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The Sea People

Children of the sea

von David J. Greening (Autor:in)
226 Seiten

Zusammenfassung

For as long asanyone could remember, the Shardana had sailed their gigantic ships across the endless waters oft he Lautan Tedau, the Peacefull Sea, fishing, hunting the mighty raksasa ans trading with the inhabitants off the islands doting the ocean. This ist he tale oft he Perahu and those onboard: Kura-Kura, the orphan girl, Pirang, the shaman´s daughter, sleepless Mati and Kegentingan, the chief harpooner´s only living son. No-one in living memory had seen or heard anything oft he scourge oft he seas, the Tangata´mango, the deadly Shark-Men, who had once killed and looted their way across sea and land until they had finally become the stuff of nightmare and legend. Until now….

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Keirpara

Die Umgebung, in der der Unterricht stattfand, war so wunderschön wie man es sich nur vorstellen kann. Der Lehrer und seine Schüler saßen auf einem Hügel auf einer Landzunge, mit Aussicht über den steinigen Abhang, der hinunter zur Bucht und den blauen Gewässern des Golfes von Melas führte. Es war ein heißer und trockener Frühsommertag, obwohl der Eichenhain, in dem die Jungen saßen und ihrem Lehrer lauschten, etwas Schatten spendete. Die Eichen waren alt und knorrig, neigten sich in jedwede Richtung, ihr Wachstum beeinflusst von den Winden der Ägäis, denen die Landzunge ausgesetzt war. Dieser Hain war außerdem ein Heiligtum des Gottes Zibelthiurdos, Gebieter über Blitz und Donner, welchem die Eiche geweiht war.

Ein Dutzend Jungen saß unter den Bäumen, während ihr Lehrer vor ihnen stand, einen Stock in der Hand haltend, mit dem er alsbald hierhin und dorthin deutete, oder in den Sand vor ihnen zeichnete. Er war alt und runzelig und in hellenistischer Art gekleidet, im Gegensatz zu den thrakischen Gewändern, die die Jungen, die vor ihm saßen, zu tragen pflegten. Sein Name war Glyptos, und er war Ionier. Er unterrichtete die Jungen auf Griechisch in dem, was die Griechen als einzigen sinnvollen Zeitvertreib ansahen: die Liebe zur und dem Streben nach Weisheit, „Philosophie“ genannt. Seine Schüler waren allesamt Prinzen und verwandt mit König Ozrykes, Herrscher der Dolonker, die die Landenge der Halbinsel Chersonnesos bewohnten. Glyptos weißes Gewand ließ ihn aus der Horde der Jungen, die in bunten und wild gemusterten Tuniken gekleidet waren, hervorstechen. Der Mittag brach an und einige der Jungen wurden zunehmend schläfrig; einer von ihnen, Bryzos, war sogar bereits eingeschlafen und begann, friedlich vor sich hin zu schnarchen.

„Wie ich bereits sagte“, fuhr Glyptos in seiner monotonen und brüchigen Stimme fort, „glauben wir Ionier daran, dass Naturphänomene keine Launen der Götter sind, sondern rational erklärbar. Zum Beispiel wurde in den großen Erzählungen von Miletos theorisiert“ – einer der jüngeren Schüler blickte fragend auf, verwirrt durch das für ihn komplizierte Wort – „dass das Beben der Erde nicht von Poseidon, dem Erderschütterer, ausgelöst wird, der seinen Dreizack wütend in die Erde schlägt, sondern dadurch, dass die Erde auf dem niemals endenden Okeanos treibt, Vater aller Meere, der alle Schöpfung umgibt.“

„Aber wie kann Erde denn auf Wasser schwimmen?“, fragte Brentas, einer der älteren Schüler und Erstgeborener des Königs, in fließendem Griechisch. „Wenn ich Dreck ins Wasser werfe, versinkt er doch!“, fügte er hinzu, was allgemeine Heiterkeit bei den jüngeren Schülern auslöste.

„Nun, es ist tatsächlich nur eine Theorie, junger Brentas. Aber Ihr werdet Euch sicherlich daran erinnern, dass unsere Erde auch aus den anderen Elementen besteht, wie Feuer oder Luft. Und Luft ist natürlich leichter als Wasser, was wir daran erkennen können, dass wir, Kreaturen der Erde, oberhalb des Wassers auf festem Grund leben und Luft atmen. Von daher muss die Erde obenauf schwimmen.“

„Und das Feuer im Erdinneren, Meister Glyptos“, fügte Tarbos, der dritte Nachkomme des Königs, hinzu, „wie kann das Feuer auf dem Wasser schwimmen, wenn wir doch wissen, dass Wasser die Macht hat, es auszulöschen?“

Als der Lehrer sich Tarbos zuwandte, um ihm zu antworten, wurde er durch einen lauten Schnarcher von Bryzos unterbrochen, woraufhin die gesamte Lichtung vor Lachen erzitterte. Glyptos versuchte, die aufsteigende Schmach zu unterdrücken und seine Haltung zu bewahren, und Bryzos erwachte jäh, als der Lehrer seinen Stab gegen einen Baum über ihn krachen ließ.

„Über was haben wir denn gerade gesprochen, junger Mann?“, fragte der Lehrer mit lauter Stimme. „Was glaubst du eigentlich, wofür dein Vater mich bezahlt!“

Unbeeindruckt vom Rüffel des alten Mannes streckte sich Bryzos und gähnte. Mit starkem thrakischem Akzent antwortete er „Ich habe keinen blassen Schimmer. Aber ich kann Euch sagen, ich bin verdammt durstig.“

Die anderen Schüler, nun alle wieder wach nach diesem Ausbruch des Lehrers, brachen in schallendes Gelächters aus, wodurch Glyptos endgültig seine griechische Gelassenheit verlor.

„Ihr seid entlassen!“, sagte der alte Mann und beendete damit die Lehrstunde. Seinen Kopf wegen des Verhaltens dieser Barbaren schüttelnd, die er gezwungen war zu unterrichten, ging er, woraufhin die jüngeren Schüler jubelnd die Lichtung verließen.

„Du weißt, Bryzos, dass Vater dich deswegen in die Mangel nehmen wird“, sagte Tarbos, als sich die Älteren um Brentas, ihrem inoffiziellen Anführer, versammelten. „Ich glaube nicht, dass Glyptos mit der Art und Weise, wie du dich im Unterricht verhältst, zufrieden ist“, fuhr er fort. „Du machst nicht nur einen Trottel aus dir selbst, sondern du lässt uns andere zudem dastehen wie Barbaren.“

„Naja, ich hab sowieso den Eindruck, dass uns der alte Sack für dumme Wilde hält, egal was ich tue“, entgegnete Bryzos. „Und übrigens: daran, dass Vater mir deswegen das Fell über die Ohren ziehen wird, weil ich mir dieses Geschwätz nicht anhören will, bin ich schon gewöhnt. Ich habe keine Ahnung, warum er diesen alten Idioten immer noch beschäftigt. Er langweilt mich zu Tode.“

Einige kicherten daraufhin, doch schauten gleichzeitig zu Brentas, der langsam den Kopf schüttelte.

„Falls du irgendwann einmal König werden willst, solltest du besser auf einen Gelehrten wie ihn hören. Was Glyptos versucht, oder in unserem Fall zumindest versuchen soll, ist, uns das Denken zu lehren.“

„Ich bin der Vierte in der Thronfolge, falls unser Vater sterben sollte“, antwortete Bryzos gelassen, „glaubst du wirklich, dass ich irgendwann einmal die Geschicke solcher jungen, in Reih und Glied stehenden Männer, wie ihr es seid, regeln werde? Hm? Ich glaube eher nicht.“

„Bruder, ich für meinen Teil habe nicht vor, mein Leben für Wein, Weib und Gesang hinzugeben“, mischte sich Tarbos wieder ein. „Ich habe vor…“

„Mach dir nicht die Mühe, Bruder, es liegt daran, dass du zu schwach bist, einen Bierkrug festzuhalten, und zu hässlich, um flachgelegt zu werden!“, spottete Bryzos.

Tarbos Wangen röteten sich bei dieser Bemerkung. Er warf seinem Bruder einen giftigen Blick zu und verschwand wortlos, die Prinzen Darsas und Skaplis im Schlepptau.

„So“, sagte Bryzos vergnügt, nachdem sie außer Hörweite waren, „sieht so aus als ob sich die feinen Herren aus dem Staub gemacht haben. Lasst uns etwas trinken! Wer hat Lust auf einen Krug Bier?“

***

Als Bryzos es einige Zeit später wieder schaffte, seine Augen zu öffnen, lag er mit dem Gesicht auf dem Boden seines Zimmers. Seine Wange und seine Haare klebten an den Fliesen fest. Auch sein Oberkörper war verschmiert mit einer beträchtlichen Menge seines eigenen Erbrochenen, und der widerwärtige Geruch stach ihn in die Nase.

Die einzigen Erinnerungsfetzen, die ihm geblieben waren, zeigten ihn und seine Freunde in der Taverne, während sie sich mit Brytos, dem hiesigen thrakischen Bier, betranken. Bryzos versuchte sich aufzurichten, woran er kläglich scheiterte. Seine Hand rutschte in der schmierigen Lache auf dem Boden aus und Bryzos schlug, jeder Reaktionsfähigkeit beraubt, mit dem Kopf auf dem Steinboden auf, wobei er auch noch den Rest von sich mit den Hinterlassenschaften der letzten Nacht besudelte.

Als er ein missbilligendes Knurren über sich hörte, hob Bryzos seinen Kopf, um in ein ihm vertrautes Gesicht zu blicken.

„Ich wünsche einen angenehmen Tag, junger Herr!“, sagte Ziles, der griechische Leibdiener und Haushofmeister seines Vaters in freundlichem Gleichmut. Sein Thrakisch war akzentfrei, kurzgefasst und präzise, jedoch offensichtlich nicht das eines Einheimischen. Allerdings war es auffallend besser als das Griechisch seines Herren. „Ich nehme an, dass die Aktivitäten des letzten Abends ganz Euren Vorstellungen entsprachen.“

„Lassmischinruh!“ war das Einzige, was Bryzos darauf antworten konnte, und nuschelte noch ein sorgfältig ausgesuchtes „hauabaltasack!“ hinzu.

„Aber, aber, Meister Bryzos! Was würde Euer Vater sagen, frage ich mich, wenn er Euch in diesem, wie soll ich sagen, unkultivierten Zustand anträfe? Ich habe mir erlaubt, Eure Abwesenheit bei Eurem Vater zu entschuldigen, als ich sah, dass Ihr gestern Nacht doch wohl recht spät zurück in Euer Nachtlager gefunden habt. Übrigens ohne Euren Gürtel, wenn ich dies anmerken darf. Der König wünscht, Euch diesen Nachmittag zu sehen; vielmehr besteht er darauf. Es wäre unratsam, Euren Vater zu versetzen. Ihr kennt seine Laune, wenn andere sich seinem Befehl verweigern. Oh, und Meister Tarbos war unerbittlich bezüglich der Form der Strafe für Euer Verhalten. Bevor Ihr fragt; ich meine damit Euer Verhalten im morgendlichen Unterricht. Ich für meinen Teil würde nicht anwesend sein wollen, wenn Euer Vater sie so sähe. Auf, auf, junger Mann! Oder er wird Euch die Ohren langziehen!“

Der freundliche, aber tadelnde Monolog hielt an, während sich Bryzos, nun erfolgreicher, aus seiner Benommenheit erhob. Ziles öffnete die Jalousien, hinter denen sich ein wunderbarer Sommertag verborgen hatte. Die Sonne durchflutete den Raum mit Licht und den Kopf des Prinzen mit Schmerz; dieses Mal war es jedoch weniger schlimm als vergangenes Mal. Bryzos sah katastrophal aus. Seine Haare standen in alle Richtungen ab, verklebt mit einer Mischung aus Schweiß und Erbrochenem, die auch seine linke Gesichtshälfte überzog, welche auf dem Boden gelegen hatte. Ähnlich furchtbar sah auch seine Tunika aus, die er seit dem Morgen des vorherigen Tages trug.

Ich hoffe, dass die anderen Bastarde wenigstens genau schlimm dran sind, dachte er, als er sich schwankend erhob.

„Und einen ebenso scheißtollen Tag für dich, Ziles!“ unterbrach er den alten Mann, der nicht aufgehört hatte zu reden, während er das Bett gemacht und Wasser in den Waschtisch am anderen Ende des Raumes geschüttet hatte. Er drehte sich um, bemerkte, dass Bryzos ihn erst jetzt überhaupt richtig wahrgenommen hatte, und verließ den Raum um etwas aus dem Regal auf dem Gang zu holen.

„Hier, Meister Bryzos, das sollte Euch helfen. Sie wissen schon, gegen den Kater“, und er hielt Bryzos einen Krug unter die Nase, der den Duft von heißem Gewürzwein verströmte. Sofort übergab Bryzos den kläglichen Rest seines Mageninhalts auf seine Füße, und er musste sich am Bettpfosten festhalten, um von den Krämpfen, die seinen Körper durchzogen, nicht in die Knie gezwungen zu werden.

„Ah, hier bist du also!“, sprach eine angenehme Stimme hinter ihm.

Es war sein Bruder Tarbos.

„Vater hat mich beauftragt dich abzuholen. Er wünscht, dich…“ Tarbos unterbrach sich selbst, um Bryzos zu mustern, und ein immer breiter werdendes, gehässiges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, „…zu sprechen.“

„Hau ab“, murmelte Bryzos und versuchte vergeblich sich aufzurichten.

„Es tut mir sehr leid“, antwortete Tarbos in einem Tonfall, der an seiner Aussage zweifeln lies, „Vater besteht darauf. Ich hatte den Eindruck, dass er eher… wenig begeistert ist“, fügte er hinzu, und sein fieses Grinsen wurde noch breiter.

***

Die Behausungen von König Ozrykes konnten, zumindest nach griechischem Standard, kaum als Palast beschrieben werden, obwohl der philhellenische Herrscher der Dolonker einige Elemente und Gepflogenheiten des griechischen Stils übernommen hatte, was sich unter anderem auch in den Gebäuden wiederspiegelte. Der König, seine Frau, Konkubinen und ihre Kinder, einige seiner engsten Vertrauten, die gewöhnliche Anzahl an Leibwächtern für die Edelmänner, Soldaten und Wachen, sowie eine Hundertschaft an Dienern, Leibeigenen und Sklaven, die notwendig waren, um das Anwesen zu unterhalten, lebten in der Vielzahl an Gebäuden, die den Hügel säumten. Der Hügel, auf dem das Anwesen errichtet worden war, war aus verschiedenen strategischen Gründen ausgewählt worden, da Krieg für die Thraker keine Seltenheit war.

Die Wände der Halle, durch die Bryzos nun an seinen langen rotblonden Haaren geschleift wurde, waren in griechischem Stil verputzt, und seine nackten und mittlerweile blutenden Füße hinterließen unschöne Striemen auf dem schimmernden Steinboden. Wie viele thrakische Edelmänner hatte Ozrykes einige der Gepflogenheiten der ionischen und aiolischen Griechen, die an der Küste siedelten, übernommen. Nach einem massiven Erdbeben, welches vor vielen Jahren vor allen Dingen die großen, mit Steinen errichteten Bauten dem Erdboden gleichgemacht hatte, waren die Bauarbeiter auf Geheiß des Königs dazu angehalten worden, alles nach griechischer Bauart neu zu errichten: die Wände waren weiß verputzt und glichen der Optik von Marmor; einige von ihnen waren bemalt. Die Haupteingänge waren flankiert von massiven Eichensäulen, die das Aussehen von Kalkstein nachahmten, und das Dach war mit importierten griechischen Ziegeln anstelle der üblichen Holzschindeln gedeckt. Einige Zugeständnisse waren jedoch hier und da gemacht worden. Aufgrund der Häufigkeit von Erdbeben in dieser Region waren das Haupthaus und seine angrenzenden Gebäude nur eine Etage hoch gebaut worden, und die Wände bestanden aus einer Holzkonstruktion, welche anstelle von Stein mit Weidengeflecht und Lehm gefüllt wurde. Bis jetzt hatte das Anwesen von Ozrykes einige kleinere Erdbeben erfolgreich überstanden, was ihn in der Entscheidung, importierte und thrakische Konstruktionsweisen zu kombinieren, bestätigte.

Thrakisches Holz und thrakische Pferdescheiße- erstklassige Baumaterialien, dachte Bryzos, als Tarbos ihn gnadenlos durch die Halle schleifte. Er freute sich nicht gerade darauf, seinem Vater unter die Augen treten zu müssen. Die auf die Wände gemalten Götter blickten voll Abscheu auf ihn herab. Da war Epta, die Göttin der Liebe, entführt vom himmlischen Reiter, in seiner Form als Zymdrenos, dem Wasserdrachen. In dieser Erscheinung endete sein männlicher Körper im Schwanz einer gigantischen Schlange. Die wunderschöne nackte Frau ritt lasziv den Körper des gewellten Ungeheuers mit spottendem Blick und hielt sich an Zymdrenos‘ Rumpf fest, während das Paar von Eptas Schwester Bendis verfolgt wurde. Sie war in thrakischer Rüstung gekleidet, den Bogen in ihrer Hand gespannt, entschlossen, die Schlange zu töten, um – wie immer vergebens – die Jungfräulichkeit ihrer Schwester zu bewahren.

Auf der Wand zu seiner Linken sah Bryzos den bärtigen Derzelas, den Gott der Unterwelt und der Fruchtbarkeit, der dem jungen Dionysos das Horn der Fülle als Symbol der Fürsorge der Toten für die Lebenden übergibt.

Während sein Bruder ihn weiter zu seinem wütenden Vater schleppte, trafen sie auf zwei Dienerinnen, die Besorgungen im Lager machten.

„Einen schönen Tag für Euch, werte Prinzen!“, grüßte die untersetzte blonde Thrakerin die beiden und schenkte ihnen ein strahlendes Grinsen, während die andere, eine schlanke, schwarzhaarige Griechin, nur schwach nickte und den Weg einschlug, den Tarbos Bryzos entlanggezogen hatte.

„Für dich ebenfalls, Zvaka. Was ist mit dir, Kersa, freust du dich nicht, mich zu sehen? Komm schon, lach mal, oder ist jemand tot umgefallen, während ich meinen Rausch ausgeschlafen habe?“, plapperte Bryzos, als Tarbos für einen Moment innehielt und Bryzos der Situation gewahr wurde und er versuchte, seine Haare aus dem Gesicht zu streichen und sich aufzurichten. „Falls dem so ist, so hoffe ich, dass es den verdammten griechischen Philosophen getroffen hat.“

Beide ernüchterten ob dieser Aussage.

„Herr, ich hoffe dein Morgen in Ordnung sein bis jetzt“, sagte Kersa, während sie den festen Griff und den ernsten Blick in Tarbos Gesicht musterte. „Aber wir Diener seien unglücklich heute, weil dein Vater sehr, sehr böse. Er sei auch sehr, sehr böse über dich sein, Herr Prinz.“

Bryzos schaute Zvaka schief an, die ihr Lächeln nun abgelegt hatte und nur noch ernst nickte.

„Mein Prinz, der König ist nicht erfreut. Überhaupt nicht. Er hat den verdammten Bastard Sautis verprügeln lassen, weil er wieder beim Wachehalten eingeschlafen ist.“ Sie spukte aus. „Er hat’s verdient, würd ich sagen.“

Erneut nickte Kersa. Sautis war bekannt dafür, ein Lustmolch zu sein, der sich regelmäßig den Sklavenmädchen aufzwang, was oft genug an Vergewaltigung grenzte. Diesbezüglich hatte die blonde Zvaka natürlich mehr Glück als die schwarzhaarige Kersa: Kein einfaches Mitglied der königlichen Garde würde es so einfach wagen, sich der königlichen Bettgenossinnen zu bemächtigen, auch wenn er ein erfahrener Krieger war und dieser Prinz eher ein Jüngling. Beide wussten, dass Kersa des Öfteren schon Zielscheibe von Sautis Avancen gewesen war.

„König hat Sautis Fell gezogen über die Ohren. Mach ihn fertig, ich sage!“, sagte Kersa, und versuchte, gegen aufsteigende Tränen anzukämpfen. Bryzos senkte seinen Blick.

„Genug jetzt“, sagte sein Bruder in einem bedrohlichen Tonfall, „komm weiter!“

Sie wandten sich ab und betraten den großen, offenen Innenhof inmitten eines Ensembles aus Gebäuden, welche die Residenz des Königs bildeten und durchquerten ihn. Tarbos bewegte sich zielstrebig auf den Haupteingang des Palastes seines Vaters zu. Im Schatten der Holzsäulen, die nach Marmor aussahen, und des breiten, sanft abfallenden Daches, welches den gesamten Eingangsbereich überdeckte, standen zwei ernst dreinblickende Männer, die Tarbos und Bryzos skeptisch beäugten.

Der Mann zur Linken hatte seine massiven Arme vor der Brust verschränkt, ein Speer auf der Schulter lehnend, mit einem am Rücken befestigten Schild. Sein Name war Bolinthos, obwohl ihn die meisten Leute einfach nur den ‚Bullen‘ nannten. Er war vom Stamm der Dier, berüchtigt sogar unter den Thrakern, gefürchtet für ihre Barbarei und Erbarmungslosigkeit im Krieg. Der Bulle war blond und bärtig, riesig, einen Kopf größer als Bryzos und eineinhalb Mal so schwer wie er. Er trug eines der kurzen, hellgrün gemusterten Gewänder, mit denen der König seine Wachen hatte ausstatten lassen. Der größte Teil seiner Haut, einschließlich seines Gesichtes, war mit blauen Schnörkeln tätowiert, was ihn als Anhänger von Kotys, der thrakischen Göttin des Todes und des Leidens auswies. Die Gesichtstätowierungen symbolisierten dabei seine vollkommene Hingabe an den Krieg als Lebenseinstellung.

Der Mann zur Rechten war nur wenig größer als Bryzos und erschien geradezu winzig im Vergleich zu seinem Kollegen auf der linken Seite. Er war ein Grieche namens Zeuxidas, seine Haut war olivfarben und dunkler als die der Thraker, und sein Haar war rabenschwarz.

Tarbos verlangsamte seinen Schritt, sichtlich eingeschüchtert von den beiden massigen Kriegern, was Bryzos erlaubte, sich wenigstens kurz die Haare zu ordnen und sich aufzurichten, auch wenn in ihm kein Funke des Widerstands gegen seinen Bruder mehr übrig war.

„Wohin des Weges, ihr hübschen Burschen?“,fragte der Bulle, während er Tarbos denselben abschätzigen Blick zuwarf wie zuvor Bryzos, als die beiden vor den Wachen zum Stehen kamen.

„Das geht dich einen feuchten Dreck an, Dier“, gab Tarbos zurück, „lasst uns vorbei!“

Anstelle einer Antwort spuckte Zeuxidas auf den Boden, gerade so weit links, dass die beiden gezwungen waren, ihm auszuweichen, um nicht in seinen Schleim zu treten, während Bolinthos nur grinste und bedrohlich die Schultern spielen ließ.

Tarbos, der ob der Beleidigung rot angelaufen war, fasste Bryzos unwirsch an seiner Tunika und stieß ihn vor sich her. Just als sie den Säulengang hinter sich gelassen hatten, hörte er Tarbos etwas murmeln, dass nach „seinen verdammten Kopf auf einen Speer“ klang.

Bryzos lief weiter, von seinem Bruder vorangetrieben, dabei im Schatten des überdachten Säulengangs bleibend, welcher das große Wasserbassin in der Mitte der Eingangshalle umgab. Zwei der Töchter des Königs, seine Halbschwestern Eptarys und die kleine goldhaarige Saldas, saßen am Rande des Wasserbassins gegenüber und unterhielten sich leise, während sie mit den Füßen im kühlen Wasser planschten. Eine der Sklavinnen, die etwas Undefinierbares in einem Korb mit sich trug, lief vorüber. Während sie seinem Blick auswich, lächelten die beiden Mädchen ihn an und winkten, als er vorbeiging, um danach ihre Unterhaltung fortzuführen.

Welch friedlicher Anblick, dachte Bryzos bei sich. Hoffentlich hat sich auch Vater ein wenig beruhigt, seufzte er; immerhin war dies bei weitem nicht sein erster Rüffel.

König Ozrykes hatte sich jedoch mitnichten beruhigt seit der Prinz die Eingangshalle betreten hatte. Eher war das Gegenteil der Fall.

Bryzos trat durch die schweren, geöffneten Türen, die imstande waren, auch ernsthafteren Angriffen standzuhalten, und auch sie waren von Wachen des Königs flankiert, die in die Audienzhalle von König Ozrykes führten. Die Decke war über die Höhe der angrenzenden Gebäude erhaben, um die Halle eindrucksvoller wirken zu lassen, und der komplette Boden war mit Mosaiken ausgelegt, die eine Reihe mythischer Szenen darstellten. Sein Vater stand an einem großen Tisch, welcher in einigem Abstand zu seinem Hochsitz aufgestellt worden war. Er beriet sich mit einigen Mitgliedern seines Rates, unter welchen der Prinz auch Raskus erkannte, einen der wichtigsten Vertrauten seines Vaters. Sein Sohn Suras war ebenfalls ein Mitglied des Saufgelages in der Taverne am Abend zuvor gewesen.

Nun, das wird die Sache nicht gerade vereinfachen, dachte Bryzos, und sein Magen verkrampfte sich. Er blieb kurz hinter dem Eingang stehen. Einige der Männer bemerkten ihn und knufften sich in die Seite. Alle Augen wandten sich dem Prinzen zu und die Unterhaltungen erstarben, als Tarbos in Richtung seines Vaters nickte und zur Seite trat.

„Mein Herr, Vater“, begann Bryzos stammelnd, „ich entschuldige mich dafür, Euren Aufforderungen nicht sofort nachgekommen zu sein, ich…“

„Schweig!“ unterbrach der König seinen Sohn donnernd.

Sein Blick durchdrang ihn scharf, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Einige der Bediensteten und Sklaven zuckten bei diesem Ausbruch zusammen, während die beiden Wachen, die zur Linken und Rechten des Thrones des Königs standen, ihn merklich angrinsten. Diesmal, so schien es, war er endgültig geliefert.

„Mein König, ich bin gekommen um…“

„Still! Du wirst reden, wenn du dazu aufgefordert wirst!“, befahl der König und ließ seine Faust zur Unterstreichung seiner Worte auf den Tisch donnern, wobei einer der Weinbecher umfiel und seinen Inhalt über den Tisch ergoss.

Die darauffolgende Stille war leise genug für Bryzos, um seinen eigenen Herzschlag hören zu können, dessen Rhythmus sich ebenfalls plötzlich zu beschleunigen und zu intensivieren schien. Diese Angelegenheit war offensichtlich nicht mit ein paar fadenscheinigen Entschuldigungen, etwas Buße und ein paar Tagen Abstinenz erledigt. Er fühlte, wie er in Schweiß ausbrach, und er musste seine Knie und Beine zwingen, nicht unter ihm nachzugeben. In diesem Moment fühlte er sich so ganz und gar nicht wie ein mächtiger thrakischer Kriegsgott, der fähig und Manns genug war, Feuer von den Göttern zu stehlen; er fühlte sich eher wie ein Sklave, der gerade zum Minendienst verurteilt wurde. Dies würde offensichtlich sein großer Untergang sein.

Nach einigen Momenten des Schweigens, die sich über längere Zeit erstreckten und schließlich unerträglich für Bryzos wurden, bellte König Ozrykes: „Wer bist du, junger Mann? Sag mir, wer bist du!“

Bryzos riss sich eilig zusammen, atmete tief ein und versuchte zu antworten: „Mein König, ich bin Prinz Bryzos, Euer…“

„Du, du gehst mir auf den Sack!“, unterbrach der König ihn erneut. „Du! Ein Prinz? Ha, bei meinen Eiern!“, und er spuckte auf den schönen Mosaikboden der großen Halle.

Sein Schleim traf dabei einen der Köpfe der Hydra, durch die Handwerker eingefangen in ihrem endlosen Konflikt mit ihrem Erzfeind, dem Reiter. Wirklich ein gutes Omen.

„Schau dich doch nur einmal an! Du siehst aus wie eine Müllgrube und stinkst noch mehr! Du, Prinz Nichtsnutz, scheinst mehr Zeit damit zu verbringen, meine Sklavinnen und meine Huren zu ficken, meine Pferde auf die Jagd mitzunehmen und meine Keller leer zu saufen!“

Einige der Umherstehenden mussten daraufhin grinsen.

„Nun, das ist mir scheißegal, als ich so alt war wie du, hab ich dasselbe getan! Oder weiß einer von euch Männern, wie viele meiner Bastarde hier herumrennen?“, fuhr der König fort, seinen sarkastischen Kommentar beiseitewischend.

Einige der Zuschauer nickten daraufhin, ohne es zu kommentieren. Immerhin waren die anwesenden Berater ihrerseits Saufbrüder in ihrer Jugend gewesen und mit fünf Frauen und fünf Konkubinen an ihrer Seite wahrscheinlich Vater von Kindern, von deren Vielzahl nur die Götter wussten.

„Und was das Fressen und Saufen angeht“, was von noch mehr Grinsen begleitet wurde, „um dann umzukippen und in deiner eigenen Kotze aufzuwachen“, einige der Berater begannen zu kichern, „beim Reiter, auch das haben wir alle getan, mein Junge! Aber was ich dir nicht durchgehen lassen werde, ist, wie du deinen Lehrer behandelst!“

Nachdem seine Hoffnung aufgrund der verständnisvollen Worte seines Vaters zunächst wieder gestiegen war, war Bryzos nach dieser Bemerkung wieder am Boden zerstört.

„Nun, was hast du dazu zu sagen, junger Mann?“, sagte der König und beendete damit seine Tirade.

„Also, naja“, antwortete der Prinz lahm, in der Erwartung, jeden Moment wieder unterbrochen zu werden. Als dies jedoch nicht geschah, riss er sich zusammen und sagte: „Mein Herr, ich bin ein Thraker, ein Dolonker aus dem stolzen Hause des Ozrykes, Sohn von Burazas, dem Felsen im Kampfe, der seine Herkunft bis zum Trojanischen Krieg zurückverfolgen kann. Wie unser Ahne Akamas, der die Griechen an den Stadtmauern von Ilion bekämpfte, waren wir schon immer eine Rasse von Kriegern, von allen gefürchtet und respektiert, geboren, um andere zu regieren. Ihr seid mein Führer, und ich bin Euer Sohn, König Ozrykes.“

Diese Ansprache kam bei den umstehenden Männern gut an, von denen die meisten genickt hatten, während Bryzos gesprochen hatte, und genauso erging es dem Vater, dem das Herz warm geworden war, als sein Sohn seine stolze Herkunft angesprochen hatte.

„So soll es sein“, antwortete er in einem versöhnlichen Tonfall. „Aber ich kann nicht weiter zulassen, dass du dich über deinen Lehrer Glyptos lustig machst. Du weist nicht nur seine Weisheit zurück und weigerst dich, von ihm zu lernen, du hältst auch noch andere davon ab! Er hat sich bei mir über dein andauerndes Fehlverhalten ausgeheult und verkündet, dass er als ein wahrer Philosoph nicht auf mein Geld angewiesen sei, die verdammte griechische Schwuchtel!“

Daraufhin brachen die Thraker in schallendes Gelächter aus, und die Spannung, die den Raum erfüllte hatte, entlud sich.

„Nun, du weißt ja wie sie sind. Wie auch immer, er sagte, er wolle sich nicht länger mit dir herumschlagen, wenn du seinen Unterricht weiterhin unterbrichst und dass er gehen würde, solltest du ihn weiterhin besuchen. Was hast du dazu zu sagen?“

„Vater“, antwortete Bryzos nun selbstsicher, denn er hatte das Schlimmste befürchtet, „lass ihn gehen! Ich habe keine Ahnung, was ich überhaupt von ihm lernen soll! Er ist nicht nur alt und gebrechlich, körperlich und geistig, wie ich finde, sondern auch noch ein Grieche, und er erzählt uns dauernd seine blöden, langweiligen Geschichten! Heute zum Beispiel hat er verkündet, dass Mutter Erde auf dem Meer schwimmt, weil sie mit Luft gefüllt ist!“

Daraufhin brachen die Umstehenden wieder in lautes Gelächter aus, welches eine Zeitlang anhielt. Lediglich der König schien nicht beeindruckt von den Worten seines Sohnes und der ihn umgebenden Heiterkeit. Langsam schüttelte er den Kopf. Bryzos bemerkte es, und es dämmerte ihm, dass es noch nicht vorbei war.

„Was, Vater, können wir denn dann noch von so einem Mann lernen, was uns Thrakern nützen könnte?“, endete er.

„Mein Junge, es gibt vieles was du noch lernen musst, nicht nur vom verdammten Glyptos, sondern generell, und ich werde dir nun etwas davon erzählen!“, begann König Ozrykes. „Wir Dolonker, und das gilt auch für die verdammten Apsinther, unsere Freunde die Thynier, und die Bithynier, Kikonier und Edonier, sind Nachbarn und umgeben von den Griechen der ionischen und aiolischen Stämme. Und obwohl die odrysischen Könige Amadokos und Seuthes die meisten Thraker des Nordens unter ihrer Fuchtel halten, haben wir uns doch nie zu einem Stamm oder unter einem König zusammengeschlossen, und, beim Reiter, ich für meinen Teil werde mich nie einem anderen Herrscher unterwerfen, egal on Thraker oder Grieche!“

Murmeln und Kopfnicken folgten dieser Bemerkung.

„Nichtsdestotrotz“, fuhr der König fort, „haben sich viele Griechen, schwach und feige wie sie sind, unter einer ihrer größten Städte vereint, Athen. Und die Griechen der Chersonnesos, sowohl Aiolier und Ionier, haben sich dieser Vereinigung angeschlossen, die sie „den Seebund von Delos“ nennen. Schon mal von diesem Ort gehört, Junge?“

Bryzos schüttelte den Kopf. Sein Vater gab einem seiner Diener das Zeichen, ihm ein Getränk zu reichen. Er nahm einen großen Schluck und fuhr fort.

„Das dachte ich mir. Nun, mein Junge, das bedeutet, dass jede griechische Stadt in unserem eigenen Territorium, während sie auf unseren Schutz vor den Stämmen des Nordens angewiesen ist, gleichzeitig Tribut an ihre jeweilige Liga zahlt. Und wir müssen daher irgendwie mit diesen Athenern zurechtkommen. Die Athener sind Ionier, so wie die Männer, die weiter unten an der asiatischen Küste wohnen, wie zum Beispiel die Menschen von Ephesos. Und die verdammten Athener können ihre eigene Sprache niederschreiben, können ihre Gedanken anderen übermitteln und versuchen ständig neue Verbündete zu finden und Städte zu unterwerfen. Nun, wenn wir Dolonker uns weder einem anderen Thrakischen König oder einem dieser Athener beugen wollen, sondern frei und Herrscher der Chersonnesos bleiben wollen, sollten wir uns nicht bemühen, unsere Rivalen und etwaige Feinde zu verstehen, indem wir ihnen zuhören? Indem wir herausfinden, wie sie die Dinge sehen und so von ihren Schwächen profitieren, ihre Fehler vermeiden? Denk nach, Junge! Glyptos ist Ionier! Seinen Weisheiten, aber auch seinem Gebrabbel zuzuhören befähigt uns dazu, die Athener in ihrer Art zu denken und zu handeln zu verstehen. Und wenn wir diese Dinge wissen, werden wir sie im Schlachtfeld besiegen können, wann immer es nötig ist!“

Bei diesen Worten brachen alle Mitglieder des Rates in Beifall aus, ihr Blut in Wallung gebracht bei der Erwähnung eines möglichen erneuten Krieges gegen die Griechen, im Gegensatz dazu, gezwungen zu sein, das ständige Vordringen der apsintischen Nachbarn unter der Führung ihrer beiden Könige, Skalme und Beres, auszuhalten.

„So, mein Sohn, das sollte deine Frage beantwortet haben, warum du diesem verdammten alten griechischen Trottel zuhören solltest – du sollst lernen, wie man griechisch spricht, wie man griechisch schreibt, und wie die Griechen denken! Doch jetzt ist es dafür zu spät. Solltest du eines Tages König sein, oder irgendeine Art von Herrscher, musst du lernen, sowohl zu gehorchen, als auch zu befehlen. Und du, junger Mann, kannst nicht nur beides nicht tun in der Zeit, in der du deinen Unterricht besuchen sollst, sondern du hast auch zu Genüge bewiesen, dass du keines von beidem lernen willst.“

Dies war natürlich nichts als die Wahrheit, und Bryzos wusste das nur zu gut. Doch er wagte noch einen letzten Versuch, mit seinem Vater darüber zu diskutieren.

„Mein Herr, ich weiß, ich habe nicht immer Eure Erwartungen erfüllt. Ich verspreche jedoch, dass…“

Wieder unterbrach der Vater ihn kopfschüttelnd, diesmal jedoch in einem komplett nüchternen und vernünftigen Tonfall.

„Mein Junge, für einen Prinzen der Dolonker und Nachkomme des mächtigen Hauses des Akamas wird dies nicht genügen. Momentan bist du einfach nur eine Schande. Deine Brüder trinken, spielen und huren herum – und das sollten sie auch, denn sie sind jung – aber sie nehmen am Unterricht teil und versuchen nicht dauernd ihrem Lehrer auf den Sack zu gehen, auch wenn er nur ein verdammter Grieche ist. Also habe ich eine Entscheidung getroffen und beschlossen, die Art deines Unterrichts zu ändern.“

Der König schnippte mit den Fingern, und ein einäugiger Mann mit flammend roten Haaren und Bart trat aus dem Schatten zu ihnen, hielt an und verbeugte sich.

„Dies, junger Bryzos, ist Rudas. Du bist nun sein und wirst ihm in allem gehorchenen, oder er wird dich bestrafen“, worauf Rudas ernst nickte. „Und nun verschwinde, wir haben genug Zeit mit dir verschwendet.“

Und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte sich König Ozrykes zu seinen Beratern, die sich erneut um den Tisch versammelt hatten und fuhr mit den Gesprächen, die vom Erscheinen des Prinzens unterbrochen worden waren, als sei nichts geschehen, fort. Bryzos stand da, mit geöffnetem Mund und sprachlos, und er wusste, dass alles, was er jetzt hätte sagen können, das Ganze noch wesentlich schlimmer gemacht hätte. Viel schlimmer.

Der Einäugige bewegte sich auf ihn zu, blieb vor ihm stehen und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Er war etwas größer als Bryzos und unwesentlich breiter gebaut, jedoch offensichtlich mehr an körperliche Arbeit gewohnt. Das, was von seinen Armen und Schultern sichtbar war, war bedeckt mit den für die Dolonker typischen Tätowierungen, die ihn als erfahrenen Veteranen auszeichneten, der Männer in Schlachten getötet hatte.

Wie viele der anderen war er bekleidet mit einer Tunika und einem leichten Sommermantel, und ein großer Sonnenhut hing über seinem Rücken. Seine Kleidung sah abgetragen aus, genauso wie sein breiter Ledergürtel und das Bandelier, das von seiner linken Schulter hing. Er trug abgenutzte und offensichtlich oft getragene Reiterstiefel, im Gegensatz zu den anderen anwesenden Männern mit ihren eleganten Sandalen. Die Waffe an seiner Seite war ebenfalls keine Akinakes, ein gerades Schwert, das an der rechten Hüfte an einem Gürtel befestigt wurde, sondern eine Machaira, die boshaft gebogene thrakische Klinge, für jeden Zweck geeignet, die an seiner linken Seite herabhing. Die gesamte Erscheinung des Mannes zeugte von der Tatsache, dass mit ihm nicht zu spaßen war, und er sicherlich keinen Wert auf den Austausch von Nettigkeiten legte.

„Wie soll ich dich denn nun nennen, Junge?“, fragte Rudas, schüttelte den Kopf und rümpfte die Nase beim Anblick und dem Gestank des jungen Mannes vor ihm. „Ich werde einen Teufel tun und dich ‚Prinz‘ nennen, wenn ich dir sage, dass du die Pferdescheiße wegschaffen sollst. Komm, Junge, wir gehen.“

Und er ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, an Bryzos vorbei, und verließ den Raum durch das Haupttor, ohne sich noch einmal umzusehen.

Verwirrt schaute Bryzos sich um, sah seinen Vater und die anderen Mitglieder des Rates, die über einem Dokument auf dem Tisch grübelten und ihn komplett ignorierten, während die Wachen, deren Blicke er aufgefangen hatte, entweder hämisch grinsten oder ihn anstarrten, als ob sie es hätten kommen sehen.

Als er plötzlich bemerkte, dass Rudas nicht auf ihn wartete und auch nicht anhalten würde, drehte er sich schnell um und beeilte sich, dem älteren Mann zu folgen. In der Halle mit dem Wasserbassin holte er ihn schließlich ein. Der heiße Nachmittag hatte einige der Kinder des Königs dazu veranlasst, in den Gebäuden nach Schatten zu suchen, und mittlerweile hatte sich ein halbes Dutzend Kinder, mehr oder weniger bekleidet, im und neben dem Bassin zusammengefunden, lachend und fröhlich planschend, ohne etwas außerhalb ihres Spiels wahrzunehmen. Rudas ignorierte sie, während er weiter voranschritt, was Bryzos zwang, ihm mit erniedrigender Geschwindigkeit zu folgen. Er lief an den Kindern vorbei, die ihn nicht bemerkten, und versuchte gar nicht erst, seinen Halbgeschwistern Lebwohl zu sagen.

Binnen Kurzem hatte der Krieger die Schwelle des Hauptgebäudes durchquert und bog scharf rechts ein, was ihn zur gegenüberliegenden Seite der Anlage führte, in der sich auch Bryzos Gemach befand. Nach der Standpauke seines Vaters hielt es der Prinz für weise, nicht danach zu fragen, wann er seine persönlichen Sachen abholen konnte. Nachdem sie an einer Reihe von Lagerschuppen vorbeigekommen waren, näherten sie sich dem nördlicheren der beiden Ställe, in dem die Pferde des Königs standen, und in dem auch die Stallburschen einquartiert waren. Dort wartete bereits Ziles, zufrieden lächelnd, einen Hut auf dem Kopf, um sich vor der Sonne zu schützen, und mit einem weiteren in der Hand.

„Meister Bryzos, ich bin so froh, dass Ihr hergefunden habt. Euer Vater war über die Sache mit Glyptos wohl sehr aufgebracht. Schön, dass es geklappt hat.“

Einer der Stallburschen stand ebenfalls dort, zusammen mit drei Pferden, die bereits aufgezäumt und aufbruchsbereit waren. Da weder Sättel noch Trensen bei den Thrakern gebräuchlich waren, oder in dem Falle bei den Griechen, die von ihnen die Reiterei gelernt hatten, waren die Rücken der Pferde lediglich mit gepolsterten Decken bedeckt, die unter ihren Bäuchen zusammengebunden wurden.

„Mach dich sauber“, grummelte Rudas, „so werde ich dich nicht auf ein Pferd lassen.“

Bryzos sah sich um, doch alles was er sehen konnte, war ein Trog mit kaltem Wasser. Er öffnete den Mund und drehte sich gerade um, um sich bei Rudas zu beschweren, als dieser einen Eimer mit eiskaltem Wasser in seine Richtung schwang, und den Prinzen so von Kopf bis Fuß zu durchnässte.

„Hör auf meine Zeit zu verschwenden, Junge, und leg los!“, befahl er und warf den Eimer dem Stallburschen zu, der ihn auffing, während er versuchte, bei Bryzos Anblick ein Grinsen zu unterdrücken.

Der Prinz stand einfach nur da, klitschnass und geschockt von der Kälte des Wassers.

Da er nun keine andere Wahl mehr hatte, lief er hinüber zum Trog, befreite sich von seiner beschmutzten Tunika und wusch sich rasch, wobei er nur noch seine Sandalen trug. Plötzlich lief Kersa an ihm vorbei, die eine bis zum Rand mit Weizen gefüllte Amphore trug. Als Bryzos sich umdrehte, um zu sehen, wer da kam, errötete sie ob seiner Nacktheit, verlor ihre Ladung, und verschüttete alles auf den Steinfliesen vor den Ställen. Weder Rudas noch Ziles bewegten sich, um dem Sklavenmädchen zu helfen, und so eilte Bryzos herbei. Da er in diesem Moment nicht zum Plaudern aufgelegt war, half er ihr wortlos, die Amphore auf dem Boden abzustellen und sie wieder mit seinen Händen zu befüllen, während Kersas Gesicht einen noch dunkleren Farbton annahm, als überhaupt möglich gewesen wäre.

„Ich Euch danken, Herr“, sprach sie in gebrochenem Thrakisch und eilte davon, bevor Bryzos auch nur nicken konnte.

„Ich wusste gar nicht, dass so einer wie Ihr den Bediensteten so nahesteht“, sagte Rudas, während er sich die Zügel vom Stallburschen reichen ließ und mit Leichtigkeit sein Pferd bestieg, eine graubraune Stute, die ebenso schmucklos ausgestattet war.

„Glücklicherweise nicht allzu nah“, antwortete Ziles kryptisch, was ihm einen skeptischen Blick von Bryzos einbrachte, der versuchte, seine schmutzige und nasse Tunika auszuwringen.

Der Haushofmeister lächelte schwach über seinen Blick, gab dem Prinzen einen Hut, und gestikulierte der Stallhilfe, ihm aufs Pferd zu helfen. Nach einigen peinlichen Momenten gelang es ihm aufzusitzen. Das Pferd war ein prächtiger schwarzer Wallach, dessen Satteldecke und Trense mit Silber verziert war, was im Kontrast zu seinem Fell stand.

Bryzos zog sich rasch an und übernahm das dritte Pferd, ebenfalls eine Schönheit aus dem Stall des Königs, eine kupferfarbene Stute, die der Stallbursche schwarz gesattelt und gezäumt hatte. Er griff fest nach dem linken Zügel des Pferdes und sprang auf seinen Rücken, indem er sein rechtes Bein darüber schwang.

Der Stallbursche gab ihm auf dem Weg zurück in den Stall die Zügel in die Hand und auf Ziles Frage „Wollen wir nun?“, ritten die drei los.

Bryzos hatte keine Zeit gehabt, weder ein paar seiner Klamotten, noch etwas von dem Schmuck, den er besaß, mitzunehmen; auch nichts seiner restlichen persönlichen Gegenstände, wie etwa seiner Akinakes, dem Schwert, das sein Vater ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte.

„Wo ist dein Gepäck, Ziles?“, fragte Bryzos, während er den Strohhut aufsetzte, der ihm beim Aufbruch gegeben worden war, als sie durch das Haupttor ritten, welches aus der Residenz heraus auf die Straße am Fuße des Hügels führte. Rudas ignorierte diese Bemerkung und ritt voraus.

„Sorgt Euch nicht darum, Herr. Es wurde sich um alles gekümmert, und wir werden nicht lange unterwegs sein“, antwortete Ziles lächelnd.

Diese Antwort besänftigte den Prinzen überhaupt nicht. Es war offensichtlich, sowohl durch Ziles unbeteiligtes Verhalten als auch durch das vollkommene Desinteresse von Rudas, dass diese Dinge nicht zur Diskussion standen. Er nickte Ziles zu, der erneut mit einem Lächeln antwortete, und sie ritten weiter, um am Haupttor zu halten. Die beiden diensthabenden Wachen aus König Ozrykes Gefolge sahen die drei an, winkten Ziles und Rudas durch und grinsten Bryzos hämisch an. Anscheinend wussten mittlerweile nicht nur seine beiden Begleiter, sondern alle Mitglieder der Wache, was ihn erwarten würde. Langsam beunruhigte Bryzos diese Tatsache.

Je weiter die Pferde in Richtung des Dorfes von Keirpara kamen, welches die Hälfte des Hügels umgab, desto mehr sank auch Bryzos Stimmung.

Sonketa

Während die Drei schweigend nebeneinander her geritten waren, war der Nachmittag zur Neige gegangen. Nachdem sie die Ausläufer von König Ozrykes Anwesen passiert hatten, waren sie nach Westen geritten, und an einigen Dörfern vorbeigekommen, die zum Herrschaftsgebiet des Königs gehörten, und so schließlich zur Küste gelangt. Keiner seiner Begleiter hatte es bis jetzt für nötig gehalten, Bryzos über ihr Ziel aufzuklären.

Wahrscheinlich Sonketa, dachte er finster, wo auch immer dieses Kaff liegen mochte. Sicherlich war es irgendein nach Pferdescheiße stinkendes Loch, wo die Schweine besser aussehen als die Pferde und die Pferde besser als die Weiber. Bestimmt gibt es da nicht mal was Anständiges zu trinken. Was für ein Albtraum.

Sie ritten eine staubige Landstraße hinunter, die umgeben war von zwei Feldern, auf denen das Getreide prächtig gedieh und bald geerntet werden wollte. Dahinter lag ein kleiner Pinienwald, der offensichtlich vor einiger Zeit von einem Feuer heimgesucht worden war. Bei Bendis, dies war also der Arsch der Welt. Bryzos Laune sank weiter. Was zur Hölle hab ich hier zu suchen? dachte er bei sich.

Die Straße stieg an, und nachdemsie die abgebrannten Stümpfe des Pinienwaldes hinter sich gelassen hatten, trafen sie auf einen Hügel. Rudas hielt sein Pferd an und stieg ab. Er wandte sich den beiden anderen zu und sprach das erste Wort, seit sie aufgebrochen waren.

„Sonketa.“

Wie Ziles es versprochen hatte, waren sie nur wenige Stunden unterwegs gewesen.

„Wir sind angekommen, Meister Bryzos“, bemerkte Ziles, immer noch auf seinem Pferd sitzend. „Wäret Ihr so gütig, von Eurem Pferd zu steigen?“

Sie standen nun auf der Anhöhe, die sanft in ein Tal hinabfiel, an dessen Horizont der Golf von Melas zu erahnen war, wo gerade die Sonne unterging, die somit ebenfalls ihr Ziel erreicht hatte. Sonketa war nicht so groß wie Bryzos Heimat Keirpara, aber bei weitem kein Kaff, wie er es zunächst befürchtet hatte. Es war ein schön gelegenerOrt, umgeben von Getreidefeldern. Schafe grasten auf den Hügeln der Umgebung, und ein Bach plätscherte in der Nähe.

Vielleicht doch nicht so schlecht, dachte Bryzos, während er gedankenverloren abstieg und Ziles die Zügel in die Hand drückte. Hatte der Könignicht etwas von Rudas drei gutaussehenden Töchtern erzählt? Er wäre zumindest nicht der erste Vater, den der Prinz überlistet hätte. Bryzos grinste und wandte sich Ziles zu, der immer noch die Zügel in der Hand hielt, aber keinerlei Anstalten machte, vom Pferd zu steigen.

„Was ist denn jetzt mit unserem Gepäck, Ziles? Du sagtest, es würde sich darum gekümmert werden?“

„Oh, macht Euch keine Sorgen, Herr, Rudas wird das übernehmen. Und nun sage ich Euch hiermit Lebwohl!“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte er die Pferde um, trieb sie an, galoppierte den Hügel hinunter, und war bald im Pinienwald verschwunden.

Plötzlich überkam Bryzos ein mulmiges Gefühl, und seine Euphorie war mit einem Mal wie weggeblasen. Er öffnete den Mund, um Ziles etwas hinterherzurufen, fand jedoch keine passenden Worte; und als er seine Sinne wieder beisammenhatte, war Ziles bereits außer Sichtweite.

„Verdammte Griechen“, murmelte er.

Das war alles, was er zustande brachte.

Rudas hatte alles beobachtet, ohne ein Wort zu sagen, und als sich Bryzos schließlich wieder umwandte und ihn ansah, nickte er, und führte sein Pferd die Straße hinab in Richtung Dorf. Einige nackte Kinder liefen an ihnen vorüber zum Bach hin. Sie schienen komplett in ihrer Welt zu sein, nicht wahrnehmend, was um sie herum geschah, und Rudas musste bei ihrem Anblick unwillkürlich lächeln. Im Gegensatz zu ihren griechischen Nachbarn, die Wert auf eine strenge Erziehung mit der Rute legten und darauf achteten, ihre Kinder nicht allzu sehr zu verwöhnen, vergötterten die Thraker ihre Sprösslinge regelrecht und erlaubten ihnen, alles zu tun, wonach ihnen der Sinn stand, solange sie noch klein waren. Ein Privileg, dem Bryzos offensichtlich entwachsen war, ohne es bemerkt zu haben.

Als sie im Dorf ankamen, trafen sie auf Männer und Frauen, Freie und Sklaven, die ihrem Tagewerk nachgingen. Alle begrüßten Rudas, der lächelte, winkte, und hier und da ein paar Worte wechselte, je nachdem, wer ihm gerade über den Weg lief. Offensichtlich war der bärenhafte Krieger ein gern gesehenes Gesicht, dachte Bryzos bei sich.

Keiner der Leute, die sie trafen, machte Anstalten, sich mit dem Prinzen zu unterhalten. Sie ignorierten ihn, während sie mit Rudas plauderten. Jedoch musterten sie ihn und sein schickes Gewand hin und wieder verstohlen, wies es ihn doch ganz offensichtlich als Fremden aus:Bryzos trugleichte Sandalen, die für ernstzunehmende körperliche Arbeiten, jagen oder wandern, gänzlich ungeeignet waren; dazu eine hellrote, wenn auch mittlerweile nicht mehr allzu vorzeigbare Tunika, und den auffälligen Mantel, den Ziles ihm unterwegs aufgeschwatzt hatte. Im Augenwinkel sah er sogar zwei Mädchen, die flüsternd und kichernd mit dem Finger auf ihn zeigten.

Zum ersten Mal in seinem Leben, was nun immerhin schon vierzehn oder fünfzehn Jahre andauerte, fühlte er sich schrecklich fehl am Platz. Bis jetzt war es ihm einerlei gewesen, was und wann er essen oder trinken würde, oder wo – und insbesondere mit wem – er schlafen würde, war er doch immer von Menschen umgeben gewesen, die wussten, dass er der Sohn des Königs war, und entsprechend für ihn sorgten. In diesem Dorf aber, auf dem Land, wo Männer und Frauen zum Arbeiten und nicht zum Angeben angezogen waren, war er nicht mehr als ein extravagant gekleideter Schönling.

Irgendwo in der Mitte des Dorfes bogen sie erst nach rechts, dann nach links ab, was sie auf eine Straße brachte, die zu einem Haus führte, welches etwas abseits der Siedlung stand. Als sie näherkamen, liefen mehrere Leute winkend und lachend auf sie zu, um sie zu begrüßen. Ein Junge rannte auf Rudas zu und warf sich jubelnd in die Arme seines Vaters.

„Kenthas!“, rief Rudas. Er lachte, warf den kleinen Jungen mehrmals in die Luft und fing ihn mit seinen starken Armen wieder auf. „Und hier sind ja Ida, Kira und Ilis, meine Schönheiten!“

Der Rest der Familie, von dem zwei offensichtlich seine Frauen waren, und einMädchen, das in Bryzos Alter zu sein schien, versammelten sich um sie, tauschten Küsse und Umarmungen aus, und redeten alle auf einmal auf Rudas ein, der mit einem Mal seine lakonische Haltung abgelegt hatte.

Wie hübsch, dachte der Prinz. Ein verdammtes Familientreffen. Hoffentlich kann wenigstens eines der beiden Weiber kochen. Ein weiterer Junge, der offensichtlich nicht zu Rudas engerem Familienkreis gehörte und ein wenig abseits vom Begrüßungsgetümmel stand, nahm das Pferd des Hausherrn bei den Zügeln und folgte den anderen, als sie sich langsam auf den Weg zum Haus machten. Er war barfuß und trug eine Exomis, eine einfache Arbeitskutte, die seine rechte Schulter entblößte, und mit einem einfachen Seil um die Hüften zusammengebunden war.

Der Stallbursche blieb zurück und stellte sich vor

„Hallo du da! Ich bin Rakas, ich kümmere mich um Meister Rudas Pferde. Wie heißt du, und warum bist du so seltsam angezogen?“

Bryzos öffnete den Mund um zu antworten, aber wie bereits einige Male zuvor, und wie es sonst so gar nicht seine Art war, fehlten ihm die Worte.

„Mach lieber den Mund zu, bevor da Fliegen reinkommen!“ lachte Rakas und schlug ihm auf die Schulter. „Dann komm mal mit, schweigender Schönling, lass uns erst nach den Pferden sehen, dann können auch wir essen gehen.“

Er nahm das Pferd bei den Zügeln und führte es zum Stall. Immer noch unsicher darüber, was er sagen sollte, brachte der Prinz schließlich „Ach ja, also ich… ich heiße Bryzos“ hervor und folgte Rakas zu den Ställen.

Wie jeder junge Mann von Stand war Bryzos mit Pferden aufgewachsen und wusste, wie er mit den Tieren umzugehen hatte. Er hatte sich jedoch nie wirklich um sich selbst kümmern müssen. Da ihn niemand mit ins Haus hineingenommen hatte, folgte er nun einfach Rakas.

Bryzos hängte seinen Mantel über eine der Stallungen und begann, das Pferd mit Stroh abzureiben, während der Stallbursche ihm genau erklärte, was zu tun war. Dann endlich, als alle Tiere mit Heu und Wasser versorgt waren, bedeutete Rakas ihm, dass das Tagwerk geschafft sei.

„Gut, Bryzos, wir sind fertig. Deine schicken Sandalen taugen wohl auch nur zum Sitzen. Wir sollten uns waschen gehen und uns etwas zu beißen besorgen!“

Erneut schlug er dem Prinzen auf die Schulter und verließ den Stall in Richtung Haupthaus. Die Dämmerung brach langsam herein.

***

Rudas und die Kinder saßen an einem langen Tisch aus massivem Holz und wurden von den beiden Frauen, die Bryzos richtigerweise als Rakas Ehefrauen erkannt hatte, und einem dunkelhaarigen Mädchen, offensichtlich einegriechische Sklavin, bewirtet.

„Wie ich sehe, hast du Rakas bereits kennengelernt“, sagte Rudas. Seine Stimme hatte die Wärme, mit der er mit seiner Familie sprach, mit einem Mal wieder verloren. „Gut. Setz dich und iss. Hört zu, alle miteinander: Dies hier ist der junge Bryzos, sein Vater ist Mitglied im Königsrat. Er wird eine Zeit lang bei uns leben.“

Der Prinz bemerkte, dass Rudas nicht erwähnt hatte, dass sein Vater natürlich im Königsrat saß, weil er selbst der König war, ließ diese Abwertung aber kommentarlos über sich ergehen. Wenn er für längere Zeit mit diesem Mann und seiner Familie unter einem Dach leben sollte, sollte er es sich besser nicht gleich mit ihnen verscherzen.

Die Kinder machten etwas Platz für Rakas und Bryzos, und als sie sich links von Rudas niederließen, begannen sie, ihn Löcher in den Bauch zu fragen, wer er war, wo er herkam, und wer sein Vater war.

„Lasst den Burschen zufrieden“, bestimmte Rudas, und ohne dass er seine Stimme erheben musste, erstarb das Geplapper im Nu.

Auch Rudas Frauen hatten mittlerweile Platz genommen, und alle bis auf das Sklavenmädchen begannen zu essen. Bryzos lauschte den Unterhaltungen, die sich um die Arbeit des Hausherrn bei Gericht drehten, und er merkte, wie hungrig er eigentlich war. Das letzte anständige Mahl hatte er am Abend zuvor zu sich genommen, und der lange Ritt und die Arbeit im Stall hatten ihn dermaßen ausgezehrt, dass er das Essen nur so in sich hineinschaufelte und alles um sich herum vergaß. Was für ein Tag, dachte Bryzos bei sich. Gestern Morgen hatte er noch einem blöden alten Griechen zugehört, der über Gott und die Welt schwadronierte, sich mit seinen Freunden betrunken, und sich mit Germas im Heu gewälzt. Dann war er von Ziles aufgeweckt und von seinem Vater aus dem Haus geworfen worden.Und so war innerhalb eines Tages aus ‚Prinz Bryzos‘‚Bryzos der Stallbursche‘ geworden, und…

„Junger Mann! Hör mir verdammt noch mal zu wenn ich dir etwas zu sagen habe!“, rief Rudas in seiner ungehaltenen Art und schüttelte ihn. Bryzos lief rot an und schluckte beschämt, als er merkte, dass jeder am Tisch ihn anstarrte.

„Ja, Meister Rudas? Entschuldigt, ich war so hungrig nach der langen Reise, und Euer Essen schmeckt so köstlich, und…“

„Halt den Mund“, unterbrach ihn der Krieger. „Du wirst bei Rakas schlafen.“ Der Stallbursche zwinkerte ihm zu. „Er wird dich in die Arbeit mit den Pferden einweisen. Morgen werden Ieter und du mir bei der Musterung unserer Truppe Gesellschaft leisten. Der König versammelt seine Einheiten, wir werden in den Krieg ziehen.“

Daraufhin erstarben die Tischgespräche, während Rudas, der mit dieser Nachricht alle überrascht hatte, sich zurücklehnte und an seinem Bier nippte. Bryzos, der gleichermaßen überrumpelt war, schwieg. Dies war also seine Lektion: Er sollte kein Stallbursche werden, sondern ein richtiger Thraker. Er lächelte in sich hinein und stellte sich vor, welch große Taten er vollbringen würde und wie stolz sein Vater, König Ozrykes, auf ihn sein würde, und…

„Bryzos, bei den Eiern des Reiters, reiß dich zusammen und hör auf zu träumen!“, bellte Rudas ihn erneut an. „Eine Sache noch, hör gut zu. Diese drei Schönheiten“ – er wies auf drei Mädchen, von denen eine zu seiner Rechten und zwei, offenbar Zwillinge, gegenüber von Bryzos saßen – „sind meine Töchter.“

Und wahrlich, Rudas hatte Recht, sie waren alle drei wunderschön. Nicht auf dieselbe Art und Weise wie die thrakischen Mädchen, die blond, groß und gut gebaut waren, sondern wie die griechischen: Ihr Haar war kohlrabenschwarz und rahmte ihre zarten Gesichter ein. Ihre dunklen Augen strahlten genauso wie ihr bezauberndes Lächeln. Ihre Haut, die von dunklerer Farbe war als die der Thrakerinnen, passte zu ihren Haaren. Diese mandeläugigen Schönheiten waren mit Abstand die schönsten Mädchen, die Bryzos je gesehen hatte. Das andere Mädchen jedoch kam offensichtlich nach ihrem Vater; sie war ein typisch thrakischer Rotschopf.

„Aua!“ Ein abgenagtes Hühnerbein traf ihn im Gesicht. „Verzeiht, Meister Rudas, was habt Ihr gesagt?“

Der gesamte Tisch brach in Gelächter aus. Bryzos lief erneut rot an. Das Lachen der Zwillinge war so bezaubernd, dass es ihm regelrecht Gänsehaut bereitete.

„Was zur Hölle hast du eigentlich den ganzen Tag in Keirpara gemacht! Ich wundere mich, dass ihr da drüben nicht den ganzen Tag über eure eigenen Füße fallt!“, blaffte Rudas, was das Gelächter noch weiter anheizte. „An sich ist mir das ja egal. Aber hier weht ein anderer Wind, Freundchen. Was ich sagte, war: Diese drei Mädchen sind meine Töchter. Dies hier ist Kira“, woraufhin das rothaarige Mädchen nickte und lächelte, „und die anderen beiden Schönheiten hier“, er wies auf die Zwillinge, „sind Ida und Ilis. Alle drei sind mein ganzer Stolz und der Stern meines noch verbliebenen Auges. Wenn du dich auch nur wagst, sie länger als drei Sekunden anzuschauen, geschweige denn sie anzutatschen, werde ich mich vergessen. Hast du verstanden?“ Er blickte ernst zu seinen Töchtern, die ihn anstrahlten. „Ich werde dafür sorgen, dass du es bereust, denn ich werde dir deinen Schwanz abschneiden, bevor ich dich umbringe. Und nicht, dass wir uns hier falsch verstehen; dies sind die Anweisungen deines Vaters. ‚Erinnere ihn an den verdammten Glyptos‘, waren seine Worte, wenn ich mich recht erinnere. Ich rate dir, dich daran zu halten, denn für gewöhnlich lasse ich meinen Worten auch Taten folgen.“

Bryzos wusste, dass Rudas es ernst meinte. Mit jemandem, der damit drohte, anderen Leuten das Gemächt abzuschneiden, sollte man besser keine Scherze treiben. Offensichtlich war die Familie Rudas Tonfall gewohnt; die Zwillinge schienen zumindest nicht besonders verwundert über seine Ausdrucksweise. Immerhin war man hier auf dem Land.

Sofort antwortete Bryzos: „Jawohl Hauptmann, vielen Dank, dass Ihr mich in Euer Haus aufgenommen habt. Ich werde die Ehre Eurer Töchter mit meiner eigenen verteidigen. Darauf habt Ihr mein Wort.“

Daraufhin lächelten die Zwillinge wieder, und plötzlich fiel es dem Prinzen nicht mehr allzu schwer, das Kitzeln in seiner Lendengegend zu unterdrücken.

„Gut, du bist gewarnt. Frauen, räumt den Tisch ab, ich würde gerne noch etwas trinken, bevor ich ins Bett gehe.“

***

Der nächste Morgen begann so gar nicht, wie der Prinz es gewohnt war. Rakas erwachte bereits vor Sonnenaufgang, zu einer Tageszeit, die Bryzos nicht wirklich geläufig war, schlüpfte in dieselbe Tunika, die er gestern bereits getragen hatte, und machte sich auf den Weg zu den Pferden. Zum Glück keinen Kater, dachte Bryzos. Einen feinen Eindruck hätte er hinterlassen, wenn ihn jemand hier in seinem gestrigen Zustand gesehen hätte. Er gähnte, warf die Decke zur Seite und schwang seine Füße aus dem Bett. Zunächst war er etwas orientierungslos, obwohl er daran gewöhnt war, in anderer Leute – genauer gesagt in anderer Frauen – Betten aufzuwachen; dies geschah jedoch selten zu einer solch götterlosen Tageszeit.

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass sich sein Leben gestern von einen auf den anderen Tag radikal geändert hatte: Als er gestern Morgen, oder –um ehrlich zu sein – gestern Mittag aufgewacht war, war er ein Prinz der Dolonker gewesen, hatte zwei Kisten voll edler Kleidung, hübschem Schmuck, der seine Vorzüge zur Geltung brachte, und ein Schwert besessen und konnte sich bei den Pferden und Sklavinnen des Königs bedienen, wann immer ihm gerade der Sinn danach stand. Nun war er nicht mehr als ein Stallgehilfe, der die Kammer mit dem Bediensteten des Dorfhauptmannes teilte.

„Morgen, Meister Bryzos“, sagte das Sklavenmädchen, das sie gestern bei Tisch bedient hatte, und trat ein ohne anzuklopfen, womit sie Bryzos aus seinen Tagträumen riss.

Obwohl sie nur eine Sklavin war, verspürte Bryzos plötzlich das dringende Bedürfnis, seine Blöße zu bedecken.Er hatte wie immer nackt geschlafen. Und obwohl er sonst kein großer Freund von Sittsamkeit war, schien sie ihm in diesem Moment angebracht.

Das Mädchen lächelte und sagte „Ich sein Nane. Rakas wohl schon verschwunden, wie ich sehen. Das hier für dich zum Anziehen. Du kommen in große Halle zum Frühstück, ja?“

Sie ließ eine frisch gewaschene Tunika und einen Gürtel aus Seil auf sein Bett fallen und schlüpfte wieder zur Tür hinaus. Die Art von Vertrautheit, mit der Nane über Rakas gesprochen hatte, gab ihm den Eindruck, dass die beiden mehr verband als nur Freundschaft. Also gibt es hier wohl doch das ein oder andere Schäferstündchen, dachte Bryzos grinsend, zog seine Tunika an und ging zum Frühstück.

Beim Essen unterrichtete Rudas Bryzos, Ieter und Rakas über die Vorhaben der folgenden Tage. Zum ersten Mal bemerkte Bryzos die Narbe auf der Schulter von Ieter, welche ein Zackenmuster über zwei breiten Balken bildete. Rudas erklärte, dass alle drei ihn zum Hauptmann des Nachbardorfes begleiten würden. Der König hatte ein Treffen angeordnet, bei dem sich alle freien Dolonker und seine griechischen Untertanen der nordwestlichen Chersonnesos zählen lassen sollten.

Nachdem sie ihr Mahl beendet hatten, was aus Resten des Brotes von gestern, kalter Bohnensuppe und einem Stück Ziegenkäse bestand, gab Rudas Bryzos eine Lederscheide, in der ein kleines Messer steckte.

„Nun, soweit ich sehen kann, bist du noch kein richtiger Krieger. Trotzdem sollte ein freier Mann nicht ohne Klinge aus dem Haus gehen. Gebrauche es weise!“ sagte er barsch, offensichtlich nicht davon überzeugt, dass Bryzos sich daran halten würde.

Der Prinz dankte ihm und befestigte das Messer an dem Seil, welches ihm als Gürtel diente, denn seltsamerweise war sein Ledergürtel mitsamt seiner Tunika über Nacht verschwunden. Danach waren sie bereit zum Aufbruch, denn Rakas hatte sich selbstverständlich bereits um die Pferde gekümmert. Bryzos wurden die Zügel einer unbegeistert dreinblickenden, rotbraunen Stute in die Hand gedrückt, und sie ritten los, mit Rudas an der Spitze.

Nach einem kurzen Ritt durch einen kleinen Pinienwald erklärte Rudas, sie seien nun in Kurtabria, einem Ort mit dem recht offensichtlichen Namen „Baumhaindorf“. Sie stiegen nicht ab, was Bryzos darüber nachdenken ließ, warum der Hauptmann gestern von seinem Pferd gestiegen war, bevor sie Sonketa erreicht hatten. Vielleicht, weil er dort zuhause war? Oder wollte er den Rest von Bryzos Ehre bewahren und ihn nicht als einfachen Diener dastehen lassen, der laufen musste, während sein „Herr“ auf einem Pferderücken saß? Langsam aber sicher lernte er den lakonischen Hauptmann zu schätzen.

Zu dieser Tageszeit waren die meisten der Dorfbewohner freilich schon zu ihren Feldern, Gärten und Schafen aufgebrochen. Rudas führte die kleine Gruppe die Hauptstraße entlang, vorbei an nachlässig eingezäunten Gemüsebeeten, auf denen Bohnen, Trauben, und der ein oder andere Olivenbaum wuchsen, und Trampelpfaden, die zu den eigentlichen Bauernhäusern führten. Endlich blieben sie vor dem Garten eines großen, einstöckigen Gehöfts stehen. Rudas stieg vom Pferd, drückte Rakas wortlos die Zügel in die Hand, lief hinüber zum Haupteingang und klopfte an.

Daraufhin öffnete ein Bediensteter, ein thrakischer Junge, und sagte: „Hauptmann Rudas! Oh, und Ieter! Wie kann ich Euch zu Diensten sein?“

„Wir sind hier um den Herrn des Hauses zu treffen, Hauptmann Saimas“, sagte Rudas mit lauter Stimme. Offensichtlich war diese Information für Bryzos bestimmt. „Sei so gut, schicke jemanden nach den Pferden und sag ihm, dass ich hier bin.“

Der Junge nickte und schloss die Tür.

Rudas bedeutete Rakas, abzusteigen, und Ieter und Bryzos taten es ihm gleich. Rakas und der Prinz führten die Pferde in den Garten, während Ieter seinem Vater folgte.

Als sie wieder zu Rudas und Ieter stießen, öffnete sich die Tür erneut, und ein weiterer thrakischer Diener, diesmal der Stallbursche, trat hinaus, nickte dem Hauptmann zu, sagte „Kommt mit, ihr beiden, wir werden euren Pferden etwas zu trinken geben“, und führte Bryzos und Rakas zu den Ställen, die hinter dem Haus lagen. Hier banden sie die Pferde an einem Balken fest, unter dem ein mit Wasser gefüllter Trog stand, aus dem die Pferde trinken konnten.

„Und wir“, fragte Bryzos, „bekommen wir nun auch etwas zu trinken?“, woraufhin Rakas schelmisch grinste.

Aus einer der zahlreichen Falten seiner Tunika zog er eine Lederflasche, entkorkte sie und wedelte damit vor ihren Nasen herum, damit sie das feine Bouquet riechen konnten.

„Keine Sorge, Bryzos, ich habe noch nie gesehen, dass Antzeri sich vor einem ordentlichen Schluck Brytos gedrückt hätte. Stimmt’s, alter Knabe?“

Der andere Junge nickte, nahm den ersten Schluck, seufzte zufrieden und leckte sich die Lippen.

„Dies, meine Freunde, ist das beste Bier des Hauptmanns, und nur für die Bediensteten – nicht diese ekelhafte Drecksbrühe, die er seinen geschätzten Gästen vorsetzt.“

Daraufhin brachen alle drei in schallendes Gelächter aus, und Rakas streckte die Hand nach der Flasche aus.

„Sag mal“, wandte sich Antzeri an seinen Freund Rakas, „weißt du, was unsere Herren da drin besprechen?“

Rakas, der immer noch den Mund voll Bier hatte, schluckte, und seine Augen weiteten sich.

„Mann, das ist wirklich gutes Zeug, mein Lieber! Hauptmann Saimas lässt sich wirklich nicht lumpen!“ Er gab die Flasche an Bryzos weiter und antwortete: „Um den Krieg geht es. Rudas ist hier, um die Krieger aus dem Norden einzuberufen.“

Der Prinz nippte an der Flasche. Obwohldas wirklich kein schlechter Tropfen war, konnte er die Begeisterung der beiden anderen nicht ganz nachvollziehen. Wahrscheinlich war er einfach Besseres gewohnt, dachte er bei sich und beließ es dabei.

„Ziemlich gut, das Bier“, sagte er zu den anderen und gab die Flasche an den Stalljungen zurück, der schon wieder gierig darauf geschielt hatte.

Die Unterhaltung drehte sich nun darum, gegen wen die Dolonker als nächstes in denKrieg ziehen würden. Es schien wahrscheinlich, dass sie sich mit den Griechen verbinden würden, die auf der Halbinsel lebten, obwohl sie diese im Allgemeinen für Schwächlinge hielten. Im Gegenzug dazu waren die Dolonker in den Augen der Griechen nichts weiter als der Inbegriff des Barbarentums, wobei sie sich selber als die aufgeklärten Gesandten des Prometheus sahen. Im Laufe der Diskussion bemerkte Bryzos erstaunt, wie gut die anderen beiden Jungen über die Lage informiert waren- zumindest für Landeier. Er wusste, dass die Mehrheit der Griechen Aiolier oder Ionier waren, doch bis vor kurzem war ihm dafür beispielsweise der „Seebund von Delos“, den sein Vater erwähnt hatte, gänzlich unbekannt gewesen. Für ihn klang es nach einer griechischen Stadt, von der er nicht wusste, wo sie lag.

Die beiden Jungen wussten sehr genau Bescheid über die Zahl der Krieger, die den Hauptmännern unterstanden, wie groß diese Zahl im Gegensatz zum Aufgebot möglicher Gegner war, und wie lange es brauchen würde, um sie aus den umliegenden Orten hier zu versammeln. Immerhin war es für sie nicht das erste Mal, dass ein Krieg bevorstand.

Langsam aber sicher beschlich Bryzos das Gefühl, dass er es gewesen war, der am Ende der Welt gewohnt hatte. Er hätte keine Antwort auf die Frage nach der Größe und Stärke der Armee seines Vaters geben können, geschweige denn Auskunft über ihre Ausrüstung, Kampfkapazitäten und Kriegsbereitschaft. In diesem Moment, während er mit ein paar Typen, die ihr Brot damit verdienten, Pferdescheiße zu schaufeln, draußen vor einem Stall stand, barfuß und mit einer geliehenen Tunika bekleidet, wurde ihm klar, dass der Monolog, den sein Vater tags zuvor in der großen Halle über „Thrakische Größe“, seine stolze Herkunft und das Haus Akamas gehalten hatte, kompletter Schwachsinn gewesen war. Er, der Märchenprinz aus dem Haus des Königs, der Herrscher von Keirpara, war hier der Dorftrottel. Und das Geschwätz darüber, dass die Thraker als Krieger geboren seien, war eben nichts anderes als Geschwätz. Er wusste nichts über den Krieg, überhaupt nichts, und diese beiden Jungen, die wahrscheinlich noch nie solche berühmten Krieger wie den Bullen oder Zeuxidas zu Gesicht bekommen hatten, würden mit ihren Herren in den Krieg ziehen müssen.

Er erinnerte sich an das skythische Sprichwort: „Gott hat dir zwei Augen und zwei Ohren gegeben, aber nur einen Mund, dass Du mehr siehst und hörst, als du sagen kannst.“ Daraufhin beschloss Bryzos, dass sein Leben einiges an Veränderung bedurfte. Er wusste noch nicht, wie und inwiefern er das bewerkstelligen konnte, doch er beschloss, seine Augen und Ohren offen zu halten, bis er mehr in Erfahrung gebracht hatte.

Die anderen beiden nahmen sein gedankenvolles Schweigen und die Tatsache, dass er sich kaum an der Unterhaltung beteiligt hatte,kommentarlos hin und gaben noch einmal die Flasche reihum. Als sie hörten, dass sich jemand näherte, verschwand die Lederflasche mit dem Bier, von dem nur noch wenig übriggeblieben war, wieder in Antzeris Tunika. Die beiden Hauptmänner, begleitet von Ieter, musterten die Jungen, und ihre Augen und das schelmische Lächeln des jungen Mannes verrieten, dass sie genau wussten, was die drei Burschen innerhalb der vergangenen Stunde getrieben hatten.

Saimas reckte schnuppernd seine Nase in die Luft, sagte aber nur: „Ich hoffe, dass die Pferde auch etwas zu trinken bekommen haben.“ Er wandte sich zu Rudas und umarmte ihn. „Wir sehen uns am selben Treffpunkt wie immer, alter Freund. Ich werde unseren Leuten an der Küste eine Nachricht zukommen lassen und mit meinen Männern an besagtem Tag auf dich warten. Vergiss nicht, ein Auge auf den Wachmann zu werfen, diesen Bullen.“

„Ich habe dem König bereits gesagt, dass mir dieser Typ nicht behagt. Aber er meinte daraufhin nur: ‚Solange ich ihn bezahle, wird dieser Bastard auch kämpfen‘. Du weißt ja, wie er ist“, sagte Rudas und zuckte mit den Schultern.

„Das mag zwar sein, aber gegen wen?“, antwortete Saimas. „Ieter, grüß deine Mutter schön von mir“, fügte er hinzu, um das Thema zu wechseln, als er bemerkte, dass die drei Jungen ihrem Gespräch interessiert gelauscht hatten. Dann sagte er zu Antzeri gewandt: „Bursche, mach mein Pferd reisefertig, wir reiten zur Küste.“

Antzeri sprang auf, wobei er fast seinen Schuh verlor und ging mit seinem Herrn zum Stall.

Nachdem Ieter sein Pferd bestiegen hatte, sagte Rudas: „Das wäre also erledigt. Auf nach Ketrepiza. Wir müssen noch einiges an Weg zurücklegen, bis wir für heute fertig sind, also übertreibt es nicht mit dem Tempo, klar?“, Rudas machte die Zügel von dem Geländer los, an welchem sie die Pferde festgebunden hatten, tätschelte seinem Pferd den Hals und schwang sich mit einer flüssigen Bewegung, die die seiner jüngeren Begleiter in den Schatten stellte, auf sein Pferd. „Auf was wartet ihr denn noch? Los geht’s!“

Er nickte seinem Sohn zu, wendete das Tier und ritt zum Tor hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.

Wie sich herausstellte, wussten Rakas und Bryzos zwar, wie man mit Pferden umzugehen hatte, und auch, wie man mit Alkohol umzugehen hatte; jedoch stellte die Kombination von beidem eine größere Herausforderung dar, als zunächst gedacht. Nachdem beide einige Flüche losgeworden waren und sich ausreichend blamiert hatten, schafften sie es schließlich doch, halbwegs aufrecht auf ihren Pferden Platz zu nehmen, um wenig später Rudas und Ieter einzuholen.

„Zu Schade, dass ihr mit den Pferden beschäftigt wart, Jungs, Saimas Frau braut wirklich vorzügliches Bier“, sagte Rudas kopfschüttelnd und schnaubte abfällig.

Dann machten sie sich auf den Weg nach Ketrepiza.

***

Sie ritten die Straße entlang, die durch die Hügel der Halbinsel führte, machten einen Bogen um die griechische Stadt Kallipolis, die nicht zu König Ozrykes Herrschaftsgebiet gehörte, und setzten ihren Weg weiter südlich am Kamm der Berge entlang fort. Bryzos hatte unterwegs einige illustre Siedlungen besucht, wie beispielsweise Siltas, Dingavas oder Zilmadatan, Bekanntschaft mit einem halben Dutzend Stallburschen und -mädchen gemacht, von den besten Feigen der Welt gekostet, und einige der hiesig gebrauten alkoholischen Getränke probiert. Das Leben als Stallbursche schien demnach besser zu sein als sein Ruf.

Rakas und Bryzos litten sichtlich unter ihrem Kater, und auch Ieter, der eine tapfere Miene aufgesetzt hatte, konnte die Nachwirkungen der letzten Nächte nicht vollkommen verbergen. Dem Hauptmann hingegen, der auch auf den einen oder anderen Krug Bier eingeladen worden war, schien es nichts auszumachen, den ganzen Tag auf dem Pferd zu sitzen, um abends den Wirten in den Schenken ein guter Gast zu sein.

Die Straße führte durch einen kleinen Pinienwald und stieß direkt dahinter auf einen kleinen Bach, der an einigen Stellen recht seicht war, sodass sie ihn ohne Probleme durchqueren konnten. Rudas hielt sein Pferd an und wandte sich seinen drei jüngeren Begleitern zu.

„So wie es aussieht, sind die feinen Herren immer noch ordentlich beschwipst. Und um ehrlich zu sein, bin ich selbst auch noch nicht ganz nüchtern. Das Problem ist nur, dass hinter diesem Wald Agora liegt.“

Es klang mehr nach A-goa-raaaah. Offensichtlich war der Hauptmann nicht vollständig Herr über seine Zunge, denn der Restalkohol bereitete ihm Probleme, das griechische Wort ordentlich auszusprechen. „Und die verdammten Griechen sorgen immer für Ärger, Jungs, auch wenn sie verdammt noch mal unsere Verbündeten sind. Es ist wohl besser, wenn wir vorher noch mal ordentlich ausnüchtern.“ Er ritt mit seinem Pferd durch den Fluss, stieg auf der anderen Seite ab und band das Tier an einem Busch fest, dann hing er seinen Hut und seinen Mantel daneben und schlüpfte aus seiner Tunika. Das war das erste Mal, dass Bryzos die Ausmaße der Kriegsverletzungen und Tätowierungen auf dem nackten Oberkörper des Hauptmanns sah, und er fragte sich, was dieser Mann getan haben musste, um so auszusehen. Der Hauptmann watete weiter in den Fluss hinein, bis zu der Stelle, an der das Wasser etwas tiefer wurde, bis er knietief in der Strömung stand. Das Wasser war angenehm kühl, und der Hauptmann beugte sich nach vorne, tauchte seinen Kopf hinein und benetzte seine Schultern damit.

Als er wieder auftauchte, um Luft zu holen, sagte er: „Auf was wartet ihr noch?“

Daraufhin überquerten die drei Jungen ebenfalls den Fluss, bandendie Pferde fest, und zogen sich aus, um sich selbst im kühlen Nass zu erfrischen, bis auf Rakas, der sich damit begnügte, ein paar Kieselsteine übers Wasser springen zu lassen. Die beiden anderen lachten darüber, während sich Rudas ob dieser Kindereien wenig begeistert zeigte. Sie blieben im Wasser, bis ihre Haut aufgeweicht war, und nach dem willkommenen Bad fühlten sich alle sichtlich erfrischt.

Als sie nach einem kurzen Ritt die Stadt erreichten, fiel Bryzos auf, dass so ziemlich alles dort so unthrakisch wie nur möglich zu sein schien. Die Felder waren… er konnte es nicht genau beschreiben, aber sie waren ganz anders angelegt. Oder lag das daran, dass sie für andere Zwecke bestimmt waren? Während die thrakischen Häuser aus Holz gebaut und zumeist nur einstöckig waren, waren diese hier verputzt und geweißt, so dass sie von der späten Nachmittagssonne zum Strahlen gebracht wurden. Auch war es bei den thrakischen Dörfern, die er im Laufe des Tages besucht hatte, üblich, die Häuser dicht an dicht und an der Hauptstraße entlang zu bauen, nur getrennt durch Gärten, Höfen, oder Schuppen. Die Griechen hingegen schienen wesentlich mehr Wert auf ihre Privatsphäre zu legen. Ihre Dächer waren mit Ziegeln gedeckt, nicht mit Schindeln oder Reet, wie es bei den Thrakern üblich war, und jedes Haus stand für sich, als wollten sich seine Bewohner darin verbarrikadieren und niemandem außer sich selbst Eintritt gewähren. Und die Bewohner… naja, sie waren eben Griechen.

Zu dieser Tageszeit waren viele Männer auf dem Heimweg von ihrer Arbeit auf dem Feld. Jeder von ihnen ging barfuß und trug eine Exomis; manche waren mit einem Ochsenkarren unterwegs, andere schoben ihre Wagen selbst, und wieder andere gingen einfach nur nach Hause. Auf den Straßen waren weder Frauen noch Mädchen zu sehen. Haut, Haare und Augen der Männer waren von dunkler Farbe. Nirgends war ein Rot- oder Blondschopf zu sehen, wie es in thrakischen Dörfern üblich war. Die Männer gingen wortlos an den Vieren vorbei, ohne ein Wort des Grußes oder ein Kopfnicken zu verlieren. Bryzos fühlte sich, als wäre er in ein Dorf voll stummer Krähen oder Raben geworfen worden, und schaute ihnen ebenso wortlos nach. Gut, dass Rudas sie angewiesen hatte, in den Fluss zu springen, dachte Bryzos bei sich. Auf der anderen Seite wären sie bei diesem Anblick sowieso sofort wieder nüchtern geworden.

Rudas führte sie zur Siedlung und versuchte dabei gar nicht erst, mit den Einheimischen ins Gespräch zu kommen, wie er es in den thrakischen Dörfern zuvor getan hatte, sondern ritt einfach weiter. Offensichtlich kannte er den Weg.

Nach einer kurzen Zeit, in der keiner von ihnen gewagt hatte, ein Gespräch zu beginnen, oder auch nur ein Wort von sich gegeben hatte, während sie von den Bewohnern auf der Straße skeptisch beäugt worden waren, kamen sie an einem etwas größeren Haus an. Das Gebäude glich denen, die sie zuvor gesehen hatten, im Großen und Ganzen. Den Unterschied machte eine große, etwas mitgenommen aussehende Vase, in der ein langer, dünner, von der Sonne ausgetrockneter Birkenzweig steckte. Rudas stieg von seinem Pferd, gab Rakas die Zügel in die Hand und wandte sich den anderen beiden zu.

„Ieter, du wirst hierbleiben, wir werden bald zurück sein. Zumindest hoffe ich das. Bryzos, folge mir!“ ordnete er an. „Sieh zu und lerne.“

Bryzos stieg ab und Ieter wies ihn an, ihm die Zügel seines Pferdes zu reichen. Der Prinz nickte, gab sie ihm und folgte Rudas, der an der Tür auf ihn gewartet hatte, und sie traten zusammen in das Gebäude. Obwohl der Nachmittag mittlerweile dem Abend gewichen war, war es draußen immer noch recht hell. Dafür erschien Bryzos das Innere des Gebäudes umso dunkler, besonders weil es nur wenige Fenster gab, durch die fast kein Licht dringen konnte. Je weniger er zunächst mit dem vertrockneten Birkenzweig am Eingang hatte anfangen können, desto mehr war ihm doch die Atmosphäre im Inneren des Gebäudes vertraut. Rudas und er hatten offensichtlich das Gegenstück zu einer thrakischen Taverne betreten, und obwohl er niemanden hatte hineingehen sehen, war dort bereits der Abendbetrieb in vollem Gange.

Als sie eintraten, verstummten die Gespräche, und die Gäste hoben ihre Köpfe, um die Neuankömmlinge kritisch zu beäugen. Bryzos folgte dem Hauptmann die Treppen hinunter, wo sich der Hauptraum der Schenke befand, der so vor der sommerlichen Hitze gut geschützt lag. Sie gingen an einigen einfachen und schnörkellosen Holztischen vorbei, an denen hauptsächlich einheimische Bauern und Arbeiter saßen, und steuerten auf den Tresen zu. Dahinter stand ein Mann von beeindruckender Statur. Für einen Griechen war er enorm groß und breitschultrig und trug einen ebenso beeindruckenden Bart.

„Hauptmann“, sagte er unvermittelt. „Einen guten Tag wünsche ich Euch, Willkommen in unserer schönen Stadt. Was darf es für Euch und Euren jungen Begleiter sein?“

„Ich wünsche Euch ebenfalls einen guten Tag, Meister Psarion“, antwortete Rudas in fließendem Griechisch. „Nur etwas Kleines zu trinken, vielen Dank. Die anderen beiden Burschen sind draußen, ich will sie nicht allzu lange warten lassen.“

Als die anderen Gäste gemerkt hatten, dass die beiden Thraker diesmal ausnahmsweise nicht gekommen waren, um den Laden aufzumischen, führten sie ihre Gespräche fort. Psarion winkte eine junge Bedienung zu sich heran, die hinter dem Tresen aufgetaucht war. Sie nickte und ging erneut durch die Tür dahinter. Ein Mädchen! Also gibt es hier nicht nur Männer, dachte Bryzos bei sich und grinste.

Rudas lehnte sich zu Bryzos, als der Schankwirt sich umgedreht hatte, um nach einem anderen Gast zu sehen, und flüsterte dem Prinzen zu: „Ich hab das gesehen, Freundchen. Glaub mir, es ist das Beste, wenn du nicht einmal daran denkst.“ Sein Ton bezeugte, dass er nicht zu Scherzen aufgelegt war. „Wir kommen hier her, kümmern uns um unsere Angelegenheiten und gehen wieder. Ganz einfach. Wenn du auch nur… Ah, Meister Psarion, vielen Dank!“ fuhr Rudas mit etwas lauterer Stimme fort, als der Wirt zwei Krüge voll Wein vor sie stellte.

Der Hauptmann legte eine Kupfermünze daneben, woraufhin der Wirt nickte und sagte: „Nun, Hauptmann, was führt Euch hier her?“ Rudas nahm den Krug und prostete dem Wirt als Dank zu. Dann stellte er ihn wieder ab, ohne daraus getrunken zu haben. „Nun, Meister Psarion, eigentlich sind wir hergekommen, um den Bürgermeister zu treffen. Ihr wisst nicht zufällig, wo er sich gerade aufhält?“

Bryzos fragte sich, was denn ein Bürgermeister war, ging aber davon aus, dass es sich um die griechische Version des Dorfhauptmanns handelte. Er nahm seinen Krug und wollte gerade daraus trinken, als Rudas Blick ihn davon abhielt. Er tat so, als habe er ebenfalls dem Wirt zuprosten wollen, der ihn ignorierte, und stellte verwirrt seinen Krug wieder hin.

Psarion antwortete: „Es tut mir leid, aber Ihr scheint hier kein Glück zu haben. Meister Hippostratos ist leider momentan nicht in der Stadt. Er ist gestern geschäftlich nach Sestos gereist. Ich schätze, dass er in etwa zwei Tagen wieder zurück sein wird. Wollt Ihr hier auf ihn warten, Hauptmann?“

„Nun, ich glaube, wir beide wissen, dass das keine gute Idee wäre“, antwortete er, woraufhin Psarion die Hände hob und nickte. „Wer ist denn für diese Zeit sein Stellvertreter? Entschuldigt, dass ich frage, aber es handelt sich um offizielle Angelegenheiten, Ihr wisst ja, wie das ist.“

„Ich weiß, ich weiß“, antwortete der Wirt. „Seht ihr den Mann, der dort drüben an dem Tisch sitzt? Sein Name ist Philippides, er ist Euer Mann.“

„Ich danke Euch, wir werden uns gleich zu ihm gesellen.“ Rudas nickte und ging hinüber zu dem Tisch, an dem der Stellvertreter des Bürgermeisters saß, ohne seinen Krug mitzunehmen. Bryzos war darüber reichlich verwundert; immerhin hatte er dafür bezahlt, und es schien ihm unüblich, etwas, wofür man bezahlt hatte, einfach stehen zu lassen. Das hatte er bis jetzt, soweit er sich erinnern konnte, noch nie getan.

Sie gingen hinüber zum Tisch, an dem vier Männer mittleren Alters saßen. Sie hatten dunkles Haar und Bärte, waren jeweils mit einem Chiton bekleidet und trugen auffälligen Gold- und Bronzeschmuck; Ringe, Ketten und Armreife. Jedoch vermochte keines der Ornamente den Prinzen besonders zu beeindrucken, denn im Gegensatz zu den Thrakern waren die Griechen nicht gerade für ihr Schmuckhandwerk bekannt. Dieser Tand stand ihnen jedoch gut zu Gesicht, befand Bryzos.

Einer der vier entdeckte Bryzos, wandte sich einem seiner Saufkumpane zu und sagte, so laut, dass es Bryzos und Rudas hören konnten: „Schau, der thrakische Dieb hat es auf deine Wertsachen abgesehen. Pass besser auf; wenn sein Herr ihn von der Leine lässt, wird er seine Hände sicher nicht bei sich behalten können!“

Daraufhin grinsten die beiden bösartig. Natürlich hatten die beiden Thraker diese Bemerkung gehört und auch verstanden, und der Mann, der sie ausgesprochen hatte, lächelte, als er sah, dass er Bryzos mit dieser Beleidigung erfolgreich gekränkt hatte. Rudas ignorierte die ganze Angelegenheit, legte seine rechte Hand auf den Tisch und seinen Mantel beiseite, sodass die Machaira, die darunter verborgen gewesen war, gut zur Geltung kommen konnte. Keiner der anwesenden Griechen war bewaffnet – jedenfalls soweit es der Prinz sehen konnte – abgesehen von ein paar Arbeitsmessern, wie auch er eines hatte.

Rudas Geste brachte die Unterhaltung sofort zum Verstummen, und nachdem er den Moment der Überraschung ausgekostet hatte, sagte er in seinem akzentfreien Griechisch: „Wer von euch hier ist Philippides?“

„Wer bist du, Thraker, und warum sollten wir dir das sagen?“, antwortete der Mann, der Bryzos gerade beleidigt hatte, trotzig.

„Ich bin Hauptmann Rudas aus Sonketa, was mich gleichzeitig zum Befehlshaber der Waffeneinheiten dieses Bezirks macht. Und ihr solltet es mir sagen“, woraufhin er einen liebenswürdigen Blick aufsetzte, jedoch nichts dafür tat, seinen giftigen Tonfall zu verbergen, „da König Ozrykes, der zufälligerweise ein guter Freund von mir ist, ebenfalls euer König ist und mich beauftragt hat, allen Dorfhauptleuten und Bürgermeistern seines Bezirkes auszurichten, dass er seine Armeen versammelt. Es sieht also ganz danach aus, als sei ich – natürlich nur, wenn ihr keine Krüppel seid – euer Kommandant, sollte es zu einem Krieg kommen. Ich versuch’s noch einmal. Wer von euch kläglichen Arschlöchern ist Philippides?“

Alle Gespräche in der Taverne erstarben. Die Augen der Gäste wanderten zu dem Tisch, an dem die beiden standen. Bryzos fühlte sich bei der ganzen Sache zunehmend unwohl und wünschte sich, er hätte draußen bei den Pferden warten dürfen. Einige der Gäste standen auf und verließen den Gastraum, als sie spürten, dass Ärger in der Luft lag. Der Mann, der ob der Beleidigung gelächelt hatte, antwortete schließlich.

„Hauptmann, ich bin Philippides.“

„Nun, dann seid ihr nun in Abwesenheit von Hippostratos offiziell dazu aufgerufen worden, euch auf den Krieg vorzubereiten. In zehn Tagen wirst du“, wobei er auf den Stellvertreter wies, „und ich meine damit dich persönlich, mich vor den Toren von Keirpara treffen. Solltest du nicht pünktlich sein oder gar nicht erst auftauchen“, daraufhin verzog der Hauptmann den Mund zu einem grimmigen Lächeln, das seine Zähne entblößte, „wird es mir eine Ehre sein, die Anweisungen des Königs, wie mit Deserteuren umzugehen ist, persönlich auszuführen.“

„Glaubst du etwa, dass wir Feiglinge sind?“, fragte einer der vier, stand auf und spielte mit seinen muskulösen Schultern.

Rudas ignorierte die drohende Geste, lächelte und wandte sich zu den drei anderen. Plötzlich, und mit einer Geschwindigkeit, die Bryzos einem Mann in seinem Alter nicht zugetraut hätte, packte er einen der Weinkrüge und warf ihn dem Mann gegen den Schädel. Als dieser zu taumeln begann, benommen von der Wucht des unerwarteten Angriffs, packte Rudas ihn an seinen Haaren, die mittlerweile blutverschmiert waren, und knallte seinen Kopf mit voller Wucht auf die Tischplatte, wobei sämtliche Becher vom Tisch fielen, und schlug ihn bewusstlos. Der Mann sackte auf den Boden, während der Hauptmann um sich blickte. Die Aufmerksamkeit der ganzen Taverne war nun auf ihn gerichtet.

„Ist das jetzt endlich in euren griechischen Dickschädeln angekommen?“, fragte er, ohne die Stimme erheben zu müssen. Philippides nickte daraufhin wortlos. Rudas schaute die beiden Männer an, die noch am Tisch saßen, und drohte: „Ich kenne euch vier, und glaubt mir, ich vergesse niemals ein Gesicht. Es ist besser, ihr seid pünktlich.“

Daraufhin nahm er seinen Mantel schwungvoll vom Tisch, machte auf dem Absatz kehrt und ging, mit Bryzos im Schlepptau.

Sie traten hinaus in die Dämmerung, nahmen eilig die Zügel ihrer Pferde in die Hand, saßen auf und verließen die Stadt so schnell sie nur konnten. Als sie die Hälfte der Strecke in Richtung der nördlichen Chersones hinter sich gebracht hatten, trafen sie auf die Hauptstraße, die sie wieder zurück nach Sonketa brachte.Rudas machte an der Kreuzung Halt, und die anderen taten es ihm gleich.

„Nun, ihr wisst ja bereits Bescheid, Jungs“, sagte der Hauptmann zu ihnen. „In zehn Tagen werden wir in den Krieg ziehen, um die verdammten Apsinther anzugreifen, obwohl mir das der König natürlich nicht so direkt gesagt hat. Das werden wir wohl in der Zwischenzeit herausfinden.“

Er wies nach rechts.

„Wir reiten zurück nach Hause. Die anderen Hauptmänner werden sich darum kümmern, ihre Krieger zusammenzutrommeln. Wenn wir jetzt nicht mehr allzu viel herumtrödeln, sollten wir Sonketa nach Einbruch der Dunkelheit erreichen.“

Er trieb sein Pferd an, und die anderen, die der Nachricht interessiert gelauscht hatten, beeilten sich, ihm hinterherzukommen.

„Oh, und falls du dich gewundert hast, Bryzos“, sagte Rudas: „Psarion ist eigentlich ein ganz netter Kerl, jedenfalls für einen Griechen, aber traue keinem von denen, der dir Wein einschenkt. Die spucken in jeden Krug, den sie einem Thraker zu trinken geben. Denk daran, bevor du dich zu sehr an die griechische Gastfreundschaft gewöhnst“, und sie ritten los.

Das war also, was Rudas gemeint hatte, dachte Bryzos, als die anderen begannen, sich lebhaft über den Verlauf der kommenden Wochen zu unterhalten. Krieg… würde auch er in den Krieg ziehen? Er hatte noch nie wirklich gekämpft, abgesehen von einigen Kneipenschlägereien, doch selbst die hatte er versucht zu vermeiden, so gut es ging; es lag ihm einfach zu viel an seiner Nase und seinen Zähnen. Würde er ein Krieger werden und dafür mit Ruhm und Reichtum überschüttet werden?

„Verdammte Griechen!“ sagte Ieter und spuckte gegen einen Zaun, an dem sie gerade vorbeikamen. „Sobald sie den Feind zu Gesicht bekommen, rennen sie weg.“

„Wenn sie überhaupt auftauchen!“ fügte Rakas hinzu und schnitt eine Grimasse.

„Ich glaube nicht, dass sie sich das jetzt noch trauen werden“, sagte Rudas und schüttelte den Kopf.

Bryzos konnte die Selbstsicherheit des Hauptmanns nicht teilen; nicht, nachdem er den mangelnden Enthusiasmus der Griechen gesehen hatte, als es hieß, sie würden in den Krieg ziehen.

„Sind das dann Feiglinge? Die Griechen, meine ich?“, fragte Bryzos.

„Nein“, sagte Rudas entschieden, und schüttelte den Kopf. „Sie sind keine Feiglinge, ich habe gesehen, dass sie kämpfen können. Sie mögen es nur nicht, für jemanden anderen kämpfen zu müssen, besonders, wenn er ein Fremder ist. Dennoch werden wir jeden Mann brauchen, den wir kriegen können, bevor die Apsinther auftauchen“, schloss er, schaute missmutig und trieb sein Pferd an, um die Unterhaltung so zu beenden. Ieter folgte ihm.

„Wissen wir etwas über die Truppenstärke der Apsinther?“, fragte Rakas, doch Bryzos konnte ihm darauf keine Antwort geben.

Egal, wie viele Männer sie haben, dachte er, wenn es wahr ist, dass jeder einzelne Mann, eingenommen jedem Griechen, gebraucht werden würde, dann würden es sicher viele sein. Genug, um die ganze Halbinsel einzunehmen und ihre Einwohner zu versklaven.

Mernest

Bryzos erwachte in Rakas Kammer, bei Tagesanbruch, komplett nüchtern und ohne ein Mädchen neben sich. Er konnte sich nicht daran erinnern, wannalle drei oder wenigstens zwei dieser Ereignisse in letzter Zeit einmal gleichzeitig eingetreten waren.

Nachdem er nach und nach herausgefunden hatte, was die Apsinther im Schilde führten, hatte er sich dazu entschlossen, den Hauptmann um einige Stunden Training an den Waffen zu bitten. Rudas jedoch hatte seinen Vorschlag abgelehnt. Er zeigte wenig Begeisterung dafür, ihm oder Rakas den Umgang mit Schwert, Schild und Speer beizubringen. So leicht wollte sich Bryzos allerdings nicht geschlagen geben. Er nahm sich vor, noch einmal mit Rudas zu sprechen, um von ihn seiner Idee zu überzeugen, und stand auf.

Rakas war natürlich schon auf den Beinen und hatte sich bereits angezogen, um sich um die ihm anvertrauten Pferde zu kümmern. Der Prinz gähnte, streckte sich, und machte sich ebenfalls auf den Weg zu den Ställen, um Rakas bei seinem Tagewerk zu helfen, ohne zu murren. Erneut fiel im auf, dass er sich nicht daran erinnern konnte, wann er das letzte Mal sinnvolle, nennenswerte körperliche Arbeit verrichtet hatte, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Wie auch gestern kam Nane vorbei, und wieder hatte sie ein Kleidungsstück dabei. Diesmal war es jedoch ein frisch gewaschener Lendenschurz. Sie schenkte Rakas ein Lächeln und warf dem Prinzen lässig das Stück Stoffzu.

„Hier du hast Unterwäsche. Du sollst anziehen, hat Meister Rudas gesagt.“

Und mit einem weiteren Lächeln für Rakas machte sie sich so schnell aus dem Staub, wie sie gekommen war.

Die beiden sahen einander füreinen Moment an, bis Rakas schließlich mit den Schultern zuckte und sagte: „Dann lass uns mal an die Arbeit gehen. Es wird bald verdammt heiß werden!“

Nachdem sie sich um dieTiere gekümmert hatten, gingen sie ins Haus, um zu frühstücken, wo Rudas bereits auf sie wartete. „Hier seid ihr ja. Gut, Rakas, du gehst mit Bryzos zum Schmied. Sie sind gerade dabei, Waffen herzustellen, und Mernest und seine Söhne können seine Hilfe gut gebrauchen. Wenn du ihn dort abgeliefert hast, kommst du so schnell wie möglich hierher zurück. Ich habe andere Dinge für dich und Ieter zu erledigen. Also, esst auf, Jungs, auf uns wartet ein ganzer Haufen Arbeit.“

Rakas ging zurück in die Kammer, die er mit dem Prinzen teilte und brachte zwei Hüte mit, mit denen sie sich vor der Sonne schützen konnten, die den Hof bereits beträchtlich aufgeheizt hatte. In einträchtiger Stille gingen sie eine Weile nebeneinander her, bisRakas sagte: „Weißt du, Mernest hat eine nette Tochter. Und hübsch ist sie auch.“

„Und was willst du mir damit sagen, mein Freund?“, antwortete Bryzos. „Meinst du, ich soll mein Glück bei ihr versuchen?“ Daraufhin wurde Rakas rot. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, änderte aber offensichtlich seine Meinung, und schloss ihn wieder. Bryzos grinste. „Ah, ich glaube, ich weiß, was du mir damit sagen willst. Oder besser, was du mir nicht sagen willst. Aber ich dachte du und Nane, ihr wärt… na ja, du weißt schon, mehr als nur Freunde“, fuhr er fort, etwas unsicher darüber, wie man solche Angelegenheiten auf dem Land handhabte. Wäre er zuhause gewesen, hätte er Rakas einfach gefragt, ob er es mit beiden der Mädchen trieb. Oder nicht trieb, was anscheinend eher der Fall war.

Rakas hielt an.

„Nun, ja. Ich meine, nein! Äh, mit beiden, um ehrlich zu sein. Ich meine, Nane und ich, ab und zu… du weißt schon“, woraufhin Bryzos wissend nickte, und versuchte, nicht zu grinsen, um Rakas nicht noch verlegener zu machen, als er ohnehin schon war. „Aber, naja, das ist etwas anderes. Sarta, also die Tochter von Mernest, also Rudas und ihr Vater hoffen, dass wir beide, du weißt schon, nächstes Jahr heiraten. Wenn ich ein Mann bin.“

„Dann sag mir, was ich tun soll. Oder was ich lassen soll, Rakas! Und was genau ist es, was dich zum Mann machen wird? Ich für meinen Teil finde dich schon ziemlich männlich“, fügte Bryzos hinzu, und er meinte es ernst.

„Nun, weißt du“, antwortete Rakas, wobei Bryzos bemerkte, dass sich Rakas bereits angewöhnt hatte, wie sein Ziehvater zu reden, „wenn ich das Mal von ihrem Vater erhalten habe. Dann darf ich ins Haus ziehen, und Rudas wird mich endlich als einen seiner Söhne annehmen.“

„Ah, na sicher“, antwortete Bryzos, ohne auch nur die leiseste Ahnung von dem zu haben, was sein Freund da redete. „Also, wenn du mir damit sagen willst, dass ich meine Finger bei mir lassen soll, dann wäre es mir natürlich eine Ehre, dem nachzukommen! Da wo ich herkomme, spannt man sich nicht gegenseitig die Freundin aus.“

Das war eine glatte Lüge, hing jedoch in manchen Fällen durchaus von der Situation und dem beteiligten Mädchen ab. Bryzos zweifelte stark daran, dass Rakas seine bisherigen Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht mit Rudas anderen Söhnen geteilt, oder den Mädels selbst, was das betraf.

„Ich schwöre dir hiermit feierlich, sie nicht anzurühren, solange du lebst.“

„Vielen Dank, Bryzos. Ich meine, immerhin siehst du gut aus und kommst aus der Stadt. Wir bekommen selten Besuch aus der Stadt, weißt du, und ich wollte nicht, dass…“

Der Prinz unterbrach Rakas Strom von Najas und Duweißtschons und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Rakas, du hast mein Wort. Natürlich unter der Bedingung, dass ich auch zur Hochzeit eingeladen werde.“ Endlich fiel die Anspannung von Rakas ab, und er umarmte den Prinzen.

„Natürlich, klar doch! Aber erst, nachdem wir beide zusammen die Apsinther besiegt haben!“

Nachdem Vertrauen und Freundschaft wiederhergestellt waren, setzten die beiden ihren Weg fort, bis sie am anderen Ende des Dorfes ankamen, wo das Klingen von Hammer auf Amboss bereits von fern zu hören war. Die Schmiede lag an dem Bach, an dem sie vorbeigekommen waren, als sie nach Sonketa gekommen waren. Er wurde „Apa“ genannt, was auf thrakisch „kleiner Fluss“ bedeutete, und floss hinter einem großen Haus vorbei, das fast so groß war wie das des Hauptmannes. Rauchwolken kamen aus einem angrenzenden Gebäude, was bedeutete, dass hier bereits gearbeitet wurde.

Im Hof waren drei große rothaarige Männer mit etwas zugange, was aussah wie Pinienzweige. Ihre Tuniken hatten sie ausgezogen. Ein weiterer Mann trat aus der Schmiede, um sie zu begrüßen. Als er näherkam, seine Hände an einer Lederschürze abwischend, bemerkte Bryzos, dass dies bei weitem der größte Mann war, den er je in seinem Leben gesehen hatte. Er war nicht nur hochgewachsen, sondern auch auffallend muskulös: Seine Arme schienen etwa den Umfang von Bryzos Oberschenkel zu haben, undimmerhin war er der Sohn eines Königs, wohlgenährt und sportlich.

Wie die anderen drei auch, war dieser Berg eines Mannes rothaarig, und seine Haarfarbe übertraf die von Rudas in ihrer Röte um Längen; beinahe schien es, als würde sein Kopf in Flammen stehen. Er war stark tätowiert, was ihn als einen erprobten Krieger auswies, ähnlich dem Hauptmann. Zudem trug er einen beachtlichen Bart, hinter dem ein herzliches Lächeln zum Vorschein kam.

„Junger Rakas! Mein Lieber, wie geht es deinem alten Herrn? Ich hoffe doch sehr, dass er sich darauf freut, bald wieder in den Krieg ziehen zu dürfen!“, rief er und griff mit einer riesigen, rotbehaarten Hand, die aussah wie die Pranke eines sommersprossigen Bären, nach der des Stallburschen. „Und wer ist dieser hübsche Junge?“, fuhr er fort, unbeeindruckt davon, dass der Prinz fast so groß wie er selbst und auf jeden Fall größer als zwei seiner Söhne war, die zur Begrüßung schelmisch grinsten.

„Der Hauptmann sagte, er würde mir jemanden schicken, der mir mit den Wurfspießen helfen könnte. Ich bin mir aber nicht sicher, ob der hier dazu taugt“, fuhr erzu Rakas gewandt fort. „Der sieht ja aus, als könnte ihn ein seichtes Lüftchen aus den Sandalen wehen. Du da“, sagte er zu Bryzos mit bekümmerter Miene, „geben sie dir in der Stadt nichts zu essen?“

Daraufhin griff er nach dem Oberarm des Prinzen und drückte ihn mit gespielter Besorgnis. Bryzos spannte all seine Muskeln an, einschließlich der seines Armes, welcher vom Fechten und Speerwerfen gut trainiert war. Nichtsdestotrotz gruben sich die Finger des Schmiedes in seinen Bizeps, als wäre er aus feuchtem Lehm.

„Armer Junge! Dem Reiter sei Dank, dass Rudas dich bei sich aufgenommen hat. Der wäre in nur wenigen Monaten hin gewesen, das sag ich dir!“

Daraufhin kicherten seine Söhne vergnügt, während Rakas nur nickte. Bryzos Bizeps hingegen brannte mittlerweile vor Schmerz. Endlich ließ ihn der Schmied los, und seine Finger hinterließen an den Stellen, wo sie sich ins Fleisch gegraben hatten, tiefrote Spuren.

„Ich mache mich wieder auf den Heimweg, Meister Mernest. Der Hauptmann schickt Grüße.“

Noch einmal öffnete er den Mund, um etwas hinzuzufügen, beließ es dann aber dabei, nickte, und wandte sich zum Gehen, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen. Bryzos blieb zurück und hielt sich seinen Arm, in den glücklicherweise langsam das Blut zurückkehrte.

„Armes Kerlchen!“ sagte der Schmied unbestimmt. „Und dazu noch verliebt.“ Er wandte sich zu Bryzos. „Wenn du erwachsen bist, wirst du schon rausfinden, was es damit auf sich hat, junger Mann“, sagte er und schlug ihm auf den Rücken, was eigentlich als freundschaftlicher Klaps gemeint war, Bryzos aber beinahe aus den Sandalen gehauen hätte. „Es ist besser, wir machen mit der Arbeit weiter. ‚Der Krieg wartet auf niemanden‘, heißt es so schön. Wie heißt du denn, junger Mann?“

„Bryzos, Meister Mernest.“ „Naja, so ausgemergelt wie du aussiehst, hoffe ich, dass du uns nicht aus den Latschen kippst. Am besten bleibst du im Schatten und lässt die Jungs die härteren Aufgaben erledigen“, woraufhin er mit seinem Daumen auf die drei Rotschöpfe zeigte, die für Bryzos zunächst wie erwachsene Männer ausgesehen hatten. Der jüngste von ihnen schien jedoch jünger als er selbst zu sein. „Das hier ist Sula“, woraufhin der mittlere Rotschopf nickte, „der große“, der tatsächlich riesig, mit Narben und den Tätowierungen eines Kriegers übersäht und – obwohl offensichtlich noch nicht ausgewachsen – bereits fast so groß wie sein Vater war, „das ist Skombros“. Dieser nickte ebenfalls. „Der Kleine zur Linken“, der überhaupt nicht klein war, „ist Serme.“

In diesem Moment kam ein umwerfend schönes, rothaariges Mädchen aus dem Haus, einen riesigen Tontopf in den Händen.

„Hier ist etwas für euch zu trinken. Mutter meinte, ihr würdet es nach all dem Geschwätz sicher gut gebrauchen können und dass ihr euch besser wieder an die Arbeit machen sollt“, sagte sie, überreichte ihrem Vater den Krug und mit einer schwungvollen Bewegung, die offensichtlich Bryzos galt, wandte sie sich um, um wieder in Richtung Haus zu gehen. Der Schmied nahm einen großen Schluck und gab ihn an seine Söhne weiter, die der Reihe nach daraus tranken. Als der Krug schließlich zu Bryzos gelangte, hatte Serme ihn bis auf den letzten Schluck geleert, was dieser nur mit einem Achselzucken kommentierte.

Bryzos musterte die Rothaarige so oft und unauffällig er konnte- immerhin waren sowohl ihr Vater als auch ihre Brüder anwesend. Sie war tatsächlich so schön, wie Rakas es gesagt hatte. Mehr noch, sie war das schönste Mädchen – nun ja, das schönste rothaarige Mädchen – das Bryzos je gesehen hatte. Und, bei Eptas Titten, sie war sich dieser Tatsache nur zu wohl bewusst. Anstelle des ionischen Chiton, einer Tunika, die die Mädchen in Keirpara und Umgebung zu tragen pflegten und die für gewöhnlich bis zu den Knöcheln oder wenigstens den Waden reichte, an den Seiten geschlossen war und an den Schultern zusammengefasst wurde, trug sie die dorische Version. Diese war, abgesehen davon, dass sie wie das ionische Gewand mit einem Gürtel um die Hüften getragen wurde, offen an den Seiten. Dadurch konnte sich Bryzos von der Festigkeit ihrer Waden, ihres Hinterns und – wenn sie sich vorbeugte – ihrer Brüste überzeugen. Und was für Brüste sie hatte, bei Bendis, obwohl Bryzos deren Form durch den leichten Stoff nur erahnen konnte. Nun war er doch recht dankbar für den Lendenschurz, den Nane ihm zuvor gebracht hatte. Es wäre peinlich geworden, Mernest ohne dieses sein Gemächt im Zaum haltende Stück Stoff gegenüberzutreten, hatte der Anblick seiner Tochter bei seiner Lendengegend doch einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ach ja, das Landleben. Gar nicht so schlecht, dachte Bryzos. Und überhaupt…

„Ich hab mit dir geredet!“ Sein Tagtraum wurde unterbrochen von Serme, der ihn dazu mit dem Zeigefinger überdeutlich in die Rippen gepiekt hatte. „Falls du dich fragst, wer das ist, das ist meine Schwester Sarta. Sie ist Rakas versprochen. Wenn du sie auch nur mit dem kleinen Finger anrührst, werde ich dich zu Mus prügeln. Und dann wird Sula dasselbe mit dir tun. Und dann Skombros. Und dann…“

„Lass mich raten, Meister Mernest höchstpersönlich?“, unterbrach Bryzos ihn, dem es langsam auf die Nerven ging, von allen wie ein kleines, schwaches Kind behandelt zu werden.

„Nein, eher von meiner Mutter. Und das willst du wirklich nicht erleben, sie ist hier der Herr im Haus. Also, lass deine Pfoten bei dir. Los, los, du bist hier um zu arbeiten, nicht um zu gaffen!“ sagte er und ging zurück auf den Hof, wo seine Brüder bereits mit den Pinienschäften beschäftigt waren. Diese sollten offensichtlich zu Wurfspießen verarbeitet werden, die noch mit Spitzen versehen werden mussten. Mernest arbeitete in der Schmiede, immer wieder auf den Amboss einschlagend, um neue Speerspitzen herzustellen, während seine Söhne sie auf die Pinienschäfte steckten. Der Vorrat an Pinienhölzern lag am Ende einer Werkbank, die nach draußen gebracht worden war, damit die Söhne des Schmiedes bei ihrer Arbeit besseres Licht hatten. Auf der Werkbank lag ein Sortiment an Messern verschiedenster Größe, während die Bank und der Boden darunter mit Holzspänen bedeckt waren. In einem großen, derben Korb am anderen Ende, welcher schwarz vor Ruß war, langen die Speerspitzen, die darauf warteten, auf die Schäfte gesteckt zu werden.

Die Söhne nahmen einen Schaft, suchten eine Speerspitze aus dem Korb, und begannen, ein Ende des Holzes in Form zu schneiden. Dann nahmen sie ein kleineres Messer, um das geschnitzte Ende der Speerspitze anzupassen; so lange, bis die Speerspitze perfekt auf den Schaft passte. Dann wurde der Spieß so lange in einen Holzklotz, der am anderen Ende der Werkbank stand und den Bryzos zunächst nicht wahrgenommen hatte, gerammt, bis die Spitze weder durch Ziehen noch durch Wackeln vom Schaft zu trennen war. Zum Schluss hämmerte Serme noch einen Nagel in den Ansatz, und der Speer war fertig. Als er umherblickte, sah der Prinz etwa ein Dutzend roher Schäfteim Schatten der Schmiede stehen, sowie einen weiteren Korb voll mit Speerspitzen, die zusammengefügt werden wollten.

„Na“, sagte Skombros grinsend, als er für einen Moment von seiner Arbeit aufsah, „kannst du mit langen harten Sachen umgehen?“, woraufhin die drei in ungehaltenes Gelächter ausbrachen.

Bryzos ging zur Werkbank.

„Sagt mir, was ich tun soll.“

Er war sich sicher, dass dies ein langer Morgen werden würde.

***

Seine Finger schmerzten, weil seine Hände nicht daran gewöhnt waren, die dünnen hölzernen Schäfte zu halten, in seinen Augen stach der Schweiß, und seine Kehle war bis zum Ende des Morgens trocken wie Pergament. Die drei Rotschöpfe trugen nicht nur keine Art von Kopfbedeckung, sondern hatten auch ihre Tuniken ausgezogen und so ihre nackten, gebräunten und sehr muskulösen Oberkörper und Schultern der Sonne entblößt. Offensichtlich genossen sie die harte Arbeit, denn sie scherzten, während sie einen Wurfspieß nach dem anderen fertigstellten.

Bryzos jedoch tat sich schwer; er hatte bereits einen leichten Sonnenbrand, obwohl er seinen Hut trug. Er hatte sich ebenfalls bis zur Hüfte ausgezogen, um etwas von der kühlen Brise abzubekommen, die von einem kleinen Bach in der Nähe zu ihnen hinüber wehte.

Endlich tauchte Sarta wieder auf.

„Mutter sagt, ihr sollt eine Pause machen und euch mit Getränken und Essen stärken. Auch Ihr, Schönling!“ sagte sie, während sie Bryzos musterte und sich dabei anerkennend über die Lippen leckte.

Als ihre Brüder dies bemerkten, zog der Prinz eine Grimasse und lief unter seinem breitkrempigen Hut rot an, was für allgemeine Heiterkeit sorgte.

„Dann kommt mal rein, Jungs. Ihr“, sagte sie zu Bryzos, „geht und holt Vater.“

Daraufhin ging sie ins Haus, ohne eine Antwort abzuwarten. Der Prinz bemerkte, dass das Schlagen von Hammer auf Amboss nicht verstummt war. Vermutlich war der Schmied vor lauter Krach mit der Zeit taub geworden. Er näherte sich dem rothaarigen Riesen, der im Schatten der Schmiede stand und erhob seine Stimme: „Meister Mernest! Eure Tochter schickt mich um…“

„Bei den Eiern des Reiters, ich bin nicht taub, Junge!“, unterbrach er ihn. Er hob die Zange, die er in der linken Hand hielt, betrachtete die rotglühende Speerspitze, die er hergestellt hatte, nickte und tauchte die Zange in ein mit Wasser gefülltes Becken, um ihn abzukühlen. Dampf stieg aus dem Becken auf und breitete sich in der Hütte aus. Die Schmiede war mehr oder weniger ein Dach, welches von einem Ziegelgerüst getragen wurde, mit einer Mauer hinten und einer an der Seite, die gleichzeitig die Hauswand war. Zu den anderen beiden Seiten war das Gebäude offen, sodass die Hitze entweichen konnte.

„Warum verwendet Ihr junge Pinie für den Schaft, Meister Mernest?“, fragte Bryzos, eine Frage, die er schon seit einer Weile mit sich herumtrug. Die Speere, die er bei der Jagd geworfen hatte, waren aus gut ausgehärtetem Holz, gerade und oft mit Verzierungen an der Spitze versehen. „Werden die sich nicht bald krümmen? Und die Spitzen sehen auch ziemlich klein aus.“

Mernest nickte daraufhin, und antwortete: „Gut beobachtet, Junge. Dieses Holz ist das schlechteste, aus dem wir die Schäfte machen können und die Spitzen sind so klein, wie ich sie nur herstellen kann. Ich gebe daher die Frage zurück: Warum sollten wir eine langlebige Waffe herstellen, wenn wir das verdammte Teil einfach nur wegwerfen? Ich meine natürlich in den Bauch eines verdammten Apsinthers!“, fügte er freudig hinzu.

Bryzos nickte wortlos und errötete ob der offensichtlichen Erklärung. Wieder bemerkte er, dass die Realität des Krieges nichts mit dem Lebensstil zu tun hatte, den er gewohnt war.

„Nun, wie gut taugst du denn zum Speerwerfen, mein Junge?“, fragte Mernest plötzlich mit leiserer Stimme, die ganz anders klang als sein übliches joviales Geplänkel. „Rudas wies mich an, dich auf den Kampf vorzubereiten. Ist das wahr, Junge? Hast du noch nie mit einem anderen Mann gekämpft?“

Bryzos warvon alldem sehr überrascht, aber er dachte, dass es besser sei, bei der Wahrheit zu bleiben.

„Jawohl, Meister Mernest, ich habe noch nie in einer Schlacht gekämpft. Ehrlich gesagt sind Kneipenschlägereien alles, woran ich bis jetzt teilgenommen habe.“

Daraufhin kicherte Mernest.

„Also, was soll ich tun?“

„Nun, wenn du noch nie mit einem anderen Mann gekämpft hast“, antwortete der Schmied, „ist es an der Zeit, dass du damit anfängst. In neun Tagen werden wir gegen die Apsinther kämpfen, und sie werden versuchen, dich zu töten. Und Rudas sagte, dass wir das auf keinen Fall zulassen wollen, nicht wahr? Sind wir uns einig?“ Daraufhin nickte Bryzos. „Das dachte ich mir, Junge. Kannst du Ringen?“

Daraufhin lächelte Bryzos.

„Sehr wohl kann ich das, Meister. Um ehrlich zu sein gibt es nur wenige, die es geschafft haben, mich zu besiegen. Und im Speerwurf bin ich auch recht gut, sogar zu Pferd“, fügte er stolz hinzu, in der Erwartung, einen guten Eindruck bei dem Schmied zu hinterlassen, egal, was dieser ihm auftragen würde.

„Gut, gut, junger Mann, du wirst kein Pferd brauchen! Ich freue mich darauf, dich später wieder zu sehen. Nun brauchen wir erst einmal etwas zu essen und zu trinken, oder du wirst noch in der Hitze kollabieren. Ihr Stadtvolk seid ja nicht gerade daran gewöhnt!“

Bei der Bemerkung des Schmiedes, dass er kein Pferd mehr benötigen würde, wurde Bryzos unruhig. Dem zweiten Teil der Aussage stimmte er jedoch gerne zu. Der Schmied wischte seine Hände an seiner Schürze ab, klopfte dem Prinzen auf die Schulter, diesmal freundlich, und beide gingen ins Haus.

Speis und Trank, Derzelas sei Dank, dachte Bryzos, waren reichlich vorhanden, und die Männer nahmen sich Zeit, um sich zu stärken und ihren Durst zu stillen. Sie wurden von einem Mädchen bedient, die dem Prinzen vorher noch nicht aufgefallen war, deren Name aber Zmertomara zu sein schien. Sie sprach jedoch kein Wort zu niemandem, sondern nickte lediglich, wenn sie gebeten wurde, noch mehr Essen und Getränke zu bringen. DasMahl bestand aus etwas übriggebliebenem kaltem Hühnchen vom Vortag, Fladenbrot, einer Schale Rosinen, ein paar Bissen gelblichem Käse, von dem der Prinz sich nicht sicher war, aus was er gemacht war, und den köstlichen getrockneten Feigen, die es auf dieser Seite des Berges in Fülle zu geben schien. Langsam aber sicher konnte er sich für diese Art von Leben begeistern. Zu trinken gab es jedoch lediglich eine Art stark verwässertes Bier. Dafür war Bryzos dankbar, war er sich doch sicher, dass er, egal was der Tag noch für ihn bereithalten würde, auf jeden Fall nüchtern bleiben sollte.

***

Während seine Finger am Morgen von der Arbeit an den Schäften der Speere geschmerzt hatten, war die „Arbeit“ des Nachmittages, zumindest für Bryzos, von anderer Sorte. Und sorgte ebenso für eine andere Art von Schmerz.

Die Männer beendeten ihr Mahl, und nachdem die beiden größeren Rotschöpfe wiedergekommen waren, nachdem sie gegen eine der Platanen am Bachlauf gepinkelt hatten, versammelten sie sich um die in der Mittagssonne stehende Werkbank.

Mernest kündigte an: „Nun, Kinder, dieser junge Mann behauptet, ringen zu können.“ Dies wurde sofortmit Johlen und Klatschen kommentiert. „Jungs, das ist das was ER sagt. Ihr solltet ihn vom Zweifel kosten lassen!“, fuhr Mernest fort, nachdem sich der Lärm gelegt hatte, was wiederum vom Schreien und Klopfen der Söhne auf dem Holz der Werkbank begleitet wurde. Er wies auf seinen jüngsten Sohn. „Auf geht’s, Serme. Zeig uns, aus welchem Holz die Söhne der Stadt geschnitzt sind!“

Endlich dämmerte es Bryzos, dass der Griff des Schmiedes um seinen Arm nicht nur eine Art der Landeier war, dem Jungen aus der „großen Stadt“ zu zeigen, wer hier die dickeren Eier hat, sondern auch, um zu testen, ob überhaupt Muskeln in seinem Oberarm vorhanden waren. Und nun wartete diese Meute von fröhlichen Rotschöpfen darauf, dass der Spaß zwischen ihm und dem jüngsten, und demnach schwächsten von ihnen beginnen sollte, bei Eptas Arsch. Er war keinesfalls schwach, aber diese Leute lebten davon, Eisen zu bearbeiten. Eisen bearbeiten wie in: Steine schmelzen, um aus ihnen Äxte herzustellen, um mit ihnen Bäume kleinzuhacken. Oder Köpfe, was in diesem Fall passender wäre.

Plötzlich bemerkte er in seinem Augenwinkel Sarta, die gekommen war, um das Treiben zu beobachten. Mittlerweile hatte Serme das Seil, was er als Gürtel verwendete, aufgebunden und seine Tunika ausgezogen, was ihm nur noch seinen Lendenschurz ließ, den er feierlich nach oben gezogen und festgezogen hatte, um nun sein bestes Stück darin unterzubringen. Es war sowohl für Männer als auch für Frauen unüblich, bei diesem Wetter Unterwäsche zu tragen; Sarta jedenfalls trug offensichtlich keine. Dies war also das Geheimnis des Lendenschurzes. Obwohl Bryzos sonst keine Probleme damit hatte, seine Kronjuwelen zur Schau zu stellen, war er doch sehr erleichtert, dies nicht vor der Tochter des Schmiedes tun zu müssen. Er holte tief Luft, öffnete ebenfalls seinen Gürtel und schlüpfte aus seiner Tunika. Weder er noch sein Kampfgegner trugen Schuhwerk. Die ganze Zeit spürte er Sartas Blick im Nacken. Die schweigende Zmertomara war nun zu ihr getreten; sie tauschten Blicke aus, und Bryzos wusste, dass er sein gutes Aussehen immer noch getrost für sich arbeiten lassen konnte – auch bei den Landeiern hier – oder vielleicht sogar genau hier, weil er sich gerade am Hinterteil der Welt befand. Wie auch Serme richtete er seinen Lendenschurz und dessen Inhalt, um sich auf das vorzubereiten, was nun kommen sollte.

Er rollte seine Schultern und Arme vor und zurück, lockerte seine Nackenmuskeln und lächelte sein gewinnendes Lächeln, was ihm ein Johlen von Sarta und immerhin einen bewundernden Blick von dem griechischen Mädchen einbrachte. Der Hof wurde zur Arena. Bryzos und Serme duckten sich leicht, um ihren jeweiligen Körperschwerpunkt zu senken, und begannen, einander zu umkreisen, um den Körper des anderen auf seine Schwächen hin zu überprüfen. Plötzlich flitzte Serme auf ihn zu, täuschte eine Linke an, die der Prinz auch als solche erkannte, und lächelte, als er wusste, dass der Sohn des Schmiedes auf seine Rechte gezielt hatte. Dies passierte prompt und war damit das letzte Detail des Kampfes, an das sich Bryzos erinnern konnte.

Er erwachte, als ihm ein Krug voll Wasser übers Gesicht geschüttet wurde, und sah eine Horde grinsender rothaariger Riesen über seiner niedergestreckten Gestalt stehen.

„Nun, wie es aussieht, müssen die Stadtkinder noch das eine oder andere übers Ringen lernen, Junge“, sagte Mernest lächelnd, während er einem seiner Söhne den leeren Wassereimer in die Hand drückte.

Bryzos erinnerte sich plötzlich daran, dass Serme ihn gepackt hatte und gerade als der Prinz die Überhand über seinen Gegner gewonnen hatte, hatte dieser… seine Beine benutzt! Dieser Bastard hatte ihn zum Stolpern gebracht, ihn rückwärts umgehauen und seinen Kopf in den Staub getreten. Als ihm dies bewusst wurde, lief sein Kopf vor Wut rot an.

Bryzos erhob sich und rief: „Das ist Betrug! Du hast deine Beine benutzt, das ist verdammt noch mal Betrug!“ Die Reaktionen auf diese Anschuldigung fielen so unterschiedlich wie nur möglich aus.

Serme empörte sich: „Wen nennst du hier einen Betrüger, du verwöhnter kleiner Stadtarsch?“ und machte einen Satz auf ihn zu.

„Das ist Betrug!“ rief der Prinz wieder unbeirrt. Er war gut im Ringen und beschämt, dass es seinem Gegner so leichtgefallen war, ihn zu besiegen – weil Serme unerlaubte Mittel dazu verwendet hatte! Mernest lächelte nur und schüttelte ungläubig den Kopf, während die anderen Söhne johlten, in der Hoffnung, dass daraus mehr werden würde.

„Bryzos, mein Sohn betrügt nicht. Er hat dich fair geschlagen“, sagte der Schmied in entspanntem Tonfall, offensichtlich um die Situation zu entschärfen, bevor die Emotionen überkochten.

„Aber es ist nicht erlaubt, die Beine zu benutzen, oder die des anderen anzugreifen!“, antwortete der Prinz, nun mindestens so erbost wie Serme.

Bei dieser Erklärung schüttelte er den Kopf und spuckte aus, während die anderen beiden Söhne in schallendes Gelächter ausbrachen.

„So ist das also! Ich verstehe. Das sind wohl die Regeln in der Stadt, hm?“, fragte Mernest rhetorisch. „Nun, es tut mir herzlich leid, wie das gelaufen ist, Junge. Ihr ringt offensichtlich im griechischen Stil. Wir hier aber ringen, um uns auf den Krieg vorzubereiten, verstehst du? Und glaube mir, im echten Kampf haben Männer nicht nur Beine, sie werden sie auch benutzen.“

Diese Rüge besänftigte weder Sermes noch Bryzos Gemüt. Beide blieben ernst, obwohl Mernest und seine anderen Söhne mittlerweile begonnen hatten, über die Angelegenheit zu lachen.

„Wenn Training das ist, wofür du hergekommen bist, musst du diesen ganzen schicken Krempel, den du gelernt hast, vergessen. Oder du wirst dich in ernsthafte Schwierigkeiten bringen“, sagte der Schmied in nüchternem Tonfall. Eine seiner riesigen Pranken legte sich auf Bryzos Schulter, und er fuhr fort: „Nun, hier sind die Regeln, Jungs. Wir werden mit den Richtlinien beginnen, nach denen Bryzos kämpft, um zu sehen, was er eigentlich kann.“ Er blickte zu Serme, der ernst nickte. „Und wenn ich es ansage, wechseln wir zu unseren Regeln, damit du auch einen Einblick ins echte Ringen bekommst“, fuhr er fort, und blickte dabei zum Prinzen, der ebenfalls ernst nickte. „Und sollte es zu anderen Unstimmigkeiten kommen: Geht einander nicht an die Augen oder Eier. Ihr wisst nicht, wann ihr beides das nächste Mal gebrauchen könnt. Nun gebt einander die Hand und zeigt uns was ihr draufhabt!“

Serme und Bryzos schüttelten sich wenig begeistert die Hände und begannen eine neue Runde. Diese wurde wesentlich besser, und der Prinz hatte die Gelegenheit, seinen Gegner zu schlagen, in dem er seine Schultern zu Boden wuchtete. Serme war extrem stark und seit seiner Kindheit an harte Arbeit gewohnt, und obwohl Bryzos ihn besiegen konnte, war es beileibe nicht einfach gewesen. Zähneknirschend schlug Serme mit der flachen Hand auf den Boden und gab so seine Niederlage zu. Bryzos Hand, mit der dieser ihm wieder auf die Beine helfen wollte, ignorierte er. Die Zuschauer, einige Mädchen aus der Nachbarschaft, die sich zu Sarta und Zmertomara in den Schatten gesellt hatten, um den Kampf zu beobachten, jubelten und schrien nach mehr. Mernest nickte seinen beiden anderen Söhnen zu, und ermahnte sie,die ‚Stadtregeln‘ zu befolgen. Auch sie zogen sich bis auf den Lendenschurz aus, was mit Gejohle aus dem Schatten quittiert wurde, und machten sich bereit.

Bryzos kämpfte gegen jeden der drei Söhne des Schmiedes, lernte neue Griffe kennen und zeigte sich von seiner besten Seite, obwohl er nicht gewinnen konnte. Jedoch nach einem halben Dutzend Runden wurde ihm klar, dass er nicht lange durchhalten würde, wenn er gezwungen war, ihre Regeln zu befolgen. Und so geschah es natürlich auch. Nachdem er Serme zweimal erfolgreich besiegt hatte und zumindest Sula und den riesigen Skombros dazu gebracht hatte, sich nicht mehr bewegen zu können, was die Zuschauer dazu gebracht hatte, die Luft anzuhalten, wurde er sechs Mal regelrecht in den trockenen Boden gerammt, nachdem Mernest die Änderung der Regeln ankündigt hatte. Gegen Serme hatte er in der dritten Runde eine kleine Chance, aber er es war nicht gewohnt, auch seine Beine zu benutzen, was Serme ausnutzte, um ihm dieselben ausgelassen unter dem Hintern wegzutreten. Zur größten Freude der Zuschauer taten der rotgesichtige Bryzos und Serme nicht einmal mehr so, als sei dies eine sportliche Angelegenheit, was Mernest dazu veranlasste, mehr als einmal einzuschreiten.

Nach dem, was sich nach Stunden voll frustrierender Kämpfe angefühlt hatte, unterbrach Mernest das Geschehen, und die hauptsächlich weiblichen Zuschauer applaudierten und zerstreuten sich. Die vier Ringer, staubig, mit Schrammen übersäht, aber grinsend – bis auf Bryzos, der besonders staubig und mit besonders vielen Schrammen übersäht war – gingen zum Bach, um sich zu waschen. Die beiden älteren Jungen sprachen lebhaft über ihre jeweiligen Kämpfe und die Bewegungen, die sie beim Prinzen gesehen hatten, während sich Bryzos einfach nur in den Bach auf seinen Rücken legte. Wenn das kühle Wasser ihn schon nicht von der Demütigung seiner Niederlagen reinwaschen konnte, dann wenigsten vom Staub.

Mernest kam näher und kniete sich neben ihn ins Wasser. „Du bist ziemlich gut, weißt du?“, begann er. Dies war eine Tatsache, und der Prinz wusste es. „Aber die Regeln deiner Stadt werden dir nichts nützen, weder hier, noch auf dem Schlachtfeld. Ich meine, was ist der Sinn und Zweck des Kampfes, wenn ihr solche dämlichen Regeln beachten müsst?“, fuhr er fort. „Das ist als würde jemand darauf bestehen, auf einem dreibeinigen Pferd zu reiten! Oder einen Speer mit geschlossenen Augen zu werfen!“ Während der Prinz sich noch darüber entrüsten wollte, dass der Schmied seine Regeln „dämlich“ genannt hatte, musste er sich doch widerwillig eingestehen, dass eine gewisse Logik hinter seinen Worten stand.

„Ich schätze, Ihr habt wohl recht damit. Könnt Ihr mir die Regeln Eures Dorfes beibringen?“, antwortete Bryzos und stand auf, das Gesicht schmerzverzerrt. Mernest erhob sich, nickte und reichte dem Prinz die Hand, um ihm aufzuhelfen.

Als sie den Hof erreichten, nahm Mernest einen der Wurfspieße, den sie zuvor zusammengebaut hatten, in die Hand.

„Genug gerungen für heute, Jungs. Lasst uns sehen, wie gut du hiermit umgehen kannst!“ rief er und warf Bryzos den Speer zu. „Siehst du diese Platane dort drüben?“

Er wies auf einen großen Baum mit hellgrünen Blättern, der am Rande des Baches stand, etwa dreißig Schritte entfernt.

„Versuche, sie zu treffen, Junge.“

Bryzos nahm den Schaft in beide Hände und wirbelte ihn herum, um ein Gefühl für sein Gewicht und seine Balance zu finden. Dann fasste er ihn an seinem Schwerpunkt, nahm zwei große Schritte Anlauf und schleuderte ihn mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, in Richtung des Baumes. Der Spieß schlug in den Stamm der Platane auf Brusthöhe ein, und der Rest des Schaftes, der noch aus dem Stamm herausschaute, bebte.Bryzos verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte stolz beim Anblick seiner Leistung, und sein Blick forderte die anderen auf, es ihm gleichzutun. Mernest und seine Söhne nickten und applaudierten anerkennend. Alle, bis auf Serme, der seine Arme vor der Brust verschränkt hielt.

„Das war sehr gut, mein Junge“, sagte der Schmied anerkennend. Er nahm einen weiteren Speer von der Werkbank. „Wer ist als nächster dran? Auf geht’s, versucht den Speerwurf dieses Mannes zu schlagen!“

***

Den restlichen Nachmittag lang waren die vier damit beschäftigt, ihre Künste im Speerwurf an der Platane zu messen, was nur durch ihre Arbeit an den Speeren und Sarta, die ihnen hin und wieder etwas zu trinken brachte, unterbrochen wurde. Diesmal reichte es für jeden von ihnen, was der Prinz mit Genugtuung bemerkte; offensichtlich musste er es sich hier erst verdienen, etwas zu trinken zu bekommen. Bis zum Abend war Bryzos ausgehungert und mit Schrammen übersäht. Immerhin hatte er sich den Respekt der Söhne, den er zuvor beim Ringen verloren hatte, beim Speerwurf wiedergewonnen. Serme jedoch blieb weiterhin distanziert und weigerte sich, ihm die Hand zu geben, geschweige denn mit ihm zu sprechen.

Als es dämmerte, kehrte Rakas auf einem der Pferde des Hauptmanns zurück zum Haus des Schmiedes. Ein weiteres führte er am Zügel. Bei diesem Anblick stieß Bryzos einen Seufzer der Erleichterung aus. Immerhin würde er nicht nach Hause laufen müssen.

„Können wir gehen?“, fragte er den Stallburschen, nachdem Werkzeug, Schäfte und Körbe wieder in der Schmiede verstaut worden waren.

„Ja, ich bin hier, um dich abzuholen, Bryzos.“ Er musterte den Prinzen eingehend. „Sieht so aus, als hättest du einen anstrengenden Tag hinter dir. Was ist passiert? Woher hast du all die Schrammen?“

Gerade als er den Mund öffnen wollte, um zu antworten, kamen Mernests Söhne mit einem großen Bündel Wurfspieße aus der Schmiede. Sie gingen an ihm vorbei und begannen, die Bündel auf den Rücken der beiden Pferde zu befestigen, sodass kein Reiter mehr auf ihnen Platz fand.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752129434
Sprache
Englisch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Tales Children Of The Sea Sea People

Autor

  • David J. Greening (Autor:in)

David J. Greening was born in Karachi in 1969 AD, briefly went to kindergarten in Malta and grew up in Germany. After cleaning dishes, working on building sites, flipping burgers and other assorted odd jobs he trained to become a landscape gardener before studying Ancient History at Frankfurt University. Completing an MA in 2004 and a PhD in 2007 he currently works as a school teacher and part-time lecturer of ancient and medieval history.
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Titel: The Sea People