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Bewusstlosensprechstunde

Wissenswertes über den Weltuntergang

von Jörg Schneider (Autor:in) Dominic Harapat (Autor:in)
292 Seiten

Zusammenfassung

SATWir leben in absurden Zeiten – und das nicht erst seit einem sich auf Welttournee befindenden Virus. Denn während demagogische Hasseinpeitscher ihre grölende Abendlandsermeute mit völkischen Blödoyers bei der Brechstange halten und ein vierundsiebzigjähriger Fünfjähriger jeden Tag aufs Neue seine nahezu beschreibungsresistente Universaldummheit vom eigenen Kindertellerrand in den Äther pöbelt, hobeln wir alle uns mit der Zerstörung des globalen Ökosystems gemeinsam die einzige nachhaltige Sitzgelegenheit unter unseren Ärschen weg. Alles in allem kein allzu glänzendes Zeugnis für unsere evolutionäre Unentbehrlichkeit. Der Satiriker Jörg Schneider und der Politiker Dominic Harapat haben sich daher einmal umgehört und „die Menschen im Land" zu deren Sicht der Dinge befragt. Herausgekommen ist dabei eine subtile Bestandsaufnahme des bereits lange vor der aktuellen Pandemie in der Welt grassierenden Wahnsinns … und ein schonungsloses Protokoll des Scheiterns. Jörg Schneider ist Autor zahlreicher Bücher. Er schrieb zudem u.a. für Frankfurter Rundschau, taz, Titanic, Eulenspiegel und die Harald Schmidt Show. Der Rockstar a.D. ist unbekannt aus Funk und Fernsehen und seit vielen Jahren auf großen und kleinen Bühnen unterwegs. Dominic Harapat ist hessischer Landesvorsitzender der Partei Die PARTEI und gilt aufgrund seiner schmierigen Rhetorik und juvenilen Redlichkeit vor allem unter älteren Mitbürgern als die perfekte Verkörperung des politischen Enkeltricks. Eben ein echter Profi.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorab in eigener Sache

Bisweilen brummt uns die Welt Herausforderungen auf, die einem noch verheerender als üblich vor Augen knüppeln, wie hauchdünn der zivilisatorische Lack auf den Grundfesten unserer vermeintlich humanistisch geprägten und angeblich auf Solidarität basierenden Gesellschaft ist. Daher hier einige klärende Informationen zur Chronologie und Lage der Dinge:

Dieses durchaus ambitionierte Buch war seit 2018 in Arbeit!

Dementsprechend verwundert es nicht, dass sich vieles darin Angesprochene und Vorhergesagte mittlerweile leider bewahrheitet hat. Wieder anderes überrollte uns im Nachhinein derart flächendeckend, dass es selbst für so professionell arbeitende und seriös den Kaffeesatz durchforstende Propheten und Kristallkugelbegucker wie uns nicht zwingend vor­her­zusehen war. Denn obwohl wir es oft hinterher vorher schon immer wussten – und das sogar meist besser –, hatten auch wir Covid-19 und die damit einhergehenden gravierenden gesell­schaftlichen Veränderungen nicht einmal ansatzweise auf un­serer Milchmädchenrechnung.

Ob die Coronavirus-Pandemie jedoch tatsächlich die von vielen frühzeitig herbeigeoptimistelte Zeitenwende und nachhaltige Rückbesinnung auf wesentlichere Werte einläutet, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen – steht es doch vielmehr nahe­zu brecheisenfest zu befürchten, dass selbst die Halbwertszeit der größten Katastrophe nicht mit der Lernunfähigkeit des Menschen konkurrieren kann.

Ich habe jedenfalls (und das nicht erst seit einigen Büchern) so meine Bedenken, ob wir im kollektiven Rausch unseres auf Maßlosigkeit, Gier und profanem Größenwahn basierenden Geschäftsmodells nicht bereits längst ein Betriebsblind­heits­stadium erreicht haben, das uns die natürlich gesetzten Wachs­tums­grenzen unseres Lebenswandels schon lange nicht mehr akzeptieren – – – ja, sie uns mittlerweile wahrscheinlich sogar noch nicht einmal mehr erkennen lässt.

Denn auch wenn die bisher den Ton angebenden apokalyp­tischen Tendenzen vorläufig von einem allgegenwärtigen Virus in die zweite Reihe gerempelt wurden, so sind sie doch noch immer aktuell und laufen in all ihrer nicht minder infektiösen Gefährlichkeit auch weiterhin unbeirrt nebenher mit.

Von ihnen – und so manchen anderen Fragwürdigkeiten – handelt das folgende, über die vergangenen knapp zwei Jahre (und damit vor „Corona“) entstandene Pamphlet.

Und da die darin behandelten Themen (egal, ob naheliegend oder so weit hergeholt wie die Kinder von Madonna) auch in Zeiten neu gewichteter Prioritäten zu ihrem Recht kommen sollen, haben wir uns ganz bewusst dafür entscheiden, es inhaltlich auch nachträglich nicht mehr entsprechend zu aktualisieren. Zumal damit der Fall ins ohnehin drohende Bodenlose nur umso wahrscheinlicher wäre.

Diese persönliche Vorbemerkung und ein zeitlich vergleichbar datierter Text von Herrn Harapat bilden daher unser einziges Immunitätszugeständnis an eine Pandemie, deren Aus­brei­tungsgeschwindigkeit momentan vermutlich nur noch von der Rasanz der sie angeblich aufschlüsselnden Verschwö­rungs­theorien – und vor allem der rapide wachsenden Herden­dumm­heit ihrer ebenfalls erschreckend ansteckenden Verbrei­ter – in den Windschatten gestellt wird.

Denn vorneweg segelt auch hier, wie immer hart am argu­men­tativen Wind, die übliche Armada intellektuell ähnlich fatal Verseuchter direkt in ihr Ankerzentrum aus ideologischer Verblend und blödung … und ein ohne Not darin Herum­lungern gilt nicht von ungefähr als deppenexklusives Tun.

Und doch ist ihr Realitätsflüchtlingslager, wohl nicht zuletzt aufgrund seiner niederhirnigen Aufnahmebedingungen, perso­nell stets gut besetzt und mit den unzähligen Reservierungen aus dem allseits bekannten Paralleluniversumspanoptikum offenbar auch bereits für den Rest der Homo-sapiens-Laufzeit komplett ausgebucht.

Sich dieser Tage dennoch eindrucksvoll um potenzielle freie Plätze prügelnd: Die Phalanx aus etablierten Fachkräften und virusresistenten Neuzugängen, die sich erstmals vereint im augenblicklich angesagten Panini-Pandemie-Corona-Sammelalbum 2020 mit einer geschlossenen Mannschaftsleistung gemein­schaftlich die Blöße gibt.

Denn es ist die dümmste aller möglichen Welten, in der Ignoranz, Unbelehrbarkeit und vor allem der hemmungslose Hass auf lediglich vom eigenen Irrsinn zusammenfantasierte scheinbare Feinde und Verräter (also alle auch nur geringfügig Andersdenkenden) in grenzüberschreitender Personalunion endgültig den letzten Zentimeter Unzurechnungsfähigkeitstoleranz zerdeppern, der bis dato noch den Schwachkopf vom Arschloch trennte.

Ganz so, wie das seit jeher Brauch und gute Trotteltradition ist.

Sehen Sie dieses Buch daher gerne als eines, das sich über die Welt wundert, wie sie einmal war, noch immer ist … und auch seinerzeit schon nicht sein sollte.

Jörg Schneider, irgendwann und irgendwo im März, April oder Mai 2020.

„Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.“

(Samuel Beckett, „Murphy“)

„Was für Zeiten, was für Sitten! O tempora, o mores!“

(Marcus Tullius Cicero, römischer Redner und Staatsmann,

106 – 42 v. Chr.)

„Fortschreitend verwittere auch ich ins Herumstehende.“

(Eckhard Henscheid, „Die Mätresse des Bischofs“)

Einleitung: Über die Plage der Dummheit, das Dilemma des Resignierens und dieses Buch

Von Jörg Schneider

Machen wir uns nichts vor. Wir leben in Zeiten von der klassischen Eleganz eines formvollendet tätowierten Arschgeweihs – und im Rahmen der damit einherröhrenden, zunehmend schonungsloser wütenden gesellschaftlichen Gesamtverwahrlosung hat vor allem die kulturelle Landschaft enorme Kollateralschäden zu beklagen.

Denn während ringsum die kapitalen Hochleistungshornochsen eines medial gepimpten Dorftrotteltums die Kontrolle übernommen haben, nur noch gebrüllt und längst nichts mehr gesagt, geschweige denn verstanden wird, und ein ebenso uninformiertes wie uniformiertes Nicht-zu-Ende-Denken nicht mehr als Makel hinterherhumpelt, sondern stolz grölend vornewegmarschiert ... in solchen Premiumzeiten verwundert es nur wenig, wenn man sich kaum noch des Eindrucks erwehren kann, dass bei einer personell derart flächendeckend herumirrlichternden Idiotenelite wohl auch zukünftig noch ein paar saubere Hochbegabtenstipendien anstehen dürften. Kurzum: Es ist die Dummheit, die den Menschen so zur Plage reifen lässt. Im schlimmsten Fall garniert mit Hass und Hetze.

Und wenn es sich die größte Wirtschaftsmacht der Welt leistet, ihre Führung einem sich selbst als stabiles Genie bezeichnenden infantilen Choleriker anzuvertrauen, der u.a. Belgien für eine großartige Stadt hält, die Schreibweise des Landes Wales mit der dicker Säugetiere verwechselt und im Gegensatz zu den ihn verwundert dabei beobachtenden Vorschulkindern nicht in der Lage ist, die Flagge des ihm weltanschaulich unterstellten Landes farblich korrekt auszumalen (dafür aber mit Filzstift Wetterkarten fälscht), der sich jedoch beharrlich ein sehr, sehr großes Gehirn attestiert, weil er bei einem Intelligenztest für Kleinkinder die Begriffe Elefant, Giraffe und Nashorn fehlerfrei den entsprechenden Bildern zuordnen konnte; wenn regressive Rück­wärts­denker, demagogische Brunnenvergifter und geistige Evo­lu­tions­verweigerer die Horden ihrer grazil mit Schaum vor dem Mund krakeelenden Anhänger mit der Tiefgründigkeit eines Suppentellers durch die Verführung der Verflachung und völkische Blödoyers bei der Brechstange halten, während die Zentraldenker eines anachronistischen Zwergengottesstaates im Herzen Roms auch im 21. Jahrhundert noch immer unbeirrt versuchen, ihren Leicht- bzw. Schwerstgläubigen aus einem intellektuellen Wachkoma heraus die Welt anhand eines aus den jahrtausendealten Mythen einer archaischen Hirtenkultur zusammengestümperten heiligen Buches zu erklären ... dann sind subtiles Analysieren und gehaltvolles Hinterfragen unseres immer offensichtlicher ins Schräge rutschenden Zeitgeistes aber mal ganz gewaltig am Arsch! Zumal am tätowiert gekrönten.

Ja, selbst ein profanes Begucken der unterschiedlichsten Katastrophengesinnungen und des weltweit wuchernden Wahnsinns vermag einen mittlerweile fast schon so aggressiv zu machen wie die Aussicht auf ein Gästezimmer bei der Check-24-Familie.

Oder etwas kompakter ausgedrückt: Die Welt ist voller Schwach­köpfe, Brüllaffen und ähnlich lärmender Ignoranten. Zugegeben, die gab es früher auch schon zur Genüge, doch noch nie sind sie sich durch die kurzen Wege der digitalen Vernetzung so oft und problemlos begegnet – und noch nie konnten sie sich gegenseitig so unverhohlen für ihr jeweiliges Schwachkopfsein und ihre tief verinnerlichte Oberflächlichkeit bewundern und beklatschen. Denn noch nie zuvor in seiner Geschichte hatte der Mensch so unfassbar viele frei zugängliche Informationen zur Verfügung, wie es heute durch das Internet der Fall ist.

Einerseits ist das selbstverständlich eine ganz hervorragende Sache, die im Idealfall zu einem vernünftigen, auf Fakten basierenden Verständnis der Welt führen sollte … oder es zumindest könnte. Doch die schwammigen Untiefen des Konjunktivs lassen bereits das drohende „Andererseits“ erahnen, denn die knüppelharte Realität des Indikativs weiß wiederum nur allzu gut um die Tatsache, dass eben auch noch niemals zuvor so viel haarsträubender Unsinn verbreitet wurde. Jedenfalls nicht in dieser Reichweite und Geschwindigkeit.

Vollkommen wurscht, wie absurd-grotesk-obskur deine Weltverschwörungs- und Erklärungshypothesen (ganz gleich zu welchem wunderlichen Thema) auch sein mögen, in den Abgründen Internet'scher Hochkultur werden sich – von den weniger harmlosen, weil beschleunigt gewaltbereit Verwirrten und deren agitatorischen Vorplärrern und Verblödungseinpeitschern an dieser Stelle ganz zu schweigen – zahllose andere Aluhutträger und Co-Hirnlose finden, die das alles ganz genauso sehen.

Und genau darin, im sich rasend schnell erweiternden Aktionsradius all der gemäßigt fundiert Bedenkentragenden, liegt ein wesentlicher Unterschied zum bereits vor 110 Jahren von Karl Kraus so trefflich analysierten „fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dummheit“ und der „Welthirnjauche“ seiner Tage, die der Freund und Kollege Jürgen Roth vor einigen Jahren in einem seiner Bücher nicht minder zielgenau zur „Geisteskloake“ verdichtete.

Zwar wird jene kollektive Degeneration schon seit eh und je begrübelt und bejammert, doch heute nimmt die, um erneut mit der Fachkraft Roth zu stänkern, „mediale Vertrottelung Ausmaße an, von denen Karl Kraus nicht mal albzuträumen vermochte“, obwohl auch der schon damals ahnte, wenn nicht sogar wusste: „Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes.“

Ähnlich verheerend konstatierte das auch der umsichtige, jedoch mit der Menschheit etwas versöhnlicher ins Gericht gehende Dieter Hildebrandt (dem ich persönlich lediglich ein wenig übel nehme, dass er ausgerechnet an meinem Geburtstag sterben musste), als er die Lage zwar ebenfalls exakt erkannte, aber doch durchaus charmant resümierte: „Die Diskussion, ob wir verblöden oder nicht, beschäftigt sich gar nicht mehr mit dem 'oder nicht'.“

Doch mit einer arglos vor sich hintröpfelnden Homöopathisierung profanen Minderdenkens ist es heutzutage ja leider längst nicht mehr getan.

Denn die internationale Deppensymbiose hat durch die globale Verflechtung und ihr partout nicht über den eigenen Kindertellerrand hinausschauendes Ignorantenregiment mittlerwei­le eine nie zuvor gekannte Spannweite und Truppenstärke – und damit auch mediale Macht – erreicht, dass einem wirklich angst und bange werden kann.

Und im Sog eines solch fatalen Massenstrudels werden, der natürlichen Richtung des Abgrunds und jeglicher gravitativer Bedenken zum Trotz, immer skurrilere Gestalten und geistige Nichtschwimmer – direkt nach oben – in die mächtigsten Ämter gespült, die dort nun wahrlich nicht das Geringste verloren haben … aber von ihresgleichen dummerweise genau dafür gleichermaßen deplatzierten Beifall ernten.

Aber auch das ist ja nicht wirklich neu. Doch seit der römische Kaiser Caligula, seinerzeit ebenfalls ein veritabler Einzelirrer, vor knapp 2.000 Jahren sein Lieblingspferd Incitatus zum Konsul ernannte, war wohl kaum ein politisches Amt – so man den Führer mal beiseitelässt und dem Pferd nicht zu nahe treten möchte – so dramatisch fehlbesetzt, wie es momentan das des geistigen Oberbefehlshabers der USA ist. Selbst bei genauestem Stöbern wird man wohl kaum einen Menschen auf der Welt finden, der intellektuell, charakterlich und moralisch ungeeigneter für eine solche Machtfülle wäre als der aktuelle Amtsinhaber. Offen gestanden, fallen einem auf Anhieb sogar etliche Tiere, Pflanzen und Mineralien ein, die das gehaltvoller hinbekämen.

Und auch sein (den menschengemachten Klimawandel sauber in einem Aufwasch mit der Evolutionslehre wegleugnendes) stellvertretendes Hinterhertrotthündchen Mike Pence, der – offenbar im Irrsinn der Sache und des Arbeitskollegiums liegend – stets ein wenig entrückt wirkt, wenn er an der Seite seines Chefs debil grinsend in seinem naiv frömmelnden Paralleluniversum vor sich hin dämmert, scheint nicht uneingeschränkt über die geistigen Kapazitäten zu verfügen, die für eine solche Position hilfreich, wenn nicht sogar unabdingbar wären.

Es ist der ewige Kreislauf zeitlos zyklischen Dummenabfischens, die bereits von Nietzsche erkannte Wiederkehr des Immergleichen, nur stets in der Fratze der jeweiligen Zeit. Und es scheint schlichtweg kein Entrinnen zu geben. Mit Morbus Möbius auf einer in sich selbst übergehenden Endlosschleife in die Zukunft … bzw. eben direkt wieder zurück.

Oder wie es, nicht weniger perfekt in sich geschlossen, Ror Wolf in seinem laut Thomas Blum (Neues Deutschland) „schönsten, klarsten, lehrreichsten, vernünftigsten und stilistisch gelungensten aller jemals in deutscher Sprache verfassten Gedichte“ „Wetterverhältnisse“ so unsterblich elegant umrundete:

„es schneit, dann fällt der regen nieder,

dann schneit es, regnet es und schneit,

dann regnet es die ganze zeit,

es regnet, und dann schneit es wieder.“

Und doch gibt es Vorgänge und Wahrheiten, die sich eben nicht beliebig wiederholen oder endlos abnicken lassen. So diagnostiziert bspw. Prof. Harald Lesch (vor einigen Jahren vielleicht noch etwas zu dramatisch in Richtung Bauerntheater chargierender, aber heute dankenswerterweise grundsympathisch agierender Fernsehdenker und gewiefter Welterklärer) bei seinen Vorträgen und in seinen Büchern ja nicht bloß aus einer Hiob'schen Laune heraus immer wieder den zwar uralten, allerdings einer breiten Masse offenbar noch immer nur schwer zu vermittelnden verhängnisvollen Universalbefund: „Die Erde hat Mensch.“

Aber leider nicht als profanes Symptom, sondern als Ursache ihrer globalen Übelkeit.

Das mag für sie, die Erde, zwar keine langfristige Erkrankung sein, da wir uns ja früher oder später auch wieder von selbst erledigen, aber in unserer Eigenschaft als Krankheitserreger ist es eben doch ein recht erschreckender, weil intellektueller Offenbarungseid. Denn auf unser komplex entwickeltes Gehirn bilden wir uns ja – gemäß dem dort ansässigen Größenwahn – gerne ordentlich was ein.

Und das auch nicht ganz zu Unrecht, denn die Evolution hat uns ja durchaus das zerebrale Rüstzeug mit auf den Weg gegeben, um uns der außergewöhnlich zuvorkommenden Gastfreundschaft unseres Heimatplaneten bewusst zu sein und zu erkennen, dass wir uns der Größe dieser Möglichkeit (wenigstens der Höflichkeit halber) lieber als würdig erweisen und sie gebührend fürsorglich behandeln sollten, anstatt diese enorme Chance süffisanten Blickes in die braune Tonne zu kloppen.

Und Zeit, das zu begreifen hatten wir für unsere Verhältnisse auch reichlich, denn das menschliche Gehirn hat sich in seiner Grundstruktur seit ca. 300.000 Jahren, als der biodeutsche Homo sapiens in Afrika auf der Bildfläche erschien, um seine Artgenossen zu kolonialisieren, kaum verändert und war daher schon damals zu allerlei Überlegungen und Abwägungen fähig.

Heraus kamen dabei aber vor allem die seitdem leider ebenso unveränderte Einsatzbereitschaft, Konflikte mittels interner Keulengewalt vom Tisch zu fegen und die spätere (wahrscheinlich aus den entsprechenden Erfolgen resultierende) internationale Spitzenidee, das traditionelle Verprügelmonopol auch zunehmend extern auf den Bereich Natur auszudehnen.

Zumal es ja gerade dort gilt, in puncto nachhaltiger Gewaltbereitschaft endlich mal unmissverständliche Prioritäten zu setzen und die vielbeschworene klare Kante zu zeigen. Denn „wenn die Natur hier schon mit uns leben will, dann hat sie sich gefälligst auch ein wenig anzupassen.“ (Stefan Waghubinger)

Aber zum Glück hat sie das inzwischen ja auch eingesehen und schließt sich mittlerweile ausgesprochen engagiert unserem kapitalistischen Wachstumsideal an und legt tatsächlich hervorragende Expansions- und Entwicklungsraten an den Tag: immer höhere Temperaturen, schnellerer Gletscher- und Polkappenschwund, steigende Hochwasser und häufigere Überschwemmungen, mehr Wirbelstürme und Supertaifune, heftigerer Starkregen und ganz allgemein eine ausgesprochen ambitionierte Qualitäts- und Quantitätssteigerung bei nahezu allen erdenklichen Naturkatastrophen.

Und auch wenn die Umsetzung dieser Vorgaben in früheren Jahrhunderten bisweilen etwas verbummelt wurde, ist ja die Erkenntnis der unbedingten Notwendigkeit einer auf Kosten der Natur beständig wachsenden Markterweiterung keineswegs neu.

Denn bereits die alten Völker wussten – wenn auch in Ermangelung kapitalistischer Praxis und technischer Massenabfertigungsmöglichkeiten – schon seit jeher um die Unersetzbarkeit wirtschaftlichen Renditedenkens. Nicht von ungefähr lautet eine alte, den Segen jeglicher Industrialisierung preisende Indianerweisheit: „Erst wenn die letzte Ölplattform versenkt, das letzte Auto stillgelegt und die letzte Tankstelle geschlossen ist, dann werdet ihr merken, dass Greenpeace nachts kein Bier verkauft.“

Dementsprechend ist es wohl auch nur noch eine Frage der Zeit, bis die ersten tiefbegabten Klimawandelleugner auf die finale High-Endlösung kommen, die beste, weil wirtschaftlich lukrativste und damit sinnvollste Maßnahme, die konjunktur­feindliche Erderwärmung langfristig außerhalb der eigenen Landesgrenzen zu halten, sei dann wohl doch eine Mauer. Und mit der wäre dann ja wenigstens auch weiterhin die fachgerechte Kühlung des hauseigenen, in den entsprechenden Vakuumschädeln beheimateten intellektuellen Permafrosts gewährleistet.

Bis dahin wird man sich, geistig ähnlich bodennah angesiedelt, wohl hierzulande auch weiterhin auf die viel zitierten deutschen Tugenden besinnen und sich eine entsprechend misch­volk­resistente Leitkultur zurückwünschen, die sich allerdings für die meisten weniger aus den traditionellen teutonischen Jägerzaunidealen Fleiß, Ordnungssinn und Strebsamkeit rekrutiert, sondern sich eher bei den weitaus beliebteren Sparten Steuerhinterziehung, Familie verdreschen und ohne Tempolimit besoffen Auto fahren bedient.

Allesamt unsterbliche menschliche Qualitäten, die von der kollektiven Doppelgesichtigkeit des sogenannten Volkscharakters zeugen, der seine wahre Absicht ja ganz gerne mal hinter einer gewissen bürgerlichen Eigenverharmlosung verschanzt. Oder wie sonst würde man sich erklären, dass bspw. so fragwürdige Gestalten wie die einst überaus beliebten Teletubbies zeit ihres Fernsehdaseins ausschließlich unter ihrem niedlichen Pseudonym berühmt waren und nicht unter dem (ihre zwielichtigen Absichten wesentlich besser unterstreichenden) Banden­originalnamen „Die Bruderschaft der Schatten“.

Und wenn sich die politische, soziale und persönliche Diskussionskultur auch weiterhin an einem Auseinandersetzungsgrad orientiert, der weniger an ein zivilisiertes und friedliches Miteinander andockt, als vielmehr an den Verhaltenskodex der Auslandsreisen Dschingis Khans erinnert … dann ist das für den Solidaritätswillen einer vermeintlich humanistischen Gesellschaft in etwa so verräterisch, als taufte man sein neu erworbenes Schiff auf den Namen „Unsinkbar II“.

So viel vorerst dazu. Die zweite Hälfte dieser Einleitung besteht aus einer seltsamen Melange aus Erklärung und Entstehungsgeschichte dieses Buches und kann daher bei Bedarf bzw. Nichtinteresse getrost übersprungen werden, da sie inhaltlich eigentlich nichts weiter mit dem Rest des Buches verbindet, sondern lediglich meine persönlichen Beweggründe erklärt, warum es diesmal galt, ein für meine Verhältnisse fast schon erschreckend seriöses Buch zusammenzuschrauben. Diejenigen Leser, die das völlig zu Recht nicht interessiert und denen derlei subtile Hintergründe – vermutlich ebenfalls zu Recht – zu exhibitionistisch daherkommen, können ja einfach weiterblättern und erst wieder beim wahrscheinlich eher ihren kranken voyeuristischen Boulevardgeschmack bedienenden Kapitel „Dicke Titten im Holocaust“ einsteigen.

Sei's drum und für alle anderen: Spätestens an dieser Stelle gilt es nämlich einmal aufzuklären, was es mit diesem Buch eigentlich auf sich hat, denn diese Publikation unterscheidet sich in nahezu allen Bereichen von meinen vorigen Büchern – ein Umstand, der sich hoffentlich auch bis zu den Verkaufszahlen herumsprechen wird.

So vertraue ich hier, neben einem komplett anderen Publikationsmodell, das jedoch für eine reibungslose Lektüre keinerlei Rolle spielt, in Teilen auch erstmals der Unterstützung eines … ja, was eigentlich? ... „Co-Autor“ passt hier nicht so recht, denn der Begriff suggeriert ja das gemeinsame Verfassen eines Textes und das trifft in diesem Fall nicht zu. Vielmehr hat der im Anschluss etwas näher vorzustellende Mitarbeiter die ihm zugedachten Passagen ebenso selbstständig wie oberaufsichtsfrei verfasst. Gemeinschaftlich Geschriebenes findet sich hier dementsprechend nicht.

Teer und Federn können daher zwar mit Fug und Recht uns beiden blühen, allerdings für unterschiedliche Vergehen bzw. schon ähnliche Verfehlungen, aber eben dennoch Individualdelikte, denn der eine hat nun mal nichts mit den Passagen des anderen zu tun – außer dass allesamt eine gemeinsame Heimat im selben Buch finden.

Doch ich bin mir sicher, dass es hier für ihn nur Lob und wenig Tadel hageln wird, denn der PARTEI-Politiker Dominic Harapat ist (nebst seiner Eigenschaft als David-Hasselhoff-Lookalike-Contest-Verlierer) ein politisches Naturtalent von echtem Schrot und Korn, gegen das selbst Gandhi, Albert Schweitzer und Ben Cartwright wie eine korrupte Bande schmieriger Gebrauchtwagenhändler wirken. Ein nimmermüder Kämpfer für die gute Sache und damit für die älteren Mitbürger die perfekte Verkörperung des politischen Enkeltricks.

Warum er überhaupt mit an Bord ist, hat mit dem ursprünglichen Konzept des Buches zu tun, das jedoch ruhigen Gewissens unerwähnt bleiben kann, da wir uns erfreulicherweise rechtzeitig eines Besseren besannen. Aber am Hals hatte ich ihn damit natürlich trotzdem.

Und so gleicht die Struktur dieser fragwürdigen Co-Produktion dann auch ein wenig dem Arbeitsverhältnis von BATMAN und ROBIN, wenn auch in diesem Fall der Novize (Herr Harapat) dem weisen Mentor und Haudegen (mir) – ganz im Gegensatz zum realen Background des echten Superheldenduos – zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht haushoch überlegen ist, sehe ich mich als freiberuflicher Autor ja seit Jahr und Tag mit einer Situation konfrontiert, die Hartz-IV-Empfänger für mich in finanzieller Hinsicht als „die da oben“ ausweist.

Zur weiteren Veranschaulichung dieser Koalition würde sich eventuell auch noch die Verbindung zwischen Yoda und Luke Skywalker eignen ... aber vielleicht zu kompliziert das wäre.

Diesmal ist also vieles anders und das hat auch einen ebenso guten wie hoffentlich nachvollziehbaren Grund. Ursprünglich sollte es nämlich ein Buch in der Tradition zweier seiner Vorgänger werden (und damit gleichsam eine Art Abrechnungsfinale meiner persönlichen Dollar-Trilogie, wenn auch leider ohne den monetären Beifang des Sergio-Leone-Originals), das sich vornehmlich dem aktuell in der Welt wabernden Irrsinn, dessen überdurchschnittlich unterbegabten Wortführern und der wahr­lich furchteinflößenden Ignoranz gegenüber der zunehmenden gesellschaftlichen Verwesung sowie der Kleinigkeit des Planetenverfalls widmen sollte – und damit die bereits in früheren Büchern ansatzweise abgehandelten Themen möglichst ähnlich anmaßend abrunden.

Eine Idee, die jedoch, wie ich zu meiner eigenen Überraschung erstaunlich früh einsah, aus mindestens zwei Gründen komplett zum Scheitern verurteilt war.

Zu energisch und wohl auch ein wenig zu einsatzbereit, wenn auch vom jahrelangen Kopfschütteln über den sackgassig vor die Wand krachenden Lauf der Welt rechtschaffen müde und mürbe, versuchte ich mich direkt zu Beginn einmal mehr am schriftlichen Abarbeiten einer veritablen Liste medial gepimpter Scheinwesen und auf der nach unten offenen Belanglosigkeits­skala evolutionär ähnlich sinnfrei angesiedelter Resthirnvergeuder, deren schriftliche Erledigung im Idealfall ganze Schein­be­rufs­gruppen, wie etwa die in verhängnisvoller Personalunion die Katastrophenkombination Influencer, Schmuckdesigner und Tanzshowteilnehmer in sich vereinende professionelle Spielerfrau in den verdienten Niedergang reißen sollte.

Ein aussichtsloses Unterfangen, das sowohl an der schier unermesslichen Quantität als auch an der ebenfalls kaum mehr erfassbaren, nahezu beschreibungsresistenten Trottelqualität schei­tern musste.

Mit anderen Worten: Das zu behandelnde Gesamtpaket war schlichtweg nicht zu stemmen, denn Schreiben – so man es denn mit Leidenschaft, Hingabe und aus einer gewissen desperaten Eigentherapie heraus betreibt – ist auch immer eine äußerst ambivalente Mischung aus Brandstifter und Feuerwehr in einem. Vor allem dann, wenn man sich dabei auf das Himmelfahrtskommando begibt, sich an Themen abzuarbeiten, die bereits beim bloßen Durchdenken und ohne eigenes kreatives Zutun den finalen Rettungsschuss für Nerven und Leber bedeuten können. Und doch war der zweite Grund der bei Weitem ausschlaggebendere:

Ich habe das alles – Stichwort Morbus Möbius – schon zigfach in ähnlicher Form in früheren Publikationen geschrieben und heruntergeledert, komplette Bücher zu den absonderlichsten und mich nervlich am meisten aufreibenden Narrenthemen verfasst und den ganzen Kram zudem auf Lesungen noch viel öfter biergestählt hinausposaunt … doch die Mauern des modernen Jericho kamen (wenig überraschend) nicht einmal ins Bröckeln und trotzten unbeschadet meinem törichten Getöse. Dabei hieß es doch immer: Werde Schneider, dann kannst Du was ändern.

Daher konnte und wollte ich mich einfach nicht mehr des mir immer unmissverständlicher einleuchtenden Eindrucks erwehren, thematisch – zumal ohne jeden erkennbaren Raumgewinn – immer schwindelerregender im Kreis zu schimpfen, auf der Stelle zu treten und mich dabei doch immer wieder nur um meine eigene Achse des Blöden zu drehen. Doch all das nimmermüde und zunehmend verzweifeltere, ja hilflose Poltern brachte letztendlich nichts anderes mehr hervor als ein stetiges (wenn auch immerhin nicht zahnloses) Wiederkäuen umformulierter Vari­anten des ohnehin schon unzählige Male Hochgewürgten.

Es fühlte sich so an, als würde man die Leute wieder und wieder ergebnislos an eigentlich Selbstverständliches erinnern und etwa sinngemäß mahnen: „Esst bitte keinen Beton!“ … während im Hintergrund bereits Gewürze und Servietten angeschleppt werden.

Allerdings bin ich weit davon entfernt, tatsächlich der Meinung zu sein, irgendwelche zuvor noch nie gedachten Überlegungen zur besseren Verdauung der Welt beitragen zu können. Das ganz sicher nicht. Dieser Übung nahmen sich erfreulicherweise bereits Generationen wesentlich klügerer und geschul­terer Köpfe an, nein, mir ging es lediglich um in meinem eigenen Schädel offenbar irrtümlich unter der Geschmacksrichtung „gesunder Menschenverstand“ geführter Selbstverständlichkeiten. Und zwar weitab blasierter und exklusiver Wahrheitserkennungsvorgaukelei, die hierzulande ja gerade populistische Placebohirne und deren emsig mitblubbernde Putzerfische immer wieder gerne für sich beanspruchen. Allerdings mit dem kleinen Unterschied, dass echte Putzerfische (den berühmten „neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen“ zufolge) zumindest offenbar über genug Grips verfügen, um sich in einem Spiegel selbst zu erkennen, während die hier Erstgenannten dort ausschließlich in die Visage ihrer ideologischen Wirtstiere glotzen.

So denkt man bspw. bei jedem neuen schäbigen, in einer widerlichen Mischung aus rechter Gesinnung und niederträchtigem Provokationskalkül von der angeblichen „Alternative für Deutschland“ inszenierten Eklat, dass die Leute doch „spätestens jetzt“ merken müssten, aus welch dunkelbraunem Holz die allermeisten Köpfe dieses Gruseltrupps geschnitzt sind. „Spätestens jetzt müssen sie es doch erkennen", denkt man sich immer wieder aufs Neue. Aber nichts ist zu hören, außer dem verlogenen Opferrollengepolter ihrer hetzenden Hassprediger und deren sie geifernd umlungernder, jeden Müll nachplärrender Volksidioten- und Abendlandsermeute, die gierig wie ein Rudel hungernder Wölfe nach immer neuen, vormals verbotenen Pöbelparolen ihrer mittlerweile vollkommen entfesselten Anheizer lechzt. Doch was will man auch von Leuten erwarten, deren eigene Gedankengänge bereits nach wenigen Millimetern in einer Sackgasse enden?

Und während die medialen Sturmtruppen ihre virtuelle Dolchstoßlegende immer tiefer in den Rücken der Demokratie twittern, wird die parteiinterne Liste der Affronts mit nahezu jedem Tag länger und länger und wieder denkt man sich: „Spätestens jetzt …"

Stattdessen wird öffentlich immer wieder die Verschiebung der Grenzen des Sagbaren und das immer höhere Maß an Niedertracht bejammert, ohne wirklich etwas dagegen zu unternehmen. Nicht, dass ich wüsste, wie es – außer vielleicht mit Bildung, politischer Aufklärung, der damit einhergehenden Demaskierung der Fanatiker und vor allem dem profanen Bemühen des bereits erwähnten gesunden Menschenverstandes – letztlich hinzubekommen ist, um dem allen endgültig Einhalt zu gebieten, aber wenn man sich zum Beispiel nur mal den jubelnd verspritzten Geistesdurchfall ansieht, der nach dem Tod des im Juni 2019 von einem rechtsextremistischen Schwachkopf ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke von den entsprechenden Arschlöchern ins Internet geschissen wurde, „spätestens dann" sollte man doch sehen (und nicht zuletzt riechen), wessen Stallgeruch hier – nicht nur olfaktorisch – den Nährboden für ein solches Abfeiern mit seiner ideologischen Gülle gedüngt hat.

Und dieser auf verbalen Fäkalien basierende Gestank nimmt nun mal nicht ab, wenn seine vulgär johlenden Verbreiter als zusätzlichen Duft- und Rhetorikverstärker ausschließlich auf den Hektoliter-Flakon Eau de Tourette vertrauen.

Ganz im Gegenteil: Denn zu allem Überfluss (erschreckend konsequent auch nach den Morden von Halle und Hanau zu beobachten) gesellt sich sogar noch ein inflationärer Gewöhnungs- und damit gleichsam Abstumpfungseffekt dazu, denn je öfter, lauter, beständiger und ungenierter solche Diarrhö in aufnahmewillige Hohlköpfe tropft, ja, im dümmsten Falle prasselt, desto eher geht sie als vermeintlich legitime Meinungsfreiheit durch. Allein, die ständige Wiederholung und das permanente frisch Heraufbeschwören von so offensichtlich alter Scheiße macht sie nun mal nicht wohlriechender; der dauerhafte Effekt aber ist ebenso beschissen wie schamlos kalkuliert: Die Leute gewöhnen sich zunehmend an den Geruch!

Und doch ist es immer wieder erstaunlich, welche Unmengen ideologischer Exkremente in einen einzelnen Arsch und wie viel Dummheit in einen einzelnen Kopf passen – auch wenn sich die erwähnten Körperteile hier nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Aber ein gerüttelt Maß an willfähriger Dämlichkeit kommt den Verursachern selbstverständlich ausgesprochen gut zupass, da es natürlich wesentlich einfacher ist, einem Vollidi­oten irgendwelchen Schwachsinn zu verkaufen, als jemandem, der die Dinge hinterfragt und nicht alles ohne den Umweg eines eigenen Gedankens sinnfrei nachkläfft.

Doch wie bereits erwähnt: Ich drehe mich diesbezüglich im Kreis, zumal sich meine abgrundtiefe Verachtung für derlei Entwicklungen und deren Personal mittlerweile ohnehin immer bedrohlicher der Grenze ihrer sprachlichen Vermittelbarkeit nähert.

Und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mit vermehrtem Schwindelbefall resigniert zur Kenntnis zu nehmen, wie hungrig die nächsten Betonfresser schon wieder ihr virtuelles Besteck auf dem Facebook'schen Präsentierteller posten. Und dennoch fragt man sich auch als routiniert desillusionierter Degenerationschronist immer wieder, was sich solche Leute denn bei ihrem Tun so denken mögen? Allzu viel wird es sicherlich nicht sein.

Doch auch wenn dieser Vermutung eine Zielgenauigkeit zugrunde liegt, die fast schon an die Raum und Zeit überwindende Treffsicherheit des im Sherwood Forest streunenden Lucky Luke heranreicht, so bietet sie natürlich keineswegs eine rundum zufriedenstellende Antwort. Die Zeit schien daher reif für einen klärenden Geistesblitz – der dann auch bereits umgehend nach wenigen Jahren einschlug.

Denn nachdem ich derlei Fragestellungen bereits unzählige Male von allen sich mir irgendwie erschließenden Seiten, Haupt- und Nebenschauplätzen konsequent durchgrübelt, analysiert und im besten Falle halbwegs pointiert durchleuchtet hatte – aber dennoch nicht final dahinterstieg –, fand ich trotz weitreichender geistiger Ausritte, die mich durch die seltsamsten, teilweise menschenleeren Landschaften führten, schließlich zu der erfreulich naheliegenden Erkenntnis: Frag doch einfach mal, was andere dazu zu sagen haben! Denn was nutzt die idyllischste Inselbegabung, wenn das Eiland unbewohnt ist.

Erstaunlich genug, dass ich da nicht schon viel früher drauf kam. Insbesondere da sich bei mir weder öffentlicher Geltungsdrang (ich bin nicht sonderlich durchbruchsorientiert … zumindest nicht nach oben) noch der damit einhergehende artver­wandte Mittelpunktswille besonders ausgeprägt zeigen.

Fernab bspw. von der penetranten Profilierungssucht eines Markus Lanz, der sich im Rahmen der mit seinem Namen gebrandmarkten Talk- bzw. Monologshow sogar noch bei Interviews mit Auschwitzüberlebenden immer wieder bedenkenlos in den Vordergrund schwätzt, um zwischen deren unfassbarem Leid mit seinen Antarktiserfahrungen aufzutrumpfen.

Daher also die Bewusstlosensprechstunde.

Der Buchtitel spielt einerseits auf jenes im übernächsten Kapitel immer wieder bemühte „Ohnmachtsgefühl" an, das einen beim Blick auf die Welt und deren Teilnehmer mindestens mal beschleicht, wenn nicht sogar hemmungslos umtost – andererseits liegt Herrn Harapat und mir natürlich nichts ferner, als die hier im Buch zu Wort Kommenden despektierlich unter der Rubrik „bewusstlos" zu verbuchen. Das genaue Gegenteil ist der Fall!

Es handelt sich samt und sonders um Menschen, die sich über den Zustand der Welt und den darin herumwütenden Zeitgeist teilweise bemerkenswerte Gedanken machen. Und dass sich deren diesbezügliche Analysen – sowohl in Richtung als auch Einordnung und Empörungsgrad – erheblich voneinander unter­scheiden, war durchaus beabsichtigt und somit Sinn der Sache. Wir haben es daher, nur wenig überraschend, mit einer breit gefächerten Bestandsaufnahme kontroverser Befindlichkeiten zu tun.

Und doch gibt es unter allen Beteiligten zwei Gemeinsamkeiten: Erstens haben sich alle sehr gewissenhaft mit der Beantwortung unserer Fragen beschäftigt – daher bereits an dieser Stelle erstmals verbindlichsten Dank! – und zweitens wurden allesamt mehr oder weniger von uns in die Nummer reingequatscht. Das allerdings aus gutem Grund. Denn die vermeintliche „Bewusstlosensprechstunde" speist sich eben keineswegs aus dem kollektiven Dahindämmern ihrer Teilnehmer, sondern rekrutiert sich vielmehr aus hellwachen, uns Rede und Antwort stehenden Menschen, deren Ansichten und Meinungen uns einfach interessiert haben.

Und vielleicht ja auch die Leser ... im Idealfall sogar alle beide.

„Die größte Zumutung der Freiheit ist Satire.“

(Julian Reichelt)

„Dafür, dass diese Antifa so gewaltbereit ist, kommen unverhältnismäßig wenig Nazis um.“

(Alix Schwarz)

„Hahaharapat!“

(Martin Sonneborn)

Einleitung: Über Politik, Satire und wie man lebend da rauskommt

Von Dominic Harapat

Als Jörg mich fragte, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm gemeinsam ein Buch zu schreiben, war ich sofort überaus dionysisch. Wie alle großen gescheiterten Geister (Dostojewski, Bukowski, Hitler) erstrebe auch ich naturgemäß ein Dasein in der Autorenschaft, um das Publikum mit den Lehren meines Misserfolgs zu drangsalieren. Es ist außerdem die letzte Disziplin öffentlicher Existenz, in der sich auch der allerletzte Vollidiot (Handke, Ulfkotte, Hitler) verwirklichen kann. Entsprechend musste ich nicht überlegen und willigte sofort ein. Dass ich bereits einen Vollzeitjob mit diversen Ehrenämtern verbinden musste, ignorierte ich geflissentlich. Wird schon, ich bin ja belastbar, flexibel, kundenorientiert und was man sonst so alles in eine nichtssagende Bewerbung hineinlügt.

Nach einigem Hin und Her, wie denn der Inhalt gestaltet werden sollte, machte ich mich mit der Leichtigkeit eines Kindersoldaten ans Schreiben. Und da begannen auch schon die unüberwindbaren Probleme. Wo ich anfangs noch der Idee verfallen war, dass es verminderter Arbeitsaufwand sei, wenn man nur der Co-Autor ist, da man schließlich nur ein halbes Buch schreiben muss, um ein ganzes zu veröffentlichen, trat nun Verzweiflung auf den Plan: Was soll ich denn noch erzählen, das Jörg nicht bereits mannigfaltig zu Papier gebracht hat? Nun, lange später, ist das Werk so gut wie fertig und prall gefüllt mit vorher nicht absehbaren und leider auch viel zu seriösen Inhalten. Einzig diese Einleitung ist die letzte offene Baustelle, um nicht sogar von einer offenen Wunde zu sprechen, die die Gesamtheit des ansonsten geradezu meisterlich anmutenden Schrift­stücks mit sich in die [Fragment]

Am besten beginne ich vielleicht damit, mich vorzustellen. Das könnte auch zum Verständnis beitragen, warum Jörg ausgerechnet mich in die erbarmungslose Welt derjenigen Satzbauer mit runterreißt, die bei einem Bier über den Niedergang der Gesellschaft grübeln und sich nur drei Bier und zwei Korn später bereitwillig und grölend selbst daran beteiligen.

Wer also dieses Buch in Händen hält, mich bislang nicht kannte und sich die Mühe macht, meinen Namen durch das Internet zu jagen (so wie Gauland seinerzeit ankündigte, Merkel zu jagen), wird mich wohl in einer eher unseriös anmutenden politischen Herrenwitzvereinigung, auch Die PARTEI genannt, verorten. Wenn man mir nun die ernsthafte Absicht andichtet, mir in Sachen satirischer Schriftstellerei einen Namen machen zu wollen, dann erscheint der Weg aus den Reihen eines als Partei auftretenden Titanic-Gags mit Ethanolhintergrund doch weniger als ein Sprungbrett, sondern eher als ein Stolperdraht, der vor eine Fallgrube voller Schlangen, Skorpione und der Twitter-Blocklist von Jutta Ditfurth gespannt wurde. Doch frei nach Clint Eastwood gibt es immer zwei Wege: den harten und den falschen. Entsprechend möchte ich an dieser Stelle gern von dem falschen Weg erzählen, den ich bisher gegangen bin und der mich in diese missliche Lage gebracht hat.

Obwohl mich der geschätzte Kollege Schneider auch gern mal als Jungpolitiker bezeichnet, ist das schon etwas an der Realität vorbei. Sicher erfüllt mich, verglichen mit Altkanzler Kohl, noch eine erfrischende Jugendlichkeit, um nicht zu sagen: Lebendigkeit. Aber selbst die Junge Union hätte mich mittlerweile aus ihren Reihen verbannt und würde mich fortan der Altherrenmannschaft zusprechen, selbst wenn man beim Anblick Tilman Kubans nicht gerade von dem Gefühl ereilt wird, dass die Altersobergrenze der CDU-Kaderschmiede wirklich unter 50 Jahren liegt. Es trifft jedoch zu, dass ich noch nicht lange in der Politik beheimatet bin. Aufgewachsen im sozialen Brennpunkt Wetzlars, war ich früher SPD-Wähler, auch wenn mir das heute etwas peinlich ist. Machte man aber so, wir waren ja Arbeiter. Mein Leben drehte sich auch mehr um Musik als um feiste, alte Männer mit fahlen Gesichtern und gleichfarbigen Gedanken in langweiligen Anzügen. Mein politisches Interesse dümpelte eher an der Oberfläche und doch war ich in meinem persönlichen Umfeld noch mit am ehesten am alltäglichen Ge- und Misslingen der Parlamentarier dieser Welt interessiert. Als Kneipenrockstar, der ich zu jener Zeit war oder gerne gewesen wäre, ist das aber auch kein Kunststück.

Bei meiner ersten Bundestagswahl als Wahlberechtigter half ich noch dem Currywurst- und Flaschenbierkanzler Gerhard Schröder in eine weitere Amtszeit, was ich auch immer wieder tun würde, allerdings nicht wegen seiner Politik, sondern wegen seines Lifestyles. Der Elitenfreund aus Niedersachsen hatte mich jedenfalls damals mit dem Versprechen gelockt, Deutschland würde sich unter der Führung der Sozialdemokraten nicht am amerikanischen Angriffskrieg gegen den Irak beteiligen. Ein paar Sozialgesetze später war ich dann schon nicht mehr ganz so überzeugt und gab meine Zweitstimme gelegentlich der Linken oder den Grünen, was mir heute ebenso peinlich ist. Jede Wahlentscheidung war immerzu mit dem Gefühl verbunden, dass es ohnehin nicht wirklich besser kommen würde, sondern nur unterschiedlich schnell schlechter wird, je nachdem, wer die Macht bekommt. Peer Steinbrücks SPD erhielt am Wahlsonntag noch eine Mitleidsstimme von mir. Ich sah die Sozen derartig im Sinkflug, meine Stimme kam einer 10€-Spende an den WWF gleich, um das Aussterben des Säbelzahntigers und des Pterodaktylus doch noch zu verhindern. Bei der Kommunalwahl im März 2016 sollte zum vorerst letzten Mal die SPD von meiner Gutmütigkeit profitieren, seither sorge ich höchstpersönlich für meine Wahlentscheidungen und wähle mich einfach selbst.

Am Ende war es wohl Jan Böhmermann und der Aufschrei um das Erdoğan-Schmähgedicht, was mich in Die PARTEI getrieben hat. Bis dahin hatte ich sogar mit dem Eintritt in die SPD geliebäugelt. Nicht etwa, weil ich die sonderlich überzeugend fand, sondern weil ich den tollkühnen Versuch wagen wollte, den muffigen Lobbyisten-Ramschladen von innen heraus wieder sozialdemokratisch zu machen. Einzig ein utopisch hoher Monatsbeitrag und die Gewissheit, aufgrund meines Vorhabens über kurz oder lang depressiv zu werden, oder besserenfalls nur völlig zu verblöden, hatten mich bisher davon abgehalten. Als Fan von Blues-Musik und Eintracht Frankfurt konnte ich auch wirklich nicht noch mehr alltägliche Stimmungshemmer ertragen.

Das Schmähgedicht schlug jedenfalls hohe Wellen. Was man jedoch völlig vermisste, war die Bundesregierung, die sich schützend vor ihre Künstler stellt und der Türkei die einzig richtige Antwort entgegenschmettert, nämlich eine totale Kriegserklärung oder wenigstens eine Belehrung über Kunst- und Meinungsfreiheit. Damit hatten die etablierten Spaßparteien ihren kümmerlichen Rest an Glaubwürdigkeit bei mir verspielt. Die Bundesregierung stellte sich stattdessen auf die Seite eines irren Despoten. Ein Verrat an der Freiheit und für mich eine deutliche Entscheidungshilfe, meine politische Heimat genau dahin zu verlegen, wo der in Salz gewendete, rostige Löffel in die offene Wunde der Demokratie gebohrt wird. Ich beantragte die Mitgliedschaft in der PARTEI, selbst wenn das bedeuten sollte, dass ich auf ewig unbezahlt und von den übrigen Angehörigen des Politikbetriebes, nicht ganz zu Unrecht, geächtet in der außerparlamentarischen Opposition mein Dasein fristen würde.

Es folgte eine steile Karriere des Scheiterns. Ich scheiterte erstmals, nur wenige Tage nachdem ich Mitglied geworden war, mit meiner Bewerbung um die ausgeschriebene Stelle des Bürgermeisters von Wetzlar. Natürlich durch Schiebung und Korruption. Ich scheiterte als Direktkandidat zur Bundestagswahl 2017 und als Kandidat für das pharaonengleiche Amt des Landrates des Lahn-Dill-Kreises, auch wenn ich bei der Wahl 100 % mehr Stimmen als die CDU erringen konnte. Schließlich scheiterte ich als Listenplatz-Dritter unter dem Spitzenkandidaten Bouffier (Mario) bei der Landtagswahl in Hessen. Auch mit meiner Bewerbung als Vize-Landrat kam ich nicht durch und zuletzt versuchte ich erfolgreich den Einzug ins Europaparlament zu verpassen. Aber um in der Sprache unserer Großeltern zu bleiben: Es war nicht alles schlecht. Denn schließlich kann ich selbstsicher von mir behaupten, für alle meine Wähler bis heute immerzu eine offene Tür, ein offenes Ohr und eine offene Hose zu haben.

Martin Sonneborn wird das Zitat zugesprochen „Es gibt eben nur vier, fünf Arten auf den alltäglichen Irrsinn des kapitalistischen Systems zu reagieren: Alkoholismus, der bewaffnete Widerstand, Politik, Satire.“ Ich würde vielleicht noch „uner­messlicher Reichtum“ ergänzen, denke aber, das erklärt meinen Ansatz ganz gut, warum ich versuche, ausgerechnet mit Satire Politik zu machen (oder auch andersrum), auch wenn ich zugeben muss, dass die CSU unter Markus Söder gegenwärtig mehr Satire zu bieten hat als Die PARTEI. Jede Minute, die ich mich nicht dem Rausch hingebe, ist eine gewonnene Schlacht gegen mich selbst, gleichzeitig ein Sieg des Establishments, das mich nüchtern und klar für meine tägliche, niedere Lohnarbeit braucht, um sich noch einen auf meinem Rücken erwirtschafteten 1950er Macallan einzuschenken. Ich fürchte den Kapitalismus nicht und ich kann auch nicht behaupten, dass ich ihn verachte, persönlich habe ich es mir darin nämlich relativ kommod gemacht. Ich bezweifle allerdings stark, dass sich weltweiter Wohlstand durch ein ressourcenverschlingendes, aus­beu­terisches System erreichen lässt, das auf Wachstum ausgelegt ist und bei Nichterreichen seiner Ziele sofort zu Lasten der weniger Etablierten und der Abgehängten ins Schwanken gerät. Da sich das Ganze eigentlich sowieso nicht aufhalten lässt – schon gar nicht von einem herablassenden Provinzpolitiker wie mir – bleibt mir auch gar nichts anderes übrig, als Hohn und Spott für diejenigen aufzubringen, die den rational kalkulierten Wahnsinn zugunsten toller Wahlprognosen schönreden und fördern. In der epischen Entscheidungsfrage, ob ich an der Verblödung der Welt kaputtgehen oder mich da­rüber kaputtlachen will, habe ich Letzteres gewählt. Kaputt macht es mich wohl so oder so.

Ich hatte mich also entschieden, statt mich seriös am politischen Betrieb zu beteiligen, diesem lieber mit angemessen-wohlportionierter Verachtung zu begegnen. Und Gründe dafür werden täglich fachgerecht und frisch wie Wilke-Wurst produziert; immerhin das hat die grölende Irrfahrt in den Abgrund der Dummheit für sich. Da wäre beispielsweise die twitternde US-Präsidentschaft eines betagten Irren, sozusagen eines Vergreisteskranken, der sich als Milliardär den Kampf gegen das Establishment, welches in seinem Fall offensichtlich für Frauen, Erkrankte und Mexikaner steht, auf die falsch ausgemalte Fahne geschrieben hat. Dabei muss man ihm zugutehalten, dass er sogar Kim Jong-un davon überzeugt hat, es diesmal mit einem wirklich echten Verrückten zu tun zu haben, so dass diesem nur noch die Flucht in Friedensverhandlungen übrigblieb, ehe der debile Onkel noch in seiner „großartigen und unvergleichlichen Weisheit“ anfängt zu schießen. Unter dem wirkungsvollen Lebensmotto „Wahnsinn ist die beste Verteidigung“ konnte Trump also bislang tatsächlich aus Versehen für eine punktuelle Entspannung des weltpolitischen Klimas sorgen, selbst wenn er es wahrscheinlich nicht vom weltpolitischen Wetter zu unterscheiden vermag.

Aber soweit muss man gar nicht schauen, gibt es doch auch hierzulande veritable Klogriffe in hohen Ämtern. Denken wir nur an verkehrspolitische Unfälle wie Andreas Scheuer oder dessen Vorgänger Alexander Dobrindt (beide CSU), die trotz besseren Wissens, der Rechtslage und trotz des Willens der Wählerschaft auf Biegen und Brechen eine Maut umsetzen und Unsummen an Steuergeldern überfahren mussten. Denken wir an den ehemaligen Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen (CDU), der der rechtsextremen AfD zu seiner Amtszeit noch Tipps gab, wie diese der Beobachtung durch eben jenen Verfassungsschutz entgehen kann und der sich heute in der sogenannten Werte-Union für ein Bündnis mit dieser, in großen Teilen, verfassungsfeindlichen Partei stark macht. Das Ganze wäre nur halb so schlimm, wenn er sich nicht auch ununterbrochen und vehement für den Kampf gegen einen vermeintlich grassierenden linken Terror stark machen würde, während rassistische und faschistoide „Einzeltäter“ reihenweise Morde begehen. Denken wir an Ursula von der Leyen, die aus Gründen der Demokratieförderung nicht selbst zur EU-Wahl antrat, sich dann aber im Zuge heimlich zusammengeschnürter Hinterzimmerseilschaften doch mal eben zur EU-Kommissionspräsidentin wählen ließ. Und das mithilfe der rechtpopulistischen PiS-Partei aus Polen und Orbáns ebenso fragwürdig ausgerichteter FIDEZ.

Und was wäre diese Aneinanderreihung wahrer Blindgänger ohne die amtierende Verteidigungsministerin und gescheiterte CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer? Zwar ist man aufgrund der gemeinsamen Herkunft und regionalen Gepflogenheiten im Saarland versucht, AKK eine gewisse Verwandtschaft zu Oskar Lafontaine und Erich Honecker zu unterstellen, politisch ist das Verhältnis jedoch alles andere als geschwisterlich. So setzt die Oberbefehlshaberin im Putzfrauentarnanzug schon mal die Linkspartei mit Faschismus oder auch Homosexualität mit Inzest gleich (ausgerechnet als Saarländerin!) und brilliert auch sonst beständig mit dem zarten Einfühlungsvermögen einer in Flammen stehenden, arsenge­tränkten mittelalterlichen Streitaxt. Bei so viel staatstragender Feingeistigkeit wäre die Kanzlerschaft geradezu selbstverständlich die nächste Sprosse der Karriereleiter gewesen, wenn der meiner Meinung nach geeignetere Kandidat Friedrich Merz, ein echter Verbrecher vom alten CDU-Schlag, ihr nicht doch noch in die Suppe gespritzt hätte. Das ist jedoch mit katastrophalen Folgen für die Trägerin zahlreicher Karnevalsauszeichnungen verbunden, denn nach alter saarländischer Tradition werden gescheiterte Wiederheimkehrerinnen öffentlich für das Besudeln der Familienehre geläutert, indem man ihnen eine Lyoner um den Hals hängt, sie mit Maggi übergießt und eine Woche bei den Schafen schlafen lässt, wie es der Brauch will.

Angesichts dieses kleinen Auszugs an spaßigen UnterhaltungspolitikerInnen – und die Liste ließe sich mit genug Zeit auch nahezu endlos erweitern – muss ich mir natürlich die Frage gefallen lassen, was ich mir erhoffe, mit meiner politischen Tätigkeit und letztlich auch diesem Buch, noch ausrichten zu können. Eigentlich ist doch bereits alles gesagt und die Wirklichkeit hat die Satire längst überholt. Ich kann also auch kaum noch die Realität überspitzt darstellen, ohne dazu ihren eigenen Windschatten zu nutzen und muss aufpassen, dass sie mich nicht am Ende sogar abhängt. Es wäre keine Schande, in Zeiten der realpolitischen Satire, die ernsthaften Absichten auch in einer etablierten Spaßpartei wie der SPD, der CDU oder bei den arrivierten Sauerkrautsaftsäcken von den Grünen auszuleben. Man könnte wunderbar in Unterwäsche auf Wahlplakaten der Liberalen mit dem Handy spielen oder sich mit Sahra Wagenknechts gescheiterter und fast vergessener Sammelbewegung „Aufstehen“ ins Bett legen. Das alles wäre zurzeit einfacher und deutlich lukrativer, als sich in der PARTEI zu engagieren, zumal es bei der politischen Konkurrenz auch tatsächlich Ämter und Jobs und damit eben auch Geld und Macht zu holen gibt, ganz zu schweigen von Seilschaften und Bungapartys. Aber neben dem erhöhten Schwierigkeitsgrad und der völligen Perspektiv- und Erwartungslosigkeit, die mein Engagement mit sich bringen, ist es vor allem lustig und auch irgendwie ehrlich.

Und wo in der Politik findet man das heute noch? Politik ist ein Verhältnis von Mächten. Diese Macht gilt es nicht nur auszubauen, was das gewöhnliche Bestreben der höheren Würdenträger ist, sondern insbesondere gilt es sie auch zu erhalten. Damit das reibungslos funktioniert, wird schon mal was vergessen, verschwiegen oder erlogen. So vergaß der frühere Bundesinnenminister Manfred Kanther beispielsweise, wie viel Zaster er persönlich im Zuge der CDU-Schwarzgeldaffäre am Fiskus vorbei in die Schweiz geschafft hatte. Altkanzler Helmut Kohl verschwieg bis zu seinem Tod, von wem die illegalen Parteispenden kamen und der damalige hessische Ministerpräsident Roland Koch versprach seinerzeit, „[…] dass brutalstmögliche Aufklärung notwendig ist, dass wir etwas ausbrennen müssen, was extrem gefährlich ist.“ und wurde schließlich der sogenannten „Sternsingerlüge“ überführt, nachdem er sich zuvor wochenlang als der Chef-Aufklärer inszeniert hatte, obwohl er längst um die Vorgänge im Spendenskandal wusste. Es ist also erkennbar: Aus großer Macht folgt großer Machtmissbrauch.

Ich habe keine Macht. Meine politischen Ämter sind vergleichbar mit einem Präsidenten in einem Heavy-Metal-Club: Unter der Woche habe ich nichts zu melden, aber am Wochenende ziehe ich die Kutte an und kann besoffen Leute herumkommandieren. Ich habe mir einen gewissen Namen in einem Mikrokosmos erarbeitet, bin aber darüber hinaus und eigentlich auch darin weder von größerer Relevanz noch von öffentlichem Interesse, was sich mit dieser politikwissenschaftlichen Relevanzliteratur aber sicher noch ändert. Wahrscheinlich ist genau das der Anlass, warum ich in diesem Schriftstück gelandet bin. Ich bin Beobachter, Analytiker und Kommentator der politischen Vorgänge, die als eine Art intellektueller pH-Indikator funktionieren und in den gewählten Bürgervertretungen Farbwerte von rot bis braun ausweisen, die für verschiedene Stadien gesamtgesellschaftlicher Totalverblödung stehen. Und in diesen Tagen, da die Grenzen des Sagbaren und mit ihnen die Grenzen des Machbaren deutlich verschoben sind, der Rechtsextremismus erstarkt ist, Gewalttaten mit rechtsradikalem und antisemitischem Hintergrund wieder vermehrt vorkommen, da sollte allen klar sein, zu welcher Farbe der intellektuelle pH-Indikator gerade zunehmend tendiert.

Häufig, wenn man sich über den geistigen Niedergang der Gesellschaft und nachfolgender Generationen beklagt, zaubert wieder irgendwer, zumeist sozialwissenschaftlich Gelehrte, folgendes Zitat aus dem Ärmel:

„Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“

Das Zitat ist weit über 2.000 Jahre alt und stammt angeblich von dem griechischen Philosophen Sokrates. Und es stimmt doch versöhnlich mit der Gegenwart, wenn schon vor so langer Zeit genauso gedacht wurde wie heute. Ganz so schlimm kann es um uns wohl doch nicht stehen und der Schneider und der Harapat übertreiben offensichtlich, wenn sie dem aktuellen Zeitgeist unterstellen, dem Zenit des Idiotentums denkbar nah zu sein.

Dennoch kann ich nicht umhin, hervorzuheben, dass wir die Verbrechen unserer Eltern und Großeltern in sehr gut dokumentierter Form vorliegen haben, den millionenfachen, systematischen und industriellen Mord an Menschen anderen Glaubens, anderer Gesinnung und anderer Herkunft sowie einen in seiner Grausamkeit und Brutalität kaum zu toppenden Vernichtungskrieg, der Europa in Schutt und Asche gelegt hat. Und obwohl wir die Folgen all dessen noch vor Augen haben, konstatiere ich mit einem neuerlichen Verweis auf den intellektuellen pH-Wert einen immensen Zulauf zu rassistischen Meinungen und menschenverachtenden Parteien … wie der FDP. Ich unterstelle daher, dass das Zitat von Sokrates mit Sicherheit nicht unter einem solchen Eindruck entstanden sein konnte, da man sich in völliger Kenntnis der Folgen stumpfsinnigsten Wahnsinns trotzdem genau diesen wieder herbeiwählt. Man versucht quasi, die übrigen Glutnester nach einem verheerenden Waldbrand mit Spiritus und einem Laubbläser zu löschen. Der Vergleich hinkt vielleicht wie ein Tretminenopfer, dennoch hoffe ich, dass mein Standpunkt beidfüßig nachvollziehbar ist.

Ich hoffe, dass die Menschen wieder vermehrt ihr eigenes intellektuelles Futter ernten, statt sich damit zufriedenzugeben, was ihnen Hitler, Haider und Höcke zum Fressen vor die Füße kotzen. Ich hoffe, dass Wissenschaft und Bildung (insbesondere Allgemeinbildung) wieder einen höheren gesellschaftlichen Wert zugesprochen bekommen und nicht weiter unter den toxischen Aspekten Wirtschaftlichkeit, Effizienz, Wettbewerb und Markttauglichkeit gesehen und vermittelt werden.

Und ich hoffe, dass ich über all dem nicht die immer scheinende Sonne in meinem Herzen, das kindergleiche Lachen in meinem Gesicht und meine grundsätzlich positive, philanthropische und optimistische Sicht auf die Welt verliere. Und entsprechend zuversichtlich und lebensbejahend lässt sich ab­schließend zusammenfassen: Keine Hose – kein Problem!

Nachtrag

Eigentlich war mein Einleitungstext schon lange fertig und wurde bereits erfolgreich vor Publikum getestet. Eigentlich wollte ich daran nur noch ein paar Kleinigkeiten auf den aktuellen Stand bringen, ehe dieses Buch mit veralteten Informationen und Behauptungen erscheint, denn wir arbeiten nun schon seit eineinhalb Jahren daran. Eigentlich wollten wir auch nicht auf tagesaktuelle Themen eingehen, da diese für gewöhnlich eine nicht absehbare Relevanzdauer haben und bei Druck des Buches schon längst wieder vergessen sein könnten, zumal in so schnelllebigen Zeiten wie diesen, in denen man sich vor der Flut an Informationen kaum zu retten vermag … wobei das nicht stimmt, wie ich immer wieder feststellen muss, denn eine gefühlte Minderheit von nur 80 bis 90 % der Bevölkerung sieht sich durchaus dazu imstande, auch noch so einfachste Botschaften wie „Feuer ist heiß“ oder „Franzbranntwein eignet sich nicht zum Masturbieren“ zu verpassen oder bewusst zu ignorieren.

Eigentlich war meine Arbeit also schon getan, doch dann kam mal wieder alles anders und die ganze Welt wurde vor eine völlig neue Herausforderung gestellt. Das Coronavirus verbreitet sich zum Zeitpunkt, da ich dies schreibe, schneller über den ganzen Globus als eine Hitsingle von Bon Jovi. Und ganz ähnlich wie bei beschriebener, akustischer Krankheit kann man sich ihm nur durch konsequentes Social Distancing entziehen, also zuhause bleiben und keine Einflüsse von außen an sich ranlassen (im Falle Bon Jovi also TV und Radio, im Fall des Virus jeglichen direkten Kontakt zu anderen Menschen vermeiden).

Das öffentliche Leben wird von Tag zu Tag weiter eingeschränkt, so dass ich mich bereits sehr gut in einen Ostdeutschen aus DDR-Tagen hineinversetzen kann, denn die Reisefreiheit ist quasi nicht mehr existent, die Grenzen sind dicht, Flugzeuge fliegen nicht mehr, Restaurants, Boutiquen und Baumärkte sind geschlossen und vor Lebensmittelgeschäften bilden sich lange Schlangen, wie seinerzeit vor dem Konsum, und um dem Vergleich gerecht zu werden, trifft man darin vermehrt auch auf leere Verkaufsregale. Denn das kulturpsychologische Phänomen germanis metum, im Volksmund auch als „German Angst“ geläufig, offenbart sich schon seit einigen Wochen darin, dass sich immer mehr Menschen scheinbar auf eine Zombieapokalypse einstellen und daher, in einem Akt grenzenloser Nächstenliebe und Solidarität, lebensnotwendige Vorräte in Form von billigen Nudeln, Reis, Konserven, Tiefkühlgemüse und Toilettenpapier in gewaltigen Mengen aus den Supermarktregalen verschleppen und zuhause im heimischen Atomschutzkeller für die Nachwelt lagern. Die Archäologen kommender Generationen werden sicher sehr erstaunt sein und die vielen unterirdischen Bunker der Corona-Prepper als mystische Kult- und Begräbnisstätten verstehen, in denen heidnischen Gottheiten mit Klopapier und Konservensuppen gehuldigt wurde.

Interessant ist auch, wie sich beobachten lässt, dass viele Menschen im Moment – und die Scheiße fängt gerade erst an – noch geradezu euphorisch sind, den Zusammenhalt positiv herausstellen, am Fenster für die aufopfernde Arbeit der medizinischen Berufsgruppen klatschen, auf Balkonen zusammen singen und sich beinahe darüber freuen, dass dieses Virus dafür sorgt, dass die Bevölkerung wieder enger zusammensteht, obwohl sie genau das im räumlichen Sinne gerade nicht tun sollte. Für mich wirkt das ähnlich wie die anfängliche Ekstase, als 2015 Flüchtlinge in Deutschland ankamen. Beinahe sehe ich Menschenmengen das Virus am Frankfurter Hauptbahnhof mit Teddybären, Kleidung und warmem Essen empfangen und bejubeln. Ich bin gespannt, wie lange diese Begeisterung anhält, ehe die Stimmung kippt und wieder „DIE FRAU MERKEL MUSS WEG!“ gebrüllt wird. Denn Zeit zum Entwickeln und Vertiefen von Verschwörungsmythen hat das stetig wachsende und von so nam­haften Schwachsinnsartilleristen wie Xavier Naidoo befeuerte Reichsbürgergesinde in den kommenden Monaten ja leider zur Genüge.

Zu meinem Erschrecken bilden sich aus der Situation auch völlig ungeahnte Stilblüten. Da wäre zum Beispiel Markus Söder, der sich mittels Metamorphose vom Oger zum Ministerpräsidenten entpuppt hat und nun mit eiserner Hand und hölzernem Kreuz einem echten Staatsmann gefährlich nahekommt, parteiübergreifend gelobt und von vielen bereits als Kanzlerkandidat wahrgenommen wird, was doch aber nun bitte nicht wirklich im Sinne der Bevölkerung sein kann! Mit seinem ständigen Vorpreschen, Stärke demonstrieren und den Rest der Republik in Zugzwang bringen, inszeniert er sich als die voll­umfängliche Autorität im Staat, die vom kleingeistigen Dumpf­bürger leider nicht mehr zu Recht abgelehnt wird, sondern vermehrt auf Zuspruch stößt, da die Kälberherden im Lande nach strenger Führung dürsten, stärker als nach Freiheit und Mitbestimmung, die wiederum dem überforderten Wiederkäuergeist ohnehin nur unnötige Denkleistung abringen, Energie also, die man zum Hochwürgen bereits vorverdauter Informationen von Julian Reichelt oder Roland Tichy besser gebrauchen könnte.

Dagegen hat es den konservativen Messias Friedrich Merz einfach gleich selbst erwischt und als wandelnde Biowaffe ist er bis zur Diagnose noch wacker vor Heerscharen potenzieller Wählerinnen und Wähler aufgetreten, die nicht ganz zufällig zur Risikogruppe zählen, steht doch Merz für genau die moderne Politik ihrer Jugend, als der größte politische Gegner noch Kurt Schumacher hieß. Immerhin, Merz vermeldete mittlerweile Besserung und unendlich selbstlos wie er bekanntlich ist, gilt seine größte Sorge nicht seiner eigenen Gesundheit, sondern dem Wohlergehen der Wirtschaft, genauso wie ich es von einem würdigen CDU-Vorsitzenden erwarte.

Wie dem auch sei, die Welt befindet sich im Ausnahmezustand und es ist derzeit nicht absehbar, wie lange dieser bestehen wird und welche Folgen das Ganze für die Gesellschaft hat. Die umfangreichen Einschränkungen von Freiheit und Versammlungsrechten werden von der Mehrheit stillschweigend akzeptiert; ich betrachte das aber mit einem gewissen Argwohn und hoffe, dass dies nicht zu einer neuen Normalität wird. Mein Glaube an die vielbeschriebene und besungene Mär der deutschen Solidarität reicht darüber hinaus kaum so weit, wie ich sie schmeißen kann und immer wieder geht mir durch den Kopf, dass das Ende einer Zivilisation nur drei Mahlzeiten entfernt liegt oder in unserem Falle zwei große Sitzungen ohne ausreichend Papiertuchversorgung. Die unter Strafandrohung angeordneten Abstandsregelungen von mindestens eineinhalb Me­tern sind derweil im Laden oder bei der systemrelevanten Arbeit (beispielsweise bei Krauss-Maffei Wegmann oder Rheinmetall) kaum einzuhalten und ich möchte manch eine Person aus dem Kreise jener besonders Gefährdeten, die eine nur durch Altersstarrsinn erklärbare Distanzlosigkeit an den Tag legen, am liebsten mit Desinfektionsmittel wegkärchern.

Immerhin, das Ganze hat abgesehen von Chaos und Tod auch noch positive Auswüchse. So kann man die selbst auferlegte Quarantäne nutzen und endlich mal wieder in Ruhe zusehen, wie der Markt sich mittels Selbstheilungskräften und mehreren Hundertmilliarden Euro aus den Staatskassen selbst regelt. Ein wahrhaft atemberaubendes Naturschauspiel, das man nur sehr selten bestaunen kann.

Dominic Harapat, Wetzlar, den 24. März 2020

„In jede Gesellschaft gehört der Idiot, der die naiven Fragen stellt, vor denen man selbst zurückschreckt.“

(Mark Twain)

„Wer, wie, was? Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm.“

(Sesamstraßenweisheit)

„Es gibt Leute, die denken so, und es gibt Leute, die denken so. Das ist immer so, wenn viele Leute zusammenkommen.“

(Toni Polster)

Drei Fragen an ...

Von Jörg Schneider

Eigentlich sollte dieses Buch ganz anders werden – und das wurde es dann ja auch.

Denn, dass sich der Hauptteil unserer Bewusstlosen­sprech­stunde letzten Endes aus jeweils drei Fragen an 25 Leute zu­sammen­setzen würde – also insgesamt 75 Fragen und erfreu­licher­weise auch den dazugehörigen Antworten –, war zu Beginn der Überlegungen nicht einmal ansatzweise so gedacht, geschweige denn geplant. Und dass sich damit ein Großteil dieses Buches überraschend ernsthaft gestalten würde, noch viel weniger. Offen gestanden, gab das ursprüngliche Konzept überhaupt nichts von der in diesem Kapitel zu findenden Abfragerichtung her, sondern beschränkte sich vielmehr auf die komplette Gegenrichtung, von deren Sackgassigkeit man sich dann im Kapitel „Leser fragen – niemand antwortet“ ein Bild machen kann.

Wir haben 25 Menschen zu ihrer persönlichen Sicht der Dinge bezüglich gesellschaftlicher Wahrnehmungen, Veränderungen und Eindrücke rundum den in der Welt grassierenden Wahn­sinn befragt.

Allen wurden jeweils drei Fragen gestellt, die sich in zwei Kategorien unterteilten. Die ersten beiden Fragen waren speziell auf den jeweils Befragten zugeschnitten und gingen auf dessen persönliches Fachgebiet ein, sei es Beruf, ein bewusstes Engagement für ein bestimmtes Projekt oder was auch immer Menschen für ein solches Aushorchen sonst noch interessant machen könnte.

Als dritte Frage musste eine Kollektivfrage herhalten, die – ohne individuellen Bezug zu den einzelnen Befragten – allen in identischer Form gestellt wurde und die ganz allgemein auf deren jeweilige Vorstellung von einem möglichst ideal gestalteten gesellschaftlichen Miteinander zielte.

Und von der mit dieser Frage ganz bewusst etwas ambivalent in den Raum gekippten Prämisse (25-fach nachzulesen in den folgenden Gastbeiträgen) erhofften wir uns ein in Form und Inhalt recht breites Spektrum unterschiedlichster Meinungen, Analysen und Erkenntnisse zu ein und demselben Thema – dem einer solidarischen und gerecht strukturierten Gesellschaft. Es hat prima hingehauen.

Und da Menschen nun mal erfreulicherweise verschieden sind (oft sogar jeder Einzelne), waren wir natürlich bemüht, für dieses Buchprojekt Charaktere verschiedenartigster Provenienz zu gewinnen. Eine Aufgabe, die uns nicht nur einen wunderbaren Querschnitt durch unterschiedlichste Fach- und Themenbereiche bescherte, sondern uns auch mit einem sich erfreulich kantig und vielschichtig gerierenden Befragtenkreis versah.

Zugegeben, nur allzu gerne hätten wir auch Leute befragt, deren Weltanschauung von der unseren so weit entfernt ist wie bspw. Harvey Weinstein von einem Platz in der EMMA-Redaktion. Doch gilt es hier ehrlicherweise einzugestehen, dass die Befragten vornehmlich aus unserem mehr oder weniger (wenn auch meist weniger als mehr) persönlichen Umfeld stammen und sich daher in einigen Fällen gewisse ideologische Übereinstimmungen nicht vermeiden ließen.

Und doch haben wir uns nach Kräften bemüht, auch uns ideologisch ausgesprochen fremde Kräfte von der Idee hinter diesem Buch zu überzeugen.

So kann ich bspw. von mehreren höflichen Mailanfragen meinerseits an diverse politisch und weltanschaulich am äußersten Rand der Erdscheibe angesiedelte Eigenvolksvertreter, etwa an einen früh gealterten Jungnazi, einen Flacherdeverfechter, eine Investmentbankerin und einen (sich durch enorme inquisito­rische Eifrigkeit empfehlenden) katholischen Geistlichen berichten, die mir trotz ihrer individuellen Unterschiedlichkeit jedoch allesamt sehr deutlich zu verstehen gaben, für einen solchen „linken Scheiß“ bzw. ein sicherlich als „Lügensammlung“ zu bewertendes und wahlweise als „antikapitalistisch“ oder „antichristlich“ einzuordnendes Machwerk, bei dem einem später „ohnehin nur das Wort im Mund herumgedreht würde“, nicht zur Verfügung zu stehen.

Und auch trotz intensiver Höflichkeits- und Restcharmeoffensiven zugunsten einer ausgewogenen Berichterstattung und meiner Zusicherung, die Antworten (solange halbwegs mit Grundgesetz und Strafgesetzbuch vereinbar) in keinerlei Hinsicht zu verfälschen oder zu verfremden – oder verfälschte oder verfremdete Antworten in Umlauf zu bringen –, waren die Angeschriebenen leider nicht von einer Teilnahme zu überzeugen. Ein Umstand, den ich äußerst bedauerlich finde, der aber, wie mir von Verweigerungsseite mitgeteilt wurde, hauptsächlich meiner bisherigen publizistischen Vita geschuldet sei. Man „habe sich erkundigt“ und wisse schon, was ich für einer sei. Das sei aber, wie mir wiederum in einem besonders geheimnisvollen Fall versichert wurde, „nichts Persönliches, sondern ausschließlich privat“.

Natürlich waren gerade jene Absagen zwar sehr bedauerlich, aber selbstverständlich auch in dieser Form zu akzeptieren. Trotzdem schade, denn ich hätte schon gerne erfahren, wie sich denn speziell die angefragten, teilweise sehr extremen Rechtsausleger die Welt und das Miteinander ihrer Bewohner so in ein- oder zweihundert Jahren erwünschen. Na, es sollte nicht sein. Ein hoffentlich gutes Omen.

Doch letztlich spricht ja auch Nichtausgesprochenes (zumal jenes, das man dennoch an jeder Ecke hören kann) oftmals eine sehr deutliche, ausgrenzende Sprache, der man als Außenstehender eher irritiert von der Seitenlinie lauscht. Und das ist vielleicht auch ganz gut so, wenn man bedenkt, dass insbesondere extremistisch strukturierte Gesinnungen den von ihnen propagierten vereinsinternen Arschbombensprung vom Tausendmeterbrett auf den Beckenrand ohnehin nur ausgewählten Elite­drauf­gängern zugestehen. Aber solange man nur fliegt, wenn auch in diesem Falle stürzt, tut es ja auch nicht weh – und solange im Alltag der Handy Akku immer voll ist und man noch täglich seine 25 kg Kind mit zweieinhalb Tonnen SUV zum 300 Meter entfernten Kindergarten schaffen kann, läuft doch zumindest das eigene Leben noch ganz wunderbar auf Hochtouren. Was scheren einen da die anderen.

Umso lehrreicher zu lesen, wie vielfältig die Antworten der tatsächlich Befragten vor allem in Bezug auf gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten ausgefallen sind. Daher an dieser Stelle nochmals unseren ebenso aufrichtigen wie verbindlichsten Dank an alle, die mitgemacht haben und unser kleines Buch mit ihren Antworten zu einem wunderbaren Sammelsurium unterschiedlichster Ansichten, Überlegungen und Analysen geadelt haben! Das hätten wir trotz multipler Persönlichkeitsstörung nicht differenzierter zustande bringen können.

Zwei abschließende Anmerkungen in redaktioneller Sache:

• Sämtliche Fragen wurden (mit Ausnahme eines einzelnen nachgereichten Frage-Antwort-Blocks) zwischen Frühjahr und Sommer 2019 gestellt. Alle sich danach zugetragenen Skandale, Affären und sonstigen Katastrophen waren daher (wie auch bereits in der Vorbemerkung nachzulesen) vielleicht vorherzusehen, aber eben doch noch nicht seriös zu berücksichtigen.

• Sämtliche 75 Antworten dieses Kapitels wurden von uns in der Form ins Buch übernommen, in der wir sie auch erhalten haben. Wir haben lediglich, falls notwendig, hier und da ein paar Kommafehler eingebaut, damit sich die einzelnen Antwort­blöcke nicht allzu sehr von der sich konsequent durch den Rest des Buches ziehenden Interpunktionsschwäche unterscheiden.

Dr. Anna Beniermann (Biologiedidaktikerin)

Deine Dissertation trägt den Titel „Evolution – von Akzeptanz und Zweifeln. Empirische Studien über Einstellungen zu Evolution und Bewusstsein". Selbstverständlich lässt sich das Ergebnis solcher Studien in all seiner Komplexität nicht in ein paar Sätzen zusammenfassen, aber könntest Du dennoch mal versuchen zu erklären, warum auch heutzutage noch immer sehr viele Menschen (wenn auch in unterschiedlichen Ausle­gungen bzw. Gläubigkeitsstadien) an der Schöpfungslehre festhalten und wie sich deren Unterscheidung zwischen dem „Ab­lehnen der Evolution" im Allgemeinen und der „Ablehnung der Evolution des menschlichen Geistes" im Speziellen erklärt? Du hast in Deiner Arbeit ja dargestellt, dass eine solche Diskrepanz nicht unbedingt mit dem Verhältnis von „Wissen und Einstellung" zu tun hat.

Die monotheistischen Religionen haben gemeinsam, dass sie den Menschen außerhalb der Natur verorten – gewissermaßen als Herrscher über allen anderen Lebewesen. Im Gegensatz dazu impliziert die Evolution eine naturalistische Erklärung für Ursprung, Veränderung und geografische Verteilung des Lebens auf der Erde.

Die Tatsache, dass diese Erklärung auch vor uns Menschen und unseren kognitiven Leistungen nicht haltmacht, sondern im Gegenteil seit der Veröffentlichung von Darwins „Über die Entstehung der Arten" vor 160 Jahren im Zuge fortwährender Forschung immer näher an den Kern unseres menschlichen Selbst­bildes rückt, ruft Ablehnungsreaktionen hervor. Der Philosoph Hannes Rusch nennt diese Form der Ablehnung naturalistischer Erkenntnisse „antinaturalistischer Reflex“ – das finde ich sehr passend.

Aus diesen Überlegungen entstand meine Forschungsfrage, die Ablehnung der Evolution des menschlichen Bewusstseins etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Und tatsächlich zeigte sich bei der Befragung von fast 10.000 Proband*innen ein deutliches Bild: Die Evolution von kognitiven und emotionalen Fähigkeiten erfährt weniger Akzeptanz als die Evolution im Allgemeinen. Man könnte auch sagen: Je näher die Evolution an die eigene Persönlichkeit, das eigene Selbstbild, rückt, desto häufiger wird sie abgelehnt. Die Schlussfolgerungen, die sich aus der konsequenten Anwendung des Evolutionsgedankens ergeben, sind selbst für nicht-religiöse Menschen mitunter schwer nachvollziehbar, da sie der „weit verbreiteten philosophischen Intuition [widersprechen], dem menschlichen Geist einen irgendwie gearteten Sonderstatus zuzuweisen“, beschrieb es der emeritierte Gießener Biophilosophie-Professor Eckart Voland.

Während die naturalistische Erklärung des menschlichen Bewusstseins also auch unter nicht-religiösen Menschen mitunter zu Ablehnung führt, finden sich ablehnende Haltungen gegenüber Evolution hauptsächlich bei Menschen, die religiös sind – der Umkehrschluss gilt jedoch nicht: Aus einem starken religiösen Glauben folgt nicht unbedingt die Ablehnung der Evolution.

Nichtsdestotrotz gibt es natürlich bestimmte Strömungen, die die Evolution ablehnen und an deren Stelle einen Schöpfergott oder einen nicht näher beschriebenen intelligenten Designer setzen. Neben dieser starken Form der Ablehnung in Gestalt von Kreationismus oder Intelligent Design gibt es auch unter jenen, die die evolutionäre Herkunft des Menschen zwar vordergründig akzeptieren, vermutlich nicht wenige religiöse Menschen, die eine streng naturalistische Form der Evolutionstheorie mit all ihren Konsequenzen ablehnen und stattdessen von einer theistischen Evolution ausgehen oder ein deistisches Weltbild haben.

All das Beschriebene bezieht sich jedoch nur darauf, welche Einstellungen Menschen zu Evolution haben, ob sie also der Ansicht sind, dass Evolution stattfindet und eine wissenschaftliche Tatsache ist. Wie und ob diese persönliche Einstellung mit dem Verständnis evolutionärer Prozesse und Begriffe zusammenhängt, ist keine leicht zu beantwortende Frage. In meiner eigenen Arbeit gab es bei Schüler*innen keine signifikanten Zusammenhänge zwischen Einstellungen und Verständnis, während sich bei Biologie-Referendar*innen ein recht starker Zu­sammenhang zwischen diesen Variablen zeigte. Dieses Ergebnis verdeutlicht sehr schön, dass es sich bei Einstellungen zu und Verständnis von Evolution um zwei unabhängige Konstrukte handelt. Auf der Basis dieser Erkenntnis ist es besonders bedeutsam, die häufig vorgenommene Vermischung von Wissen und Einstellungen in der Debatte um Evolution und Kreationismus kritisch zu betrachten: Weder sind Kreationist*innen dumm, noch verstehen sie zwangsläufig wenig von Evolution. Sie glauben eben nur nicht daran.

Genauso ist das Umgekehrte wahr: Menschen, die davon ausgehen, dass Evolution stattfindet, müssen dazu weder sonderlich intelligent sein, noch auch nur einen Hauch Evolutions­biologie verstehen.

Insgesamt verdeutlichen die Ergebnisse in diesem Forschungsbereich, dass die Ablehnung von Evolution in der Regel nicht davon abhängt, wie rational eine Person ist. Der Grund ist eher darin zu suchen, dass die Ablehnung von Evolution oft identitätsstiftende Komponenten bedient – wie die Identifikation mit einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe. So weiß man mittlerweile, dass Fragen zur Akzeptanz von gesellschaftlich kontrovers diskutierten Themen wie Evolution und anthro­po­genem Klimawandel eher die Zugehörigkeit zu einer sozio­kulturellen Gruppe messen als naturwissenschaftliches Wissen.

Denn enge soziale Beziehungen spielen nicht nur für das persönliche Selbstverständnis eine wichtige Rolle, sondern auch für die Legitimierung von Meinungen und Konzepten. Diese intersubjektive Verständigung über die Realität wird als Shared Reality Theory bezeichnet. Das Zurückgreifen auf eine gemeinsame Realität erhöht zum einen die Bindung an die eigene soziale Gruppe und verringert zum anderen die Unsicherheit gegenüber der Umwelt. Aus diesem Grund ist ein Ausbrechen aus diesem Gruppenkonsens besonders schwierig und wird nicht selten als Gefahr für die eigene soziale Identität angesehen. Vor diesem Hintergrund wird die Änderung von Einstellungen zu Evolution zu einer besonderen Herausforderung.

Während ein kreationistisches Umfeld also mit hoher Wahrscheinlichkeit einen großen Einfluss darauf hat, dass eine Person trotz Verständnis von Evolution ihre Position bzgl. der Akzeptanz der Evolution nicht ändern wird, sorgt ein soziales Umfeld, in dem Evolution akzeptiert wird, in der Regel nicht dafür, dass die Person Evolution akzeptiert. Grund hierfür ist, dass Evolution für die meisten dieser sozialen Gruppen im Gegensatz zu kreationistischen Kreisen keine identitäts- und realitätsstiftende Funktion hat.

Aufgrund der dargestellten Zusammenhänge ist es, wie bereits erwähnt, unangemessen, von einer beschränkten Intelligenz oder mangelhafter Bildung von Kreationist*innen auszu­gehen. Nichtsdestotrotz wird dieses Narrativ verbreitet und damit der Konflikt über das Thema Evolution weiter verschärft. Der Publizist Michael Schmidt-Salomon ist bspw. der Ansicht, „dass jemand, der aus religiöser Voreingenommenheit wissenschaftliche Kriterien so sehr ignoriert, dass er nicht einmal die hunderttausendfach belegte Tatsache der Evolution anerkennen kann, keinen universitären Abschluss verdient hat (und zwar nicht einmal im Fach Theologie, solange es an staatlichen Universitäten gelehrt wird)“. Der Autor schlägt daher vor, „die Evolutionstheorie als Lackmustest für den Grad der Rationalität“ für angehende Lehrkräfte einzuführen. Derartige Forderungen beruhen auf der Gleichsetzung von Wissen zu Evolution und Akzeptanz von Evolution, die der empirischen Datenlage widerspricht.

Nichtsdestotrotz ist es natürlich aus biologiedidaktischer Sicht wünschenswert, wenn die Einstellung zu Evolution und auch Wissenschaft im Allgemeinen positiv, die Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse hoch und die Motivation für den Lehrberuf groß ist. All das sind jedoch persönliche Faktoren, die man genauso wenig einfordern kann wie die private politische Neutralität einer Politiklehrkraft.

Wenn man sich verantwortungsbewusst und seriös mit einem Thema beschäftigt, bleibt es natürlich nicht aus, sich auch intensiv mit den Hypothesen derjenigen zu befassen, die eine andere Meinung vertreten als man selbst. Hast Du deshalb im Nebenfach mal ein paar Semester Theologie studiert? Oder sind die beiden Disziplinen in einer verqueren Weise vielleicht gar nicht so unterschiedlich, denn um eine gewisse Art von Sinnsuche geht es ja bei beiden, wenn auch die jeweilige Argumentation in puncto Nachvollziehbarkeit (fundierte und überprüf­bare wissenschaftliche Fakten vs. mythische Überlieferungen altertümlicher Analphabeten) unterschiedlicher nicht sein könnte.

Doch. Diese Disziplinen unterscheiden sich absolut essenziell in allen Punkten. In der Biologie geht es meines Erachtens auch nicht um Sinnsuche. Sondern um Erkenntnissuche. Ob daraus dann ethische Schlussfolgerungen gezogen werden, obliegt dem Individuum.

Mit dem Theologiestudium habe ich zu einer Zeit begonnen, als ich bereits mit meiner Doktorarbeit beschäftigt war. Ich brauchte ein Nebenfach für einen Philosophie-Master. In Anbetracht meines Dissertationsthemas hielt ich Theologie für eine gute Wahl, denn schließlich spielt Religion für den gesellschaftlichen Blick auf die Evolution eine große Rolle. Und da kann es ja nicht schaden, zu erfahren, was zukünftige Pastoren und Religions-Lehrkräfte so alles an der Universität lernen.

Insbesondere Seminare, in denen es um den neuen Atheismus oder Fragen der Metaphysik und Religionsphilosophie ging, habe ich sehr gerne besucht – man kann sich vorstellen, dass die Diskussionen umso spannender werden, je weniger einig sich die Seminarteilnehmer*innen sind. Allerdings konnte ich sogar durchaus auch Gefallen an Kirchengeschichte und theologischer Ethik finden. Nur Exegese hat mich so gar nicht abgeholt.

Im Hinblick auf meine eigene Forschung in der Biologiedidaktik war es mir zudem sehr wichtig, mit Menschen, anstatt über Menschen zu sprechen und ich habe aus diesem Grund auch für meine Dissertation viele Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen befragt. Ich habe auch mal ein Seminar an der Freien Theologischen Hochschule Gießen als Gasthörerin besucht. Das hieß „Schöpfungsforschung“ und ermöglichte ganz spannende und intensive Einblicke in das Thema Kreationismus – schließlich saß ich dort in einem Seminarraum voller Kreationist*innen.

Es hat den Anschein, dass sich immer weniger Menschen mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten abfinden … oder sich zumindest über deren zunehmende Verrohung Gedanken machen. Offenbar wächst da also ein gewisses Ohnmachtsgefühl gegenüber dem aktuell in der Welt grassierenden Wahnsinn. Wie sollte Deiner Meinung nach eine Gesellschaft soziologisch (und politisch) organisiert sein, um im Idealfall eine möglichst solidarische und gerechte Struktur zu gewährleisten?

In den letzten Jahren ist es Normalität geworden, dass sich freiwillige Seenotretter*innen vor Gericht verantworten müssen, wenn sie Menschen vor dem Ertrinken retten und sie an Land bringen. Ein 16-jähriges Mädchen wird zur Zielscheibe kollektiver Anfeindung, wenn sie durch einen Segeltörn über den Atlantik Aufmerksamkeit für die Klimakrise erzeugt – weil, so kann man lesen, dieser Trip ja im Endeffekt viel klimaschädlicher sei, als es eine Flugzeugreise gewesen wäre. Energie wird heutzutage häufig lieber in Shitstorms als in tatsächliches Handeln investiert.

Weltweit waren die Jahre 2015, 2016, 2017 und 2018 die heißesten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Es ist gut belegt, dass die fortschreitende Erderwärmung nahezu vollständig auf den Menschen zurückzuführen ist und erhebliche Folgen hat: bspw. Gefahren für die menschliche Gesundheit und unsere Lebensgrundlagen, die Zerstörung der Biodiversität und die Bedrohung durch Extremwetterereignisse.

Trotzdem hinkt die Weltgemeinschaft kläglich hinter dem 1,5°C Ziel aus dem Pariser Klimaabkommen hinterher und befindet sich momentan auf einem 3°C-Pfad. Das Engagement für eine Klimapolitik, die die Klimaziele ernst nimmt, halte ich für zwingend – auch und vor allem aus humanistischer Perspektive. Weshalb? Das möchte ich mit Hilfe eines Gedankenexperiments erklären, dass der Philosoph John Rawls unter dem Namen „Der Schleier des Nichtwissens“ formulierte.

Stell dir vor, du könntest eigenmächtig über eine zukünftige Gesellschaftsordnung entscheiden: von Ländergrenzen, über Bildungs- und Sozialpolitik, hin zu Flüchtlings-, Klima- und Außenpolitik. Du könntest alles genau so einrichten, wie es deinen ganz persönlichen Wünschen und Vorstellungen eines guten Lebens entspricht.

Einen kleinen Haken gibt es jedoch: Du weißt im Vorfeld nicht, wo und wann auf der Welt du leben wirst, in was für einer Familie und unter welchen Bedingungen. Wirst du in einem Haus in einer idyllischen deutschen Kleinstadt in der Gegenwart leben? Oder wirst du vielleicht auf der Flucht aus ausgetrockneten Gebieten im Jahre 2100 sein?

Wie würdest du unter diesem Schleier des Nichtwissens eine Gesellschaft gestalten?

Dieses Gedankenexperiment verdeutlicht in meinen Augen sehr schön, dass wir in der Regel dazu neigen, die Welt aus unserer Lebenswirklichkeit zu betrachten. Dabei ist das nur eine unter global und zeitgeschichtlich so vielen verschiedenen Perspektiven. Ich bin mir sicher, dass eine generationengerechte Politik nicht nur möglich, sondern vor allem aus einer humanistischen Verantwortung heraus nötig ist.

Tobias Bach (Gastronom)

Du bist seit vielen Jahren Gastwirt und Veranstalter und hast daher einen sehr guten Einblick, wie Menschen, die gemeinsam feiern oder sonst wie zusammen ausgelassen unterwegs sind, miteinander umgehen. Hast Du im Umgang und Verhalten der Leute in den vergangenen Jahren irgendwelche Veränderungen beobachten können und wenn ja, wie sehen die aus und worauf begründen die sich Deiner Meinung nach?

Es hat sich in der Szene, die sich feiernd die Nächte um die Ohren schlägt, durchaus etwas verändert. Was ich wahrnehme, ist eine deutliche Zuspitzung aller möglichen Verhaltensweisen, mit denen wir als Dienstleister im Alkoholverkaufsgeschäft konfrontiert werden. GästInnen sind heutzutage viel mehr „aware“. Man reagiert auf wahrgenommenen Rassismus, Sexismus oder jede andere Ungerechtigkeit. Und das oft direkt, mischt sich ein, empört sich, leistet Widerstand. Schreibt hinterher Mails an die Chefetage oder füllt Bewertungsportale mit seinen Eindrücken. Awareness geht aber auch beim direkten Umfeld weiter: Da wird kritisch beobachtet, wie betrunken oder bedröhnt jemand ist, da werden wildfremden Menschen sichere Heimwege organisiert, da mischen sich Menschen ein, wenn es danach aussieht, als ob jemand von anderen in irgendeiner Form in Bedrängnis gebracht wird. Es gibt ein besseres Wir-Gefühl und gegenseitiges Aufpassen, weil niemandem fremd ist, was passieren kann, wenn man die Kontrolle verliert.

Verstärkt haben sich allerdings auch weniger erstrebenswerte Verhaltensweisen: Einen rotzbesoffenen WiWi-Student im ersten Semester, der verärgert schreit, dass er sich diesen dreckigen Laden nächste Woche einfach komplett kaufen würde, hätte es vor 25 Jahren so wohl nicht gegeben. Genauso wenig wie Menschen, die sich selbst Kleidung zerreißen, um hinterher behaupten zu können, Opfer von Türstehergewalt geworden zu sein, um mit der Drohung, das „an die ganz große Glocke zu hängen“, ihren Willen durchzusetzen. Oder die Leute, die generell davon ausgehen, dass Sicherheitspersonal grundsätzlich minderbemittelte Untermenschen seien, die ihre geringe Schwanzgröße durch das Ausüben von schikanierenden Machtspielchen kompensieren müssten. Da wird die harmlose Taschenkontrolle am Einlass blitzschnell zum nervtötenden Politikum, wenn man sich nicht in einem 20- minütigen persönlichen Vortrag davon überzeugen lässt, dass dies leider tatsächlich nötig sei. GästInnen wissen heutzutage um ihre gestiegene Macht, ihren Wert als zahlende Kunden und den Schaden, den sie mit einer Serie gezielt gestreuter Unwahrheiten jedem Gastronom antun können.

Hast Du in Deinen Lokalitäten schon mal (von den üblichen Schwachköpfen abgesehen) ernsthaften Ärger gehabt, den Du unter der Rubrik „politisch motiviert“ verbuchen würdest?

Die drei Backpfeifengesichter aus der hessischen Provinz, die meinten, im Biergarten unseres Ladens den Hitlergruß zeigen zu müssen? Die dann zu weinen anfingen, als sich einer unserer Stammgäste, der direkt danebenstand, als Staatsanwalt zu erkennen gab und ihnen wutschnaubend die sie erwartenden Konsequenzen aufzählte? Die beiden Frauen, die nie zuvor von K.I.Z. gehört hatten und wegen der misogynen Kackscheiße, die der DJ da aufgelegt hatte, eine Revolte anzetteln wollten? Oder der eine Kerl, der ein paar Wochen lang immer freitags Antifa-Aufkleber abknibbelte und manchmal mit Nazipropagandastickern konterte? Aber immer nur in einer abgeschlossenen Männerklokabine?

Nein. Kein ernsthafter Ärger.

Es hat den Anschein, dass sich immer weniger Menschen mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten abfinden … oder sich zumindest über deren zunehmende Verrohung Gedanken machen. Offenbar wächst da also ein gewisses Ohnmachtsgefühl gegenüber dem aktuell in der Welt grassierenden Wahnsinn. Wie sollte Deiner Meinung nach eine Gesellschaft soziologisch (und politisch) organisiert sein, um im Idealfall eine möglichst solidarische und gerechte Struktur zu gewährleisten?

Stimmt, immer weniger Menschen sind bereit, sich mit gesellschaftlichen Gegebenheiten abzufinden. Dass sich Menschen deswegen ohnmächtig fühlen, sehe ich hingegen überhaupt nicht. Ich glaube vielmehr, dass das Gegenteil der Fall ist.

„Alternativlos“ wurde bereits 2010 zum Unwort des Jahres gekürt. Gegen die Klimakatastrophe demonstrierende SchülerInnen werden weltweit wahrgenommen und gehört. Fake News werden heute viel eher als solche wahrgenommen und Menschen, die an deren Herstellung und Weiterverbreitung beteiligt sind, werden verspottet und verachtet. WählerInnen strafen die Parteien ab, die nachweislich in den Jahrzehnten, in der sie die Macht übertragen bekommen hatten, nicht die versprochenen Ziele erreicht haben. Die Zeiten der einfachen Antworten sind vorbei. Nur haben das noch nicht alle mitbekommen. Die gewählten PolitikerInnen müssen dem Rest von uns, der diese Aufgaben nicht machen möchte, mehr zumuten und mehr zutrauen. Wenn die Komplexität einer zu treffenden Entscheidung mehr Menschen bewusst würde, wären die Stimmen, die nach schnellen und einfachen Lösungen schreien, schnell verstummt.

Und überhaupt: Wo bleibt eigentlich der Supercomputer, der in der Lage ist, beispielsweise die Konsequenzen aus dem Verändern einer Nachkommastelle einer beliebigen Zusatzsteuer in Echtzeit mit realistischem Ergebnis zu berechnen? Wir brauchen eine mächtige KI. Nicht bloß zum Optimieren des Verkehrs, dem Erforschen neuer Materialien oder dem Berechnen eines ordentlichen Klimamodells, sondern auch und vor allem beim sogenannten „Regieren“. Wie kann es sein, dass man sich bis heute, nach dem Scheitern der CSU'schen PKW-Maut, nicht sicher war, ob da am Ende überhaupt Geld übrig bleiben würde? Ich habe doch nicht Jahre meiner Lebenszeit mit dem Zocken hochkomplexer Computerspiele vergeudet, um irgendwann einzusehen, dass es eben kein Programm zu geben scheint, das im Real Life anhand von vielen Daten, die zweifelsohne vorhanden sind, berechnen kann, ob eine neue Steuer Geld bringt oder Geld kostet.

Dr. Jochen Blom (Wissenschaftler, Bioinformatiker)

Du bist hessischer Landesvorsitzender des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD), einer mehr als lobenswerten Vereinigung, für die auch ich schon öfter mal auftreten durfte. Humanismus und Aufklärung sind im Rahmen der aktuellen Solidaritätsverwahrlosung ja ganz besonders wichtig und notwendig. Wie kann man Deiner Ansicht nach jene Menschen erreichen, die mit den von Euch vertretenden Werten leider so gar nichts am Hut haben? Oder ist bei einer solchen Klientel tatsächlich bereits Hopfen und Malz verloren?

Das liegt wohl ganz am Grad der Solidaritätsverwahrlosung und daran, was man als humanistische Werte ansieht. Der HVD Hessen hat mal die humanistischen Grundwerte als „Vernunft in drei Sätzen“ als Bierdeckel unters Volk gebracht. Daran kann man sich ganz gut entlanghangeln.

1. Benutze deine skeptische Vernunft.

Beim Menschen hat sich ja im Laufe der Evolution die Intelligenz als herausstechendes und definierendes Merkmal unserer Spezies herausgebildet. Leider gibt es immer mehr Menschen, die auf die praktische Anwendung dieses evolutionären Vorteils lieber verzichten. Es gibt Menschen, die ohne von außen erkennbare Großhirnaktivität ein Auskommen finden, etwa als „Influencer“, als Prominenten-Beischlafspartner (das sind die, bei denen in Interviews als Qualifikation „Schmuckdesigner/in“ unter dem Namen steht) oder als „Youtuber“ im Stile eines „Freshtorge“, dessen cineastisches Gewaltverbrechen „Kartoffelsalat“ die Lebensweisheit 'things can not be unseen' aufs Grausamste bestätigt.

Leider geht die intellektuelle Askese immer größerer Teile der Bevölkerung oft einher mit der Bereitschaft, schnelle und ein­fache Erklärungen zu glauben, die aber natürlich mit der Reali­tät selten übereinstimmen. Man muss die Leute also wieder zum Nachdenken bekommen, wenn man sie für Humanismus und Aufklärung nicht verlieren will.

2. Lebe dein Leben selbstbestimmt.

Das klingt erst mal logisch und einfach, jeder will ja sein eigener Herr sein und möglichst frei von Gängelung leben. In der Praxis ist das dann aber scheinbar oft doch nicht mehr so simpel und attraktiv. Ich selbst bin ja glücklicher Ungläubiger seit ich denken kann, aber eine gute Freundin, die gläubige Katholikin war, aber irgendwann vom Glauben abgefallen und seitdem Atheistin ist, hat mir den Effekt mal so erklärt: „Wenn es einem mal richtig scheiße geht, hat man als Gläubiger immer den Trost, dass es irgendwo eine Entität gibt die A) einem wohlgesonnen ist und B) einen Plan hat, nach dem das ganze aktuelle Elend doch irgendwo einen Sinn hat.“ Auch habe ich schon häufig mit bekehrten Christen geredet, die mir berichtet haben, was für scheußliche Menschen sie vor ihrer Bekehrung waren und welches Unrecht sie Menschen zugefügt haben. Aber nun hätten sie zum Glauben gefunden und Gott habe ihnen vergeben und alles sei gut. Ich denke mir dann ja, dass es relevanter wäre, wenn die Menschen denen sie unrecht getan haben ihnen vergeben hätten. Aber es ist halt leichter, sich über den imaginären Freund in den Wolken aus der Verantwortung zu stehlen.

Auch in Politik scheint die Aufgabe von Selbstbestimmung eine beunruhigende Attraktivität zu besitzen. Laut einer Umfrage der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung von Februar 2019 wünschen sich 25% der jungen Erwachsenen bun­des­weit „einen starken Führer, der sich nicht um Parlamente und Wahlen kümmern muss". Dass Wahlen das wichtigste Instrument zur persönlichen politischen Teilhabe sind, scheint da im Denken keine Rolle zu spielen. Wenn der Wille das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten aber nicht mehr vorhanden ist, so lässt sich schwerlich vermitteln, warum autoritäre Denkmuster abzulehnen sind.

3. Engagiere dich für eine humanere Welt.

Der wohl wichtigste Punkt der humanistischen Agenda: Engagiere dich dafür, dass es möglichst vielen Menschen möglichst gut geht. Während die meisten Menschen dem wohl grundlegend zustimmen würden, gibt es leider beunruhigende Tendenzen, die Gruppe der Menschen, denen es gut gehen soll, im konkreten Falle doch lieber einzuschränken. „Sozialstaat ja, aber nicht für Ausländer.“ „Asylrecht ja, aber bitte nicht so viele Moslems.“ „Die Schwulen sollen ja ruhig so leben dürfen, aber müssen die wirklich heiraten?“

Die Einschränkungen laufen natürlich dem Geist der Aufklärung zuwider. Man bringt die Welt voran, wenn man sich für eine gute Sache engagiert, ganz egal, ob für die Tafeln, den Sportverein, Kulturveranstaltungen, eine Kinderfreizeit, den Umweltschutz oder für was auch immer. Aber bitte ohne Ausgrenzung.

Zurück zur Eingangsfrage: Es gibt mittlerweile tatsächlich eine Klientel, die für eine humanistische Zivilgesellschaft mehr oder weniger verloren ist. Wer sich weigert, den Kopf einem anderen Zweck als dem Tragen einer Mütze zuzuführen, wer entsprechend kein Problem damit hat, von diesseitigen oder jenseitigen Autoritäten fremdbestimmt zu werden, und wem alle Menschen, die nicht dem eigenen Volk angehören, am Arsch vorbeigehen, der wird kein Vorkämpfer des praktischen Humanismus werden.

Aber ich glaube, es gibt genug Menschen, die man noch erreichen kann. Nicht in den sozialen Medien, die zeichnen sich ja im Wesentlichen dadurch aus, dass eh keiner irgendwem zuhört, der nicht das sagt, was man eh schon glaubt. Aber im privaten Umfeld. Alle, die (noch) nicht dem oben beschriebenen Typus des Empathie-Verweigerers angehören, sind noch erreichbar. Man muss die Leute wieder daran erinnern, was unsere Demokratie mal ausgemacht hat: Dass die Menschenrechte nicht enden, nur weil man auf der falschen Seite des Mittelmeers geboren ist.

Hilft Dir das Beschäftigen mit den von Euch beim HVD vertretenen Werten auch bei Deiner Arbeit als Wissenschaftler, da Du dort ja ebenfalls interdisziplinär und über die Grenzen und Zusammensetzung gängiger Muster denken musst? Eine Übung, durch die ja – wenn ich den geschichtlichen Kontext hier mal ein wenig pathosgetränkt auftragen darf – auch die Epoche der Aufklärung geprägt war?

In meiner direkten Arbeit als Bioinformatiker spielen humanistische Prinzipien tatsächlich eher eine geringe Rolle. Ich beschäftige mich im Wesentlichen mit der Analyse von Bakterien, und denen sind humanistische Prinzipien nun mal herzlich egal. Auch meine analytische Tätigkeit als Programmierer hat da wenig Anknüpfungspunkte, eher im Gegenteil. Während es beim Humanismus ja wichtig ist, Individuen und die Gesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt und Komplexität zu erfassen, ist die Tätigkeit des Programmierens eng damit verknüpft, komplexe Abläufe in möglichst triviale und abstrakte Einzelschritte zu zerle­gen, die dann auch ein Computer erledigen kann.

Aber glücklicherweise bin ich ja nicht nur Bioinformatiker, sondern in erster Linie Wissenschaftler, und das ist ja schon an sich etwas Humanistisches. Als Bioinformatiker habe ich nicht das eine biologische Thema, bei dem ich versuche, die Welt voran zu bringen, sondern die Software, die meine Kollegen und ich entwerfen, hilft Hunderten Biologen an Universitäten weltweit, in verschiedensten Fragestellungen der Erbgutanalyse neue Erkenntnisse zu erzielen.

Die Entwicklung solcher Software ist aber nur im engen Austausch mit den Biologen möglich, und beim interdisziplinären Austausch bemerkt man oft die unterschiedlichen Denkmuster bei Biologen und Informatikern. Da hilft Offenheit und Akzeptanz beim Finden einer gemeinsamen Sprache natürlich weiter.

Ein weiterer Punkt, bei dem die humanistischen Prinzipien mir bei meiner Arbeit helfen, ist die Ausbildung und Beratung von Studierenden. Einerseits ist natürlich ein grundsätzliches Ziel der Lehrtätigkeit an einer Universität, die Studierenden zum Einsatz ihrer skeptischen Vernunft anzuleiten und zu befähigen. Das ist quasi implizit eine humanistische Tätigkeit. Andererseits ist gerade in der Beratung von Studierenden die Anleitung zur Selbstbestimmtheit entscheidend. Wenn Studierende in schwierigen Situationen Rat und Hilfe suchen, ist es oft naheliegend, einfach einen Weg zu einer mutmaßlich befriedigenden Lösung vorzugeben. Schwieriger, aber im Resultat zielführender ist es, gemeinsam zu erarbeiten, was überhaupt das Ziel ist und auf welchem Weg es zu erreichen sein könnte. Es gilt Möglichkeiten aufzeigen, aber nicht den Weg vorzugeben.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783946922872
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Satire Wortwitz Politische Satire

Autoren

  • Jörg Schneider (Autor:in)

  • Dominic Harapat (Autor:in)

Jörg Schneider ist Autor zahlreicher Bücher. Er schrieb zudem u.a. für Frankfurter Rundschau, taz, Titanic, Eulenspiegel und die Harald Schmidt Show. Der Rockstar a.D. ist unbekannt aus Funk und Fernsehen und seit vielen Jahren auf großen und kleinen Bühnen unterwegs.
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Titel: Bewusstlosensprechstunde