flackerte der zweistrahlige Leuchter an der Decke seines Wohnzimmers und ging dann zeitgleich mit dem Fernseher aus. Nur durch die Ritzen des unvollständig geschlossenen Rollladens drang noch ein wenig Tageslicht in das kleine Zimmer.

* * *

»Sie sind hier ganz sicher!«, versuchte Franks Tonband-Stimme erneut die Patientin zu beruhigen. »Woran erinnern Sie sich noch?«

»In dem Flur gibt es einen Lichtschalter!«

»Betätigen Sie ihn?«

»Nein!« Die Patientin schrie nun voller Panik. »Es geht nicht. Sie glauben nicht, wie gerne ich das Licht in diesem Flur einschalten würde, aber dieser Lichtschalter funktioniert nicht! Nie!« Nach dem letzten Wort dieser furchtbar leidenden Frau war eine längere Pause auf dem Band. Gespannt lauschte Diana, wie ihre Erzählung weitergehen würde. Doch stattdessen hörte sie nur ein markerschütterndes Wimmern, das aus dem Lautsprecher des Diktiergerätes kam. Es klang wie ein wortloses Flehen um Gnade. Sie wagte es nicht zu atmen und verschränkte reflexartig die Arme vor dem Körper, als ein eisiger Windhauch sie streifte.

»Was war das?«, fragte sie und bemühte sich, ihre eigene Angst nicht zu zeigen.

»Wovon sprichst du?«, fragte ihr Studienfreund und schaute sie besorgt an. »Alles okay bei dir?«

»Ja, mir geht’s gut! Ich meine das Wimmern ... auf dem Band.« Sein Gesichtsausdruck vermittelte ihr deutlich, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie sprach. »Spul noch mal zurück!«, forderte sie ihn auf. Er tat es.

»... aber dieser Lichtschalter funktioniert nicht! Nie!«, sagte die Patientin noch einmal. Wieder setzte die Pause ein, aber diesmal war kein anderes Geräusch zu hören als das monotone Rauschen der Aufnahme.

»Ich kann da nichts Ungewöhnliches hören«, stellte Frank fest.

Diana schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht.« Sie lächelte ihn entschuldigend an. »Es war bestimmt nur ein Quietschen der Mechanik.« Nicht für eine Sekunde glaubte sie ihre eigene Ausrede.

»Was hat das wohl zu bedeuten?«, fragte er nun.

Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich verstehe nicht, was du meinst ...?«

»Na, der Lichtschalter im Traum, wofür steht er?«

»Ach so!« Verlegen schaute sie auf ihren Notizblock. Sie hatte nichts darauf notiert außer dem Wort Lichtschalter und es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder auf das Gespräch einlassen konnte. »Lichtschalter symbolisieren meist die Kraft des Menschen«, sagte sie nun. »Wer in seinen Träumen so einen Schalter benutzt, um das Licht zu löschen, der sollte auch im wirklichen Leben mal einen Gang runterschalten.«

»So eine Art Burnout-Warnung des Unbewussten?«

»Ja genau.«

»Und wenn der Lichtschalter nicht geht?«

Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. Vermutlich gab es nicht einmal eine typische Interpretation dafür. »Na ja, Licht ist Licht«, sagte sie zögerlich. »Es kann für alles stehen, was gut und schön ist. Hoffnung, Vertrauen, Liebe und Glück.«

»Und Dunkelheit ist das Gegenteil davon?«, fragte Frank neugierig.

»So in etwa. Bleibt das Licht aus, so ist das mit Sicherheit ein Zeichen von Hoffnungslosigkeit, von dem Gefühl, verloren zu sein«, sagte sie und versuchte bei dem Wort verloren nicht an das Wimmern des Kindes zu denken.

»Und du meinst, diese Tür schützt die Patientin vor einer solchen Hoffnungslosigkeit?«

»Vielleicht.«

* * *

Unsicher betrachtete Jens das Schild neben seiner Tür. Während er seinen Namen las, erleuchtete ein Blitz die Dunkelheit des Flures und warf mehrere Schatten an die Wand. Deutlich konnte er die Umrisse von Menschen erkennen. Er fuhr herum und presste seinen Rücken an die Tür. Erschrocken schaute er sich um, doch wie immer war es vergebens. Er konnte in der Dunkelheit nichts sehen. Jeder Muskel seines Körpers war angespannt, denn er wusste bereits, was als Nächstes kommen würde. Trotz der Schlafstarre hatte sein Körper das Herumdrehen im Traum auch in der Wirklichkeit umgesetzt und so lag Jens nun auf dem Rücken. Sein großes Couchkissen fiel auf den Boden und stieß eine leere Whiskeyflasche um. Im Traum wie in der Wirklichkeit veränderte sich sein Aussehen von einem Moment auf den anderen. Seine Haut wurde blass und dunkle Adern traten überdeutlich hervor, sein Körper starb.

* * *

»Es ... es ist das Ende«, jammerte seine Patientin aus dem Aufnahmegerät. Frank konnte sich noch gut an diese Sitzung erinnern. Susann-Kathrin Hofmann hatte dort gesessen, wo jetzt Diana saß. Ihr panisch verzerrtes Gesicht würde er nie im Leben vergessen können.

»Wie meinen Sie das? Was sehen Sie?« Er hatte den Eindruck, dass seine eigene Stimme unnatürlich und verzerrt klang.

»Ich schaue auf meine Hände ... sie verändern sich!« Bei diesen Worten hatte Frau Hofmann ihre Hände hochgehoben, als könne sie sie tatsächlich mit ihren geschlossenen Augen betrachten.

»Beschreiben Sie es genauer!«

»Ich sterbe!«, stellte die Frau nun fest. »Nein ... bitte nicht ... meine Haut ist total blass, wie bei einer Leiche.« Sie atmete nun schwer, als läge sie tatsächlich im Sterben. Dabei entfuhr ihr ein elendiges Stöhnen. »Ich sterbe!«

»Nein, Sie sterben nicht! Es kann Ihnen nichts geschehen!«, versicherte seine Stimme vom Tonband.

»Doch ... ich werde sterben.«

In diesem Moment hatte er eine Gefahr für die Patientin befürchtet und versucht, die Sitzung in eine andere Richtung zu lenken. »Hören Sie mir zu, Sie sind jetzt ...«, begann er, doch sie hörte ihn schon gar nicht mehr.

»Hilfe, ich sterbe ... Hilfe!«, schrie sie aus Leibeskräften.

Frank ertrug es nicht mehr. Er unterbrach die Aufnahme und schaute Diana ernst an. »Die Patientin stirbt in ihrem Traum. Was weißt du darüber?«

Seine Freundin hatte eifrig mitgeschrieben und sich immer wieder kleine Notizen am Rand gemacht, die sie mithilfe von Pfeilen miteinander verband. »Das ist eigentlich gar nichts Schlimmes!«, sagte sie nun und kontrollierte immer wieder ihre Aufzeichnungen. »So etwas stellt meist eine Art Neuanfang dar.«

»Einen Neuanfang?«, fragte er, denn er konnte diese Erklärung nicht so recht begreifen. Für ihn war dies eine schlimme Entwicklung im Traum dieser Patientin gewesen und Diana sah bloß einen Neuanfang darin. »Wie kann der Tod ein Neuanfang sein?«

»Du musst es aus der Sicht des Träumenden sehen«, erklärte sie nun. »Nichts stirbt im Traum wirklich, es wird nur transformiert zu etwas Neuem, Besseren.«

Frank überlegte, wie er die verschiedenen Bilder des Traumes zusammenbringen sollte. »Also haben wir eine Tür, die vor der Hoffnungslosigkeit schützt und eine sterbende Patientin, die zu etwas Besserem werden soll?«, sagte er und schaffte es nicht, den Sarkasmus aus seiner Stimme zu verbannen. »Langsam beginne ich, den Erfolg dieser Methode anzuzweifeln!«

»Das ergibt durchaus einen Sinn, wenn es um eine Art Herausforderung geht, der sich die Patientin stellen muss!«

»Wie meinst du das?«

»Na, wenn es im Leben der Patientin eine Herausforderung gibt, der sie sich stellen muss, um weiterzukommen, sie sich aber nicht traut.«

»Dann wäre der Tod ein Symbol für diese Veränderung, so wie die Dunkelheit ein Symbol für die Angst davor. Und die Tür würde für den Schutzmechanismus der Verdrängung stehen.«

»Genau! Führe deine Patientin an den Punkt, dass sie ein Öffnen der Tür zulässt und du wirst erkennen, worum es hier geht!«, sagte Diana triumphierend.

Frank vermochte ihre Begeisterung nicht zu teilen. Er verschwieg seiner Studienfreundin, dass er eben diesen Punkt bei Frau Hofmann bereits erreicht hatte. Ein Schauer überkam ihn, als er sich an den Ausgang der Sitzung erinnerte und er hätte in diesem Moment nicht einmal sagen können, warum er Diana dieses Ende vorenthielt. Doch es spielte keine Rolle, er war ohnehin zu der Erkenntnis gelangt, dass sie ihm einfach nicht helfen konnte. Es gab viel zu viele Ungereimtheiten in diesem Fall und ihre Einschätzungen waren nicht mehr als bloße Spekulationen ohne nennenswerten Nutzen. »Danke, das werde ich versuchen«, sagte er, denn seine Freundin schaute ihn weiterhin voller Begeisterung an. Seine Stimme klang jedoch wenig überzeugend, wie er sich selbst eingestehen musste. »Übrigens«, sagte Frank und zögerte einen Moment, »was wäre, wenn eine Leiche im Traum auftaucht?« Er war sehr bemüht, die Frage wie beiläufig klingen zu lassen.

Diana schwieg einen Moment. »Das wäre weniger gut«, sagte sie dann nachdenklich. »Meist steht eine tote Person für Fehler oder Versäumnisse in der Vergangenheit. Sie sind ein Zeichen für eine tiefer gehende, innere Unzufriedenheit mit früheren Ereignissen. Wer häufiger von Leichen träumt, braucht dringend Hilfe!« Nun schaute sie ihn neugierig an. »Träumt deine Patientin etwa von Toten?«

Frank schüttelte den Kopf. »Nein, nein, war nur so eine Frage!«, log er.

* * *

Eine Gruppe von Kindern spielte friedlich im Sandkasten, während ein Junge und ein Mädchen, beide höchstens fünf Jahre alt, um ein Schaukelpferd stritten. Kolja saß auf der Parkbank gleich hinter dem Klettergerüst und schaute dem bunten Treiben auf dem Spielplatz zu. Er kam gern an diesen Ort, wenn er nachdenken musste. Die Erinnerungen hatten ihn früher daran gehindert, heute motivierten sie ihn eher. Unwillkürlich wanderte sein Blick zu dem Gebüsch hinüber. Es war jetzt kürzer geschnitten und kränkelte ein wenig. Kolja konnte etliche braune Äste erkennen, an denen keine Blätter mehr wuchsen. Es war, als büße der Busch für seinen Anteil an den Ereignissen. Der Detektiv schloss einen Moment seine übermüdeten Augen, gab sich der Erinnerung an Natalie hin. Zehn Jahre zuvor hatte er schon einmal auf dieser Bank gesessen.

Juli 2001

Er und seine Frau hatten sich einen Tag freigenommen, um Liegengebliebenes im Haushalt zu erledigen und etwas Zeit als Familie zu verbringen. Nachdem der Keller entrümpelt und die Unordnung in Natalies Zimmer beseitigt war, hatten sie beschlossen, mit der Kleinen auf den Spielplatz zu gehen. Dort saßen sie nun, wie ein jungverliebtes Paar und hielten Händchen, während ihre Tochter ein Spielgerät nach dem anderen ausprobierte. Natalie liebte das Karussell am meisten. Immer schneller und schneller drehte sie an dem Griff in der Mitte und wirbelte herum, bis Kolja sie nur noch schemenhaft erkennen konnte. Ihre rosafarbene Haarspange war jedes Mal gut zu sehen, wenn sie mit dem Rücken zur Bank zeigte.

»Pass auf!«, rief er. »Nicht, dass dir noch schlecht wird.«

Doch seine Worte wurden nur mit Natalies üblichem Schlachtruf auf diesem Spielgerät beantwortet. »Schneller Propeller!«, schrie sie und quietschte vor Vergnügen.

»Ach lass sie«, sagte Yvonne und lächelte ihren Mann an. »Sie merkt schon, wenn es ihr zu viel wird!«

Kolja beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie. Dann umarmten sie sich, bis ein schabendes Geräusch beide aufhorchen ließ.

»Was war das?«, fragte er und schaute sich um. Sie waren noch immer die einzigen Besucher des Spielplatzes und Natalies Karussell drehte sich weiterhin wild um die eigene Achse.

»Schneller Propeller!«

Wieder war das Kratzen zu hören. »Ich glaube, das kommt aus dem Mülleimer da drüben«, stellte Yvonne fest und stand von der Bank auf. Kolja folgte ihr. Vorsichtig näherten sie sich der dunklen Tonne, die nach oben hin breiter wurde und in Holz eingefasst war. Ein schrilles Jaulen ließ das Paar zusammenfahren.

»Das klingt wie ein Tier«, sagte Kolja und versuchte, sich die Angst nicht anmerken zu lassen. Als er in die Tonne sah, konnte er einen Schuhkarton erkennen. Er streckte die Hand danach aus und öffnete den Deckel.

»Es ist ein kleiner Welpe«, rief Yvonne begeistert und holte das Tier ohne jede Angst aus seinem engen Gefängnis heraus. Dankbar schleckte die hellbraune Promenadenmischung ihr die Hand.

»Wer den kleinen Kerl wohl hier ausgesetzt hat?«, fragte Kolja entrüstet. »Solchen Leuten sollte man das Handwerk legen!«

»Ja, mein Kleiner, jetzt wird alles gut. Wir kümmern uns um dich«, sagte Yvonne liebevoll zu dem Fellknäuel auf ihrem Arm. »Schau mal, Natalie, was wir gefunden haben!«

Der Satz verhallte ungehört. Erst jetzt bemerkte Kolja, dass sich das Karussell nur noch langsam drehte, weil niemand da war, der ihm Schwung gab. Kein Schneller Propeller war mehr zu hören. Natalie war verschwunden.

»Wo ist sie?«, fragte Yvonne, von plötzlicher Panik ergriffen.

»Natalie!«, rief Kolja und rannte zu dem Spielgerät hinüber. Er sprang darauf und ließ seinen Blick über den Spielplatz schweifen, während er einmal um sich selbst gedreht wurde. Sofort erkannte er Natalies rosafarbene Spange. Sie lag nicht weit von einem Gebüsch entfernt, am Ausgang des Spielplatzes. Kolja lief zu dem Gebüsch hinüber. »Natalie!«, brüllte er lauter. »Wo bist du?«

Auch Yvonne hatte das Schmuckstück entdeckt und stürzte durch den Ausgang, hinaus auf die Straße. Sie schaute zuerst die linke, dann die rechte Straßenseite hinunter. »Natalie!«, schrie sie voller Verzweiflung. Doch das Kind blieb verschwunden. Mitleidig winselte der kleine Hund und versuchte vergeblich, sein neues Frauchen zu trösten.

Oktober 2011

Kolja starrte gedankenverloren auf den Busch. Er hatte gar nicht bemerkt, dass inzwischen ein kleines Kind davorstand und ängstlich zu ihm hinüberblickte.

»Hey Sie!«, rief eine wütende Frauenstimme. Sie riss ihn vollends aus seinen Erinnerungen an die Vergangenheit. »Was machen Sie da?«

»Wer ... ich?« Kolja war verwirrt.

»Ja, Sie! Wieso glotzen Sie die Kleine so an?«, fragte die Mutter nun und kam zu ihm gelaufen. »Ich habe es genau gesehen. Seit einer Viertelstunde sitzen Sie da und starren meine Tochter an. Was suchen Sie überhaupt auf diesem Kinderspielplatz. Soweit ich sehen konnte, gehört keines der Kinder zu Ihnen.«

»Das ist richtig«, antwortete Kolja, als er sich endlich wieder besonnen hatte. Nun griff er routiniert nach seinem Geldbeutel und zeigte der verdutzten Frau seinen gefälschten Dienstausweis. »Ich bin von der Kriminalpolizei. Verzeihen Sie, wenn ich Sie erschreckt haben sollte!«

Nun lächelte sein Gegenüber verlegen. »Oh, tut mir leid, ich ... ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie von der Polizei sind.«

»Natürlich nicht«, akzeptierte er die Entschuldigung knapp.

»Wissen Sie, es ist nur so, dass schon einmal ein Kind auf diesem Spielplatz verschwunden ist.«

»Ja, das weiß ich!«

* * *

»Ich hoffe, ich konnte dir ein wenig helfen«, sagte Diana und schaute ihren früheren Kommilitonen unsicher an. Das vage Gefühl, irgendetwas Wichtiges nicht besprochen zu haben, war ihr geblieben.

»Ja, das konntest du«, erwiderte Frank und lächelte. »Ich werde versuchen, mit meinen Patienten am Öffnen der Tür zu arbeiten.«

»Aber sei dir im Klaren, dass Verdrängung ein natürlicher Schutz der Psyche ist. Geh nicht weiter, als deine Patienten ertragen können!«

»Selbstverständlich, ich bin schließlich kein Anfänger, weißt du?« Dieser Satz hatte sie wohl überzeugen sollen, bewirkte aber das Gegenteil. Sie hatte ihn vorhin am Telefon erlebt und war sich nun nicht mehr so sicher, was die Fähigkeiten ihres Freundes anging. Außerdem hatte diese Bandaufnahme ihr Interesse an diesen Fällen geweckt.

»Wann triffst du die Patientin das nächste Mal?«, fragte Diana.

»Wir werden sehen. Ich versuche zeitnah, sie zu erreichen und hoffe, dass sie bald noch einmal in meine Praxis kommen kann.«

»Versuch nichts zu überstürzen, ja?«

»Nein, keine Sorge.«

Nun standen sie auf und gingen ins Vorzimmer. Die Psychologin griff nach ihrem Mantel und Frank beeilte sich, ihr beim Anziehen zu helfen.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagte er, als sie abmarschbereit vor ihm stand. Er umarmte sie zum Abschied und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Rufst du mich an, wenn du die Gespräche geführt hast?«

»Wieso? Glaubst du etwa, ich müsste überwacht werden?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783946922698
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
Thriller Abenteuer Spannung Mystery Irland

Autor

  • Simon Nebeling (Autor:in)

Simon Nebeling wurde 1976 in Gießen geboren. Hier lebt er mit seiner Frau Andrea Nebeling und der gemeinsamen Tochter Miriam. Er ist stellvertretender Schulleiter einer Förderschule in Ortenberg. Die Idee zu Trajanas Träume stammt aus einem unvollendeten Film-projekt. Schon im Jahr 2004 steuerte Simon Nebeling das Drehbuch zu diesem Projekt bei. Mehrere Jahre lang lag das Manuskript ungenutzt auf seinem PC.
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Titel: Trajanas Träume