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Mondsüchtig: Die Armee der Finsternis

Düstererer Romantasy Liebesroman

von Kitty Harper (Autor:in)
200 Seiten
Reihe: Mondsüchtig, Band 7

Zusammenfassung

genau die Kraft, die gefehlt hat, um einen Sieg zu erringen braucht man, um eine Niederlage zu verkraften. (Ernst R. Hauschka) Gemeinsam mit Tiaras Schwestern stellen sich Rai, Nova und der Rest des Teams der Armee der Untoten. Apollo hat einen Plan entwickelt, der mit Flinns Hilfe zu funktionieren scheint. Doch sie haben die Rechnung ohne Beelzebub gemacht. Mystische Wesen, übersinnliche Fähigkeiten und prickelnde Erotik in einem düsteren Romantasy-Abenteuer. Band 7 der MONDSÜCHTIG - Reihe! Die MONDSÜCHTIG-Reihe ist eine regelmäßig erscheinende Reihe in 12 Bänden. Jeder Band ist in sich abgeschlossen, allerdings gibt es einen überspannenden Handlungsbogen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 Mondsüchtig

 

Von Kitty Harper

 

 

 Kapitel 1

[Rai]

 

»Ich soll bitte was?!« Flinn schnappte nach Luft und blickte auf das Heer aus für das menschliche Auge nicht sichtbaren Ghulen, die das Haus des Zirkels umringten, als würde dort die Knusperhexe wohnen und die Wände und Balken aus purem Zucker bestehen. Wir waren mehr als drei Tage fort gewesen. Flinn war nicht sofort reisefähig gewesen und die Schwestern litten noch immer unter ihrer Gefangenschaft. Also hatte ich Apollo gebeten, ihnen wenigstens ein paar Stunden Ruhe zu gönnen. Die Ghule würden nicht weglaufen, immerhin standen sie seit Tagen untätig hier rum.

Apollo war nicht sehr erfreut gewesen, war aber schließlich einverstanden gewesen. Während dieser Zeit hatte er ständig in Kontakt mit Nova gestanden, die praktisch seine Augen vor Ort war. Obwohl Apollo Mr. Riley, Novas Jägerfreund, absolut nicht leiden konnte, war ihm die Dienstbeflissenheit der beiden Jäger nicht ungelegen gekommen. In ihnen hatte er zwei Soldaten gefunden, die seiner Sache dienlich waren. Was immer Apollos Sache eigentlich war. Mir gegenüber hatte er sich sehr vage ausgedrückt. Er hatte nur gesagt, dass er gerne hier lebte und wollte, dass alles so blieb, wie es war. Er habe keine Lust auf eine zweite Hölle. Und schon gar nicht wollte er, dass Höllenfürsten auf Erden ein und ausgingen. Bis auf einen.

Apollo hob eine Augenbraue und betrachtete Flinn so, als ob er ihn nicht für ganz richtig im Kopf hielt. Er deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. »Sie, Riker, Höllenfürst«, erklärte er wortkarg, »das da ist die Höllenlegion.« Apollo streckte den Arm aus und umspannte damit das gesamte Heer der Ghule. »Verstehen Sie den Zusammenhang oder brauchen Sie eine Skizze?«

Flinn verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Apollo herausfordernd an. »Verarschen kann ich mich selbst. Ich bin kein Höllenfürst. Ich dachte, wir holen Tiaras Schwestern, damit sie die Seelen der Ghule nehmen.«

Apollo sog scharf die Luft ein. »Zählen Sie mal Ihre Schwestern und dann werfen Sie einen Blick auf die Ghule. Die Damen mögen vielleicht eindeutig Rachedämoninnen sein, aber sie werden den Ghulen nicht viel entgegensetzen können, denn die überrennen sie einfach durch ihre Anzahl. Bevor sie auch nur eine Seele nehmen können, ist das Heer über uns alle hinweg gewalzt.«

»Und was schlagen Sie stattdessen vor, Adams?« Flinn wandte den Kopf und blickte die Anhöhe hinunter. Die Anzahl der Ghule hatte sich seit unserem letzten Besuch vor ein paar Tagen verdoppelt, wenn nicht gar verdreifacht. Statt ein paar Hundert standen wir jetzt einem Heer von mindestens eintausend Seelen gegenüber. Apollo hatte recht. Selbst mit drei Rachedämoninnen, von denen eine über Flügel verfügte, würden wir nicht gegen ihre Anzahl ankommen. Sie würden uns nicht einmal als Bedrohung einstufen.

»Sie, Mr. Riker, mögen vielleicht nicht mehr wie ein Höllenfürst aussehen, aber Asmodai hat genug seines Wesens in Ihnen hinterlassen, dass die Ghule Sie für ihren Anführer halten werden. Sie werden Ihnen folgen und damit können Sie sie vom Haus weglocken. Und wir können die Hexe befreien.« Apollo verschränkte selbstzufrieden die Arme vor der Brust und blickte in die Runde. Neben Flinn und seinen drei Rachedämoninnen waren auch Nova und Riley anwesend. Zu acht würden wir eine wirklich schlagkräftige Truppe abgeben, wenn es nicht gerade gegen eintausend Ghule ginge.

Riley reagierte als erster auf Apollos Vorschlag. »Sie vergessen einen entscheidenden Gegner, Engelchen.« Er zog an einer Zigarette, schnippte sie zu Boden und trat den glühenden Rest mit der Schuhspitze aus. Hatte er Apollo gerade Engelchen genannt? Ich hielt den Atem an und schielte zu ihm hinüber. Apollos Augenbraue zuckte zornig. Jeder andere hätte geglaubt, er würde Rileys Kosenamen schlicht überhören, aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass dem nicht so war. Apollo brodelte vor Zorn, doch er konnte sich beherrschen. Darin war er verdammt gut. Er wusste, wann ein Wutausbruch unangemessen war. Mit eintausend Ghulen im Nacken ganz sicher. Auf den ersten Blick schien es so, als würde Apollo schlicht darauf warten, dass Riley seine Aussagen erläuterte. Doch der Jäger sonnte sich lieber in Apollos Unwissenheit. Schließlich siegte seine Ungeduld.

»Wären Sie so freundlich, uns aufzuklären?«, durchschnitt Apollos Stimme die angespannte Stimmung wie ein stumpfes Messer in der Sonne erwärmte Butter.

Riley sog scharf die Luft ein und ging so weit die Straße hinunter, bewegte sich bis an den Rand des Lichtkegels der Straßenlaterne, dass er uns anderen den Rücken zugekehrt hatte. Seine Schultern zitterten, ein kaum wahrnehmbarer Schauer ließ seinen Körper erbeben. Ein süßlicher Geruch wehte zu mir herüber und ich rümpfte die Nase, schnüffelte und zuckte zusammen. Riley hatte Angst. Ein Kerl wie ein Baum, bewaffnet bis an die Zähne, der laut Novas Erzählungen auch gerne ein Ghulnest alleine ausräucherte, fürchtete sich. Wovor? Die Antwort lehnte in Form einer langen, schlaksigen Gestalt an einem Pfosten auf der Veranda des Hexenhauses.

Riley versenkte die Hände in den Hosentaschen und atmete erneut durch, sammelte sich für nur ein Wort. »Beelzebub.« Ich spannte mich unwillkürlich an. Das war der Höllenfürst, der Riley fast getötet hatte. Okay, das war gelogen. Er hatte Riley getötet. Und ich hatte ihn praktisch wiederbelebt. Nur durch meine Fähigkeiten atmete er noch. Ich ließ meine Schwänze kreisen. Diese selbstlose Tat hatte mir meinen vierten Schwanz eingebracht. Damit war ich mächtiger als je zuvor.

Apollo schnitt eine Grimasse.

»Er wird erkennen, das Riker weder Asmodai noch ein Höllenfürst ist«, fuhr Riley fort. »Und dann haben wir ein mächtiges Problem, wenn er die Ghule auf uns hetzt!«

»Wird er nicht«, widersprach Apollo. »Riker riecht noch nach Hölle.« Er hielt seine Nase in die Luft und zuckte mit den Nasenflügeln. »Oder … Liebling?« Das erste Mal, seit wir hier angekommen waren, wandte sich Apollo an mich. Meine Nase war selbst in menschlicher Form besser als seine. Ich blähte die Nasenflügel und sog eine ordentliche Portion Gestank ein. Unter eintausend unterschiedlichen Ghulgerüchen konnte ich Flinn kaum ausmachen. Tiara und ihre Schwestern besaßen einen ganz ähnlichen Geruch. Ihnen haftete außerdem noch etwas Flinn an. Meine Mundwinkel zuckten. Unglaublich, dass er mit allen Dreien schlief. Wäre mir persönlich viel zu anstrengend. Mir reichte Apollo voll und ganz. Okay, zugegeben, er war auch kein Mensch und dementsprechend fordernd. Aber was Flinn mit den drei Schwestern abzog, war … exotisch. Vor meinem inneren Auge lief ein winziger Porno ab, den ich so nie sehen wollte. Ich schüttelte hastig den Gedanken ab und konzentrierte mich wieder auf die Gerüche. Für mich waren sie fast greifbar. Die Nase war mein wichtigstes Sinnesorgan, so bedeutsam wie für die Menschen ihre Augen. Sie konnten anhand der Gesichter Personen unterscheiden, ihnen Eigenschaften zuschreiben oder sogar Verwandtschaften erkennen. Für mich erledigte das die Nase. Ich konnte jedem einzelnen in unserer Gruppe einen Geruch zuschreiben und ihn auch beschreiben, wenn man mich danach fragte. Apollo roch nach verheißungsvollen Nächten, einem Hauch Arroganz und Überheblichkeit, aber auch unendlicher Großzügigkeit und Zuneigung. Riley und Nova hing stets ein Hauch Tod an. Der leicht süßliche Geruch der Verwesung würde ihnen auch noch nach Jahren anhaften. Unmöglich, ihn loszuwerden. Jäger verströmten dieses Aroma, als wäre es in ihrer DNA verankert. Doch den Schwefel, den Apollo bei Flinn wahrnehmen wollte, konnte ich nicht erkennen. Ja, Flinn verströmte immer einen gewissen erdigen Duft, was ich ziemlich witzig fand, da er am liebsten Gebäude hinauf kletterte. Außerdem nahm ich Rost, Eisen und Verlangen wahr. Ich schätzte, das Verlangen stammte von Asmodai, aber das war auch schon alles, was auf den Höllenfürsten hinwies.

Ich wollte gerade meine Beobachtungen mit den Anderen teilen, als mich Apollos eindringlicher Blick traf. Er beschwor mich regelrecht, ihm zuzustimmen. Ich neigte den Kopf leicht zur Seite, fragte nach dem Warum, ohne zu sprechen. Apollo atmete tief durch und schenkte mir ein Lächeln, wollte mein Vertrauen. Das hatte er, danach brauchte er niemals zu fragen. Unmerklich nickte ich, bevor ich antwortete. »Ja, ich kann den Dämon noch an dir riechen.« Dass das weder eine Lüge noch eine Bestätigung von Apollos Aussage war, war mir durchaus bewusst. Ich würde ihm nicht in den Rücken fallen, aber ich würde meine neuen – und alten – Freunde nicht belügen. Dennoch, was immer Apollo vorhatte, ich würde ihn unterstützten. Nur wäre es schön, wenn er seine Pläne das nächste Mal vorher mit mir besprach. Ich mochte es eigentlich nicht, im Dunkeln gelassen zu werden. »Wie sieht dein Plan im Detail aus?«

 Kapitel 2

[Nova]

 

»Mir gefällt der Plan nicht«, murmelte ich und hockte mich neben Riley ins Gras. Die mächtigen Schultern meines Partners bebten vor unterdrücktem Lachen.

»Dir gefällt der Plan nicht, oder du hast etwas gegen denjenigen, der ihn ausgeheckt hat?« Er blinzelte zu mir herüber, bevor er sich wieder nach vorne wandte, um Riker zu beobachten. Flinn hatte sich nur widerwillig auf Adams Plan eingelassen, da weder ihm noch uns eine bessere Alternative einfiel, hatten wir kurzerhand beschlossen, es einfach zu probieren. Riley und ich hatten jedoch darauf bestanden, Flinn Rückendeckung zu geben. Höllenfürst hin oder her, Flinn konnte verletzt werden und dann würde er jemanden brauchen, dem er vertrauen konnte. Okay, er hatte seine drei Rachedämonen, aber mir persönlich war wohler, wenn wir auf den einzigen Sterblichen in dieser illustren Gruppe achtgaben. Und da ein Kampf sowieso nicht geplant war, verdingte ich mich lieber als Personenschutz für einen ehemaligen Höllenfürsten.

»Der Plan ist gut, wenn er denn funktioniert. Und darin genau liegt das Problem. Mir sind eindeutig zu viele WENNS enthalten. Außerdem …«

»Vertraust du Adams nicht …«

Meine Mundwinkel zuckten. »Nicht einen halben Meter weit. Er ist ein verdammter Engel, wenn auch …«

»… ziemlich flügellahm.«

Ich warf Riley einen Blick zu. Er wusste, wie sehr ich es hasste, wenn er meine Sätze beendete. Wie bei einem alten, verschrobenen Ehepaar. Und ich wollte nun wirklich nicht daran denken, mit Riley alt zu werden. Okay, alt vielleicht schon, aber Quentin Riley war nicht die Person, die mir gegenüber im Schaukelstuhl vor dem Kamin hockte und sich seinen alten, schlaffen Sack kraulte. Boah, ey, nein! Das Kopfkino, dass sich bei diesem Gedanken in Bewegung setzte, ließ mich das Gesicht verziehen. Das war so widerlich! Trotzdem musste ich lachen. Ich mochte es, mit Riley zusammenzuarbeiten und hin und wieder mit ihm zu vögeln, aber Schaukelstühle und Kaminfeuer? Im Ernst? Was genau stimmt nicht mit dir, Nova Johnson?

Vielleicht litt ich gerade auch unter einer ausgeprägten Form von drohender Nahtoderfahrung.

»Sprich ihn nie wieder auf seine nicht vorhandenen Flügel an. Wir können uns glücklich schätzen, wenn Adams Plan auch nur zu fünfzig Prozent funktioniert.«

Riley zuckte mit den Schultern und deutete auf Flinn, der sich langsam die Anhöhe hinunter kämpfte. Gemeinsam hatten wir in den letzten zwei Stunden das Gelände um das Hexenhaus weiträumig umgangen, um dann noch weitere zwei Stunden auf Adams Anweisungen zu warten und im Gras zu kauern. Während dieser Zeit hatten wir den jungen Dieb mit den frechen blonden Haaren und dem lebenslustigen Blick besser kennengelernt und herausgefunden, dass er über keinerlei Fähigkeiten wie Rai oder die Schwestern verfügte. Sein einziger Daseinszweck war es gewesen, von einem Höllenfürsten besessen gewesen zu sein. Aria, die Hexe, um die es bei dieser Scheiße eigentlich ging, war es gewesen, die ihn von Asmodai befreit hatte. Er schuldete es ihr, hier zu sein. Immerhin hatte sie ihr Leben für das seine riskiert. Flinn war so versessen darauf, Aria zu helfen, dass er für Rileys Weltuntergangsszenarien kein offenes Ohr hatte.

»Hör’ zu«, hatte er abschließend gesagt, bevor er sich durchs Gebüsch gekämpft und seiner Bestimmung zugewandt hatte. »Mir passt es auch nicht, dass Adams so selbstverständlich die Führungsrolle übernommen hat. Aber er ist der Einzige, der sich mit Himmel und Hölle wenigstens halbwegs auskennt. Ich vertraue ihm auch nicht, allerdings vertraue ich Rai. Und wenn sie ihm folgt, tue ich es auch. Immerhin hat er einen Plan, der funktionieren könnte. Okay?« Die Diskussion hatte er mit einem spitzen Grinsen beendet und uns dann verlassen. Trotzdem. Ich würde dafür sorgen, dass er, wenn es hart auf hart kam, am Leben blieb.

Flinn sollte sich von der anderen Seite nähern und die Ghule auffordern, ihm zu folgen. Und dann würde der wirklich komplizierte Teil kommen. Riley hatte recht, indem er Beelzebub erwähnte. Doch Adams war sich ziemlich sicher, dass der andere Höllenfürst sich Flinn unterwerfen würde, wenn sein Auftreten nur dominant genug war. Und damit kamen wir zu den größten Unsicherheiten. Die Chance, dass Beelzebub sich unterordnete, bestand nur dann, wenn er in Flinn Asmodai sah. Adams ging davon aus, dass es funktionieren würde, weil, Zitat, Die in der Hölle da unten nicht viel miteinander reden. Satan selbst, so Flinn, hatte Asmodai zurück in die Hölle befördert und ihn befreit, nachdem Aria ihr Leben dem Oberdämon geschenkt hatte. Sie hatte irgendein seltsames Ritual durchgeführt, dass mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Ursache für die Ghularmee an dieser Stelle war. Die Ghule hatten aber keineswegs vor, die Hexen anzugreifen, oh nein. Sie beschützten etwas. Vor uns. Und das fand ich wirklich beunruhigend. Wer sagte uns denn, dass die Höllenfürsten dieses Mal nicht doch miteinander geredet hatten, wenn sich so etwas Wichtiges in diesem Haus befand wie … Genau, und daran wagte ich gar nicht zu denken. Wenn Aria Satans Sohn trug … Himmel und Hölle. Wir brauchten mehr als ein paar Dämonen, zwei Jäger, einen Dieb, eine Kitsune – wobei ich nicht wusste, ob Rai nicht doch eher in die Kategorie Dämon fiel – und einen flügellahmen gefallenen Engel. Das war doch absurd, dass …

»Achtung!« Riley legte mir die Hand auf den Arm und lenkte meine Aufmerksamkeit auf Flinn. »Es geht los.«

Flinn warf noch einen letzten Blick zu uns, grinste verschmitzt und zeigte uns ein mit Daumen und Zeigefinger geformtes O. Alles in Ordnung. Ich rollte mit den Augen. Eigentlich reichte es mir, wenn Riley ständig Blödsinn machte, ich brauchte nicht noch einen Typen von diesem Schlag. Trotzdem mochte ich Flinn. Er hatte Mumm, das Herz am rechten Fleck und leider ein paar ziemlich beschissene Monate hinter sich. Ich zog meinen Revolver und legte an, woraufhin Flinns Miene in sich zusammenfiel, er die Augenbrauen leicht nach unten zog und sein Grinsen eine Spur fieser wurde. Als ob in diesem netten jungen Mann eine dunkle Seele hauste, die hin und wieder einen Blick riskierte. Mit dieser Miene wandte er sich um und marschierte den Hügel hinunter.

»Okay«, murmelte ich und ließ meinen Blick zum Nachthimmel gleiten. »Brille«, befahl ich Riley. Er stöhnte genervt auf, drückte mir aber das Verlangte in die Hand. Einhändig öffnete ich die Bügel und schob mir die Nachtsichtbrille über die Augen. Hatte schon seine Vorteile, mit Apollo Adams im gleichen Team zu spielen. Ihm verdankten wir ein ordentliches Upgrade unserer Ausrüstung. »Für eure menschlichen, kaum zu gebrauchenden Augen«, hatte er gesagt, als er uns die Nachtsichtbrillen überreicht hatte. Neueste Technik, adaptives Verhalten, was im Klartext bedeutete, dass ich die Brille genauso gut bei Tag tragen konnte. Die Gläser würden sich immer den vorherrschenden Lichtverhältnissen anpassen.

Über uns schwebte eine dieser Rachedämoninnen, die Flinn im Schlepptau gehabt hatte. Tiara hatten wir schon letzte Woche kennengelernt, aber die da war neu. Weißes Haar, das durch die Brille grünlich schimmerte, flatterte im Wind, ihr durchscheinendes Gewand hatte Riley zunächst amüsiert, aber als er einen Blick durch die vielen Löcher riskiert hatte, war ihm ganz anders geworden. Sofia, so ihr Name in menschlicher Gestalt, war das einzige Wesen, das ich kannte, das so richtig fliegen konnte und dabei war sie noch nicht einmal ein richtiger Dämon, eher ein Geistwesen.

Die Verwandlung der Schwestern war für uns nicht angenehm gewesen. Nicht, dass die drei wie Ghule rochen oder ekelhafte Flüssigkeiten absonderten, nein, es war ihre wirklich furchteinflößende Gestalt. Zerfetzte Kleider, fiese Fratzen, weit aufgerissene, halb aus den Höhlen getretene Augen und durchscheinende Haut, sodass man ihre sich wie Würmer windenden Gedärme sehen konnte. Sofia allerdings war die Einzige von ihnen, die über Flügel verfügte. Okay, Tiara und Aura konnten auch fliegen, aber nur Sofia beherrschte eine Art Schwebeflug, der sie wie einen Kolibri in der Luft stehen ließ. Wie ein Geist schwebte sie über dem Geschehen und konnte uns mit Informationen versorgen. Wie sie das tat, versetzte mir jedes Mal einen eisigen Schauer.

Alles klar bei Flinn, haltet euch zurück, Menschen. Ich sah zu Riley und erschauerte. »Daran werde ich mich NIE gewöhnen«, stieß er aus und rieb sich den Nacken. Sofias Stimme schallte durch meinen Kopf, als ob sie mit einem Megafon bewaffnet neben mir stand und mir ins Ohr brüllte.

»Nicht so laut«, brummte ich eher zu mir selbst. Als ob ich es wagen würde, mich bei einer Erinnye, wie Rachedämonen auch genannt wurden, zu beschweren.

Tschuldigung, hörte ich erneut ihre Stimme durch meinen Verstand rasen. Diesmal deutlich leiser. Ich muss die Kommunikation mit euch Sterblichen erst noch erlernen. Wann immer ich mit Menschen zu tun hatte, sprach ich entweder durch meine menschliche Gestalt oder aber ich nahm ihre Seele. Diese Form der Kommunikation ist vollkommen neu für mich.

Riley starrte mich mit geweiteten Augen an. »Sie nimmt Seelen?«, hauchte er im Flüsterton.

»Das ist ihr Job«, kommentierte ich.

Ich kann euch hören!, trällerte Sofia und ich verzog angesichts des dämonischen Plaudertons das Gesicht.

»Jap«, kommentierte ich an Riley gewandt. »Deshalb sollten wir das Gespräch über Sofia und ihre Schwestern nicht hier führen, klar?«

Riley lachte leise. »Sag uns Bescheid, wenn wir eingreifen müssen, Schätzchen, ja?«

Ich wollte Riley gerade heftig mit einem Hieb gegen die Schulter zurechtweisen, als auch schon Sofias Antwort kam. Prompt und unmissverständlich, was sie davon hielt, so betitelt zu werden. Ich bin nicht dein Schätzchen, Quentin!, rasselte sie. Riley zog hastig den Kopf ein.

»Okay, okay.«

Das war übrigens eine Kostprobe der Dämonenstimme. Falls du das nicht wieder hören willst, nenne mich nicht Schätzchen. Du kannst Sofia zu mir sagen.

Ich lachte leise, als Riley sie nachäffte. Zum Glück konnte sie das nicht sehen.

»Okay, Konzentration. Wir sind hier nicht zum Spaß.«

Ist mir völlig klar. Sofia schlug ein paar Mal mit den Flügeln und folgte Flinn, der mittlerweile auf der Ebene angelangt war. Das Haus der Hexen befand sich in einem Wohngebiet in der Nähe des Strandes auf Coney Island. Die Straße führte direkt an der Promenade entlang und unweit der Häuser erhoben sich sanfte Hügel. Auf einem dieser Hügel hockten wir und Flinn steuerte gemächlichen Schrittes auf die Armee zu. Mit Sofia in Gedanken verbunden zu sein, hatte nicht nur den Zweck, uns beizeiten zu Hilfe zu holen, nein, sie kommunizierte so auch mit Flinn und konnte uns jederzeit über seinen Zustand unterrichten.

»Wie geht es ihm?«, fragte ich Sofia nach einer Weile. Ich streckte mich und riskierte einen Blick nach unten. Flinn hatte mittlerweile die Armee erreicht. »Und was macht Beelzebub?«

Sofia ließ sich mit ein paar Flügelschlägen etwas absinken, bevor sie antwortete. Vielleicht hielt sie auch Rücksprache mit Flinn. Er hat Angst, antwortete sie besorgt. Beelzebub nähert sich ihm. Seid auf der Hut.

Es kribbelte in meinem Nacken. Ein Gefühl, dass mir schon mehr als einmal das Leben gerettet hatte. Ich wäre dumm, wenn ich nicht darauf vertrauen würde. Irgendetwas Schlimmes würde gleich passieren.

»Ich frage mich«, murmelte Riley, »warum Adams nicht zu Beelzebub gegangen ist und ihm seine Armee abgeschwatzt hat.«

Irritiert blickte ich zu Riley. »Warum sollte er das tun? Also ich meine, ihm seine Armee geben … immerhin ist er schon länger nicht mehr in der Hölle gewesen. Und wir haben keine Ahnung, wie ihr Verhältnis zueinander ist.«

Und genau das war die Frage, die uns quälte: Warum hatte sich Luzifer die Armee nicht selbst geholt? Und warum, zum Teufel, war uns die Frage erst jetzt eingefallen?

 

[Tiara]

 

»Wir sollten bei ihm sein«, murmelte ich und suchte in dem Getümmel der Ghule nach Flinns blondem Schopf. Er hatte vorhin noch Witze darüber gerissen, dass wir ihn mit seinem strohfarbenem Haar überall wiedererkennen würden. Dieser Idiot. Wenn ich gewusst hätte, dass das nicht der Fall sein würde, hätte ich ihn gezwungen, eine rote Kappe zu tragen, damit wir ihn nicht aus den Augen verloren. Sofia schwebte zwar über dem Getümmel, aber mir wäre wohler gewesen, wenn ich ihn selbst gesehen hätte.

»Sofia ist bei ihm. Alles gut, Ti. Er kann auf sich selbst aufpassen«, versuchte Aura, mich zu beruhigen. Aber sie klang genauso wenig davon überzeugt wie ich. Flinn war nur ein Mensch. Er konnte verletzt werden. Sollte sich die Armee gegen ihn wenden, würde keiner von uns ihn erreichen können. Die Ghule waren die meiste Zeit inaktiv. Menschen waren seit Tagen durch sie hindurchgegangen, denn die Dämonen waren weder sichtbar noch stofflich. Sie hatten keinen eigenen Willen oder verfügten über Instinkte. Und doch waren sie sehr gefährlich, wenn jemand sie steuerte. Dieser Jemand war Beelzebub. Warum sonst hockte er auf der Veranda und tat so, als würde er die Aussicht auf den Ozean genießen.

Seit Tagen stand die Armee herum und wartete darauf, dass Beelzebub – oder irgendjemand sonst – den Befehl gab. Tagsüber waren hier hunderte Menschen, sie gingen durch die Menge hindurch, während sie nicht ahnten, was um sie herum vor sich ging. Erst wenn Beelzebub es wollte, würden die Ghule sich verstofflichen und zu einer Bedrohung werden. Nova hatte uns erzählt, dass sie ein Nahrungslager der Ghule ausfindig gemacht hatten. In den letzten Tagen waren die Jäger – sie und Riley – in der Stadt umher gestreift und hatten nach weiteren Lagern Ausschau gehalten. Die Ergebnisse ihrer Nachforschungen waren erschreckend. Von den Nahrungslagern schlossen sie auf die Anzahl der Ghule, die sich in der Stadt befinden mussten. Eintausend war nichts dagegen. Was bedeutete, dass irgendwo in der Stadt noch mehrere tausend Ghule herumlungerten, unsichtbar für das menschliche Auge. Sollte Flinn in der Lage sein, sich eine dieser Ghularmeen untertan zu machen … Apollo hatte es nicht ausgesprochen, aber wir wussten alle, dass das unsere Chancen erheblich verbessern würde.

Ich fröstelte. Ja, Dämonen konnten frösteln. Jedenfalls in menschlicher Gestalt. »Ich hasse diese Warterei«, grummelte ich und vergrub die Hände in den Jackentaschen.

Rai trat vor und reckte die Nase in die Luft. Sie leckte sich die Lefzen und knurrte leise. »Ich auch, aber uns bleibt nichts anderes übrig«, rasselte ihre raue Fuchsstimme. Sie war riesig und genau wie Aura und mir war ihr die Aufgabe zugefallen, den anderen Rückendeckung zu geben beziehungsweise zu reagieren, sobald sich die Armee entfernt hatte.

»Eure Chance wird kommen. Die Ungeduld der Jugend«, seufzte Aura und ließ sich auf einem Gartenmäuerchen nieder.

Ich warf meiner Schwester einen Blick zu. »Außerdem traue ich Adams nicht. Du hast mir, nebenbei bemerkt, noch immer nicht verraten, woher du ihn kennst. Du hast nur erwähnt, dass ihr euch früher begegnet seid.« Rai hob ihren riesigen, pelzigen Kopf und neigte ihn leicht zur Seite. Sie sah Aura mit großen Augen an, als ob sie meine Worte unterstützte. Ich lächelte und konnte gerade so noch dem Drang widerstehen, dankbar Rais Kopf zu tätscheln. Manchmal vergaß ich, dass da ein mächtiges Wesen vor mir saß. Es zu streicheln war irgendwie unangebracht. Auch wenn sie mir wohlgesonnen war und ich sie fast als Freundin bezeichnete, Rai war gefährlich.

Aura sah verblüfft von mir zu Rai und wieder zurück. »Habt ihr euch etwa gegen mich verbündet?«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir spielen alle im selben Team. Es ist doch nur fair, wenn wir auch alle über dieselben Informationen verfügen, oder?«

Auras Stirn legte sich in tiefe Falten. »Früher war es dir ganz recht, dass ich das Denken für uns übernommen habe.«

»Früher ist Vergangenheit. Ich – und auch Rai – würde gerne wissen, woher du Adams kennst. Vielleicht kann ich ihm dann auch vertrauen.«

»Reicht es nicht, dass er da war, als wir ihn gebraucht haben?«, versuchte Aura, meine Neugierde in andere Bahnen zu lenken. Doch so leicht ließ ich mich nicht in die Irre führen.

»Woher kennst du ihn, Schwester?« Ich betonte die verwandtschaftliche Beziehung besonders, um Aura an unsere Verbindung zu erinnern. Wir sollten keine Geheimnisse haben.

Aura seufzte ergeben und schlug die Beine übereinander. »Das dauert eine Weile. Halte die Ohren offen, Rai. Wir wollen doch nicht unser Signal verpassen während wir in der Vergangenheit schwelgen, oder?«

Die Füchsin erhob sich, drehte sich einmal im Kreis und legte sich dann auf den Boden. Ihre Vorderpfoten ruhten neben Auras Füßen, ihren mächtigen Kopf legte sie darauf und ihre grünen Augen musterten meine Schwester. Aura schüttelte lachend den Kopf. »Daran werde ich mich nie gewöhnen.«

Rai zog die Lefzen zurück und grinste die Fuchsversion eines Lächelns.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann schieß mal los.«

»Ist es nicht etwas unfair, dass Sofia nicht zuhört?«, startete Aura einen weiteren Verzögerungsversuch.

»Öffne einfach deine gedankliche Verbindung zu ihr«, schlug ich vor. Aura rollte mit den Augen, begann schließlich aber doch zu erzählen.

»Damals wart ihr noch gar nicht geboren.« Aura nickte mir zu. In Gedanken sprach sie garantiert mit Sofia. Dass ich davon nicht viel mitbekam, störte mich eigentlich nicht. Niemand hielt es aus, ständig zwei andere Stimmen im eigenen Kopf herumschwirren zu haben. Manchmal war es ganz gut, dass wir unsere Gedanken verschließen konnten. Das machte vieles einfacher. Sex zum Beispiel. »Ich war in Rom und hatte zwei andere Schwestern«, fuhr Aura fort. Erinnyen waren niemals alleine. Uns gab es immer im Dreierpack. Sobald eine von uns sich auflöste – ihr Dämonenleben gelebt hatte – wurde eine andere geboren. Entgegen der landläufigen Meinung waren wir nicht unsterblich, unsere Lebensspanne war nur sehr viel länger als die eines Menschen. Die Zeit, von der Aura gerade sprach, war mir nicht unbekannt. Damals war sie die Jüngste gewesen.

»Es war im sechzehnten Jahrhundert, die Stadt war zu dieser Zeit immer ein Fest für Rachedämonen. Wir haben selten nichts zu essen gefunden. So viel Sünde, wohin man auch sah.« Aura seufzte. »Apollo hieß damals anders, Antonio De Capella und war … Bischof.« Meine Mundwinkel zuckten.

»Irgendwie kann ich mir das so gar nicht vorstellen.«

Aura warf mir einen bitterbösen Blick zu. »Möchtest du die Geschichte nun hören?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, ich weiß bereits, wie die Geschichte geht, oder?«

Aura schmunzelte und senkte den Blick in Richtung Rai. Die Füchsin hob den Kopf und spitzte die Ohren.

»Kann es sein, dass du mit ihm geschlafen hast?« An das Raspeln, wenn sie sprach, würde ich mich nie gewöhnen.

Aura verschränkte die Finger der einen mit denen der anderen Hand. »Nicht nur einmal.«

»Pah!«, stieß ich aus. »Ich habe es gewusst. Als er vorgestern an den Käfig herangetreten ist. Ich habs gewusst!«

Aura hüstelte dezent. »Gar nichts hast du gewusst.« Mit einem Blick auf Rai fuhr sie fort: »Ist das ein Problem für dich?«

Rai erhob sich und verflocht ihre Schwänze so ineinander, dass es aussah, als würde sie nur einen Schweif besitzen. »Nicht, wenn du ihm nicht mehr nachtrauerst.«

Aura lachte. »Sehe ich so aus, als würde ich Wert auf eine Beziehung mit Luzifer legen? Oh nein, meine Liebe, das überlasse ich den göttlichen Wesen untereinander.«

Rai lachte keckernd. »Ich bin keine Göttin, ich habe nur die Chance darauf, etwas in der Art zu werden.« Sie beugte den Rücken durch und streckte sich, wie eine Katze, die stundenlang in der Sonne gelegen hat. »Dieser Körper ist einfach zu groß für langes Warten«, ächzte sie.

»Verwandel dich doch in etwas Kleineres?«, schlug ich vor. »Das würde uns auch weniger … verstören.«

Rai beendete ihre Dehnübungen und hockte sich auf die Hinterpfoten. »Angst? Ihr?«

Aura fuhr sich verlegen durch die braunen Locken. »Ich habe schon viel in meinen fast eintausend Lebensjahren gesehen, aber eine Kitsune gehört nicht dazu. Du bist wunderschön, egal welche Gestalt du annimmst. Aber du musst zugeben, ein Fuchs von der Größe eines Kleinwagens ist etwas … gewöhnungsbedürftig.«

»Und denk an die Nachbarn«, setzte ich nach. Rai lachte.

»Die sehen mich nicht. Für das menschliche Auge bin ich eine Katze.«

»Oh bitte, kletter jetzt aber nicht auf meinen Schoss!«

Wir hätten noch ewig in dieser Art miteinander reden können, doch ein gellender Schrei flutete unser aller Bewusstsein. Sofia!, schoss es mir sofort durch den Kopf. Hektisch sah ich zu Aura. Ihr Gesichtsausdruck glich dem meinem, als würde ich in einen Spiegel sehen. Doch was sich mir nicht erschließen wollte: Rai verzog ebenfalls das bepelzte Gesicht und sah aus, als hätte sie ein Insekt zwischen die Fänge bekommen.

»Sofia!«, stieß Aura angestrengt zwischen zusammengebissenen Zähnen aus. Der Schrei war markerschütternd gewesen, hallte schmerzhaft durch meine Knochen und ließ meine Nervenenden in einem Kaleidoskop gleißender Warnsignale feuern. Wenn Aura nur annähernd das Gleiche empfand, wunderte es mich nicht, dass sie nur mit Mühe sprechen konnte.

»Flinn!«, fauchte Rai. Ich konnte das Wort durch den dichten Schleier Sinne betäubender Schmerzen kaum hören. Doch als ich den Zweck dahinter erkannt hatte, setzte ich so viel Adrenalin frei, das sämtliche Schmerzen wie weggeblasen wirkten. Sie waren natürlich noch da, nur ich nicht mehr empfänglich dafür. Etwas Wichtigeres, Größeres hatte die Oberhand gewonnen: Die Sorge um Flinn!

»Was ist mit ihm? Rai?!«, rief ich. Wäre sie ein Mensch gewesen, hätte ich sie in meiner Ungeduld bei den Schultern gepackt und hektisch geschüttelt. Aber einen sechshundert Pfund schweren Riesenfuchs bedrängte man nicht, damit sie schneller redete.

»Er ist in Gefahr. Ich weiß nicht einmal, wie er es geschafft hat, mich zu erreichen. Aber ich spüre seine Angst und …«

»Sofia!«, rief Aura erneut und sprang auf die Beine. Sie lief ein paar Schritte nach vorne um die Häuserecke, direkt ins Blickfeld der Ghule. Wir hatten unsere Position mit Bedacht gewählt. Vom Wind abgewandt wehte zwar ein ständiger Ghulgeruch zu uns herüber, was Rai zunächst zu heftigen Protesten verleitet hatte. Ihre Nase war so fast nicht mehr zu gebrauchen. Der Gestank nach Tod und Verwesung überlagerte alles und so war es für sie praktisch unmöglich, andere Gerüche wahrzunehmen. Allerdings waren wir so auch in der Nähe der Armee und in der Lage, jederzeit sofort einzugreifen, ohne lange Distanzen zurücklegen zu müssen. Mir widerstrebte sowieso, dass Flinn von uns getrennt als Zielscheibe fungieren sollte. Da er aber von dem Plan überzeugt schien, stimmten wir Schwestern schließlich zu.

Das vorletzte Haus in der Reihe vor dem Haus der Hexen bot uns genug Deckung. Als Aura allerdings jetzt vorlief, verriet sie damit unsere Position und gefährdete alles. Wir sollten zunächst erkunden, ob tatsächlich ein Problem vorlag und unser Eingreifen erforderlich war.

»Aura!«, rief ich, wollte dabei nicht zu laut sein, um unnötige Aufmerksamkeit zu vermeiden. Meine älteste Schwester allerdings hörte nicht und verließ die Sicherheit der Deckung, bevor wir sie aufhalten konnten. Rai hatte sich ebenfalls erhoben und lief zu ihr, doch sie besaß noch so viel Selbstbeherrschung, sich nicht direkt zu offenbaren, sondern vorsichtig hinter der Häuserecke hervorzuschauen.

»Bleib stehen!«, rief ich erneut und schlitterte an Rai vorbei. Aura stand stocksteif und starrte in die Richtung, wo unser Gegner sich befand. Ungeschickt stolpernd hielt ich neben ihr an. »Warum stürmst du einfach voran? Wir hätten uns erst absprechen müssen und …« als Aura nicht reagierte, folgte ich ihrem Blick und erstarrte. Ich konnte förmlich spüren, wir mir der Mund offen stand und der Schock meine Glieder lähmte. Mein Verstand fühlte sich wie eine zähflüssige Masse an. Das, was ich sah, machte mich bewegungsunfähig.

Die Ghule setzten sich langsam in Bewegung und strömten in die Richtung, in der wir Nova und Riley vermuteten. Flinn konnten wir nicht erkennen. Aber das beunruhigte mich nicht mehr, als ich es sowieso schon war. Wir hatten ihn die ganzen letzten Stunden nicht gesehen. Also nichts Neues. Warum allerdings hatte Sofia geschrien? Und was hatte Rai genau gefühlt? Angst war relativ. Wir hatten alle Angst. War es jedoch Todesangst, mussten wir so schnell wie möglich zu ihm. Ghularmee hin oder her, wir konnten Aria nur helfen, wenn wir alle am Leben blieben und uns nicht sinnlos opferten. Wenn Flinn ernsthaft in Lebensgefahr schwebte und er nur deshalb in der Lage war, Rai zu erreichen … Panik bemächtigte sich meiner erneut. Jedoch fühlte ich mich auch völlig mit der Situation überfordert. Die Ghule machten genau das, was sie sollten: Sie verließen die Umgebung des Hauses und ermöglichten Adams den Zugriff. Was also war schiefgelaufen?

Ich war die Erste, die die Sprache wieder fand, während ich noch planlos dem Abzug der Ghule beobachtete.

»Was zur Hölle ist dort passiert?«

 Kapitel 3

[Rai]

 

Ich antwortete Tiara nicht, das würde zu viel Zeit kosten. Flinn schwebte in Lebensgefahr. Ich spürte es. Wie auch immer er es geschafft hatte, sich mir mitzuteilen, ich fühlte ganz deutlich seine Angst. Außerdem war es meine Pflicht, ihn zu beschützen. Mit vier Schwänzen war ich mächtiger als je zuvor. Die Kraft strömte durch meinen Körper. Niemand würde mich aufhalten. Im Übrigen war die Ghularmee dabei, genau das zu machen, was wir wollten. Laut Plan hätten wir warten sollen, bis alle Dämonen die Umgebung des Hauses verlassen hatten. Damit sie nicht auf uns aufmerksam wurden und umkehrten. Um genau das zu vermeiden, legte ich die gleiche Tarnung auf, die ich für Menschen verwendete, wenn ich als Fuchs unterwegs war. Und da Ghule einmal Menschen gewesen waren, lag es nahe, dass sie auf meine Tarnung ähnlich reagieren würden. Wenn ein Mensch hinsah, würde er nur eine rote Katze sehen, die über die Straße lief. Nichts Verdächtiges.

Trotzdem drosselte ich das Tempo. Vier riesige Pfoten von der Größe eines Kindertellers und ein dreihundert Kilo schwerer Körper bewegten sich eben anders, als eine gewöhnliche Hauskatze. Langsam trottete ich voran und legte die Ohren an, schärfte meine Sinne und konzentrierte mich auf Flinn. Der Boden unter meinen Pfoten knirschte seltsam, aber ich hatte keine Zeit, mir länger Gedanken darüber zu machen, denn ich musste meinen massigen Körper durch ein paar Nachzügler schlängeln. Zum Glück war der Hauptteil der Armee bereits ein paar hundert Meter vorangekommen und die Masse der Leiber nicht mehr so dicht. Mein Körper glitt durch sie hindurch, also hatten sie sich noch nicht verstofflicht, was im Umkehrschluss bedeutete, dass sie nicht auf Angriff aus waren. Vielleicht hatte es Flinn tatsächlich geschafft. Ich rümpfte die Nase, als mein Kopf durch einen Leib glitt und versuchte, den beißenden Gestank abzuschütteln, aber ich hatte keine Chance. Der Ghulgeruch hing überall und Flinn war nirgends zu erschnüffeln.

Ich schlug einen Bogen und trabte leichtfüßig um die Armee herum, wich geschickt den Nachzüglern aus, aber einen blonden Haarschopf konnte ich nicht erkennen. Ein gellender Schrei erklang. Mein Kopf, nur von den Instinkten des wilden Tieres gesteuert, fuhr herum. Dem Drang, die Lefzen zurückzuziehen und zu fauchen, konnte ich nicht mehr unterdrücken. Das alles geschah innerhalb von wenigen Augenblicken. Selbst wenn mein Verstand dem des Tieres überlegen war, so hatte ich gerade in dieser Gestalt den niederen Instinkten des Fuchses nichts entgegenzusetzen. Ich nannte sie die Füchsin. Das Tier, das in meinem Inneren hauste und nur dann zum Vorschein kam, wenn ich echte Angst hatte. Keine Ahnung, ob die Sorge um Flinn die Füchsin dazu veranlasst hatte, die Kontrolle zu übernehmen, doch sobald ich die Lefzen zurückzog und dem Fauchen nachgab, übernahm sie das Ruder. Als ob mich das wilde Tier vor einer Dummheit bewahren wollte.

Mein Ich tobte im Inneren und rief der Füchsin zu, sie sollte sich auf Flinn konzentrieren und nicht einem Laut nachgehen, aber sie hörte nicht. Ihr Körper stand unter Strom, der Gedanke, die Gefahr, die Flinn drohte, könnte etwas mit dem Geräusch zu tun haben, ließ sie mich nicht die Kontrolle übernehmen. Der Schrei war für sie so etwas wie ein Warnsignal. Flinn war in Gefahr, der Schrei bedeutete Gefahr, so einfach waren ihre Gedankengänge gestrickt. Es war praktisch unmöglich, sie davon abzubringen.

Sie beschleunigte, schlug meine Warnungen in den Wind und stürmte auf die Veranda zu, direkt in die Basis des Feindes, dort wo sie Beelzebub bereits erwartete.

Als ich den Dämon erblickte, jaulte die Füchsin ängstlich auf. Sie verstand meine Gedanken nicht, wusste nicht, was ein Dämon war. Selbst wenn ich ihr Bilder zeigte, würde sie nicht wissen, wer das war. Für sie spielte es auch keine Rolle. Sie fühlte nur, dass dieses Wesen mächtiger war als sie selbst. Sie wollte fliehen, konnte aber nicht. Ihre – meine – Klauen gruben sich in den Rasen und irgendetwas hinderte sie mit schierer Willenskraft daran, jetzt die Flucht zu ergreifen.

»Du hattest nicht gesagt, was für ein prächtiges Wesen sie ist.« Beelzebub saß in einem Schaukelstuhl auf der Veranda und wippte langsam vor und zurück. Er sprach mit jemanden, den ich allerdings nicht sehen konnte. »Komm näher, Fuchs. Ich will dich ansehen.« Er machte eine Bewegung mit der Hand und ich wurde vorwärts gezogen. Ja, ich. Wunderbar. Wenn es wirklich gefährlich wurde, zog sich die Füchsin in meinen Verstand zurück und übergab mir freiwillig die Kontrolle. Sie konnte nicht kämpfen und auch nicht fliehen, also zog sie sich lieber zurück. Dieses Verhalten fand ich nicht gerade beruhigend.

Ich stemmte die Krallen in den Boden und fauchte, doch meine Gegenwehr belächelte Beelzebub nachsichtig. Als ob er von einem wilden Tier nichts anderes erwartet hätte. Aus purem Trotz hörte ich auf, mich zur Wehr zu setzen. Ich wollte ihm beweisen, dass ich kein Tier, sondern ein vernunftbegabtes Wesen war, das über den niederen Instinkten stand. Als er dies sah, hob er anerkennend eine Augenbraue und drehte seine Hand noch etwas weiter. Der Druck auf meinen Körper ließ nach und ich konnte selbstständig die drei Holzstufen hinaufgehen. Zwar fühlte ich noch immer diesen Sog, aber er lähmte nicht länger meine Muskeln.

»Sehr gut. Und jetzt mach Platz.« Ich knurrte leise, hockte mich aber wie befohlen auf die letzte Stufe der Veranda. Mein Kopf schwebte auf Höhe der oberen Türkante. »Prächtig«, murmelte er und vollführte eine weitere Bewegung mit der Hand, die mich auf das Holz drückte. Ich gab nach und legte mich hin.

»Du bist ein wunderschönes Tier, Rai Mayo«, begrüßte er mich. »Willkommen.«

Ich wollte gerade etwas erwidern, als die Tür geöffnet wurde und Aria heraustrat.

»Rai!«, stieß sie aus und streckte die Hände vor, um mich zu berühren. Doch dann ging ein Ruck durch ihren Körper hindurch und sie erzitterte ängstlich. Sie ließ die Arme wieder sinken und faltete die Hände. Alarmiert stellte ich die Ohren auf. Aria hatte Angst! Vor ihm? Mein Kopf ruckte zurück zu Beelzebub, der uns beide interessiert beobachtete. Er sagte nichts, nur das Zucken eines Mundwinkels verriet, dass er uns ziemlich amüsant fand.

»Tu ihr nichts«, sagte Aria. Ich wandte mich ihr erneut zu, als sie die Hände über ihrem gewölbten Bauch faltete. Die Schwangerschaft war bereits weit vorangeschritten. Ich schnüffelte, mehr instinktiv, als dass ich mich bewusst dazu entschieden hatte. Doch ich konnte ihren Geruch nicht wahrnehmen, um den Stand der Schwangerschaft zu ermitteln. Die Ghule waren noch zu nah. Frustriert blähte ich die Nüstern.

Beelzebub neigte leicht den Kopf und musterte mich interessiert. »Wieso sollte ich ihr etwas tun, meine Liebe, wenn du genau tust, was ich von dir verlange?«

Ich drehte den Kopf in Arias Richtung und starrte auf ihren gewölbten Bauch. Als hätte der Leib ein grausiges Eigenleben entwickelt, drückten von innen winzige Hände und Füßchen gegen die Bauchdecke, ein Gesicht wurde sichtbar. Ich erstarrte. Mit Hörnern. Erschrocken zog ich die Lefzen zurück und knurrte. Das war nicht natürlich, nicht menschlich.

»Was …?«, stammelte ich, doch meine Stimme versagte, ging in ein Röcheln über und verklang schließlich ganz. Aria faltete die Hände und blickte lächelnd auf ihren Bauch. Scheiße, liebte sie dieses Ding, das da in ihr heranwuchs, etwa? War es das, was wir vermutet, was Beelzebub gesagt hatte? Wollte ER, Satan persönlich, in unsere Welt durchbrechen und benutzte Arias Körper als Pforte? War es wahr?

Beelzebub sah mich forschend an. »Du weißt, dass ich deine Gedanken nicht lesen kann, Füchsin, und doch kann ich an deiner Mimik erkennen, was du denkst. Ja, es ist wahr.« Beelzebub deutete mit einer knappen Geste auf den Schaukelstuhl neben sich. Aria nickte und nahm neben ihm Platz. Im Sitzen wirkte ihr Bauch dreimal so voluminös.

»Was verlangt er von dir, Aria?«, fragte ich und setzte mich vor sie.

Aria schüttelte den Kopf. »Dass ich dieses Kind austrage.«

»Aber …«, stammelte ich. »Weißt du, wer das ist?«

Sie hob den Kopf und sah mich an, als ob ich sie für wahnsinnig hielt. »Glaubst du, ich bin blöd? Natürlich weiß ich, wer das ist.«

»Dann weißt du auch, dass das niemals passieren darf.«

»Glaubst du, ich tue das freiwillig? Nein! Ganz bestimmt nicht. Als ich mich auf den Handel mit dem Dunklen eingelassen habe, war mir nicht klar, was es bedeutete, ihm meinen Körper zu schenken. Aber genau das habe ich getan. Und ich habe es gern getan. Für Flinn, damit ER Asmodai aus seinem Körper zieht und Flinn wieder Herr über sich selbst wird.« Aria hob den Kopf und sah mich voller Schmerz an. »Flinn! Oh nein, sag, Rai, geht es ihm gut?«

Ich zog die Lippen zurück und entblößte eine Reihe scharfer Raubtierzähne. Für Menschen mochte die Geste wie ein Angriff aussehen, aber es war nur die tierische Form eines Lächelns.

»Ja, es geht ihm sehr gut. Er ist …«

»Hier!« Beelzebub erhob sich und klatschte erfreut in die Hände. Für ihn schien das alles nur ein großer Spaß zu sein, aber für Aria und alle Menschen in dieser Stadt war es bitterer Ernst. Verdammt … ich brauchte ein paar Sekunden, bis mir klar wurde, was Beelzebub da gesagt hatte. Flinn war hier? Wie bitte? Natürlich war er nicht hier, er war hoffentlich genau dort, wo wir es wollten. Nämlich auf der Anhöhe und lockte die Ghule von hier weg.

Hastig wandte ich den Kopf und erstarrte, als ich Flinn im eisernen Griff zweier gar nicht so dumm und leicht kontrollierbarer Ghule sah. Sie hatten ihm den Arm auf den Rücken gedreht und schoben den schimpfenden Flinn die wenigen Stufen zur Veranda hinauf.

»Flinn!« Aria erhob sich schwerfällig und wollte auf ihn zu stürzen, doch es brauchte nur einen Fingerzeig Beelzebubs, damit sie auf Abstand blieb.

»Bleib zurück, der Gestank dieses … Dämons ist nicht gut für das Kind.«

Aria gehorchte, doch ich hatte nicht das Gefühl, dass sie darauf großen Einfluss hatte. Es schien fast so, als würde eine unsichtbare Macht sie kontrollieren. Ihr Leib blähte sich plötzlich auf, als wäre das Wesen in ihr wütend.

»Wie kannst du es wagen?!«, fauchte Flinn und stemmte sich gegen die Ghule. »Wisst ihr nicht, wer ich bin? Ich bin Asmodai und ich verlange von euch Gehorsam!«

Beelzebub lachte laut auf und klatschte in die Hände. »Sehr überzeugend, Mr. Riker, nur leider hätte Asmodai eine telepathische Verbindung zu jedem einzelnen Ghul aufbauen können. Dass Sie es nicht sind, beweist schon Ihr jämmerlicher Versuch, sie mit blasphemischem Geplapper zu kontrollieren.«

Flinn veränderte seine Haltung, als ihm – und auch mir – klar wurde, dass wir in eine Falle getappt waren. »Sie haben es von Anfang an gewusst, oder? Das wir hier sind und sie«, er deutete mit dem Kinn auf Aria, »retten wollen?«

Beelzebub nahm erneut in dem Schaukelstuhl Platz und schlug elegant seine langen Beine übereinander. »Natürlich habe ich es gewusst. Aria wusste genau, wie Sie denken und da sie gezwungen ist, Satan zu gehorchen, kann sie sich meiner nicht entziehen. Sie wird zwar die Mutter des dunklen Herrschers, aber ich stehe in der Hierarchie immer noch über ihr.«

Aria senkte schuldbewusst den Kopf. »Es tut mir leid, aber ich konnte nichts dagegen tun.«

Flinns Blick wurde weich. »Macht nichts. Wir mussten es versuchen. Ich bin dir mehr als ein Leben schuldig.«

Aria seufzte. »Und was wird jetzt mit ihnen passieren? Lasst ihr sie gehen, wenn ich verspreche, zu gehorchen?«

Beelzebub legte die Fingerspitzen seiner schlanken Hände aneinander und ließ sie immer wieder wandern. »Nun, lasst mich überlegen. Du bist leider durch deine Verbindung mit dem Dunklen sowieso gezwungen, das zu tun, was ich von dir verlange. Die beiden freizulassen, bringt mir also überhaupt keinen Vorteil.«

Ich erhob mich und stieß ein leises Knurren aus. »Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass ihr uns alle gehen lasst und ich dafür Euer Leben verschone?« Ich erhob mich und trat einen Schritt vor, setzte eine Pfote vor die andere, langsam, mit gesenktem Kopf, ohne den Höllenfürsten aus den Augen zu lassen. Das Knurren versetzte meinen Körper in Hochspannung, Adrenalin pumpte durch meine Adern und die zuvor noch verängstigt in der Ecke hockende Füchsin kam hervor und beobachtete neugierig, was ich vorhatte. Ein Lächeln zeigte sich auf ihren Zügen. Auch wenn sie Beelzebub fürchtete, war Angreifen genau nach ihrem Geschmack.

Beelzebub hob interessiert eine Augenbraue und musterte mich mit dem gleichen Blick, den er wohl auch für einen Käfer übrig hatte. Abschätzig und seiner nicht würdig. Seine Reaktion irritierte mich. Normalerweise hatte jeder vor mir Angst. Ich war eine sechshundert Pfund schwere Kampfmaschine, jeder, der nicht sofort vor mir Reißaus nahm, hatte nicht alle Tassen im Schrank. Doch Beelzebub war noch etwas anderes. Er war ein Höllenfürst und ich hatte keine Ahnung, wozu er imstande war. Dass ich es gleich erfahren würde, steigerte meine Vorfreude nur noch mehr. Ich genoss einen guten Kampf. Schwere Gegner waren nicht leicht zu finden, doch auf diesen hier hätte ich gut verzichten können.

»Überleg dir genau, was du tust, Füchsin«, warnte mich der Höllenfürst. Aber ich war längst über den Punkt hinaus, wo rationales Denken noch die Oberhand hatte. Die Füchsin hatte Blut geleckt. Angriffslustig zog ich die Lefzen zurück, zeigte meinem Gegner die Zähne, spannte die Muskeln an und … sprang.

Den Güterzug, der mich an der Schulter streifte, sah ich nicht mal kommen. Ich wurde im Sprung getroffen und mit solcher Wucht gegen einen Holzpfeiler der Veranda geschleudert, dass ich kurzzeitig das Bewusstsein verlor. Benommen rutschte ich zu Boden und stieß ein gequältes Jaulen aus. Pfeifend entwich sämtliche Luft aus meinen Lungen. Verbissen kämpfte ich gegen die drohende Ohnmacht an. Als das Adrenalin aufgebraucht war, fühlte ich den Schmerz in meinem Rückgrat beginnen, sich über meinen Körper ausbreiten und sich in meinen Pfoten entladend. Die Qual war unerträglich, sodass ich mich aufbäumen und ihr entkommen wollte, aber meine Pfoten rührten sich nicht, stattdessen verlor ich Stück für Stück das Gefühl in meinen Gliedmaßen. Panik bemächtigte sich meiner, als ich versuchte, den Kopf zu heben und auch das nicht funktionierte. Ich stieß einen klagenden Laut aus und schmeckte Blut.

Beelzebub neigte den Kopf, als er sich über mich beugte, und legte seine Hand hinter mein Ohr. Er wagte sogar, mich zu kraulen. Ich knurrte leise, wusste aber genau wie er, dass ich nichts dagegen tun konnte.

»Tja, du hättest auf mich hören sollen, Fuchs. Jetzt ist dein Rückgrat gebrochen und dir bleibt nichts anderes übrig, als hier liegen zu bleiben.« Er neigte leicht den Kopf. »Könnt ihr euch eigentlich heilen?«

Interessante Frage, auf die ich leider keine Antwort wusste. Ich wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, zum Beispiel, dass er sich zurück in die Hölle verpissen sollte, als mein Blick Flinns entsetztes Gesicht streifte. So schlimm? Mist. Ich suchte nach Aria und sah Tränen in ihren Augen. Sie schluchzte und versuchte tapfer, die Fassung zu wahren. Tatsächlich, so schlimm.

»Beelzebub!« Eine Stimme, die Stimme, seine Stimme, jagte mir durch Mark und Bein. Erleichtert schloss ich die Augen und ließ den Klang des Wortes immer wieder über meine zuckenden Nerven wandern. Apollo war gekommen. Und er würde mich retten.

 

***

 

[Nova]

 

»Was dauert da so lange?« Ich streckte mich und versuchte, Flinns hellen Blondschopf ausfindig zu machen. Aber wie auch in den letzten zwanzig Minuten konnte ich ihn nicht erkennen. Er war einmal um die Armee herumgelaufen und sollte sich dann auf unserer Seite der Ghule den Bestien zuwenden und sie auffordern, ihm zu folgen. Leider war nichts dergleichen geschehen.

Sie bewegen sich!, hörte ich Sofias Stimme in meinem Kopf. Ich erhob mich auf die Knie und versuchte, über das Gebüsch hinwegzusehen, aber ich konnte nichts erkennen. Riley versetzte mir einen Stoß in die Seite. Irritiert sah ich zu ihm hinunter und er reichte mir lächelnd die Nachtsichtbrille. Wir hatten in den letzten zehn Minuten auf unsere Smartphones gesehen. Da wir das nicht mit den Brillen machen konnten, wenn wir nicht erblinden wollten, hatten wir sie abgenommen. Zähneknirschend nahm ich das Ding von ihm entgegen und schob es mir auf die Nase.

»Danke!«, grummelte ich und wandte mich wieder den Ghulen zu.

»Und kannst du was erkennen?« Riley stellte sich neben mich und gemeinsam suchten wir die sich langsam in Bewegung setzende Masse ab. Flinn war nirgends zu erkennen. Er müsste doch mit …

»Da!« Riley boxte mich in die Seite und deutete auf eine hell gekleidete Person am linken Rand der Menge. Er winkte, nur deshalb hatte Riley ihn vermutlich gesehen. Flinn trug extra eine helle Hose und ein weißes Shirt, damit wir ihn problemlos ausmachen können sollten. Dass das nicht so wie geplant funktionierte, hatten wir vor zwei Stunden noch nicht wissen können.

»Sofia, siehst du ihn?« Die Dämonin schwebte direkt über ihn.

Natürlich, habe ihn nie verloren. Ihr und eure Sichtgeräte taugt auch überhaupt nichts! Sie lachte keckernd. Ich verzog angesichts der Schmerzen, die das dämonische Lachen in meinem Kopf auslösten, das Gesicht. Riley erging es nicht anders.

»Warum noch mal darf ich ihr nicht eine Silberkugel in den Schädel jagen?«, fragte er und langte bereits nach seinem Revolver. Ich verzog die Grimasse zu einem Lächeln, das sie nicht sehen konnte.

»Weil wir im selben Team spielen?«, schlug ich vor. Riley tippte sich grinsend mit dem Lauf seiner Waffe gegen die Stirn.

»Stimmt, da war ja was!«

Ich kann euch hören!, gellte Sofia, doch wir ignorierten sie. Solches Geplänkel musste sie abkönnen, wenn sie mit uns arbeitete. Wir suchten hastig unsere Sachen zusammen und setzten uns langsam in Bewegung. Da Flinn nicht an der geplanten Stelle aufgetaucht war, mussten wir improvisieren. Er war viel zu weit weg, als das wir ihn im Notfall hätten erreichen können.

Gerade schulterte Riley seinen Rucksack, als Sofias gellender Dämonenschrei durch unsere Schädel jagte.

»Ehrlich, ich bring das Biest um, sobald sich eine Gelegenheit ergibt!«, fauchte Riley, doch ich war mir nicht sicher, ob der Schrei wirklich dazu dienen sollte, uns für unser Geplänkel eins auszuwischen. Das klang viel zu … panisch.

»Sofia?!«, fragte ich laut und hoffte, dass sie mich trotzdem hören konnte. »Ist alles in Ordnung?!«

NEIN!, kreischte sie so laut, dass ich erneut das Gesicht vor Schmerzen verzog. Sie haben ihn entdeckt. Erst sind sie ihm gefolgt, aber plötzlich haben sie sich um ihn geschart. Kommt schnell, ich kann Flinn nicht mehr sehen!

Ich brauchte Riley nicht aufzufordern, mir zu folgen. Er hatte Sofia genauso gehört wie ich. Fast gleichzeitig verfielen wir in einen Laufschritt und preschten den Hang hinunter. »Setz uns ein Zeichen!«, wies ich Sofia an. Bei dem Tempo, das wir einschlugen, konnten wir unmöglich nach ihr oder Flinn Ausschau halten. Wir mussten darauf vertrauen, dass Sofia uns leiten würde.

Als ich nach einem gewagten Sprung über einen Graben – wir hatten den Fuß des Hügels mittlerweile erreicht – den Kopf hob, konnte ich Sofia als rot glühenden Umriss, der über einer Stelle wilden Getümmels schwebte, wahrnehmen. Das war unser Ziel. Ich warf einen Blick zur Seite. Riley landete gerade nach seinem Sprung über besagten Graben und zog seinen zweiten Revolver. Er hatte Sofia und das Zentrum des Gerangels also ebenfalls wahrgenommen.

Ich griff mir einen Wurfstern und hielt ihn bereit, damit ich, sobald wir in Reichweite kamen, meinen ersten Gegner erlegen konnte. Ich dachte noch darüber nach, ob die Ghule sich verstofflicht hatten, als Riley bereits schoss … und der erste Gegner zu Boden krachte. Silberkugeln waren nicht nur gegen Werwölfe ein adäquates Mittel der Wahl, sie streckten auch Ghule nieder. Ich grinste und schleuderte meinen Wurfstern nach dem Ghul, der sich gerade nach seinem gefallenen Partner umdrehte. Die versilberte Spitze grub sich in sein linkes Auge und er sackte zu Boden.

Auf diese Weise mähten wir eine Schneise in die Armee, doch Flinn brachte uns das nicht näher.

Ihr seid falsch, mehr nach links!, wies Sofia uns an. Wir versuchten, ihren Anweisungen Folge zu leisten, aber es waren zu viele. Immer mehr verstofflichten um uns herum und verwickelten uns in kräftezehrende Einzelkämpfe.

»Das schaffen wir so nicht!«, ächzte ich und blickte auf die Leichen, die sich um uns herum stapelten.

Nein, nein, nein!, schrie Sofia über uns und schoss in die andere Richtung. Sie bringen ihn fort. Ihr müsst euch beeilen!

Doch die toten Leiber drängten uns zurück. Eine wogende Menschenmenge, die es uns unmöglich machte, weiterhin die Schwerter und Dolche zu erheben. Wenn wir es doch einmal schafften, einen Hieb auszuteilen und ein Ghul zu Boden ging, wurde der tote Tote – hah! – durch zwei Kameraden ersetzt.

»Warum töten sie uns nicht?«, fragte Riley nach einer Weile wildem Schieben und Drücken. Ich war so in meinen Rhythmus vertieft, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, dass tatsächlich keiner der Ghule versuchte, uns seine Klauen ins Fleisch zu treiben. Ich meine, wir waren für sie wandelnde Speisekammern auf zwei Beinen und keiner versuchte, sich an uns zu vergreifen. Was immer der Auslöser war, ich wollte eigentlich nicht herausfinden, was passierte, wenn sie uns für eine Bedrohung hielten und ihre Meinung änderten.

»Wir sollten uns zurückziehen, Quentin!«, rief ich ihm über ein paar Ghule hinweg zu. Meine Gegenwehr hatte ich auf ein Minimum zurückgeschraubt und hob nur noch hin und wieder lustlos das Schwert, um einen Hieb abzublocken. Langsam drängten sie mich zurück, immer weiter weg vom Hexenhaus. Das hatte doch alles keinen Zweck.

»Wieso? Und damit Flinn und Aria aufgeben?« Alter Sturkopf. Riley war durch und durch Teamplayer. Wenn er sich für eine Gruppe entschieden hatte, kämpfte er bis zum letzten Atemzug. Nur leider nützte uns der fast zwei Meter große Hüne überhaupt nichts, wenn er tot war. Obwohl die Ghule nicht aktiv angriffen, glaubte ich, dass sie, wenn wir uns dem Haus näherten, ihre Taktik ändern würden. Was immer sich dort befand, sie beschützten es, indem sie eine Wand aus lebenden Toten bildeten. Wie ekelhaft. Ich rollte mit den Augen.

»Riley, hör auf. Tot nützt du uns gar nichts. Wir müssen uns zurückziehen und uns mit den anderen beraten.«

Sofia schwebte heran und warf einen sorgenvollen Blick zum Haus. »Was siehst du?«, fragte ich sie unvermittelt.

»Rai, Flinn, Apollo, sie alle sind dort und … ich könnte hinfliegen und angreifen«, schlug sie vor.

Ich schüttelte energisch den Kopf. Natürlich wusste ich, dass ich Sofia nicht aufhalten konnte, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Sie war ein fliegender Dämon und ich hatte nicht einmal Fähigkeiten. Mensch sein war manchmal richtig Scheiße. Wenn ich wenigstens Zauberkräfte hätte oder über ein Repertoire wie die Hexen verfügte, könnte ich … ach, keine Ahnung. Hexen waren mir schon immer zuwider gewesen. Manchmal nützlich, aber meistens waren sie Anhänger Schwarzer Magie und fielen damit wieder in unseren Tätigkeitsbereich – und ich meine damit nicht, dass wir auf der gleichen Seite stünden. Plötzlich begriff ich, was Sofia gesagt hatte. »Apollo ist dort? Und Rai?«

Sofia schlug ein paar Mal kräftig mit den Flügeln und stieg ein paar Meter nach oben. In der Position verharrte sie, direkt über meinem Kopf. Indem sie den Winkel ihrer Schwingen veränderte, sah es so aus, als würde sie in der Luft stehen. »Ja, Rai, sie liegt am Boden und Apollo unterhält sich mit dem langen, dürren Kerl.«

»Beelzebub. Was zur Hölle macht Rai dort?«

»Vielleicht hat sie Flinn retten wollen?«

»Vermutlich. Bestandteil des Plans war das jedenfalls nicht.«

»Nova, was sollen wir tun? Ihr könnt ihnen nicht helfen, aber ich könnte …«

Energisch schüttelte ich den Kopf. Das war viel zu gefährlich. Wir konnten nicht riskieren, auch noch ein weiteres Teammitglied zu verlieren. Gedanklich musste ich mich bereits von Flinn und Rai verabschieden. Apollo interessierte mich nicht wirklich, aber auch das Fehlen seiner Kampfkraft würde uns spürbar schwächen. »Nein, kontaktiere deine Schwestern. Sie sollen beim Treffpunkt auf uns warten. Ich fürchte, wir sind die Sache völlig falsch angegangen.« Nur Apollos und Flinns Stolz hatten verhindert, dass wir Eldridge von Stein hinzuzogen. Nun blieb uns leider nichts anderes übrig.

 Kapitel 4

[Rai]

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752140958
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
gestaltwandler romantisch ghule dämonen mondsüchtig zauberer hexe Urban Fantasy Fantasy düster dark Liebesroman Liebe

Autor

  • Kitty Harper (Autor:in)

Kitty Harper ist das Pseudonym einer jungen Mutter, die gerne in sinnliche Erotik abtaucht, ohne dabei vulgär zu weden. Manchmal ein wenig SM, manchmal aber auch starke Frauen, die den Herren der Schöpfung zeigen, wo es langgeht. Kitty hofft, dass ihr genauso viel Spaß an ihren Geschichten habt, wie sie selbst.
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Titel: Mondsüchtig: Die Armee der Finsternis