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Thelema Abbey

von Marc Debus (Autor:in)
430 Seiten
Reihe: Gerhard Maibach, Band 2

Zusammenfassung

Gerhard Maibach besucht einen Freund auf Sizilien. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Gerhard hat plötzlich mit dem Nachlass des großen Magiers Aleister Crowley zu tun, mit seinem noch stehenden Tempel „Thelema Abbey“, der Mafia und einer wunderhübschen Frau Wie all dies zusammenhängt, ist schwer zu erklären.....

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Thelema Abbey


Gerhard Maibachs Abenteuer


Marc Debus


Schreibstark Verlag


ISBN: 9783946922186





Prolog: Worms, Oktober 1434 - ­Reisemitbringsel


Abraham hielt die wertvollen Aufzeichnungen in Händen, die er von seinem langjährigen Aufenthalt in Ägypten mit nach Europa gebracht hatte. Seine Reise war beschwerlich gewesen und er hatte gar manche Gefahr dabei überstehen müssen. Alleine die Überfahrt des Mittelmeers hätte ihn während eines Sturms fast zweimal das Leben gekostet. Aber alles war gut gegangen. Er hatte die Erkenntnisse seiner Studien und Erfahrungen in Form von Aufzeichnungen mit zurück in die Heimat gebracht. Er gedachte diese nun zu sortieren und zusammenzufassen, damit er sie später seinem Sohn Lamech würde vererben können.


Er war mit der Intention nach Ägypten gereist, tiefergreifende spirituelle Erfahrungen zu machen und sich in den magischen Künsten fortzubilden. Gleichzeitig hatte er seit längerem den Drang verspürt, fremde Länder kennenzulernen und die Welt zu erkunden. Er hatte die letzten vierzig Jahre seines Lebens in Worms und der näheren Umgebung verbracht. Schließlich hatte er es nicht mehr ausgehalten und hatte seine Reise angetreten. Er hatte Kairo mit den lebhaften Märkten und Basaren kennengelernt und war danach den Nil aufwärts gezogen. Die mächtigen Bauten aus der Pharaonenzeit hatten ihn dabei tief beeindruckt. Riesige Figuren, Pyramiden und die mächtigen Tempelanlagen, mit den unzähligen, nicht mehr lesbaren Zeichen an den Wänden, hatten ihn immer mehr in den Bann gezogen. Er liebte dieses Land. Die heiße Luft, die Wüste, die kühlen Oasen und die lauen Nächte an den Ufern des Nils hatten aus Ägypten eine neue Heimat werden lassen. Bei einem seiner Ausflüge in die Wüste, den er unternommen hatte, weil man ihm erzählte, dass dort eine alte Stadt aus der Pharaonenzeit zu besichtigen sei, war er dann auf eine Person getroffen, die sein gesamtes weiteres Leben nachhaltig beeinflusste. Der Mann hatte in der Wüste auf einem Hügel nahe der Stadt Araki vor einer schäbigen Hütte gesessen. Eigentlich hatte er ihn nur nach Trinkwasser fragen wollen. Der Mann hatte ihm zu seinem Erstaunen in hebräischer Sprache geantwortet, was Abraham im ersten Moment völlig verwundert hatte. Der Mann hatte danach gesagt, er habe an seinem Akzent gehört, dass er Jude sei. Schnell fand Abraham heraus, dass er einen gelehrten Mann getroffen hatte, der sich in den kabbalistischen und religiösen Schriften bestens auskannte und nicht nur das. Er hatte die Schriften gelesen und neu interpretiert und danach daraus die mächtigste Magie entwickelt, die Abraham jemals gesehen hatte. So blieb er bei ihm um zu lernen.


Der alte Mann hieß Abra-Melin. Er unterrichtete Abraham, verlangte aber von ihm, seinen alten Dogmen abzuschwören, um seine Lehre in der gesamten Reinheit und Weisheit verinnerlichen zu können. Abraham unterwarf sich gänzlich dem Willen seines neuen Meisters und machte schnell Fortschritte beim Erlernen seiner Kunst. Seine kabbalistische Magie war gänzlich von dem einen wahren Gott geprägt, an den er glaubte. Nach einer langen Zeit forderte Abra-Melin zehn Goldflorin von ihm, um sie den Armen der Stadt Araki zu geben. Abraham verließ ihn, um die Summe zu holen und zu ihm zu bringen. Als er auf den Hügel zurückkehrte, hatte Abra-Melin ihm zwei gerollte Manuskripte überreicht. Das eine Manuskript trug den Titel ‚Gottgeweihte Wissenschaft‘, das andere hieß ‚Wahre Magie‘. Abra-Melin trug ihm auf diese Rollen zu hüten wie seinen Augapfel und deren Inhalt nur an Menschen weiterzugeben, die ihm wirklich nahe standen und persönlich vertraut waren. Danach teilte er ihm mit, dass er ihn alles gelehrt hatte, was er wusste und trug ihm auf, dieses Wissen zu bewahren und mit Sorgfalt zu behandeln. Mit dem Versprechen dies zu befolgen hatte er Abra-Melin dann am nächsten Tag verlassen. In seinem Reisegepäck brachte er schließlich die gut verpackten Manuskripte seines Meisters mit nach Worms. Hinzu kamen seine eigenen Aufzeichnungen, die er in seiner Lehrzeit im Haus seines geistigen Führers gemacht hatte. Das Ziel, das Abraham bei seiner Reise im Auge gehabt hatte war mehr als erfüllt worden. Er hatte auf einem unscheinbaren Hügel in der Wüste einen wahren Meister gefunden, seinen Meister.


Jetzt stand er hier in seinem Haus in Worms mit den Unterlagen, die größtenteils auf Hebräisch verfasst waren, um sie in deutscher Sprache zusammenzufassen. Er hatte nach seiner Rückkehr eine Familie gegründet und bereitete nun vor sein Wissen später als Erbe an Lamech, seinen einzigen Sohn, übergeben zu können. Das magische Ritual, dass er selbst in Ägypten unter Anleitung seines Meisters durchgeführt hatte und Grundbestandteil der Lehre war, bedurfte genauer Befolgung der Anweisungen, weil mächtige Dämonen auf dem Weg der Durchführung bezwungen werden mussten.


Die Heraufbeschwörung von Lucifer, Satan, Leviathan und Belial und deren gleichzeitige Bezwingung waren notwendig, um letztendlich dem eigenen Schutzgeist zu begegnen. Man konnte danach durch seine Hilfe zu hoher Weisheit gelangen, aber durch dieses Ritual auch für die Ewigkeit Schaden nehmen, wenn man sich nicht an die Regeln hielt. Man durfte bei der Durchführung einfach keine Fehler machen, sonst war man unwiderruflich verloren. Er wusste, dass er jetzt Wissen um das vermutlich mächtigste magische Ritual der Welt aufzeichnen würde, und dadurch Menschen in der Lage sein würden zu höchster Erkenntnis zu gelangen, das Manuskript sie aber auch für den Rest ihres Lebens in den Abgrund zu stürzen vermochte. Er setzte sich hin und begann seine Arbeit, denn es gab viel zu tun.


Dass seine Aufzeichnungen, als das ‚Manuskript des Abraham von Worms‘, noch viele Jahrhunderte unzählige Menschen beschäftigen würde, konnte er zu dieser Zeit natürlich nicht ahnen.



Hastings, Dezember 1947 - Das Ende der Reise


Der alte Mann lag in seinem Bett und atmete schwer. Er hatte die Augen geschlossen und schien in Gedanken versunken zu sein. In den letzten Monaten war er aufgrund seines Gesundheitszustandes immer weiter abgemagert. Seine Gesichtszüge waren allerdings noch immer energisch, wie sie es Zeit seiner Jugend gewesen waren. Die letzten Tage wechselten sich Schlafphasen und Erinnerungen ständig ab. Es war in der letzten Zeit sehr ruhig um ihn herum geworden. Sogar die großen Tageszeitungen und die Klatschpresse hatten weitgehend das Interesse an ihm verloren. Seine letzten beiden Jahre hatte er hier in Netherwood House verbracht und sogar die Besuche von Freunden und Personen, die sich für ihn interessierten, waren immer weniger geworden.


Er hatte sich während seines Aufenthaltes in Netherwood House einen regelmäßigen Tagesablauf angewöhnt. Frühstück gab es jeden Morgen um zehn. Danach folgten Spaziergänge im Garten, seine Meditation und gelegentlich genoss er eine Pfeife im Gewächshaus des Anwesens. Den Rest des Tages verbrachte er meist auf seinem Zimmer, dass die Zimmernummer 13 hatte. Dorthin zurückgezogen nahm er dann im Laufe des Tages seine übrigen Mahlzeiten ein. Er schrieb in den Nachmittags- und Nachtstunden unzählige Briefe und beantwortete Anfragen zu seinen Werken. Gleichzeitig arbeitete er an weiteren, neuen Abhandlungen. Trotz der Tatsache, dass er mittlerweile über siebzig Jahre alt war, frönte er nicht nur gelegentlich einem seiner größten Laster, dem Heroin. Für ihn war die Droge nie etwas Schlechtes gewesen, sondern sie hatte ihm Zeit seines Lebens geholfen, seine Ideen und Gedanken zu ordnen und ihm als Inspiration gedient. So dämmerte er häufig berauscht Stunden alleine in seinem Zimmer dahin.


Manchmal hatte er den ortsansässigen Schachclub besucht, in dem es niemals jemandem gelungen war, ihn in dem königlichen Spiel zu schlagen. Er hatte seine Überlegenheit dabei immer sehr ausgekostet und genossen. Gelegentlich war er auch mit dem Lebensmittelhändler Mr. Watson ausgefahren, mit dem er seit geraumer Zeit befreundet war und der ihn manchmal in Netherwood House besucht hatte. Ansonsten hatten ihn nur Freunde und einige wenige Journalisten und Autoren besucht, die Artikel oder Bücher schrieben, die sich um seine Lehren oder sein Leben drehten. Solche Treffen hatte der alte Mann geliebt. Er hatte dabei seinen schweren, wohlduftenden Tabak in seiner großen Pfeife geraucht und der Glanz der alten Tage kam für ein paar Stunden zu ihm zurück. Seine finanziellen Rücklagen waren nicht besonders erwähnenswert und so hatte sich sein Leben weitgehend auf das Haus und die nahe Umgebung beschränkt.


Am Ende des Jahres 1947 war es dann gesundheitlich bergab gegangen. Er hatte sich immer häufiger krank und schwach gefühlt. Sein Arzt Dr. Charnock-Smith hatte ihm in der letzten Woche zudem eine schwere Bronchitis bescheinigt und das Herz machte ihm seit Längerem zu schaffen. Nun lag er seit mehreren Tagen im Bett und hatte nur noch selten mit jemandem geredet, außer wenn jemand kam um seinen Durst oder Hunger zu stillen, war er weitgehend sich selbst überlassen.


Dieser kranke alte Mann war immer witzig und humorvoll gewesen, was alle seine Mitbewohner und seine Vermieterin Mrs Symonds nur bestätigen konnten. Diese Eigenschaft schätzten alle seine Mitbewohner sehr an ihm. Er hatte sogar lustige Hausregeln für Netherwood House erfunden, die in Gedichtform im Speisezimmer hingen. Diese lauteten wie folgt:


Die Hausregeln


Die Gäste mögen bitte die Geister nicht verärgern.

Allen, die die Nacht überlebt haben, wird das Frühstück um neun Uhr morgens serviert.

Der Städtische Friedhof von Hastings kann von hier aus bequem zu Fuß in fünf Minuten erreicht werden (im Falle der Mitführung einer Leiche in zehn Minuten).

Flugweg für Geister eine Minute.

Wir bitten alle Gäste höflichst, vom Abnehmen der Leichen in den Bäumen abzusehen.

Im Büro finden sie eine kleine Garderobe.

Es handelt sich um die Gewänder derer, die des irdischen Tands nicht mehr bedürfen.


Nun stand eine junge Pflegerin neben dem Bett und sah den alten Mann an. Plötzlich öffnete dieser seine Augen und sagte: „Manchmal hasse ich mich selbst!“ Sie näherte sich ihm um zu hören, ob er eventuell noch mehr sagen wollte. Sie ging mit ihrem Kopf nahe an sein Gesicht heran und stellte fest, dass er nicht mehr zu atmen schien. Sie griff nach seinem Arm und versuchte den Puls zu nehmen, konnte aber hierbei kein Schlagen mehr feststellen. Sie blickte in sein fahles Gesicht und legte den Arm behutsam auf seinem Bauch ab. Ihr Patient hatte diese Welt endgültig verlassen.


Später wurden verschiedene Geschichten über seinen Tod in der Presse ausgebreitet, die sich nun sehr plötzlich wieder für ihn zu interessieren schien. Eine der Geschichten besagte, seine letzten Worte seien „Ich bin verblüfft“ gewesen; andere erzählten, er sei zusammengebrochen in seinem Zimmer gefunden worden. Somit war die Welt wieder einmal mit kontroversen Informationen zu seiner Person versorgt worden, die wie immer zum Spekulieren Anlass geben würden. Ihn hätte dieser Umstand sicherlich ungemein gefreut. Sein Begräbnis fand, einige Tage später, in einem kleinen Kreis von Freunden im Krematorium von Brighton statt. Die Hymne an Pan, eines seiner Gedichte, wurde von seinem Freund Louis Wilkinson verlesen und auch aus seinem ‚Buch des Gesetzes‘ wurden Passagen zitiert. Die Zeitungen berichteten weltweit darüber, dass er sein irdisches Dasein beendet hatte. Kurz nach seinem Tod hatte er es noch einmal geschafft, die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu ziehen. Eine große englische Zeitung titelte sogar: „Der böseste Mann der Welt ist tot.“ Der vermutlich größte Magier des zwanzigsten Jahrhunderts hatte sein irdisches Wirken beendet.




Marburg, Mai 2013 – Reise nach Sizilien


Gerhard saß mit einer frisch aufgebrühten, heißen Tasse Kaffee und einem Stück Torte, das er in der kleinen Konditorei neben seinem Antiquitätengeschäft gekauft hatte, an seinem kleinen Frühstückstisch im hinteren Teil des Ladens. Neben dem Tisch standen ein gepackter Reisekoffer und das dazugehörige Handgepäck mit seinem Laptop und der Kamera. Wenn er sein Frühstück beendet haben würde, würde er sich mit seinem alten Mercedes auf den Weg nach Frankfurt zum Flughafen machen. Von dort ging um 13.30 Uhr die Linienmaschine nach Catania, auf Sizilien, für den ein Flugticket auf der Tischplatte lag.


Ein alter Freund und Berufskollege, der lange in der Nähe von Marburg gelebt hatte und mittlerweile als Antiquitätenhändler in Sizilien tätig war, hatte ihn vor zwei Tagen angerufen. Er hatte ihn bezüglich einiger Stücke, die man ihm zum Verkauf überlassen hatte, um seine Meinung gebeten. Da Gerhard Enzio schon so lange kannte und dieser ihm angeboten hatte das Flugticket zu übernehmen und ihn in einem Gästezimmer seines Hauses unterzubringen, hatte Gerhard nichts gegen einen Flug nach Sizilien einzuwenden gehabt. Enzio hatte ihn schon mehrmals eingeladen ihn in Italien zu besuchen, aber irgendwie hatte es nie funktioniert. Jetzt hatte sich eine Gelegenheit ergeben Berufliches und Privates miteinander zu verbinden. Gerhard hatte sich entschlossen im Anschluss noch einige Tage auf Sizilien zu bleiben, da er Urlaub dringend nötig hatte. Außerdem war es die richtige Jahreszeit dafür, Sommersonne und Meer. Gerhard freute sich auf seinen Trip.


Er räumte den kleinen Tisch ab und spülte die Tasse und den Teller im Bad seines Geschäftes gründlich ab, bevor er seine Jacke anzog und nach draußen ging. Er hatte an der Tür ein Schild angebracht, dass der Laden in den nächsten zwei Wochen geschlossen bleiben würde. Er verschloss die Tür und ging durch die Oberstadt zum Aufzug, der aus dem historischen Stadtteil in die Unterstadt führte. Hier lenkte er seine Schritte zu dem großen Parkhaus, wo sein alter Mercedes geparkt war, den er so sehr liebte. Dieser Wagen war immer sein Traum gewesen und er würde sich vermutlich nie mehr von ihm trennen.


Gerhard verstaute seine Koffer im geräumigen Gepäckteil des Wagens und fuhr langsam aus dem Parkhaus hinaus. Er verließ den Innenstadtbereich und schwenkte schon kurz darauf auf die Stadtautobahn Richtung Gießen ein, wo er den Mercedes endlich laufen lassen konnte. Jetzt drehte er das Radio des Fahrzeuges, in das er das Led Zeppelin Album ‚Presence‘ eingelegt hatte, etwas lauter und verlor sich während seiner Fahrt in Gedanken.


Er dachte über sein letztes Abenteuer in Frankreich nach, das ihn in Gisors, mit einigen Freunden zusammen, auf die Spur von verschollenen Kunstschätzen aus dem zweiten Weltkrieg gebracht hatte. Es hatten sich dadurch unendlich viele wertvolle Stücke wiedergefunden, die lange Zeit als unwiederbringlich verloren galten. Die Presse war voll mit Artikeln über ihre Entdeckungen gewesen und es war weltweit darüber berichtet worden, dass viele alte Meisterwerke nun bald wieder in ihrer ganzen Pracht in den Museen Europas zu sehen sein würden. Wie es dazu im Einzelnen gekommen war, war dabei in keinem der Berichte erwähnt worden. Er dachte an Jasmin und Jacques, die dieses Erlebnis mit ihm teilten und zu denen er seitdem regelmäßig Kontakt pflegte. Aus den Bekanntschaften dieser Zeit waren gute Freunde geworden und das fand Gerhard sehr schön. Er freute sich immer sehr, wenn Jasmin am Telefon war oder der starke französische Akzent von Jacques aus der Hörmuschel ertönte.


Diese Reise würde nicht sehr abenteuerlich werden, aber er hoffte zumindest auf einen erholsamen Urlaub, nach seiner Arbeit in Catania. Er hatte sich vorgenommen einen Mietwagen zu nehmen und dann verschiedene historische Orte in Sizilien anzufahren und zu besichtigen. Er dachte schon jetzt mit Freuden an die riesigen, griechischen Tempelanlagen von Agrigento, an das historische Siracusa, Taormina mit seinem Amphitheater und die Altstadt von Cefalù. Außerdem freute er sich schon jetzt darauf an einem Strand zu liegen, sich die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen und dabei ein kühles Bier und das Wasser des Mittelmeeres zu genießen.


Eine dreiviertel Stunde später lenkte er sein Auto auf einen Park-und-Ride-Parkplatz in der Nähe des Flughafens und stellte es dort ab. Danach nahm er eine der Bahnen, die im Zehnminutentakt zum Flughafen fuhren. Er kam kurz vor halb elf im Flughafengebäude an und hatte genügend Zeit zum Einchecken seines Koffers. Danach passierte er die langwierigen Sicherheitskontrollen, bevor er in den Abflugbereich gelangte. In den großen Duty-Free-Shops des Flughafens suchte er sich eine gute Flasche Whisky, leckeren, sherrylastigen Glendronach, heraus und kaufte sie mit seiner Kreditkarte. Somit war ein gutes Getränk für die späten Abendstunden gesichert.


Zwei Stunden später lehnte Gerhard sich, mit den Stöpseln seines MP3-Players im Ohr, im Sitz des Flugzeuges zurück und versuchte ein wenig von Sonne und Meer zu träumen.

Catania, Mai 2013 - Besuch bei einem Freund


Nachdem Gerhard seinen Koffer vom Gepäckband aufgelesen hatte, verließ er den Sicherheitsbereich des Flughafens durch die Zollschleuse. Schon beim ersten Blick durch die Tür konnte er seinen alten Freund Enzio ausmachen. Enzio Milanore war ein gutes Stück kleiner als Gerhard und hatte tiefschwarzes Haar, das im Nacken etwas länger war. Er trug den für Italiener oft typischen Oberlippenbart und hatte stahlblaue, wache Augen. Die Freude Gerhard wieder zu sehen war Enzio im Gesicht abzulesen und die beiden Männer umarmten sich zur Begrüßung.


„Schön, dass du endlich kommen konntest Gerhard. Ich freue mich sehr, dass du hier bist, aber nun lass uns erst einmal zu meinem Haus fahren, damit wir es uns gemütlich machen können“, sagte sein alter Freund. Sie verließen das Flughafengebäude und begaben sich in das riesige Parkhaus. Enzio zahlte sein Parkticket an einem der Automaten, bevor sie zu seinem Wagen gingen. Sie luden Gerhards Gepäck in seinen geräumigen Fiat Multipla. Kein besonders schönes Fahrzeug, aber sehr zweckmäßig. Auf der Seite des Fahrzeugs war Werbung für Enzios Antiquitätengeschäft angebracht und das Fahrzeug hatte einige Beulen und Schrammen, was in Sizilien absolut nichts Besonderes war. Auf der Insel wurden Autos eher als Gebrauchsgegenstände gesehen. In Deutschland, wo Fahrzeuge gehegt und gepflegt wurden, hat man dabei deutlich einen anderen Bezug zu seinem Auto.


Sie verließen das Flughafengelände und Enzio lenkte den Wagen direkt auf die Autobahn, die um Catania herum führt. Sie fuhren einige Kilometer auf der A18 und er erklärte Gerhard, dass sein Haus nicht direkt in der Stadt gelegen war, sondern sich in einem kleinen Vorort namens Mascalucia, befand. Danach erläuterte er Gerhard ausgiebig die Vorzüge der dortigen Wohnlage, die es ihm in seiner Freizeit ermöglichte Abstand von seiner Arbeit und der Hektik der Großstadt zu nehmen. Das kleine Städtchen lag am auslaufenden Südhang des Ätna und war verkehrstechnisch gut an Catania angebunden. Als sie den Ort erreichten, konnte man sehen, dass in den Randbezirken einige sehr noble Häuser standen. Gerhard vermutete, dass gutbetuchte Geschäftsleute aus Catania die gute Lage nahe der großen Stadt und die Ruhe genauso zu schätzen wussten wie sein Freund Enzio.


Gerhard war nicht sehr verwundert, als sie in die Einfahrt eines eben solchen noblen Anwesens hineinfuhren und Enzio das Fahrzeug vor den Eingang lenkte. Das Haus war nicht gerade klein und die Außenanlage des Hauses machte einen sehr gepflegten Eindruck. Gerhard war schon fast versucht, den Ausdruck `Villa´ für das Anwesen zu gebrauchen. Rechts vor dem Haus stand ein neuerer Alfa Romeo Brera, der in seiner sportlichen Aufmachung im krassen Gegensatz zu dem Multipla stand, mit dem sie hier angekommen waren. Gerhard schloss aus alledem, dass Enzios Geschäfte gut zu gehen schienen, was ihn für seinen Freund sehr freute.


Sie betraten das Haus durch eine mächtige, mit Glaseinsätzen versehene, Eingangstür. Enzio zeigte Gerhard direkt das Gästezimmer im ersten Stock, das er beziehen sollte. Das Zimmer verfügte über einen kleinen Balkon, der zum hinteren Teil des Hauses hin gelegen war. Gerhard öffnete die beiden Glastüren um hinauszutreten. Hinter dem Haus setzte sich der wunderschöne Garten weiter fort und direkt am Haus lag ein ovaler kleiner Pool, in dem das Wasser einladend glänzte. Er grenzte direkt an die aus Natursteinen bestehende Terrasse an, auf der mehrere Liegestühle standen. Bei diesem Anblick war sich Gerhard sicher, dass er hier in seiner Freizeit einen tollen Aufenthalt genießen würde. Dass sein Besuch in Sizilien wesentlich länger und nicht so ruhig werden würde, wie er es in diesem Augenblick noch erwartete, konnte er zweifellos noch nicht ahnen.

Bereits zehn Minuten später saßen die beiden Männer mit einer guten Flasche sizilianischem Rotwein auf der Terrasse in der Sonne. Gerhard hatte seine Badehose angezogen und bereits zur Erfrischung den ersten Sprung in den einladenden Pool hinter sich gebracht. Das Wasser perlte noch auf seiner Haut und die Sonne fing an ihn zu trocknen, während der erste gute Schluck Wein seine Kehle hinunterrann.


Gerhard stellte das Rotweinglas wieder auf dem Gartentisch ab. „Enzio, nach diesem Einstand interessiert mich eine Frage wirklich brennend. Warum genau hast du mich hergebeten?“, fragte er nun bei seinem Freund nach. Enzio lehnte sich vor und antwortete: „Ich brauche deinen Rat bei einigen Stücken, die ich zum Verkauf von einem jungen Paar namens Varni erhalten habe. Das hatte ich dir so ja bereits am Telefon gesagt. Ich habe allerdings keine Ahnung, wie ich deren Wert beziffern soll und an wen ich mich wegen des Verkaufs wenden könnte. Ich dachte aufgrund deiner Erfahrungen, auch mit außergewöhnlicheren Dingen aus dem letzten Jahrhundert, seist du der richtige Ratgeber für mich in beiden Dingen. Ich zeige dir die Stücke morgen in meinem Laden und du sagst mir, was du von ihnen hältst. Du weißt, dass ich mich eher mit Skulpturen und Artefakten aus der römischen und griechischen Periode auskenne und von solchen Dingen eher wenig Ahnung habe.“ „Ich verstehe“, antwortete Gerhard ihm, „ich bin sehr gespannt was du mir zu zeigen hast.“


Danach unterhielten sie sich über ihre früheren gemeinsamen Erlebnisse. Enzio hatte lange in Deutschland gelebt, bevor er sich entschieden hatte, nach Sizilien zurückzukehren. Seine Lebensumstände sprachen dafür, dass er damit die richtige Entscheidung getroffen hatte. Enzio berichtete Gerhard, dass seine Lebensgefährtin Gina am morgigen Tag von einem Besuch bei einer ihrer Freundinnen ins Haus zurückkehren würde. Er erzählte, wie er sie kennen gelernt hatte und sie letztendlich zusammengekommen waren. Gerhard war aufgrund von Enzios schwärmerischen Erzählungen sehr auf seine Freundin gespannt. Sein italienischer Freund hatte früher schon einen guten Geschmack in Bezug auf Frauen bewiesen. Die beiden Männer genossen ihre alte Freundschaft, den fruchtigen Rotwein, das warme Wetter und den kühlen Pool sehr. Sie hatten gemeinsam Spaß bis in den Abendstunden die sizilianische Sonne untergegangen war und sie schließlich deutlich angetrunken in ihre Betten sanken.



Cefalù, Sommer 1955 - Die Amerikaner


Guiseppe Pucci stand vor dem kleinen Haus oberhalb von Cefalù und beobachtete die beiden Männer, die ihn als Helfer angeheuert hatten, bei ihrer Arbeit. Der eine filmte und fotografierte unablässig die unzähligen Zeichnungen und die geometrischen Formen, die sich überall in und an dem kleinen Haus befanden, während der andere alles was er entdeckte akribisch in ein kleines Buch schrieb. Ihre Begeisterung für alles was mit dem Gebäude und seinen ehemaligen Bewohnern zu tun hatte, war jedenfalls unglaublich.


Die meisten der Türen und Fensterläden des alten Bauernhauses waren mit seltsamen Zeichnungen versehen und in vielen Bereichen erstrahlten auch Böden und Wände in bunten Farben. Diese Farbenpracht kam vor allem dann zur Geltung, wenn die meist auf den Innenseiten bemalten Läden nach außen aufgeklappt wurden und man zudem durch die Fenster das Innere des Hauses sehen konnte. Der Mann, der fotografiert hatte dies eben getan um diesen Eindruck festzuhalten. Die Zeichnungen gaben dem Haus so ein ganz eigenes Flair, fast schon wirkte es märchenhaft, aber in jedem Fall ungewöhnlich. Das Gebäude passte überhaupt nicht zu den übrigen Häusern, die sich in dieser Gegend befanden. Kein Haus war so bunt bemalt oder in irgendeiner Form verziert. Sie waren eher schlicht und weiß.


Der ehemalige Besitzer hatte fast alle Wände im Haus bemalt. Vor allem sein ehemaliges Schlafzimmer hatte er komplett mit sehr verstörenden Zeichnungen versehen. Einige davon waren ausgesprochen anzüglich und passten somit noch weniger in diese katholisch geprägte Gegend. Manche der Zeichnungen konnte man kaum noch erkennen, weil die Wände von späteren Bewohnern weiß oder grün gestrichen worden waren. Seine beiden Auftraggeber hatten aber an vielen Stellen Tapeten entfernt und unter Zuhilfenahme von Leinwandfirniss vieles wieder freilegen können. Das Haus war auf seine Weise wirklich einzigartig, hatte aber nach Guiseppes Gefühl auch irgendwie etwas sehr Beängstigendes an sich. Die beiden Amerikaner hatten zumindest an diesem Haus einen Narren gefressen und jedes Detail des Gebäudes war von ihnen aus unzähligen Winkeln und Blickrichtungen mit dem Fotoapparat oder der Filmkamera abgelichtet worden.


Als die beiden Männer vor einer Woche in Cefalù angekommen waren, hatten sie jemanden aus der Stadt gesucht der Englisch sprechen konnte, damit er ihnen bei ihrem Filmprojekt zur Hand gehen konnte. Guiseppe war dieser Umstand nur recht gekommen, da er zurzeit keinen Job hatte. Außerdem hatte er wegen seiner früheren Arbeit in verschiedenen Häfen und aus eigenen Interesse ganz passabel Englisch sprechen gelernt und deshalb fiel die Wahl der Amerikaner auf ihn. Die beiden Männer hatten ihm eine gute Bezahlung versprochen und er hatte direkt zugestimmt. Er sollte vor allem Sorge für das technische Equipment tragen und bei allem zur Hand gehen, was bei den Filmaufnahmen nötig sein sollte. So trug er nun Kameras hin und her, versetzte Stative und hielt Spiegelplatten, um Einzelheiten besser auszuleuchten.


Als er gehört hatte, dass die beiden Männer das alte Haus mit den Zeichnungen am Berghang oberhalb der Stadt untersuchen wollten, war er abermals hellhörig geworden. Er hatte sich als Kind bereits häufig beim Spielen in der Nähe dieses Hauses aufgehalten, als der sonderbare Mann, der die Zeichnungen angefertigt hatte, noch mit einigen anderen Leuten in dem Haus gelebt hatte. Sie waren in seltsam Roben gekleidet und sie hatten oft vor dem Haus gesessen und zusammen in einer monotonen Sprache Texte vor sich hin gemurmelt, die er nicht verstehen konnte. Der Mann hatte ihm sogar einmal freundlich über den Kopf gestrichen, als er ihm auf dem Weg zur Stadt begegnet war. Seine Mutter hatte ihm schließlich verboten sich in der Nähe des Hauses aufzuhalten, aber gerade das hatte er natürlich spannend gefunden. Später hatte er den Mann in den Weinbergen wiedergetroffen, als er auf dem Boden saß und in einer fremden Sprache vor sich hinmurmelte. Guiseppe hatte ihn angesprochen, aber der Mann hatte mit glasigen Augen durch ihn hindurchgesehen. Er hatte ihn eine Weile beobachtet, konnte aber im Gegensatz zu seiner Mutter nichts Beängstigendes an ihm feststellen. Der Mann wirkte in diesem Moment eher hilflos und völlig ungefährlich. Als Junge hatte er die Angst der Erwachsenen absolut nicht verstehen können. Erst als er älter war, hatte er einige Dinge erfahren, die ihm diese Angst erklären konnten.


Während Guiseppe seinen Gedanken nachhing, hatte die beiden Amerikaner über irgendetwas zu diskutieren angefangen. Er stand zu weit entfernt und konnte nicht verstehen was sie sagten. Der Mann, der immer filmte und Kenneth hieß, winkte ihn herbei und erklärte ihm, dass sich ihr Projekt in Cefalù dem Ende nähern würde. Er hatte mit dem anderen Mann, der Alfred hieß, beschlossen, die bemalten Türen und Fensterläden herauszunehmen und in die USA zu verschiffen. Gleichzeitig wollten sie noch verschiedene Wanddekorationen im Haus demontieren und ebenfalls abtransportieren. Guiseppe war erstaunt über diesen Plan, nickte seinen Auftraggebern aber bejahend zu. Die beiden Männer entfernten sich ein Stück von ihm und fingen wieder eine angeregte Unterhaltung an.


Guiseppe betrachtete das Haus, dass er bereits so viele Jahre kannte und war irgendwie traurig, dass die bunten Fensterläden und die Inneneinrichtung nun verschwinden würden. Das Haus würde nicht mehr das Gleiche sein. Guiseppe dachte einen Moment darüber nach, was er in der Stadt zu organisieren hatte, um die Sachen so zu verpacken, dass sie schadenfrei abtransportiert werden konnten. Er näherte sich dem Haus und sah sich die Aufhängungen der Fensterläden und der Türen genauer an und erkannte, dass sie problemlos abnehmbar waren. Im hinteren Teil des Hauses kam er zu einem Fensterladen, dessen Gemälde ihn als Kind schon immer fasziniert hatte. Nun würde es mit den übrigen Läden verschwinden. Ein Gefühl von Verlust machte sich in Guiseppes Magen breit. Er schaute mehrere Minuten auf die Fensterläden mit den beiden Gestalten, die sich an den Händen zu halten schienen. Ein Plan reifte in ihm. Niemand würde bemerken, wenn er diese beiden Läden für sich selbst behalten würde.





Catania, Mai 2013 - Artefaktbegutachtung


Nach einem ausgiebigen, herzhaften Frühstück fuhren Gerhard und Enzio mit dem verbeulten Fiat Multipla in Richtung Catania, damit Gerhard die Gegenstände begutachten konnte, die in Enzios Geschäft standen. Es war ein wunderschöner Maitag und die Sonne prangte an einem wolkenlosen Himmel. Obwohl es erst neun Uhr war, war die Zwanzig-Grad-Marke bereits überschritten. Sie näherten sich schnell dem Stadtzentrum von Catania und der Verkehr wurde lebhafter. Enzios Laden lag in einer kleinen Seitenstraße der Via Cristoforo Colombo in der Nähe des Hafens. Als sie das Geschäft erreicht hatten, steuerte Enzio den Fiat durch ein offenstehendes Rolltor und parkte das Fahrzeug in einem kleinen Innenhof, der zu dem Gebäude gehörte.


Sie gingen durch eine Seitentür in das Geschäftsgebäude hinein. Enzio erklärte Gerhard, dass er im hinteren Teil des Hauses ein Lager hatte, in dem er Skulpturen und größere Gegenstände aufbewahrte und dort auch den Platz hatte, Dinge für den Versand vorzubereiten. Er öffnete eine Tür machte das Licht an. Gerhard konnte einige römische Statuen und Gegenstände sehen, die ihn sofort fesselten. Er sah sich die Stücke sehr genau an und war sich deren Kostbarkeit durchaus bewusst. Er ahnte jetzt, wieso sich Enzio ein solches Haus in Mascalucia leisten konnte. „Schöne Stücke, nicht wahr?“, sagte Enzio und Gerhard konnte das nur mit einem Nicken bestätigen. Die Statue einer Römerin, die er gerade bewunderte, war aus feinstem, weißem Marmor herausgearbeitet worden und war bis in die Fingerspitzen makellos. Wäre sie nicht weiß gewesen, hätte sie fast lebendig wirken können. Er strich mit seinen Fingern über den glatten Stein und zollte dem Steinmetz, der diese Figur vor 2000 Jahren so formvollendet angefertigt hatte, seinen ganzen Respekt.


Danach führte ihn Enzio in den vorderen Teil seines Ladens, wo den Kunden mannigfaltige Gegenstände, auf einer circa einhundert Quadratmeter großen Verkaufsfläche, angeboten wurden. Auch hier fanden sich Gegenstände von unterschiedlichem Wert. Bücher, Waffen, Alltagsgegenstände, Karten und vieles andere konnte käuflich erworben werden. Er hatte ein Abbild seines eigenen Geschäftes in Marburg vor sich, nur war Enzios wesentlich größer und exquisiter bestückt.


Gerhard nahm an einem kleinen Tisch im hinteren Teil des Ladens Platz, an dem Enzio ihm einen Stuhl angeboten hatte. Er bat ihn zu warten und verschwand in einem kleinen Räumchen, was als Büro zu dienen schien. Kurz darauf kam er mit einer Kiste wieder aus dem Büro heraus. Er stellte sie neben Gerhard auf dem Boden ab und fing an zu erzählen: „Vor zwei Wochen kam eine junge Frau, Patricia Varni, zu mir und brachte mir diese Sachen. Es gehören auch noch zwei größere Stücke dazu, die sich im hinteren Teil des Ladens befinden und die ich dir auch noch zeigen werde. Frau Varni hat die Sachen von ihrem Onkel und ihrer Tante geerbt, die in Termini Imerese an der Nordküste ein kleines Haus besessen haben, dass sich nun in ihrem Besitz befindet. Sie und ihr Ehemann haben in dem Haus nach dem Tod der Beiden eine Menge Plunder vorgefunden, aber auch Sachen, die sie als außergewöhnlich befunden haben. Da sie sich sehr unsicher waren, ob sich unter diesen Sachen etwas von Wert befindet, haben sie nach Personen gesucht, die dies eventuell einschätzen könnten. Aus diesem Grund haben die Varnis auch einige dieser Sachen zu mir gebracht. Jedenfalls muss der Onkel ein sehr wunderlicher Mann gewesen sein und viele Leute die ihn kannten haben ihn sogar für verrückt gehalten. Er ist aber bereits 1994 verstorben, seine Frau hat dann bis zu ihrem Tod 2011 alleine in dem Haus gelebt. Ich habe ihr dann angeboten, in Erfahrung zu bringen, ob die Sachen einen Wert haben und habe nach der ersten Sichtung gleich an dich gedacht. Die beiden sagten mir, dass wir gerne auch die anderen Sachen, die sich noch im Haus befinden, in Augenschein nehmen könnten. Das Meiste ist noch so, wie sie es vorgefunden haben, bis auf die Dinge, die sie zum Schätzen und Verkaufen abgegeben haben. Sie haben einige Gegenstände auch an andere Händler gegeben, der Hauptanteil ist allerdings bei mir verblieben. Die beiden leben in der Nähe von Rom und haben mir die Schlüssel des geerbten Anwesens hiergelassen, aber jetzt schau dir erst einmal an, was die Varnis mir hier in den Laden gebracht haben.“


Enzio rückte die Kiste an Gerhard heran. Gerhard konnte im Inneren einige Bücher und Dokumente erkennen und es lagen auch andere, kleinere Gegenstände darin. Als erstes nahm er eine kleine Büchse aus dem Kasten, die sich als Tabakdose entpuppte. Er sah sich das Stück an, das aus echtem Silber zu sein schien. Ausgiebig betrachtete er die Gravur des Deckels. Es waren symmetrische Symbole darauf angeordnet und über dem Ganzen schwebte ein kleines Dreieck mit einem Auge darin. „Freimaurerinsignien würde ich sagen!“ Gerhard drehte die Dose herum und entdeckte einen englischen Schriftzug, „Ende des achtzehnten oder Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, schätze ich. Wenn die kleine Beule an der Seite nicht wäre, ein tolles Stück. Es wird aber auch so ein paar Euro bringen.“ Er stellte die Dose neben sich auf den Tisch.


Er nahm das erste Buch aus der Kiste und sah sich den schweren Ledereinband an. Auf dem Einband war kein Titel mehr zu erkennen und so schlug er das Buch auf den vorderen Seiten auf. Er stieß auf den Titel in französischer Sprache, der auf der ersten Seite in einer schönen, verschnörkelten Schrift gedruckt war: ‚Les mystères de la Kabbale ou l'harmonie occulte des deux Testaments.‘ „Ein kabbalistisches Werk“, stellte Gerhard fest, „und älteren Datums noch dazu!“ Er blätterte eine Seite weiter. Er blickte auf den Autorennamen und das Erscheinungsjahr. Nourry, Paris 1920 beeindruckte ihn nicht sonderlich, aber der Name des Autors ließ ihn zwischen den Zähnen hindurch pfeifen. Er lehnte sich zurück und sah Enzio an: „Éliphas Lévi, das ist unglaublich. Das ist eine Erstausgabe von Éliphas Lévi. Das Buch dürfte mehrere tausend Euro wert sein.“ Enzio grinste: „Ich hatte mir gedacht, dass dich das interessieren würde. Solche Dinge waren doch schon immer dein Steckenpferd. Das Buch habe ich auch noch einsortieren können, aber was noch in diesem Sammelsurium ist, kann ich nicht einordnen. Dafür brauche ich dich.“ Gerhards Blick fiel auf die Kiste und er zog das nächste Stück aus der Kiste heraus.





Cefalù, Sommer 1955 - Souvenirs


Guiseppe stand neben dem großen Stapel Kisten, der sich mittlerweile vor dem kleinen Haus oberhalb von Cefalù auftürmte. Er wartete auf einen Lastwagen, den er in der Stadt bestellt hatte um die Gegenstände hinunter zum Hafen bringen zu lassen. Von hier sollten sie direkt nach Catania verschifft werden. Von dort aus würden sie dann mit dem Flugzeug über den Atlantik nach Amerika gebracht werden. Die Amerikaner hatten sich für den Schiffstransport von Cefalù aus entschieden, weil sie so sicher gehen konnten, dass die Gegenstände auf den holprigen Bergstraßen Siziliens keinen ungewollten Schaden nehmen würden. Guiseppe konnte jetzt ein großes Fahrzeug den Berghang hinaufkommen sehen. Es holperte langsam über den Feldweg auf das Haus zu. Er winkte dem Fahrer zu, um ihm zu zeigen wohin er kommen sollte. Dieser winkte Guiseppe zurück, als er ihn entdeckt hatte und zwei Minuten später stoppte der Lastwagen neben seiner Fracht.


Guiseppe begrüßte den Fahrer und den Helfer, der neben ihm in der Fahrgastzelle gesessen hatte. Als sie das Fahrzeug verlassen hatten, fingen sie sofort zu dritt an die Kisten auf der Ladefläche zu verstauen. Die Fensterläden und Türen des Hauses hatte Guiseppe in gut gepolsterten Kisten untergebracht, die er in Cefalù bei einem Schreiner in Auftrag gegeben hatte. Seit dem Auftrag durch Mr Anger, die Gegenstände zu verpacken und für den Transport vorzubereiten, waren fast zwei Wochen vergangen. Auch der andere Mann, Mr Kinsey, hatte ihm häufiger bei der Demontage und den Verpackungsarbeiten zugesehen. Beide legten großen Wert darauf, dass alles sorgfältig verstaut wurde. Andere Gegenstände, die sie in einer Kiste auf dem nicht völlig intakten Dachboden des Häuschens gefunden hatten, waren ebenso sorgfältig eingewickelt worden, wie die Bücher, die auch dort in einem kleinen Schränkchen gelegen hatten.


Die beiden Läden die Guiseppe behalten wollte, hatte er an einem späten Abend, als er alleine gewesen war, einige hundert Meter vom Haus entfernt in einer ungenutzten Scheune untergestellt. Er hatte sie in der mondhellen Nacht hinübergetragen und zusammen mit zwei Büchern und einigen anderen Papieren und Gegenständen dort versteckt. Über die Sachen hatte er sorgfältig eine Plane ausgebreitet und in den Tagen darauf hatte er sich mehrere Male versichert, dass sie dort gut aufgehoben waren. Der Abtransport war ein leichtes gewesen, weil die Amerikaner in einem kleinen Hotel in Cefalù zu nächtigen pflegten. Dadurch hatten sie nicht das Geringste bemerkt, als er die Sachen entfernt hatte, zumal irgendwann nicht mehr klar war was schon verpackt war und was nicht. Er hatte auch bei den anderen Gegenständen, die er beiseitegelegt hatte, darauf geachtet, dass ein Fehlen nicht auffallen würde. Die Bücher und Handschriften hatte er versteckt, bevor überhaupt jemand anderes sie zu Gesicht bekommen hatte. Er war der Erste gewesen, der das kleine Regal auf dem Dachboden entdeckt hatte. Das Fehlen dieser Gegenstände würde also niemandem auffallen. Der Verlust der beiden Fensterläden würde sicher irgendwann später bemerkt werden, aber diese konnten dann auf dem langen Transport überall verschwunden sein. Er hatte zur Sicherheit in eine leere Transportkiste zwei schwere alte Holzplanken gelegt. Man würde beim Auspacken bemerken, dass etwas fehlte, aber das war dann nicht mehr sein Problem.


Die Arbeiten gingen ansonsten gut voran. Mr Anger und Mr Kinsey waren mittlerweile zu ihnen gestoßen und beobachteten den Verladevorgang der Kisten mit großem Interesse. Nachdem alles verstaut war, gaben sie Guiseppe den Auftrag auch das Verladen der Kisten auf das Schiff gut zu überwachen und dafür zu sorgen, dass auch hier alles sicher verstaut werden würde. Er sollte sich nach Beenden der Arbeiten im Hotel melden, um Kinsey und Anger abzuholen, damit sie sich die Unterbringung der Ladung auf dem Schiff noch einmal ansehen konnten. Guiseppe nickte ihnen zu um zu zeigen, dass er verstanden hatte. Danach kletterte er auf die Ladefläche des Lastwagens um mit hinunter zum Hafen zu fahren. Er sah die beiden Männer, die neben dem geplünderten Haus standen, langsam aus seinem Sichtfeld entschwinden, während sie holpernd den Weg hinunterfuhren. Heute Abend würde er eine gute Bezahlung von ihnen erhalten. Später würde er dann die Sachen, die jetzt ihm gehörten, mit einem geliehenen Fahrzeug in sein Haus bringen. Er grinste und war stolz auf sich selbst, dass sein Plan so reibungslos geklappt hatte.





Cefalù, April 1923 - Der Aufbruch


Aleister saß vor seinem kleinen Haus oberhalb der Stadt und blickte auf die Küste und den mächtigen Felsen hinunter, der die Stadt beherrschte. Er hielt wieder den Brief der italienischen Behörden in den Händen, der ihm gestern zugestellt worden war. Wirklich verwundert war er über dessen Inhalt nicht gewesen, aber mit einer endgültigen Ausweisung aus Italien hatte er bis zu diesem Zeitpunkt doch nicht gerechnet. Bereits am 1. Mai sollte er das Land verlassen haben. Er dachte darüber nach, dass er nur die wichtigsten Dinge aus dem Haus, das jetzt drei Jahre seine Heimat, seine erste magische Abtei gewesen war, würde mitnehmen können. Vieles würde er an diesem Ort zurücklassen müssen. Er dachte kurz an das letzte Ritual, dass er am Morgen mit seinen Anhängern auf dem Felsen gefeiert hatte. Er würde die Stadt und die Abtei vermissen.


Ein wichtiges Manuskript, das ihm sehr am Herzen lag, würde er ebenfalls im Haus hinterlassen, da er nicht genau einschätzen konnte, wohin sein Weg ihn von hier aus führen würde. Aleister wollte es nicht einfach so mit sich herumtragen, dafür war es ihm zu viel wert. Er hatte es gut versteckt und einen Hinweise in einer Zeichnung hinterlassen, wo es zu finden war. Falls er nicht mehr nach Cefalù zurückkommen durfte, konnte er immer noch jemanden schicken und anweisen, wie das Skript zu finden war. Selbst seiner Frau Alostrael hatte er vom aktuellen Versteck nichts erzählt. Er würde sich natürlich bemühen zurückkehren zu dürfen und diesbezüglich alle Hebel bei den Behörden in Bewegung setzen um das letztendlich zu erreichen. In der Zwischenzeit würden seine Jünger hier verbleiben und auf sein Haus - seine geliebte Abtei - aufpassen. Er hatte die Anweisung gegeben es gut zu verschließen, falls auch sie die Insel verlassen mussten.


Am zweiten April 1920, vor knapp drei Jahren, war er in das kleine Haus eingezogen. Vorher hatte er noch einige nette Tage in Neapel und Palermo zugebracht, wo er sich mit Freunden magischen Ritualen und ausschweifenden Festen hingegeben hatte. Er war bereits damals nicht alleine nach Italien gekommen. Seine rituelle scharlachrote Frau Alostrael, mit bürgerlichem Namen Leah Hirsig, und ihre Schwester im Geist, Cypris hatten ihn begleitet. Auch drei Kinder waren mit ihnen gekommen, Hansi, Howard und Poupèe, die seine eigene Tochter mit Leah war.


Cefalù hatte sie inspiriert und sie hatten anfangs eine gute Zeit miteinander verbracht. Der Ort hatte genau die Aura, die er gesucht hatte. Sie hatten sich ihren magischen Ritualen gewidmet, ausgedehnte Wanderungen in der Umgebung unternommen und im Meer gebadet. Er hatte angefangen die Wände, Türen und Fensterläden des Hauses in bunten Farben mit magischen Hintergründen zu bemalen. Das Haus war mehr und mehr zu ihrem ‚Tempel‘ geworden.


Sie hatten sich immer wieder sexualmagischer Riten bedient, wie er sie bei der O.T.O., einem magischen Orden, in dem er lange Mitglied gewesen war, erlernt hatte. Die Bevölkerung hatte ihr Treiben in dem kleinen Haus mit Argwohn beobachtet und seitdem mieden die Einwohner des Ortes ihn und seine Jünger und gingen ihnen aus dem Weg, wenn sie ihnen begegneten. Nur ein paar Kinder schienen keine Angst vor ihnen zu haben. Ihn persönlich hatte das nie gestört, weil er Ruhe und Einsamkeit immer bevorzugt hatte. Er hatte sich dem Schreiben von Büchern gewidmet und gelegentlich waren Gäste und Adepten in seine neue Abtei gekommen, um Zeit, Gebete und Rituale mit ihnen zu teilen. Sie hatten Gesetze und Regeln für ihre Gemeinschaft aufgestellt und hatten angefangen ihr gesamtes Tun in Tagebüchern festzuhalten.


Schon sehr früh hatte sich der erste Schatten auf die anfangs fröhliche Gemeinschaft gelegt. Am 14.10.1920 verstarb seine Tochter Poupèe nach kurzer heftiger Krankheit im Krankenhaus von Palermo, was ihn in langanhaltende Trauer versetzt hatte. Er hatte unter ihrem Tod so sehr gelitten, dass ihn im Nachhinein selbst unzählige Krankheiten heimsuchten, die mit großer Sicherheit vor allem durch seinen Gemütszustand bedingt gewesen waren.


Die Ausschweifungen in der Abtei hatten seit diesem Zeitpunkt kontinuierlich zugenommen und auch seine Jünger gaben sich immer häufiger magischen Praktiken unter Drogenkonsum hin. Einige seiner Anhänger liefen im Drogenwahn in den Weinbergen herum und den Bewohnern des Dorfes blieben die Vorgänge in seinem Haus nicht verborgen. Es wurde immer mehr über sie geredet und es machte sich eine immer stärker werdende, ablehnende Haltung bei der örtlichen Bevölkerung breit. Die Leute im Ort mieden sie und es wurde schwieriger die Dinge einzukaufen, die sie für das tägliche Leben brauchten.


Letztlich war Mitte Februar Raoul Loveday, ein befreundeter Student aus Oxford in der Abtei ums Leben gekommen, was erstmals die Behörden auf den Plan gerufen hatte. Eigentlich war das unverständlich gewesen, da Loveday nach einer gewöhnlichen Krankheit verstorben war, die er sich durch verdorbenes Wasser zugezogen hatte. Allerdings warf man der Gemeinschaft vor, dass sein Tod mit ihren Ritualen in Zusammenhang stehen würde. Zu diesem Irrglauben hatten vor allem die Aussagen von Lovedays Frau Betty May beigetragen. Sie war mit der Lebensweise in der Abtei nie einverstanden gewesen, war aber ihrem Mann trotzdem hierher gefolgt. Trotz Aleisters intensiven Bemühungen diese Vorwürfe zu entkräften, hatten die Behörden ihm nicht zuhören wollen. Zu oft war er in der Vergangenheit mit seiner kleinen Gemeinschaft bereits unangenehm aufgefallen. Das Ergebnis davon hielt er nun in Form der Ausweisung aus Italien in den Händen.


Er blickte wieder über die Bucht und den mächtigen Felsen von Cefalù. Mit dem Verlassen dieses Ortes würde sich einer seiner Träume in Luft auflösen und er würde wieder einmal von vorne anfangen müssen. Er fragte sich ob das sein ganzes Leben so weitergehen würde. Er stand auf und ging auf das Haus zu. Es war Zeit seine wenigen Sachen zu holen und aufzubrechen.





Catania, Mai 2013 - Der Nachlass


Gerhard griff ein weiteres Mal in die kleine Kiste, die vor ihm stand, und nahm daraus ein in schwarzes Leder gebundenes Notizbuch hervor. Im Inneren fanden sich handschriftliche Notizen, die mit Daten versehen waren und eingelegte Blätter mit Zeichnungen und weiteren Notizen. Gerhard fing an die ersten Einträge in englischer Sprache genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Handschrift war recht eigenwillig und fiel auffällig nach rechts, war aber sehr gut zu lesen. Gerhard las einen Eintrag von Mai 1921 und stellte fest, dass der Schreiber ein magisches Ritual zu beschreiben schien, das er mit einigen anderen Personen durchgeführt hatte. Der Rest des Eintrages war eher belanglos. Auf der nächsten Seite war von einem Kletterausflug an einen Felsen die Rede. Gerhard übersprang einige Zeilen und wollte das Büchlein gerade zur Seite legen, als er auf das Wort Cefalù stieß.


Er blätterte ein wenig aufgeregt weiter und fand schließlich den Namen Leah in Verbindung mit dem Ausdruck ‚Scarlet Woman‘ auf einer der Folgeseiten. Jetzt wurde ihm warm. Er zog sein Handy aus der Tasche und bemühte Google als Suchmaschine. Er gab einige Begriffe ein und scrollte dann die Bildergebnisse seines Handys durch. Er fand ein Bild und lud es auf sein Handy herunter um es vergrößern zu können. Es war ein Bild einer Handschrift und er fing an die Buchstaben der Schrift mit dem vorliegenden Büchlein zu vergleichen. Enzio sah seinen Gesichtsausdruck und fragte: „Geht es dir nicht gut, Gerhard?“


Gerhard atmete hörbar durch und legte sein Handy vor sich auf den Tisch. Er antwortete Enzio noch immer nicht, sondern blätterte in dem kleinen Büchlein weiter. Er entdeckte Zeichnungen, die ihn an andere Zeichnungen erinnerten, die er in Büchern gesehen hatte. Weitere Eintragungen und magische Symbole festigten seine Meinung und er war sich hundertprozentig sicher, was er hier vor sich hatte. Er blickte Enzio an: „Ich würde sagen, wenn wir das Buch von Lévi schon in den Bereich wertvoll einordnen, haben wir hier jetzt die Sensation vor uns liegen.“ Enzio sah ihn fragend und auffordernd zugleich an. „Dies ist eine Orginalhandschrift von Frater Perdurabo, oder sagen wir von To Meta Therion, dem großen Biest. Ein Tagebuch von Aleister Crowley mein lieber Enzio, dessen Wert ich nicht wirklich beziffern kann.“


Gerhard musste sich erst sammeln, bevor er wieder in die Kiste griff. Es waren noch zwei handschriftliche Dokumente in der Kiste, die ebenfalls die Handschrift Crowleys trugen. Ein weiteres Buch erschien Gerhard weniger interessant und es hatte keinen wirklichen Bezug zu den anderen Gegenständen der Kiste. Trotz allem war die Ausbeute so, dass Gerhard sie nicht erwartet hätte. Er griff wieder nach dem Tagebuch und blätterte darin herum. Es gab mehrere Tagebücher Crowleys und seiner Anhänger, die sich im Privatbesitz von okkulten Sammlern befanden. Hier hatten sie nun ein weiteres vor sich, das bei diesen Sammlern einen guten Preis erzielen würde. Plötzlich fiel Gerhard etwas ein. „Du sagtest, du hättest noch weitere Gegenstände deiner beiden Kunden im Lager“, Enzio nickte. Er stand auf und machte eine Handbewegung die Gerhard zum Folgen veranlasste.


Sie gingen durch Enzios Laden in den hinteren Teil des Hauses und kamen wieder in dem Raum an, in dem Gerhard eben die römischen Statuen bewundert hatte. Enzio ging mit ihm in eine Ecke des Raumes, wo etwas an der Wand lehnte, dass mit weißen Tüchern abgedeckt war. „Da sind sie“, sagte Enzio und deutete auf die Gegenstände. Gerhard ging zwei Schritte vorwärts und zog die Tücher vorsichtig von den Gegenständen. Er stellte fest, dass es sich um zwei flache Holzgegenstände handeln musste. Er entfernte weitere Tücher und war verwundert, wie gut man die Sachen eingepackt hatte. Als er die letzten Tücher entfernte, erkannte er zwei Gestalten, die auf den Holzhintergrund aufgemalt worden waren. Es handelte sich, den Scharnieren nach zu urteilen, um zwei zusammengehörende Fensterläden. Die beiden in Gewänder gekleideten Figuren auf den Läden waren von ihrem Stil her für Gerhard eindeutig zuordnungsbar. Bei genauerer Betrachtung konnte er in der unteren Ecke die typische Unterschrift entdecken, bei der der Anfangsbuchstabe des Vornamens wie ein großer Phallus dargestellt war. Was er hier sah, konnte er nicht fassen. Er drehte sich um und sagte: „Enzio – das was du hier hast, ist einfach unfassbar!“





Termini Imerese, Mai 2013 - Routinearbeit


Die beiden Männer kletterten auf der Rückseite des kleinen, am Meer gelegenen, Hauses über die Mauer und sprangen hinunter in den ungepflegten Garten. Sie duckten sich in das Gras und sahen sich kurz an. Das Haus war dunkel und es war kein Geräusch zu vernehmen, lediglich eine Katze gab irgendwo in der Nähe ein fürchterliches Klagelied zum Besten. Der Mond beschien die Szenerie, während die Männer gebückt durch den Garten auf die Balkontür zueilten. Dort angekommen setzte der eine seinen Rucksack ab und holte Werkzeug hervor. Er setzte einen Schraubenzieher gekonnt am Schloss im Türrahmen an und hatte mit wenigen Bewegungen die Tür geöffnet, die augenblicklich mit einem leichten Knarzen nach außen aufsprang.


Das Haus war nicht gut gesichert, weil die Eigentümer wohl nie über die Möglichkeit eines Einbruchs nachgedacht hatten. Das war verständlich, da das Haus bis zum Tod der letzten Besitzerin immer durchgängig bewohnt gewesen war. Außerdem handelte es sich bei dem Anwesen nicht um eine der vielen Villen in diesem Ort, sondern um ein gewöhnliches Landhaus. Die beiden Männer huschten ins Innere des Hauses und knipsten ihre Taschenlampen an. Sie hatten einen Auftrag erhalten und wussten genau wonach sie zu suchen hatten. Sie kannten ihren Chef, der sie immer nur für genau solche Zwecke anheuerte mittlerweile gut - und er zahlte diese Dienste immer entsprechend.


Die beiden Männer teilten sich die Räume des Hauses auf. Sie wussten, dass sie keine Bewohner zu befürchten hatten, da das Haus nun leer stand. Außerdem lag es jenseits einer Bahnlinie und man konnte es nur über eine sehr schmale Zufahrtsstraße erreichen, in die sich wohl sonst niemand verirren würde. Das Paar, dem das Haus vererbt worden war, lebte in Rom und versuchte seit einiger Zeit Teile des Interieurs zu veräußern. Durch diesen Umstand war auch ihr Chef auf die Beiden aufmerksam geworden. Sie hatten ihm verschiedene Gegenstände des Hauses zum Verkauf angeboten.


Scheinbar hatten die Besitzer auch bereits einige andere Händler bemüht und Manuelo De Luca war nur einer ihrer Ansprechpartner gewesen. Sie hatten ihm einige interessante Stücke angeboten, die aufgrund ihres Alters einen gewissen Wert dargestellt hatten. Etwas Besonderes waren sie allerdings nicht gewesen. Die Beiden hatten ihm außerdem eine Kiste mit kleineren Bildern und Fotografien dagelassen, die er für sie verkaufen sollte.

Er hatte sie durchgesehen und keine große Hoffnung gehabt, die Gemälde gewinnbringend an den Mann zu bringen. Eine Handzeichnung hatte dann schließlich doch seine Aufmerksamkeit erregt. Es handelte sich um eine Art Hexagramm, das mit vielen Symbolen versehen war und einen magischen Hintergrund zu haben schien. Manuelo hatte es beiseite gestellt und die Bilder weiter durchgesehen. Dann entdeckte er eine ältere Fotografie in einem Holzrahmen, die einen Italiener zeigte, der neben zwei gut gekleideten Ausländern vor einem kleinen Haus stand. Er wollte es gerade zur Seite stellen, als sein Blick auf das Haus im Hintergrund fiel. Manuelo hatte dieses Haus schon einmal gesehen, zwar in wesentlich schlechterem Zustand, aber er kannte es. Der bemalte Fensterladen im Hintergrund sagte ihm, dass er Recht hatte. Es handelte sich um das Haus im nahegelegenen Cefalù, das er aus einem anderen Zusammenhang kannte.


Er hatte das Bild längere Zeit betrachtet und schließlich aus dem Rahmen gelöst. Auf der Rückseite der Fotografie war etwas mit Bleistift vermerkt worden „Mr Anger, Mr Kinsey e Guiseppe - 1923“. Manuelo wusste nun, wie er das Bild einzuordnen hatte. Es war bei den Filmaufnahmen von Kenneth Anger in Cefalù entstanden. Sofort erinnerte er sich an das Bild mit der rituellen Zeichnung. Er löste auch diese aus dem Rahmen. Auf der Rückseite waren Vermerke, die ihm zeigten, dass auch dieses aus der Abtei stammen musste. Es war nicht zu ersehen, wer die Zeichnung erstellt hatte, aber Manuelo reichte, dass es von dort stammen musste. Er entschied sich seine beiden „Spezialangestellten“ erneut auf die Sache anzusetzen, um zu sehen, ob in dem Haus, aus dem die Dinge stammten, noch mehr davon zu finden war.


Der größere Mann mit der Strumpfmaske leuchtete mit seiner Taschenlampe durch das wuchtig möblierte Wohnzimmer. An den Wänden waren einige helle Stellen, wo einstmals Bilder gehangen hatten. Viele Gegenstände waren in Kisten verpackt worden, die er sich anschauen sollte. Er schloss aus den Geräuschen, dass auch sein Kollege mittlerweile irgendwelche Dinge zu durchsuchen schien. Er machte sich ebenfalls an die Arbeit. Der Auftrag war klar gewesen. Alles was in irgendeiner Art religiös oder magisch aussehen würde, würde in dem Rucksack verschwinden, den er mitgebracht hatte. Sie wollten gründlich vorgehen, also bemühte er sich jede einzelne Kiste und jeden Schrank zu durchsuchen.


Nach zwei Stunden waren sie am Ende angekommen. Der kleinere von beiden, der auf den Namen Luigi hörte flüsterte: „Hast du etwas gefunden, Paolo?“ Sein Kollege präsentierte zwei ältere Bücher, die er entdeckt und eingepackt hatte. Luigi hatte nichts entdeckt, was zu ihrem Suchauftrag passte. Er hatte nur zwei Fotoalben, die die Bewohner mit ihren Freunden bei irgendwelchen Feierlichkeiten zeigten, mitgenommen. Luigi hatte sich entschieden sie einzupacken und wollte seinem Chef überlassen zu entscheiden, ob dieser damit etwas anfangen konnte. Des Weiteren hatte er auf einer Anrichte eine Notiz entdeckt, die von den neuen Besitzern zu sein schien und verschiedene Adressen von Antiquitätenhändlern und Läden in Sizilien umfasste. Er hatte sie liegen lassen und mit seinem Handy abfotografiert.

Luigi und Paolo trafen sich im Wohnzimmer, durch das sie das Haus betreten hatten. Sie hatten keine Unordnung hinterlassen und es war fraglich, ob die neuen Besitzer den Einbruch überhaupt bemerken würden. Alles war an seinem Platz, außer den wenigen Dingen, die sie in ihren Rucksäcken hatten. Paolo checkte die Balkontür und stellte fest, dass das Schloss wieder schließen würde. Die Beschädigungen von seiner Öffnung waren nur gering - keine Kunst bei so einem einfachen Mechanismus.


Sie huschten ein weiteres Mal durch den Garten und verschwanden über die gleiche Mauer, über die sie gekommen waren. Minuten später saßen sie in einem alten Piaggio Porter und fuhren Richtung Palermo um dort ihrem Auftraggeber zu präsentieren, was sie gefunden hatten.





Catania, Mai 2013 – Ein okkultes Vermächtnis


Gerhard schüttelte zum wiederholten Mal ungläubig den Kopf. „Enzio, auch hier handelt es sich um zwei Werke Crowleys, die den Wert des Tagebuches noch bei weitem übersteigen dürften. Da es sich um zwei Fensterläden handelt, ist eigentlich klar woher sie stammen. Diese Läden müssen Teil von Crowleys Wohnstätte hier in Sizilien, genauer in Cefalù, gewesen sein. Der Ort ist als ‚Thelema Abbey - Abtei von Thelema‘ bekannt geworden, in der Crowley und seine Anhänger einige Jahre sexualmagischen Riten nachgegangen sind. Wie die Gegenstände in den Besitz deiner beiden Kunden gekommen sind, würde ich gerne noch klären. Die meisten Fensterläden, Türen und Artefakte dieses Ortes wurden bereits in den fünfziger Jahren von dem Filmemacher Kenneth Anger und dem Psychologen Alfred Kinsey entfernt. Das noch jemand Teile der Ausstattung im Besitz haben könnte war bisher unvorstellbar, aber wie man sieht, ist nichts unmöglich.“


Gerhard betrachtete die beiden Läden sehr genau. Sie waren in einem unheimlich guten Zustand, was dafür sprach, dass sie sorgsam aufbewahrt worden waren und nicht in einem feuchten Raum gestanden hatten. Da Gerhard seine Canon Kamera nicht dabei hatte, griff er auf sein Smartphone zurück um Bilder von den beiden Läden zu machen. Er fotografierte sie komplett und machte auch einige Detailaufnahmen der Gemälde. Die Figuren waren typisch für den Malstil Crowleys. Sie wirkten naiv und doch gleichzeitig verstörend. Außerdem waren magische Symbole zu sehen. Im Hintergrund der einen Figur war durch ein Fenster der Felsen von Cefalù zu sehen. Gerhard war begeistert und freute sich über diesen Fund. Er war gespannt, was in diesem Nachlass wohl noch alles zu finden war.


Die Farben auf dem Holzuntergrund leuchteten noch immer und Gerhard schloss aus der Anordnung der Scharniere, dass die Läden auf den Innenseiten bemalt worden waren. Er betrachtete erneut die magischen Symbole, die den Boden des gemalten Raumes schmückten. Im Hintergrund war deutlich ein Altar zu erkennen. Vermutlich dienten die Läden in der Abtei als Schmuck für den rituellen Raum, wenn sie geschlossen waren. Gleichzeitig trugen sie den Geist desselben nach außen, wenn man sie geöffnet hatte. Die beiden Läden waren einzigartig. Er hätte nie erwartet jemals auf ein noch unbekanntes Gemälde von Aleister Crowley zu stoßen.


Im Zuge seiner Recherchen über den Templerorden, der bei seinem letzten Abenteuer in Gisors eine bedeutende Rolle gespielt hatte, war er auch immer wieder auf die moderne Freimaurerei und auch auf den O.T.O. gestoßen, den Ordo Templis Orientis, der sich als Erbe des Wissens der Templer verstand. Auch Aleister Crowley war neben William Butler Yeats eines der schillerndsten Mitglieder dieses Ordens gewesen. Gerhard hatte sich mit okkulten Dingen bereits in seiner Jugend beschäftigt und war in Frankreich erstmals wieder mit diesen Dingen konfrontiert worden. Jetzt war er auf Sizilien und schon wieder war ein Zusammenhang zum Steckenpferd seiner Jugend zu erkennen.


Er hatte damals die Biographie ‚The Great Beast – 666‘ von John Symonds gelesen, in der das Leben Crowleys ausführlich beschrieben ist. Ein langes Kapitel in diesem Buch ist seinem Aufenthalt in Cefalù und den teilweise tragischen Ereignissen vor Ort gewidmet. Gerhard war damals fasziniert von der Person Crowleys und er hatte einige seiner Werke gelesen und sich mit dessen Lehren auseinandergesetzt. Das ‚Buch des Gesetzes‘ hatte seiner agnostischen Überzeugung entsprochen und er hatte sich mit Crowleys Tarot, das dieser mit Lady Frieda Harris zusammen gestaltet hatte, eingängig beschäftigt. Eine der Karten, der Mond, hatte Crowley dabei sogar selbst gezeichnet, weil es sich dabei um seine Persönlichkeitskarte gehandelt hatte. Gerhard hatte in dieser Zeit sogar jemanden kennen gelernt, der sämtliche Entscheidungen seines Lebens mit Hilfe dieses Tarotdecks zu treffen pflegte. Schließlich hatte er sogar auf einer Tour mit seiner Jugendliebe eine der Wirkungsstätten Crowleys in Schottland gesehen - eine unwirklich erscheinende Erinnerung. Jetzt stand er vor einem Orginalwerk dieses Mannes und hatte mit einem seiner Tagebücher und seinen Handschriften zu tun, es war unglaublich.


„Kannst du die Besitzer dieser Stücke erreichen Enzio?“, fragte Gerhard. „Ich habe eine Telefonnummer in Rom, wo ich Frau Varni jederzeit erreichen kann - soll ich sie anrufen?“, war Enzios Antwort. Gerhard dachte nach. „Du sagtest, du hättest die Schlüssel zu dem Haus aus dem die Stücke stammen? Können wir morgen dorthin fahren?“ Enzio sah nun sehr nachdenklich aus. Es dauerte einen Moment bevor er antwortete: „Ich habe Auktionen in den nächsten beiden Tagen, aber wir werden in Rom anrufen. Ich werde fragen, ob es in Ordnung ist, wenn du alleine dorthin fährst. Ich gebe dir eins meiner Autos, eins das dir Spaß machen wird! Ich würde dann nach den Auktionen nachkommen.“


Diese Idee fand Gerhard gut. Es wäre hervorragend, wenn sich diese Idee in die Tat umsetzen lassen würde. Sie gingen in Enzios Büro und er führte das Telefonat mit seinen Kunden, während Gerhard mit einer Handkaffeemaschine und einem Wasserkocher zwei Espressi zauberte. Nachdem Enzio aufgelegt hatte, kam er zu Gerhard an den Tisch und griff nach einer der beiden kleinen Tassen. „Dein Urlaub ist gebucht“, sagte er lachend, bevor er an dem Espresso nippte.


Am Abend kehrten sie in Enzios Haus in Mascalucia zurück. Vor dem Gebäude wurden sie von einer schlanken Frau mit pechschwarzen langen Haaren begrüßt und Gerhard war direkt überzeugt, dass es sich bei dieser Schönheit um Enzios Lebensgefährtin handeln musste. „Buongiorno ihr beiden“, rief sie fröhlich über den Hof, während sie aus dem Auto stiegen. Enzio ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. Er küsste sie zärtlich und stellte ihr anschließend seinen alten Freund vor. Gina hatte bereits ein reichliches Abendessen vorbereitet und kurze Zeit später genossen sie gemeinsam die mediterrane Küche und einen guten Rotwein.


Dabei unterhielten sich die drei auf Deutsch, was auch Gina fast akzentfrei und fließend beherrschte. Sie hatte genau wie Enzio lange in Deutschland gelebt und gearbeitet. Die junge Frau war Gerhard sehr sympathisch und er fand sie gab mit Enzio ein schönes Paar ab. Gegen halb elf verabschiedete sich Gerhard ins Bett, weil er am morgigen Tag für die Fahrt über die Insel fit sein wollte. Er nahm noch ein Glas Rotwein mit auf sein Zimmer. Trotzdem lag er dann hier noch längere Zeit wach und dachte über die Tagesereignisse nach. „Schon wieder ein Abenteuer, das nicht abzusehen war“, dachte er und schlief schließlich doch mit einem Lächeln auf den Lippen ein.





Palermo, Mai 2013 - Diebesbeute


Manuelo De Luca hielt die beiden Rucksäcke in den Händen, die Paolo und Luigi ihm vor einigen Minuten gebracht hatten. Für seinen nicht ganz legalen Geschäftszweig gab er gerne Geld aus. Bisher hatte es sich immer gelohnt, wenn er seine Jungs zu Ermittlungen im eigenen Interesse losgeschickt hatte. Er war gespannt, was er in den Rucksäcken vorfinden würde. Manuelo entnahm dem ersten einen alten Lederfolianten und hatte mit ihm ein freimaurerisches Werk in Händen. Druckdatum war 1908. Das Buch hatte in jedem Fall schon einmal einen nicht unbeachtlichen Wert. Die Unkosten für die kleine Expedition seiner Männer waren damit zumindest schon wieder eingespielt.


Die nächsten Gegenstände waren in Manuelos Augen eher dürftig und meist neueren Datums. Sie belegten allerdings das okkulte Interesse ihres früheren Besitzers deutlich. Verkaufen würde er auch diese Sachen können, aber er würde dabei keinen allzu großen Gewinn erzielen. Er nahm den zweiten Rucksack vom Boden und stellte ihn auf den Tisch. Er öffnete ihn und blickte hinein. Manuelo entnahm den ersten Gegenstand und stellte fest, dass es sich um ein altes Fotoalbum handelte. Ein weiterer Blick in den Rucksack offenbarte ihm ein weiteres Fotoalbum. Er legte sie nebeneinander auf den Tisch und blätterte das erste auf. Die meisten Bilder zeigten Familienfeiern und ein Haus, dass nahe der Küste gelegen war. Bei dem Landhaus handelte es sich vermutlich um das Gebäude, in das seine Männer eingestiegen waren. Ein Mann und eine Frau waren auf den Bildern häufig vertreten, genauso wie ein Mädchen, das sich im Laufe des Albums zur jungen Frau entwickelte. Eindeutig die letzten Bewohner des Hauses und deren Tochter. Er hatte die Sachen für den Verkauf von einem Mann gebracht bekommen und vermutete, dass dieses Mädchen nun dessen Ehefrau war.


Er schob das erste Album zur Seite und griff nach dem zweiten, das neben dem ersten gelegen hatte. Als er es aufschlug sah er anhand der Schwarzweißbilder und ihrer Beschaffenheit direkt, dass es sich dabei um das ältere der beiden Alben handeln musste. Er sah verschiedene Straßenansichten von Cefalù und erkannte in einem jungen Mann, den älteren Mann aus dem ersten Fotoalbum wieder. Die ersten Seiten des Albums zeigten Bilder von Fischern, Arbeitern im Hafen und Männern, die in kleinen Lokalen saßen. Manchmal schienen Jahre zwischen den einzelnen Bildern zu liegen. Dann wurde das Album interessanter. Er erkannte Ansichten des Hauses, welches auch in dem Bilderrahmen zu sehen gewesen war, der sein Interesse geweckt hatte. Schnell erkannte er, dass sie alle bei den Filmaufnahmen von Kenneth Anger in Crowleys Tempel in Cefalù entstanden waren. Somit stellten schon die alten Fotos eine gut verkaufbare Besonderheit dar.


Beim Weiterblättern entdeckte er eine leere Stelle im Album und bei der Betrachtung der Fotografie aus dem Bilderrahmen, kam er zu dem Schluss, dass sich das Foto im Rahmen früher dort befunden haben musste. Der Eigner des Hauses war also irgendwie in die Filmaufnahmen Angers involviert gewesen. Das war sehr gut. Manuelo wusste, dass für Crowleiana, so nannte man Orginalgegenstände aus Crowleys Besitz, Unsummen auf dem okkulten Markt bezahlt wurden.


Er betrachtete die alten Fotografien aufmerksam. Er kannte die alte Abtei Crowleys in Cefalù, weil er sie vor Jahren aufgesucht hatte, um zu sehen, ob noch etwas von Wert zu finden war. Das Haus war schon damals in immens schlechtem Zustand gewesen und außer wertlosem Gerümpel hatte er nichts finden können. Die wenigen Gemälde an den Wänden hatte man leider nicht entfernen können. Auf den Bildern waren die nach außen geklappten, bemalten Fensterläden zu sehen, die die Abtei früher geschmückt hatten. Das Haus sah ebenfalls wesentlich besser aus, als er es in Erinnerung hatte. Man bekam durch die Bilder einen Eindruck davon, wie das Gebäude früher ausgesehen hatte. Leider war dies lange Vergangenheit. Die Bilder zeigten das Haus von allen Seiten und Manuelo war irgendwie traurig, dass die Bilder nicht in Farbe waren. Er sah blickte die Bilder lange an. Plötzlich entdeckte er etwas und es wurde ihm heiß, sogar sehr heiß. Er griff nach rechts und fing an nervös in dem anderen Fotoalbum zu blättern. Schnell entdeckte er das, was ihn so in Aufregung versetzt hatte. Er hatte zwei der Fensterläden an der Abbey von Thelema tatsächlich schon einmal gesehen. Hier hingen sie allerdings im Wohnzimmer, im Hintergrund einer Familienfeier, und zwar in Farbe, an einer Wand, und sie befanden sich in dem Haus, in das er seine Leute hatte einbrechen lassen.


Er fingerte sein Mobiltelefon aus der Tasche und hämmerte nervös auf der Tastatur herum. Er öffnete die Dateien, die ihm sein Angestellter vor einigen Stunden bereits per SMS übermittelt hatte. Es waren Bilder aus dem Haus dabei und von Dingen und Gegenständen, die die Männer für interessant befunden hatten, die sie aber unbemerkt nicht hätten abtransportieren können. Er entdeckte ein Bild des Wohnzimmers, dass noch fast genauso aussah, wie es auf der alten Fotografie zu sehen war. Alles war an seinem Platz, die gleichen Stühle und Schränke, nur der Platz an der Wand, wo die Fensterläden hätten hängen müssen, zeigte nur einen hellen Fleck. Manuelo hätte vor Ärger aufschreien können. Der helle Fleck sagte ihm allerdings, dass die Läden dort noch bis vor kurzem gehangen haben mussten. Er dachte kurz nach und dann fiel ihm ein, dass seine Leute auch ein Bild von einer Antiquitätenhändlerliste gemacht hatten, an die die Erben Gegenstände zum Verkauf weitergegeben hatten.


Er scrollte durch die Bilder in seinem Handy und entdeckte das Bild mit der Adressliste verschiedener Antiquitätenhändler, unter denen sich auch seine eigene Adresse befand. Hinter den einzelnen Einträgen waren Vermerke eingefügt, aus denen er schnell schließen konnte, dass jeder Händler Gegenstände zur Veräußerung bekommen hatte. Ihn interessierte dabei allerdings nur ein einziger Eintrag: ‚Enzio Milanore, Catania, Bücher und Gemälde.‘





Nepal, September 1905 – Das Unglück


Der junge Mann blickte über das steile Schneestück nach oben und konnte den Gipfel des Kanchenjunga gut erkennen. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis sie diesen erreichen konnten. Er blickte zurück auf die Gruppe von Männern, die mit ihm unterwegs waren. Sie bestiegen den Berg über die Südwestflanke, was bisher noch niemand versucht hatte. Die Gruppe war in keiner guten Verfassung. Er hatte sich bereits mehrfach mit den Trägern angelegt, die seiner Meinung nach ihren Job nicht richtig erledigten, dabei verlangte er lediglich früh morgens aufzubrechen, weil die Gefahr von Lawinen dann wesentlich geringer war, weil die Schneefelder nicht von der Sonne angetaut waren. Einige der Expeditionsteilnehmer hatten ihn wegen seinem Vorgehen schon angesprochen und um Mäßigung gegenüber den Nepalesen gebeten.


Anfangs hatten die meisten Expeditionsteilnehmer ihn noch mit seinem Vornamen, Edward, angesprochen. Mittlerweile waren die meisten dazu übergegangen seinen Nachnamen zu verwenden. Er konnte und wollte sie nicht verstehen. Er trug die Verantwortung für die gesamte Expedition und musste sehen, dass alles in geordneten Bahnen verlief und sämtlichen Teilnehmern die größtmögliche Sicherheit geboten war. Die Träger diesbezüglich zur Ordnung zu rufen gehörte zu diesem Job dazu. Immerhin befanden sie sich hier bei einer ernstzunehmenden Besteigung des dritthöchsten Berges der Welt, wo ein Fehler mit dem Leben bezahlt werden konnte. Die Qualität der Träger, die man für die Expedition ausgesucht hatte, zeigte sich mittlerweile mehr als deutlich. Mehr als die Hälfte der zweihundertdreißig angeheuerten Männer war in den letzten Wochen bereits verschwunden und sie mussten das Gepäck auf die restliche Mannschaft verteilen. Daran konnte man sehen, dass er in Bezug auf deren Qualität Recht behalten hatte. Deshalb war er auch der Meinung, dass man ihm bezüglich seines Umgangs gegenüber den Männern nichts vorzuwerfen hatte. Er sah sich auf dem Plateau um, das sie soeben erreicht hatten. Sie würden an dieser Stelle campieren müssen, weil sich der Tag dem Ende neigte. Er gab die Anweisung das Lager aufzuschlagen. Dann bereiteten sie sich in ihrem fünften Camp, das über 21000 Fuß hoch lag, auf eine kalte Nacht vor.


Als Edward am nächsten Morgen vor das Zelt trat, kam einer der Träger auf ihn zu und teilte ihm mit, dass sein Sohn am Morgen das Lager verlassen hatte, weil er sich krank fühlte. Das war endgültig zu viel für Edward. Er schlug zuerst mit einem Stiefel nach dem Träger und schließlich mit einem Skistock, der neben ihm gestanden hatte. Dann hielt er ein und sank verzweifelt in den Schnee. Der Träger hatte geschrien, aber er hatte ihn nicht verletzt, da war er sich sicher. Er dachte nach. Die Leitung der Expedition wurde immer schwieriger und unter diesen Bedingungen war ein erfolgreiches Beenden der Besteigung in weite Ferne gerutscht. Seiner Ansicht nach war die Expedition an diesem Punkt gescheitert. Er konnte weiter oben am Berg Charles Reymond, einen der beiden Schweitzer Armeeoffiziere, sehen, der bereits dabei war weiter aufzusteigen. Er beschloss seine Sachen zu packen und mit den anderen aus dem Lager zu folgen. Wenn sie später zusammen waren, wäre es notwendig die Umstände der Expedition weiter zu erläutern.


Einige Zeit später erreichte er Reymond. Es hatte wieder begonnen zu schneien und ein eisiger Wind jagte über das Eisfeld auf dem sie sich befanden. Er führte nur ein kurzes Gespräch mit ihm. Reymond wollte mit einem anderen Mann weiter versuchen aufzusteigen und ließ sich von diesem Vorhaben nicht abbringen. Edward war allerdings der Meinung, dass aufgrund der Witterungsverhältnisse eine Rückkehr zu ihrem letzten Lager die einzige sinnvolle Lösung war, zumal sie dort noch auf Proviant aus ihrem vorherigen Lager warteten. Ein weiterer Bergsteiger der Gruppe, Pache, folgte den beiden Unbelehrbaren und passierte ihn auf seinem Weg nach oben. Er sah den Männern noch einen Moment nach und dann stieg er wieder ab.


Nach einigen Metern kam er an eine flache Stelle unterhalb eines Felsüberhangs. Bis hierher waren ihnen zwei Träger mit Gepäck gefolgt. Er passierte sie und setzte seinen Weg nach unten fort, bis er das Camp wieder erreicht hatte. Er stellte seine Sachen in seinem Zelt ab und dachte darüber nach, wie es weitergehen sollte. Im Lager war außer ihm niemand mehr. Er ging davon aus, dass die übrigen Träger ebenfalls in das tiefergelegene Lager abgestiegen waren, in dem sich noch immer der größte Teil des Proviants befand.


In Anbetracht der Lage bestand für ihn die einzig vernünftige Lösung im Abbruch der Expedition, zumal einige der Teilnehmer so gut wie keine Erfahrung im Bergsteigen hatten – schon gar nicht in solch schwierigem Gelände. Er stand noch immer vor seinem Zelt und blickte nach oben, konnte aber im Schneetreiben die übrigen Männer oberhalb von sich nicht mehr ausmachen. Er hoffte sie würden umkehren und wieder zum Lager herunterkommen. In diesem Moment sah er zwei Männer den Berg heraufkommen. Mit dem ersten Blick konnte er nicht sicher sagen, wer den Hang heraufkam, aber schon nach einigen Minuten war ihm klar, dass es sich um seinen früheren Teamkollegen von einer K2-Expedition, Jacot Guillarmod und De Rhigi, handeln musste, die im Lager unterhalb verweilt hatten. Er war allerdings etwas verwundert, weil sie keine Träger bei sich hatten.


Als sie ihn erreichten fing, Jacot direkt an ihm Vorwürfe darüber zu machen, dass er am Morgen den Träger geschlagen hatte. Die übrigen Träger wollten aus diesem Grund die Expedition verlassen. Er warf ihm vor, dass sein Verhalten zunehmend untragbarer geworden sei und man sei sich einig, ihm die Leitung der Expedition ab diesem Punkt zu entziehen.


Edward verteidigte sein Handeln kurz und heftig und versuchte seine Sicht der Dinge klar zu machen. Mit den beiden Männern war allerdings nicht zu reden. Sie beschimpften ihn und machten ihn für die Situation verantwortlich. Sie teilten ihm mit, dass sie in den nächsten Minuten mit den restlichen Männern, von denen sie annahmen, dass sie ins Lager zurückkehren würden, wieder zum vorherigen Lager abzusteigen gedachten um dort das weitere Vorgehen zu planen. Er versuchte ihnen von diesem Abstieg abzuraten, da er die Lawinengefahr am späten Nachmittag für zu groß hielt. Doch niemand hörte mehr auf ihn. Mittlerweile sah man das Reymond, Pache und die Träger zum fünften Lager zurückkehrten. Guillarmod ging den Männern entgegen. Da man ihm die Leitung entzogen hatte, drehte Edward sich um und tauchte durch den Eingang in sein Zelt hinein.


Er hatte beschlossen sich auszuruhen, um für den Abstieg, den er für den morgigen Tag plante, vorbereitet zu sein. Er würde jedenfalls jetzt nicht mit den anderen zum nächsten Lager absteigen. Nicht um diese Uhrzeit, dann würde er es lieber am nächsten Tag alleine versuchen. Er hörte die Männer draußen diskutieren. Reymond und Pache wurden über die Situation und den Führungswechsel aufgeklärt. Er konnte dem Gespräch entnehmen, dass De Rhigi die Expedition gänzlich abbrechen wollte und dass Reymond mit zwei Trägern über Nacht im fünften Basiscamp verbleiben sollte. Man konnte hören, dass sich die übrigen Männer darauf vorbereiteten aufzubrechen, obwohl es bereits nach fünf Uhr war. Edward hielt dies immer noch für absoluten Wahnsinn. Er beschloss sich schlafen zu legen, zog seine Stiefel aus und rollte sich in seinem Schlafsack ein. Zumindest würde er am nächsten Tag doch nicht alleine absteigen müssen.


Reymond spannte draußen sein Zelt nach, um sich ebenfalls auf die Nacht vorzubereiten, als er Rufe vom Berghang unterhalb hörte. Er kletterte an den Rand des Camps und blickte hinunter. Er sah zwei Männer, die er als De Rhigi und Guillarmond identifizierte. Sie standen an einem Feld, wo eine Lawine niedergegangen war und riefen um Hilfe. Reymond konnte keinen weiteren Mann ausmachen. Er rannte zurück zu seinem Zelt und sammelte seine Sachen zusammen, um den anderen zu Hilfe zu eilen.


Das Geräusch am Eingang seines Zeltes ließ Edward aufschauen. Er sah Reymond in der Dämmerung stehen und aufgeregt von einer Lawine am Hang unter ihnen reden, die einige der absteigenden Männer mit sich gerissen habe. Er forderte ihn auf seine Sachen zu packen um mit ihm zusammen den Kameraden am Hang zu helfen. Edward überlegte kurz und sprach dann aus, dass er den Abstieg von Anfang an für unvernünftig gehalten hatte. Gleichzeitig versuchte er Reymond klar zu machen, dass ein Abstieg und eine Suche im Lawinenfeld viel zu gefährlich wären. Edward redete noch immer auf ihn ein. Mittlerweile war es fast dunkel und die Gefahr noch weitere Lawinen am Hang auszulösen war enorm hoch. Selbst wenn sie jetzt direkt losgehen würden, wäre es restlos dunkel, wenn sie die Gruppe erreichten. Eine Suche nach Verschütteten war somit sowieso unmöglich und ein Auf- oder Abstieg einem Blindflug gleichzusetzen. Reymond wollte nicht auf ihn hören und fing an ihn als Kameradenschwein zu beschimpfen. Er hatte keinerlei Gehör für seine Argumente und wollte die Sinnlosigkeit einer Suche unter diesen Voraussetzungen nicht einsehen. Er war einfach nicht zur Vernunft zu bringen. Reymond griff nach seinen Sachen und winkte ab, dann verließ er fluchend das Lager.


Edward blickte ihm nach, würde ihm aber nicht folgen. Eine Suche um diese Uhrzeit und das Klettern bei Nacht im Berghang war aus bergsteigerischer Sicht das Unvernünftigste was man machen konnte. Er kehrte in sein Zelt zurück und rollte sich wieder im Schlafsack ein. Er würde so früh wie möglich am nächsten Tag aufbrechen, um zu sehen, was man vor Ort noch tun konnte, aber sicher nicht jetzt. Große Hoffnung eventuell verschütteten Kameraden noch helfen zu können hatte er allerdings nicht. Er hoffte, dass wenigstens die anderen ein rettendes Lager erreichen würden.


Am nächsten Morgen blickte er sehr früh aus seinem Zelt. Die Dämmerung hatte eingesetzt und er konnte am aufgeschlagenen Zelt von Reymond erkennen, dass dieser nicht zurückgekehrt war. Er packte seine Sachen zusammen und machte sich an den Abstieg. Schon von weitem konnte er das Feld sehen, an dem die Lawine abgegangen war. Er sah Reymond, De Rhigi und Guillarmond mit einigen Trägern zusammen, die gerade das Lawinenfeld erreicht hatten. Somit waren sie in der Nacht ebenfalls nur noch gemeinsam in das tiefergelegene Lager abgestiegen. Sie gingen mit Schaufeln in die Fläche hinaus und begannen zu graben. Er blickte nach oben in die angrenzenden Schneefelder und konnte sie eigentlich nur für verrückt erklären. Überall drohten sich weitere Schneefelder zu lösen und auch die Suchenden in die Tiefe zu reißen.


Er schüttelte den Kopf. Man würde nach so langer Zeit sowieso nur noch Leichen bergen können und es würden noch einige hinzukommen, wenn sich wieder ein Schneebrett lösen würde. Er stoppte kurz und blickte zu den Männern hinüber, setzte seinen Abstieg dann aber weiter fort. Er hatte nicht vor sein Leben aufs Spiel zu setzen, auch wenn ihm die Männer, die umgekommen waren, leid taten. Er hatte eine lange Zeit mit ihnen verbracht und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte niemand am Berg bleiben müssen.


Später erfuhr er mehr über den Hergang des Unglücks, da es in den Zeitungen der Welt diskutiert wurde. Die Lawine hatte sich am Berghang gelöst und einer der Träger war in die rutschenden Schneemassen geraten. Kurz darauf wurde der nächste Träger der Seilschaft mitgerissen. Die gesamte Gruppe hatte sich beim Abstieg an nur einem Seil angebunden und so nahm das Unglück seinen Lauf. Einer nach dem anderen wurde von der Lawine mitgerissen, bis sich die ganze Gruppe im Rutschen befunden hatte. Guillarmond hatte verzweifelt versucht sich irgendwo festzuhalten, weil er der letzte Mann am Seil gewesen war, aber schließlich wurde auch er von den Schneemassen fortgetragen. Er konnte sich allerdings an der Oberfläche der Lawine halten und nach einem letzten Sturz über eine Eiswand konnte er De Rhigi, der vor ihm am Seil gehangen hatte, aus einem Schneehaufen befreien, in dem er bis zur Hüfte festgesteckt hatte. Von den drei Trägern und Pache war nichts mehr zu sehen gewesen und das Seil verschwand im Schnee. Sie hatten versucht sie auszugraben, aber erfolglos. Am nächsten Tag war es ihnen dann unter höchsten Gefahren gelungen die Leichen aus drei Metern Tiefe zu bergen. Zu Beginn dieser Suche hatte Edward die Gruppe passiert.


Die Zeitungen und der englische Alpenverein diskutierten die Umstände noch lange. Edwards Sicht der Dinge wurde als moralisch verwerflich eingestuft und er wurde aus dem Alpenverein als Mitglied ausgeschlossen. Die Argumente der anderen Expeditionsteilnehmer hatten bei der Presse mehr Gewicht, als seine sachliche Meinung zu dem Vorfall. Er bezeichnete es sogar als Dummheit, dass die Gruppe abgestiegen war. Dies brachte ihm weitere Kritik ein und man warf ihm vor egoistisch und unprofessionell gehandelt zu haben. Er sah dies sein Leben lang anders und behandelte den Vorfall in seinen Memoiren sehr ausführlich. Letztendlich wurde er aber den schlechten Ruf diesbezüglich nie wieder los und der Vorfall wurde später bei jeder Gelegenheit wieder herangezogen, in der die Presse ihm Böses vorwarf. Und fürwahr, von diesen Gelegenheiten sollte es in seinem Leben noch viele geben.





Sizilien, Mai 2013 - Das Landhaus


Gerhard hatte eine Wegstrecke durch das sizilianische Inland gewählt und fuhr an den Ausläufern des Ätna entlang in Richtung Troina. Enzio hatte ihm nicht zu viel versprochen, als er ihm gesagt hatte, der Wagen, den er ihm geben würde, würde ihm große Freude bereiten. Dass Gerhard auf ältere Fahrzeuge stand, wusste Enzio sehr gut. Dass dieser aus der Garage einen alten Alfa Romeo Giulia Spider hervorzaubern würde, damit hatte Gerhard dann aber doch nicht gerechnet. Das kleine rote Auto hatte alles, was ein alter Sportwagen haben musste. Er war ausgesprochen gut in der Beschleunigung und sein Motor hatte einen satten Sound. Das Armaturenbrett war mit drei runden Anzeigen vor dem Holzlenkrad versehen und ansonsten durchgängig in Wagenfarbe lackiert. Enzio, hatte im Handschuhfach versteckt, ein neueres Autoradio installieren lassen, mit dem man bereits MP3-Dateien abspielen konnte. Das war Gerhard sehr entgegengekommen und er hatte seinen Player mit dem Autoradio verbunden. Er hörte die alte Marillion Scheibe ‚Misplaced Childhood‘ und genoss jeden Kilometer seiner Fahrt mit der Performance dieser einzigartigen Band.


Nach anderthalb Stunden hatte Gerhard die Stadt Troina passiert. Die warme Luft und die Fahrt im offenen Cabriolet steigerten seine Laune erheblich. Er hatte seinen Zielort Termini Imerese in sein Handynavigationssystem eingegeben und es im geöffneten Aschenbecher des Wagens platziert. Er konnte sehen, dass er noch etwas mehr als zwei Stunden unterwegs sein würde, um sein Fahrtziel zu erreichen. Er hielt an einer Tankstelle an um den Wagen zu betanken. Im Inneren der Tankstelle orderte er bei dem Verkäufer ein Päckchen Zigaretten, weil er wieder einmal die Lust verspürte zu rauchen. Aus einem Kühlschrank hatte er vorher noch eine noch kalte Flasche Bier herausgenommen, die er genüsslich während der Fahrt zu trinken gedachte. Er zahlte seinen Einkauf und die Tankrechnung. Er trat danach aus dem Verkaufsraum in den strahlenden Sonnenschein hinaus und freute sich erneut über diesen wundervollen Tag. Nachdem er den Motor gestartet hatte, öffnete er das Bier, nahm einen Schluck und begab sich auf die zweite Etappe seiner Fahrt, die ihn zum Schluss an der Nordküste entlang nach Termini Imerese führen würde.


Gerhard hatte ein wenig suchen müssen und sich mit Händen und Füssen zu dem kleinen Haus, dass auf einer kleinen Landzunge vor der Bahnlinie am Meer lag, durchgefragt. Nach einer abenteuerlichen Fahrt durch die winzige Durchfahrt unter der Bahnlinie und den engen Weg, bog er in die Grundstückseinfahrt des Hauses ein und konnte dahinter das blaue Meer in der Sonne glitzern sehen. „Ein traumhafter Ort“, dachte er und freute sich auf die Zeit, die er hier verbringen würde. Er parkte den Alfa vor dem Haus und nahm seine kleine Reisetasche aus dem Kofferraum.


Er ging eine breite Steintreppe zur Haustür hinauf und schloss diese mit dem Schlüssel auf, den Enzio ihm überlassen hatte. Danach stand er in einem ausladenden Flurbereich und musste das Licht anschalten, da sämtliche Fensterläden des Hauses scheinbar geschlossen waren. Er ging in einen großen Raum auf der linken Seite und befand sich in einem großen Wohnzimmer. Durch ein kleines Fenster in der Tür, die nach hinten in den Garten führte, fiel ein klein wenig Licht in den Raum. Er ging zu den Fenstern und öffnete die Läden. Danach schloss er die Terrassentür auf und trat in die Sonne hinaus. Ein phantastischer Blick über die Küstenlinie und das Meer bot sich ihm dar. Sein Auftrag gefiel ihm von Minute zu Minute besser.

Er ließ die Balkontür offen stehen um frische Luft ins Haus hereinzulassen und ging dann zurück in den Flur, wo seine Reisetasche stand. Er nahm sie in die Hand und ging in den ersten Stock hinauf. Er fand schnell ein Schlafzimmer mit einem großen Bett, das mit einer Tagesdecke abgedeckt war. Er öffnete auch hier die Läden und die Tür zu einem kleinen Balkon, der oberhalb der Terrasse lag. Von hier war der Blick fast noch schöner als von der Terrasse, da man über die Bäume und Hecken des Gartens hinwegsehen konnte.


Er wendete seine Aufmerksamkeit dem Bett zu und entfernte die schwere Tagesdecke. Das Bett war nicht bezogen, aber er fand alles Nötige dazu in einem Schrank an der rechten Seite des Zimmers. Er bezog die Matratze und das Bettzeug und stellte seine Tasche auf einem alten Holzstuhl ab. Danach unterzog er das Haus einer ersten Inspektion und öffnete dabei in allen Räumen die Fensterläden. Neben seinem Schlafzimmer fand er ein kleines, scheinbar frisch renoviertes, Badezimmer und im Erdgeschoss entdeckte er eine kleine Küche, die alle Annehmlichkeiten bot, um es sich hier in den nächsten Tagen gut gehen zu lassen. Er beschloss erst einmal einkaufen zu fahren und die Verpflegung sicher zu stellen. Danach würde er sich in dem Haus genauer umsehen.


Schnell hatte er im Ort einen kleinen Laden gefunden, in dem er Brot, Aufschnitt, Käse, Nudeln, Tomatensoße, Früchte und Gemüse einkaufen konnte. Auch ein paar Flaschen Wein waren in seinen Einkaufswagen gewandert, den guten Whisky vom Flughafen hatte er schon im Haus deponiert. Er hatte auch zwei Postkarten gegriffen, weil er seiner Freundin Jasmin, ihrem Lebensgefährten Lukas sowie Jacques, die er bei seinem letzten Abenteuer in Frankreich kennengelernt hatte, Urlaubsgrüße schreiben wollte.


Gerhard zahlte seine Waren an der kleinen Theke und kehrte in das Landhaus zurück. Er räumte seine Einkäufe in den Kühlschrank und suchte dann nach einem Korkenzieher für die Weinflaschen. Er bereitete sich ein paar Brote vor und suchte sich ein Weinglas aus dem Küchenschrank heraus. Dann ging er mit seinem Teller, dem Glas und der Flasche sizilianischem Rotwein auf die Terrasse hinaus. Es war mittlerweile später Nachmittag und er setzte sich an einen kleinen Gartentisch, der auf der Terrasse stand. Er begann zu essen und goss sich ein großes Glas Wein ein. Dann schrieb er die Postkarten an seine Freunde, während er genüsslich sein Glas leerte. Danach lehnte er sich zurück und die Sonne schien ihm ins Gesicht. Es war ihm wieder einmal bewusst, dass das Leben doch schön sein konnte.


Wenig später hatte er sich im Haus ein wenig umgesehen und mit seiner Canon-Kamera einige Bilder der Räume und verschiedener Gegenständen gemacht. Jetzt hatte er vor, den Tag gemütlich ausklingen zu lassen. Draußen begann es schon zu dämmern. Er holte sich eine Kerze auf die Terrasse und zog seinen Tablet-PC aus der Tasche hervor um noch etwas zu lesen. Er hatte sich in Catania bereits einige Texte und Bücher heruntergeladen, die sich mit Aleister Crowleys Zeit in Sizilien beschäftigten. Er war fasziniert und gleichzeitig entsetzt, über das, was sich während seiner Zeit in Sizilien zugetragen hatte. Das Zusammenleben in Crowleys Abtei war durch rituelle Magie und unzählige Exzesse unter Einfluss von Drogen geprägt gewesen. Die Ausschweifungen hatten beängstigende Formen angenommen und durch Krankheiten waren Crowleys Tochter und einer seiner Anhänger in dem Haus verstorben. Die Bevölkerung in Cefalù hatte die Gemeinschaft gemieden. All diese Umstände hatten schließlich dazu beigetragen, dass die Presse sich auf die Vorgänge in der Abtei gestürzt hatte, um das Ganze aufzubauschen und noch schlimmer darzustellen. Das hatte nicht unwesentlich zu Crowleys beängstigendem Ruf beigetragen, der ihn sein Leben lang verfolgte. In diesem Umfeld waren viele seiner Gemälde entstanden. Er hatte Wände, Türen, Fensterläden und Böden des Hauses bemalt und das Haus immer mehr zum Tempel seiner Magie gemacht. Zum Schluss hatte er dann alles verloren, weil man ihn wegen der negativen Presse aus Italien ausgewiesen hatte.

Gerhard ließ das Gelesene auf sich wirken. Er fand die Geschichte ausgesprochen tragisch und dachte darüber nach, wie dieser seltsame Mann auf die Bewohner Cefalùs gewirkt haben musste. Er holte die Flasche Whisky aus der Küche und schenkte sich einen guten Schluck ein. So hing er noch einige Zeit unterschiedlichsten Gedanken nach, während einige Gläser des dunklen Getränks seinen Magen wärmten. Schließlich ging er müde und nachdenklich zu Bett.





Palermo, Mai 2013 - Okkulte Kostbarkeiten


Manuelo legte den Telefonhörer beiseite. Er hatte über die Mitbringsel aus dem Haus in Termini Imerese eine Nacht geschlafen und sich entschieden seine Leute für die ‚Spezialaufträge‘ ein weiteres Mal zu engagieren. Deshalb hatte er gerade mit Paolo telefoniert. Er hatte ihn gebeten sich im Laufe des Tages mit Luigi bei ihm im Büro zu melden. Gleich zwei Aufträge gedachte er den beiden zu erteilen. Einen leichten und einen schwierigeren, von dem er sich allerdings einen großen Profit versprach. Nun stand er mit seinem kleinen Notizbuch, in dem er all seine Geschäftskontakte notierte im Büro und dachte nach. Wem konnte er die Stücke anbieten, von denen er gedachte sie in seinen Besitz zu bekommen. Außerdem sollte dabei ein möglichst großer Gewinn für ihn übrig bleiben. Er dachte an zwei Adressen, mit denen er gute Erfahrungen gemacht hatte. Ein Händler war in New York und ein anderer in Dänemark. Er sah auf die Uhr und wählte danach die Telefonnummer in New York.


Es meldete sich eine Stimme am anderen Ende: „Jack Carpenter.“ Manuelo fiel ins Englische, dass stark durch seinen italienischen Akzent geprägt war: „Hello Jack, here is Manuelo from Palermo. I have some very seldom artefacts to offer - listen“, und er berichtete ihm, welchen Gegenständen er auf der Spur war. Jack war begeistert. Er kannte einige Leute aus der okkulten Szene, die eine Menge Geld für diese Dinge hinblättern würden. Das war das, was Manuelo gehofft hatte. Nach zehn Minuten legte er zufrieden auf. Morgen würde er auch noch in Dänemark anrufen und andere Geschäftsfreunde kontaktieren, bei denen er dachte, dass sie auch potentielle Kunden für solche Dinge haben könnten. Danach würde er sich überlegen, wie er das meiste Geld aus dem Verkauf herausschlagen konnte. Jetzt war es vordringlich wichtig mit Paolo und Luigi zu reden und zu hoffen, dass sie ihm das besorgen konnten, worauf er spekulierte. Einen Markt für ein Geschäft zu haben war nämlich das Eine und die passende Ware zu besitzen das Andere.


Am späten Nachmittag stellten sich die beiden Männer bei ihm im Büro ein. Er bot Luigi und Paolo einen Kaffee an. Dieses Angebot nahmen die beiden gerne an. Ihm war ein gutes Verhältnis zu seinen Leuten immer wichtig, weil diese Männer für ihn unentbehrlich waren. Immerhin stützte sich ein großer Teil seines Geschäftes auf sie und ihre Arbeit. Er bereitete den Kaffee zu und nahm sich selbst auch eine Tasse des heißen Getränks. Sie gingen in eine Ecke seines Büros und er setzte sich mit ihnen an den dort stehenden Besprechungstisch. Er erklärte zuerst, dass sie noch einmal in das Haus in Termini Imerese zurückkehren mussten. Sie sollten dort ihr Augenmerk vor allem auf Fotografien und handschriftliche Notizen legen und alles einsammeln, was sie finden konnten. Die beiden Männer lächelten sich an, weil sie sich sicher waren, dass dies ein Sparziergang werden würde. Solche Aufträge liebten sie.


Danach erläuterte Manuelo den zweiten Auftrag, der wahrscheinlich um einiges schwieriger sein würde. Er legte den beiden einen Zettel mit einer Adresse, in der Via Cristoforo Colombo, in Catania vor. Jetzt zeigte er den Männern verschiedene Bilder aus den Fotoalben, die sie ihm aus dem Haus in Termini Imerese mitgebracht hatten. Er erläuterte ihnen, dass er die Vermutung hatte, dass die Gemälde auf Holzläden, die früher im Haus an den Wänden gehangen hatten, bei dieser Adresse in Catania verkauft werden sollten. Sie sollten das Geschäft überprüfen und die Bilder zu ihm bringen, falls sie sie dort entdecken würden. Wie sie das anstellten war ihm eigentlich egal. Danach erläuterte er Luigi und Paolo noch, in welchem Zeitrahmen er sich das Ganze vorstellte.


Die beiden Männer sollten bereits in der nun folgenden Nacht nach Termini Imerese fahren, um dem Haus einen erneuten Besuch abzustatten. Danach sollten sie nach Catania fahren und den Antiquitätenladen unter die Lupe nehmen, um auch diesen Job schnellstmöglich zu erledigen. Manuelo hoffte, dass alles in drei Tagen erledigt sein würde. Falls das Vorhaben so ablief, wie er es sich vorstellte stand anschließend einem lukrativen Geschäft nichts mehr im Wege.


Nach dieser Besprechung war Manuelo ausgesprochen zufrieden. Er zahlte Paolo und Luigi einen großzügigen Vorschuss für ihre Dienste und freute sich insgeheim darauf die Sachen, die er zu ergattern hoffte, in den Händen zu halten. Das dabei etwas schief gehen könnte, hatte er überhaupt nicht eingeplant. Seine beiden Leute hatten bisher immer zuverlässig ihre Aufträge erfüllt. Vielmehr rechnete Manuelo sich schon zum wiederholten Male aus, was er an den Sachen verdienen würde. Er war stolz darauf wieder einmal den richtigen Riecher gehabt zu haben.





Termini Imerese, Mai 2013 – Das Zusammentreffen


Luigi und Paolo kletterten über die Mauer hinter dem Haus in Termini Imerese, über die sie bereits zwei Tage zuvor gestiegen waren. Den Fiat Ducato, den Manuelo ihnen mitgegeben hatte, hatten sie in einem Feldweg vor den Bahnschienen geparkt, weil sie mit ihm nicht durch die schmale Bahnunterführung hätten fahren können. Für die sizilianischen Straßen war ihr alter kleiner Piaggio deutlich besser geeignet.


Sie huschten in der Deckung von Büschen und Pflanzen ein weiteres Mal durch den Garten, obwohl sie dabei nicht erwarteten gesehen zu werden. Vorsicht war bei ihren Jobs allerdings immer der beste Ratgeber. Sie erreichten die Terrasse und näherten sich der Tür. Luigi setzte gerade den Schraubenzieher wieder am Türblatt an, als Paolo ihn anstieß. Er sah ihn fragend an.


Paolo deutete auf den kleinen Tisch und einen Stuhl, der auf der Terrasse stand. Auf der Tischplatte stand zudem ein benutztes Rotweinglas. Das war vor zwei Tagen noch anders gewesen. Der Stuhl und der Tisch hatten damals zusammenklappt an der Wand gestanden. Jemand war hier gewesen, somit war die bereits eben geübte Vorsicht angebracht gewesen. Beim Blick auf das Haus stellten sie außerdem fest, dass einige der Fensterläden geöffnet worden waren. Luigi widmete sich wieder der Tür und bemühte sich nun besonders leise zu sein. Die Tür schnappte auf und sie betraten das Wohnzimmer. Sie öffneten leise Schränke und Kommoden und bemühten sich bei ihrer Suche schnell und geräuschlos vorzugehen. Einige kleine Fotografien, die noch in Rahmen an der Wand hingen, verschwanden geräuschlos in ihren Rucksäcken.


Als sie die Küche betraten bemerkten sie, dass sich noch mehr verändert hatte. Benutztes Geschirr stand auf der Spüle und eine Flasche Whisky stand auf der Anrichte. Luigi näherte sich der Flasche, entkorkte sie und grinste Paolo an, nachdem er an ihr gerochen hatte. Er nahm ein Wasserglas, schenkte eine gute Menge ein und trank. Paolo schüttelte den Kopf und bedeutete ihm, dass keine Zeit für Vergnügungen sei und setzte die begonnene Suche fort. Luigi ließ sich nicht beirren und genoss den intensiven Geschmack des Single-Malt-Whiskys, bevor auch er sich wieder auf die Suche begab.


Im Flur entdeckten sie eine Jacke und in deren Innentasche einen Geldbeutel. Paolo untersuchte es und fand eine deutsche Visitenkarte. Er nahm sein Mobiltelefon und machte ein Bild davon, bevor er den Geldbeutel wieder in die Tasche der Jacke steckte. Er widerstand dem Bedürfnis das Geld an sich zu nehmen, weil er hoffte, dass sie das Haus wieder unentdeckt verlassen würden. Die Visitenkarte würde ihren Auftraggeber aber sicher interessieren. Die beiden Männer waren sich jetzt natürlich darüber im Klaren, dass sich jemand im Haus aufhalten musste. Sie verständigten sich leise und entschlossen sich, die beiden Schlafzimmer im oberen Stockwerk von der Suche auszusparen, um zu vermeiden, dass sie entdeckt würden. Paolo würde allerdings leise nach oben schleichen und sich in dem oben gelegenen Arbeitszimmer umsehen, während Luigi die restlichen Zimmern des Erdgeschosses und den Keller untersuchen wollte. Sie waren sich einig, dass sie sich dabei beeilen sollten, um möglichst schnell wieder aus dem Haus verschwinden zu können.


In diesem Moment wurde Gerhard im oberen Stockwerk wach und hatte einen fürchterlichen Geschmack im Mund. Er hatte die ganze Flasche Rotwein ausgetrunken und einiges an Whisky hinterher geschüttet. Wie es ihm häufiger geschah, waren seine Gedanken in die Vergangenheit abgeschweift und die Erinnerungen an die unterschiedlichsten Lebensereignisse hatten ihn wieder einmal zum übermäßigen Trinken animiert. Er hatte dabei immer das Gefühl, zu oft im Leben gescheitert zu sein. Er wünschte sich einfach mehr Normalität. Allerdings konnte er das bei seinem Lebensstil nicht wirklich erwarten. Eine Frau zu finden, die ihn mit all seinen Macken akzeptierte, würde sich auf sein Grundgefühl sicher positiv auswirken. Die Schwierigkeit bestand allerdings darin, eine solche Frau zu finden. Er hatte sich ein Junggesellenleben angewöhnt, das zum Trost immer einen guten Schluck als Lösung parat hielt. Allerdings je mehr er trank, desto mehr ergab er sich dann seinem Selbstmitleid. Solche Abende endeten dann immer so, wie es auch am Abend zuvor geendet hatte. Das Ergebnis war dann immer das gleiche, er ging betrunken zu Bett und bereute es schon in dem Moment, wenn er wach wurde.


Er hasste es mit diesem Gefühl wach zu werden und er hatte wie immer immensen Durst. Wie so oft hatte er nichts zu Trinken mit ans Bett genommen und er würde aufstehen müssen um seinen trockenen Mund los zu werden. Lust hatte er dazu keine, zumal bereits heftige Kopfschmerzen eingesetzt hatten. Gerhard quälte sich hoch und setzte die Füße vor sein Bett. Er saß einen ganzen Moment da, bevor er aufstand. Dann schlich er zur Tür und gelangte mit unsicheren Schritten ins Treppenhaus. Hier war es nur mäßig dunkel, weil der Vollmond durch ein großes Fenster schien. Gerhard tastete sich Richtung Treppe. Als er die erste Stufe nehmen wollte, nahm er vor sich noch eine schnelle Bewegung wahr, bevor er einen heftigen Schlag versetzt bekam, der seinen Kopf zum Explodieren zu bringen schien und er auf den Rücken fiel.


Paolo war die Treppe noch nicht ganz nach oben gegangen, als sich eine Tür öffnete und ein Mann in Unterhosen und T-Shirt schwankend den Treppenabsatz betrat. Er machte zudem einen völlig verschlafenen Eindruck während er sich unsicher auf die Treppe zubewegte. Er würde unweigerlich mit ihm aufeinander treffen. Paolo duckte sich sofort um nicht gleich gesehen zu werden. Als der Mann die Stufen erreichte, sprang er auf und schlug mit der Faust so hart er konnte zu. Er traf den Mann am Kinn und dieser stöhnte auf. Er stürzte nach dem Schlag auf den Rücken und blieb in dieser Position liegen. Paolo schnellte nach vorne und wollte direkt einen zweiten Schlag nachlegen um ihn endgültig außer Gefecht zu setzen. Danach würde er mit Luigi schnellstmöglich das Weite suchen müssen. Er wollte sicher gehen, dass er den Mann kampfunfähig machen würde und griff, während er einen Schritt vorwärts machte, nach einem Teleskopschlagstock, den er am Gürtel trug. Paolo zog ihn heraus und rastete die Segmente mit seiner schwungvollen Bewegung ein.


Gerhard war benommen und sah, wie durch einen Nebel, einen dunklen Schatten auf sich zukommen. Dann vernahm er ein klackendes Geräusch, dass er wegen seiner Kampfsporterfahrungen zuordnen konnte. Dieses Geräusch wurde von Teleskopschlagstöcken erzeugt, wenn sie gezogen wurden und einrasteten. Es war also keine Zeit um sich Gedanken über die rasenden Kopfschmerzen zu machen, er musste direkt reagieren, wenn er keinen weiteren Schlag mit einem Metallstock einstecken wollte. Er hob beide Beine und trat mit aller Kraft nach dem sich nähernden Schatten aus. Er traf den Mann mit voller Wucht in der Hüftgegend. Die Gestalt wurde nach hinten geschleudert und es folgte ein lautes Rumpeln.


Paolo war auf diesen Tritt nicht eingestellt gewesen. Er hatte gedacht, dass der Mann wesentlich schwerer angeschlagen wäre. Der Tritt traf ihn völlig unverhofft und er taumelte mit einem stechenden Schmerz in der Leiste rückwärts. Schon beim zweiten Schritt verlor er den Boden unter den Füßen. Er realisierte, dass er am oberen Treppenabsatz ins Leere getreten hatte. Danach fiel er bereits die Treppe hinunter. Paolo versuchte mit den Armen den Sturz abzufangen, um sich keine schweren Verletzungen zuzuziehen.


Allerdings gelang ihm dies nur teilweise. Er überschlug sich mehrere Male und stieß mit verschiedenen Körperstellen an der Wand und an dem Geländer an, bevor er den Boden des Erdgeschosses erreichte. Hier fiel er unglücklich auf seinen Arm und er verdrehte sich dabei das Handgelenk und die Finger seiner Hand. Das Knacken verriet ihm, dass er sich mindestens einen Finger gebrochen hatte. Ein stechender Schmerz zuckte durch den Arm und er schrie laut auf.


Paolo drehte sich augenblicklich auf den Rücken und hielt sich den Arm fest. Der Schmerz war fast unerträglich. Nach mehreren Versuchen gelang es ihm sich aufzusetzen und er bemerkte, dass er außerdem mehrere schmerzhafte Prellungen abbekommen hatte. Ansonsten schien er aber keine weiteren Verletzungen oder Brüche zu haben. Er stand unter Schmerzen auf und blickte die Treppe hinauf. Er konnte sehen, dass der Mann im oberen Stockwerk sich ebenfalls wieder aufgerappelt hatte und am oberen Ende der Treppe stand. Paolo sah auf der untersten Stufe seine Skimaske liegen, die er bei seinen Jobs zu tragen pflegte und griff mit dem heilen Arm nach ihr. Dann flammte das Licht auf. Der Mann hatte den Lichtschalter betätigt. Paolo blickte zu ihm hinauf und ihm wurde klar, dass der Mann am oberen Ende der Treppe sein Gesicht gesehen hatte.


Durch die lauten Geräusche alarmiert tauchte Luigi im Flur auf. Paolo machte ihm ein Zeichen, dass sie verschwinden mussten. Luigi realisierte, dass Paolo verletzt war und eilte ihm zur Hilfe. Auch Luigi nahm den Mann wahr, aber er trug seine Gesichtsmaske noch. Er hakte Paolo unter und sie bewegten sich so schnell sie konnten durch den Flur ins Wohnzimmer und durch die Hintertür in den Garten hinaus. Sie hetzten bis zur Mauer. Luigi musste Paolo beim Hinüberklettern schmerzhaft zur Hand gehen, da seine Verletzungen ihn extrem behinderten. Danach legten sie die nächsten zweihundert Meter zum Auto nicht mehr ganz so schnell zurück. Luigi wuchtete Paolo in den Wagen und fuhr dann mit durchdrehenden Reifen los.


Gerhard hatte die beiden Männer durch den Flur verschwinden sehen und war ihnen, so schnell es sein Zustand zuließ, gefolgt. Er hatte im Flurlicht das Gesicht des einen Mannes gesehen, der andere Mann war maskiert gewesen. Er erreichte die Hintertür und konnte die beiden Männer noch über die Mauer verschwinden sehen. Gerhard rieb sich den Unterkiefer, sein Kopf pochte. In diesem Zustand würde er ihnen nicht folgen können, schon gar nicht mit dem Alfa auf diesen engen Wegen Er ging ins Haus zurück und machte sich auf den Weg in die Küche. Er schaltete das Licht an und ging zum Wasserhahn. Er drehte ihn auf, trank mehrere Schlucke direkt aus dem Hahn und hielt dann den Kopf unter den Wasserstrahl. Das half, er merkte wie er langsam wieder klarer wurde.


Danach stand er, beide Hände auf der Spüle aufgestützt, einige Minuten da und versuchte sich zu sammeln. Sein Blick fiel auf die Whiskyflasche, deren Korken neben der Flasche lag. Ein Glas mit einem Rest Whisky stand auf der Ablage. Gerhard war verwundert. Er realisierte, dass einer der Männer von seinem Whisky getrunken haben musste. Er grinste, zumindest hatte einer der beiden einen guten Geschmack. Gerhard griff nach dem Whisky und nahm mehrere kräftige Schlucke direkt aus der Flasche. Dann verkorkte er diese wieder und stellte sie zurück.


Er brauchte dringend eine Aspirintablette, das war ihm klar. Er versuchte sich zu erinnern, ob er seine Medikamente eingepackt hatte. Dabei fiel sein Blick wieder auf das Glas mit dem Whiskyrest. Nach einigen Sekunden musste er, trotz seiner Schmerzen im Kiefer und Kopf, grinsen. Nicht nur einen guten Geschmack hatte der Einbrecher bewiesen, er hatte sich durch das Whiskyglas auch verraten, zumindest dann, wenn er in der Vergangenheit schon einmal was mit der Polizei zu tun gehabt hatte, wovon Gerhard überzeugt war.



Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783946922186
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Dezember)
Schlagworte
Perdurabo Argentum-Astrum O.T.O. Thriller Esoterik Historisch Krimi

Autor

  • Marc Debus (Autor:in)

M. Debus hat mit seinem Großvater Alfred Nell eine Biographie über dessen Zeit bei der Vorpostenbootflotille und der U-Boot Waffe in Brest im zweiten Weltkrieg verfasst. Mit "Das Geheimnis von Gisors" ist der erste Roman mit geschichtlichem Hintergrund erschienen. Weitere Bücher um den Titelhelden Gerhard Maibach sind in Arbeit und Planung. Mit Thelema Abbey erscheint nun Band zwei der Reihe.
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Titel: Thelema Abbey