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Haus der Angst

von Astrid Korten (Autor:in)
480 Seiten

Zusammenfassung

Im Haus der Angst wird ein Verbrechen stets effektvoll in Szene gesetzt. Doch wer sind die Opfer und wer die Täter? Wie stehen sie zueinander? Ein Junge wird in einen Keller verschleppt, ein brutaler Serienkiller verbreitet Angst und Panik, eine junge Frau hat das Grauen der Vergangenheit nicht vergessen und beginnt, zunehmend die Kontrolle über sich zu verlieren. Alle Spuren der bestialischen Verbrechen führen stets in das Haus der Angst. Ein bitterböser Psychothriller über Angst und Rache mit überraschenden Wendungen

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Haus der Angst

Die Nacht ist wie ein großes Haus.
Und mit der Angst der wunden Hände
reißen sie Türen in die Wände -
dann kommen Gänge ohne Ende,
und nirgends ist ein Tor hinaus.

Rainer Maria Rilke

Über das Buch

In dem Thriller HAUS DER ANGST wird das Verbrechen stets effektvoll in Szene gesetzt. Doch wer sind die Opfer und wer die Täter? Wie stehen sie zueinander?

Ein Junge wird in einen Keller verschleppt, ein brutaler Killer verbreitet Angst und Panik, eine junge Frau hat das Grauen der Vergangenheit nicht vergessen und beginnt, zunehmend die Kontrolle über sich zu verlieren.

Alle Spuren der bestialischen Verbrechen führen in das blaue Haus der Angst.

HAUS DER ANGST ist ein bitterböser Psychothriller über Angst, Rache und unbändigem Zorn.

Prolog

Aus dem Tagebuch des Jungen

Der Raum im Haus ist besonders klein, niedrig und ziemlich finster. Es gibt nur ein Fenster mit einer Außenverbretterung und einer einzigen Lichtquelle, einer schmalen Luke, dahinter ist eine schwach flackernde Birne. Die Bruchsteinwände sind mit Schaumstoff ausgekleidet und mit Jute überzogen. Sie erinnern ihn an einen mit Laub überwucherten Leinensack. Der Steinboden ist nass und kalt, selbst das Bett und der Stuhl, auf dem der Junge sitzt. Es riecht nach verfaultem Laub, nach Tod, und es ist dunkel. So dunkel, dass jeder, der sich hier aufhält, Angst haben wird.

Egon ist sich sicher, dass die Schwärze eines Tages vorübergehen wird und dass irgendwo in diesem engen, kleinen Raum eine Tür oder ein Fenster ist, vielleicht zwischen den Fugen der Bruchsteine, ein Wurmloch, das zu einem Zufluchtsort führt, an dem er wieder atmen kann.

Er tastet blind umher, denn er ist sich sicher, der Ausgang muss hier irgendwo sein. Er muss nur lange genug auf dem Stuhl an der Wand ausharren und in die Dunkelheit starren. Irgendwann werden sich die Fugen öffnen und dahinter eine Tür freigeben, die in einen winzigen Gang führt. Er hat sie schon einmal gesehen. Doch sobald er seine Erinnerungen aufrufen will, wo denn nun diese Tür ist, lösen sich die Bilder immer genau in diesem Augenblick auf. Die Halluzination verschwindet zusehends. Doch etwas anderes tritt an ihre Stelle: Ein Atemhauch fegt vorbei. Kalt. Eisig. Egon streckt einen Arm nach dem Schatten aus, manchmal auch ein Bein und verharrt in dieser Position, still wie eine Statue.

Dabei hat er sein Spiegelbild vor seinem inneren Auge. Komisch sieht er aus, als sei er von einer Eismaschine schockgefroren worden. Sein Mund aufgerissen, das Gesicht weiß. Die Augen dunkel, sein Blick unheimlich, sobald er zwischen den Spalten zwischen den Brettern etwas wahrnimmt. Dort, wo der Garten das Böse freigibt, die Finsternis sich bewegt, die Zipfel der Bäume sich beugen, der Himmel dunkler ist und schwarze Wolken vorbeifegen, dort liegt dann zwischen den ineinandergeflochtenen Blättern etwas Lebendiges, am Stück und doch wieder nicht. Er sieht nur Körperteile und Stofffetzen, rot durchtränkt, so traurig; und er hört das Wimmern der anderen, ihre Schreie, das Schluchzen. Ein Hauch von Eisengeruch, den Egon nur allzu gut kennt, dringt stets in seine Nase. Der Geruch von Blut … oder der Gestank des Todes.

Egon ist weder geschockt noch beunruhigt, sondern streitsüchtig und widerspenstig; und er fragt sich, wo nun sein Platz in diesem löchrigen Szenario sein wird. Er zeigt den Ritzen seine unbändige Wut, streckt dem Fenster die geballte Faust entgegen. Er will zurückschlagen, furchtbar schlagen. Dort draußen hat er durch die Ritzen die Sorte von Schlägen gesehen, die sehr wehtun, ohne zum Tode zu führen. Die Art von Schlägen, die sich anfühlen müssen, als seien sie endlos. Die jede Hoffnung töten, während der Körper am Leben bleibt. Der Mann und sein Gefolge wollen das Aufheulen aus den Eingeweiden hören, ein seelenzerschmetterndes Geräusch, einen Schrei, lang genug, um die Welt zu zerstören.

Das schwarze Loch umkreist ihn, wird zu einem Wirbelsturm. „Hi Junge“, zischt es, „beruhige dich. Ich werde eine Lösung für dich finden.“ Dann verschmilzt das Dunkel erneut mit der Wand.

Egon sieht sich um. Ihm ist immerzu schwindlig. Tag und Nacht. Und das kommt nicht davon, dass der Mann ihm nur Kartoffeln und Brot gibt und er zu wenig trinke. Der Staub kommt aus den Nähten dieser Wände – von allen Seiten. Es ist, als ob seine Eingeweide beiseitegeschoben werden oder in ihm vertrocknen und nur ein großes leeres Loch zurücklassen. Der Garten wimmert stets hinter den Ritzen, während er um Hilfe ruft.

Der Mann behauptet, dass das Tageslicht nicht gut für ihn sei. Aber er schwört, dass er allen beweisen werde, dass er kein Junge der Dunkelheit ist. Dass er später keine Ritzen mehr zwischen seinem Gesicht und dem Blau des Himmels dulden und er sich für das, was sie ihm hier antun, rächen wird.

Doch hier, auf dem Stuhl in diesem Raum hat er Angst, obwohl er schon vierzehn Jahre ist. Er nimmt stets eine Witterung wahr, sobald der Mann und diese Leute dem Wald ein Opfer bringen: Uringestank. Und er weiß: Er hat seine Hosen vollgepinkelt. Es muss auch an den Pillen liegen, die der Mann ihm neuerdings gibt, wenn er ihn hier einsperrt. Er wird sie nicht mehr schlucken. Dann verabschieden sich bestimmt auch der Schwindel und die Schlaflosigkeit, die albtraumhaften Visionen und der schwarze Tornado. Er wird hier lebendig rauskommen, einen Freudentanz aufführen und wieder durch die Straßen von Aachen ziehen.

Egon steht vom Stuhl auf und legt sich auf die Pritsche. Plötzlich fühlt sich seine Kehle eng an. Er glaubt, drei tiefe Atemzüge zu hören, lehnt den Kopf gegen die Wand, und schließt die Augen. Die Kühle wirkt besänftigend und bringt seinem erhitzten Gesicht ein wenig Erleichterung.

Da! Das leise Trippeln kleiner Füße. Gestalten in weißen Nachthemden? Auf seiner Netzhaut tanzt der Nachtglanz der Ritzen. Sein Herz pocht. Er reibt sich voller Unbehagen die Brust, blinzelt ein paar Mal und richtet sich auf. Unter der Tür schimmert ein wenig Licht.

Er kann es hören. Es ist nur ein leises Geräusch, das Knarren eines Bettes, ein Atmen, das aus dem Takt geraten ist. Draußen entfernen sich Schritte. Oder kommen sie womöglich näher? Er hört das Knirschen des Kieses, das Quietschen des Gartentors. Dann ist alles wieder ruhig.

Seine Augenlider flattern. Er streicht mit der Zunge im Mund herum, starrt die Wände an.

Die Schritte kommen wieder näher. Er steht auf, setzt sich langsam in Bewegung in Richtung der Verbretterung und beobachtet durch die Ritzen das Geschehen im Garten. Als es vorüber ist, hört er das Geräusch einer Brandung in seinem Kopf und das Ticken einer Uhr. Oder ist es der Regen, der jetzt aus den Wolken fällt? Er will schreien. Über sein Schicksal, sein Leben und das Pendeln zwischen Realität und Wahn, und versucht sich zu bewegen, aber seine Füße widersetzen sich. Egon spürt etwas Enges und unerbittlich Festes, das ihm den Atem nimmt. Dann fällt er in Ohnmacht.

Als er wieder zu sich kommt, steht ein zorniger Schatten vor ihm. Er kriecht vor lauter Angst in eine Ecke. Er weiß: Heute wird es mehr wehtun …

Teil 1 – Die Katze

„Es gibt keine Grenzen. Weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.“

Ingmar Bergman

Kapitel 1

München, 28. September 2006

Seit sechs Jahren litt sie nun schon unter diesen Gedächtnisstörungen, ein Zustand, dessen sich Anna Gavaldo immer dann bewusst wurde, wenn sie mit den Schatten der Vergangenheit konfrontiert wurde. Die Schatten kamen neuerdings in der Nacht vor einer Therapiesitzung und hatten immer die unscharfe Kontur jenes Mannes, der sie vor sechs Jahren in einem Kellerraum eingesperrt hatte. Aber sie erkannte ihn nicht und hatte keine Erinnerung an das Geschehen in diesem dunklen Raum.

„Retrograde Amnesie“ nannte ihr Psychotherapeut dieses Krankheitsbild. Prof. Jörg Kreiler war nicht nur eine Kapazität auf dem Gebiet der Neurochirurgie, sondern genoss auch einen ebenso hervorragenden Ruf als Psychiater, und nicht zuletzt war er ihr Freund und besaß seit vielen Jahren Annas Vertrauen.

Heute drängten sich ihr die Schatten förmlich auf. Donnerstag, der 28. September 2006. Jörg – so stand es im Terminkalender: ein Schattentag.

Am Morgen war sie schon um halb sieben aufgestanden, hatte den Küchenschrank aufgeräumt und das Frühstück gemacht. Und nachdem Max mit ihrer sechsjährigen Tochter Lisa das Haus verlassen hatte, hatte sie im Badezimmer mit einem Schwung den Inhalt des Medikamentenschränkchens in den Abfalleimer gefegt und danach den Spiegel geputzt und gedacht: Ich brauche das alles nicht mehr, nicht die Psychopharmaka, nicht die Schlaftabletten. Diese Pillen umnebelten nur ihr Hirn. Ihre Seele schützte sich durch das Vergessen jener grauenvollen Tage, die sie in der Gewalt eines Psychopathen verbracht hatte. Sie fühlte sich heute Morgen klar und frisch wie ein sprudelnder Wasserfall. Wozu also all diese Pillen?

Den traumatischen Erlebnissen war eine Zeit des Glücks gefolgt, das Glück, das ihr die Geburt ihrer Tochter schenkte, und eine Zeit der Zärtlichkeit, in der die Angst sich verflüchtigte. Auch das Studium an der Kunstakademie hatte ihr viel Freude bereitet, seit sie nach ihrem Abschluss jeden Dienstag Zweitklässler unterrichtete. Außerdem war sie bereit für ein zweites Kind. Sie war richtig eifersüchtig auf den Babybauch ihrer Freundin Mathilda, die in wenigen Wochen Zwillinge zur Welt bringen würde. Aber die Pillen würden kein heranwachsendes Wesen in ihrem Körper zulassen.

Anna seufzte. Warum hatte sie neuerdings dieses seltsame Gefühl, ihr Leben könnte entgleisen? Vielleicht, weil sie die Medikamente ohne Jörgs Zustimmung allmählich abgesetzt hatte. Ob ihr Körper und ihr Geist den Entzug nicht verkrafteten? Die Zwerge in der Schule hatten eine Antenne für ihre Stimmungsschwankungen. Die Kinder schauten sie hin und wieder mit seltsamen Augen an, besonders dann, wenn sie ihrer Lehrerin eine Frage stellten und keine Antwort bekamen. Es gab Momente, da hörte sie das Kinderlachen, die niedlichen Stimmen, aber sie hörte nicht, was die Kleinen sagten, sondern nur das Sausen in ihren Ohren.

Sie durfte die Vergangenheit nicht an sich herankommen lassen, und insbesondere durfte sie Max nicht mit ihren Hirngespinsten belasten – ihren Mann mit dem energischen, scharf geschnittenen Gesicht, den intelligenten dunkelbraunen Augen; Max, der Geist und Körper immer unter Kontrolle hatte. Er hatte genug um die Ohren, sie durfte ihn nicht belasten. Nach dem Tod seiner Eltern, die vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatte er die Leitung des Mailänder Pharmakonzerns Biocell übernommen und ihr zuliebe die Verwaltung nach München verlegt. Die Produktionsstätte der gentechnologisch hergestellten Pharmaka befand sich nach wie vor in Mailand, doch Max spielte mit dem Gedanken, sie nach Polen zu verlegen.

Schade, dass Max und Jörg sich nicht so gut verstanden. Jörg war nur selten Gast im Haus, denn Max mochte ihn nicht besonders.

Sie lächelte. Vielleicht war ihr Ehemann eifersüchtig auf diesen attraktiven Arzt, der damals ihrer Schwester Katharina den Kopf verdreht hatte. Aber Jörg hatte ihr geholfen, vielleicht auch deshalb, weil er mit ihrer Schwester befreundet gewesen war, bevor sie ums Leben kam. Oder vielleicht, weil sie ihn an Katharina erinnerte.

Jörg Kreiler war ihr Psychiater, ihr Anker und ihr Freund. Er brachte sie dazu, sich wirklich gut zu fühlen und sich den Dämonen ihrer Träume zu stellen, die ihr ständig auflauerten; mit seiner Hilfe würde sie sie vertreiben, und ab sofort auch ohne Psychopharmaka. Heute würde sie nicht den Wagen nehmen, ihr war nach S-Bahn zumute.

Als sie den Eingangsschacht der S-Bahn-Station hinunterging, wehte ihr von der Treppe ein Geruch verborgener Orte entgegen, modriger Untergrundstaub, den die Dunkelheit verströmte und der sie an den Raum erinnerte, in dem Jakob sie vor Jahren eingeschlossen hatte. Nur allzu gut erinnerte sie sich an den unheilvollen Klang seiner Stimme. Ihr Körper nahm immer wieder feinste Anpassungen vor, glich jede Veränderung ihres Geistes in Geschwindigkeit und Richtung aus, wenn Erinnerungen wie Blitze aufzuckten. Und wenn sich ihr Gehirn aus Jakobs frostiger Umklammerung befreite, gab es jedes Mal einen Moment, in dem ihr Kopf sich absolut rein anfühlte. Das war den Schmerz der Erinnerung wert – dieses Gefühl, diese süße, verschwommene Erlösung.

Einmal hatte sie Mathilda gefragt, ob sie dieses Gefühl kenne, ob sie wisse, was sie meine, aber die Freundin hatte ihr nur einen eigenartigen, besorgten Blick geschenkt und sich später sogar über ihre Frage lustig gemacht.

Nicht so Jörg Kreiler. Der verstand sie vollkommen.

Jörg Kreilers von einem kleinen Eichenbestand abgeschirmte Villa, in der die privaten Praxisräume untergebracht waren, befand sich am oberen Ende der Rudliebstraße.

Als Kreiler die Klingel hörte, fuhr er auf. Anna!

Er holte tief Luft und atmete aus, dann ging er zur Sprechanlage. Er wusste, dass sie es war, aber er wusste auch, dass die Form gewahrt werden musste.

Er sprach in das Metallgitter. „Ja?“

Die Antwort folgte fast augenblicklich, hell und melodisch. „Ich bin’s, Anna. Hallo, Jörg. Anna hier.“

Er hörte ihrem Tonfall an, dass sie ihre Medikamente nicht genommen hatte.

„Du bist pünktlich auf die Minute“, entgegnete er. „Komm herein.“

Er wartete neben der Tür, hörte ihre Schritte auf den steinernen Treppenstufen, ein leises Klack–Klack–Klack, das lauter und lauter wurde, bis plötzlich nichts mehr zu hören war. Als er öffnete, machte Anna einen Schritt zurück, verblüfft über das abrupte Öffnen.

„Mein Gott, hast du mich erschreckt!“ Dann lächelte sie, entspannte sich und trat ein.

Er hielt einen Moment inne und musterte sie von oben bis unten, bemüht, nicht allzu aufdringlich zu erscheinen. Es fiel ihm schwer, sie nicht zu umarmen.

Anna legte die Stirn in Falten. „Jörg, ich muss mit dir reden.“

„Deswegen bist du ja hier. Setz dich doch. Wir sollten uns über deine Therapie unterhalten.“

„Mir ist etwas Merkwürdiges passiert. Es geschah, als ich heute Mittag auf dem Weg zur Schule war. Ich wollte Lisa abholen. Es war doch heute ein ganz gewöhnlicher Tag. Ich ging die Straße entlang, und alles war wie immer. Ich dachte an nichts Besonderes, nur an Entscheidungen und Termine und was ich als Erstes erledigen müsste, als ich plötzlich die Stimme eines Mannes hörte.“

„Was sagte er?“

Ich liebe dich, Anna. Es war seine Stimme, Jörg. Ganz sicher. Es war Jakobs Stimme.“ Tränen standen in ihren Augen.

Er beugte sich näher zu ihr. „Was hast du dann gemacht?“

„Ich blieb stehen. Ich weiß nicht mehr, ob ich mich tatsächlich umdrehte oder nicht, aber ich sah – nein, ich sah es nicht, ich spürte es irgendwie … Es hat keinen Sinn, ich kann es nicht genau beschreiben, aber ich hatte dieses ungeheuer starke Gefühl – nein, mehr als das, ich wusste es. Er war neben mir. Jakob stand neben mir, sah mich an und lächelte. O Anna, sagte er, ich habe dich wirklich lieb.

„Und was hast du dabei empfunden?“

„Zunächst gar nichts, aber dann sagte er: Es ist ein wundervolles Gefühl. Glücklich, stolz, erhaben …

„Was hast du geantwortet?“

„Ich antwortete: Ich hab dich auch lieb.“ Sie brach in Tränen aus.

Er reichte ihr Papiertaschentücher und nahm ihre Hand. Er musste sich beherrschen, sie nicht in den Arm zu nehmen und sie zu küssen. „Hm … Und dann?“

„Dann klickte es in meinem Kopf, und alles war wieder beim Alten. Ich dachte, das kann nicht passiert sein. Ich glaube nicht an Gespenster, und Jakob lebt nicht mehr. Er ist seit sieben Jahren tot, erschossen von Benedikt van Cleef.“

Was geht verdammt noch mal wirklich in deinem hübschen Köpfchen vor, Anna?

„Manchmal sitze ich in einem Café an der Theke, doch ich achte nicht auf die Menschen und den Lärm um mich herum. Ich trinke meinen Kaffee aus, diesen lauwarmen und bitteren letzten Schluck in der Tasse, dann greife ich nach einer Zeitschrift, die auf dem Tresen vor mir liegt, und erlebe Ähnliches. Ich blicke in den Spiegel hinter dem Tresen und sehe ihn.“

„Versuch mir deine Gefühle zu erklären. Was, glaubst du, könnte es bedeuten, wenn du mir sagst: Es war ein wundervolles Gefühl. Glücklich, stolz, erhaben?

„Ich glaube, meine Erinnerung kehrt zurück. Ich habe Angst davor und weiß nicht genau, was sie bei mir auslösen könnte. Vielleicht stürze ich ab.“

„Es gibt Menschen in deinem Leben, die dich auffangen werden.“ Er tupfte die Tränen von ihrem Gesicht.

Anna beruhigte sich ein wenig. „Du auch?“, fragte sie schelmisch.

„Ganz besonders ich. Aber so weit sind wir noch nicht.“

„Ich möchte dich etwas fragen. Wäre es hilfreich, mir die Aufnahmen von damals zu zeigen? Wenn du Benedikt van Cleef um die Tatortfotos bitten würdest, wird er sie dir zukommen lassen.“

„Und du möchtest sie mit mir gemeinsam ansehen?“

„Ja“, flüsterte sie.

„Was hält Max von dieser Idee?“

„Er weiß nichts davon, und das ist auch gut so.“

„Warum?“

Jörg hatte das Gefühl, sie könne jeden Moment erneut in Tränen ausbrechen.

„Jakob benutzte den Namen meiner Schwester, den ich unserer Tochter gegeben habe: Elisabeth-Katharina, die Glückliche, die Stolze, die Erhabene.“

„Du glaubst immer noch, Lisa ist Jakobs Tochter?“

„Ja.“

Erneut nahm er ihre Hand. „Anna, der Gentest war eindeutig. Max ist Lisas Vater.“

„Vielleicht wurde der Test manipuliert.“

Er sehnte sich danach, sie in den Arm zu nehmen, sie zu trösten und ihr zu sagen: Jakob ist tot. Mausetot.

„Und da ist noch etwas. Manchmal glaube ich, dass er mich Katharina nennt. Und dann habe ich das Gefühl, ich bin Katharina und nicht Anna …“

Kreiler stand am Fenster und blickte ihr nachdenklich hinterher, als sie rasch in Richtung S-Bahn-Station ging. Seufzend setzte er sich an seinen Schreibtisch und schaltete das Diktiergerät ein.

„Heute ist Donnerstag, der 28. September 2006, sechzehn Uhr. Anna Gavaldo war in meiner Praxis …“

Aber da meldete sich sein Piepser, und dreißig Minuten später stand er am OP-Tisch, um einem Patienten mit einer frischen Hirnblutung das Leben zu retten.

Erst gegen Mitternacht, zurück in der Villa, konnte er seinen Gedanken freien Lauf und das Gespräch mit Anna Gavaldo Revue passieren lassen.

Mit den angewandten Psychoanalysen der vergangenen Wochen hatte er in ihrem Gehirn einen Prozess in Gang gesetzt, den er in seinen kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten hätte.

Er hatte schon häufiger versucht, sie zu verstehen, dabei aber festgestellt, dass er sie nur schwer erreichen konnte. Er wusste, dass ihr Trick des Abtauchens nur dem Eigenschutz diente, da sie sehr sensibel und verletzbar war. Sie scheute offene Auseinandersetzungen, selbst wenn sie völlig harmlos waren. Anna ließ Gefühle seit jenen Ereignissen nicht mehr nach draußen. Ihre Scheu, der nackten Wahrheit ins Gesicht zu sehen, ließ ihre Fantasie gedeihen. Sie lebte manchmal sogar völlig in einer Traumwelt, bis sie vom Alltag wieder eingeholt wurde.

Ihre Schwester Katharina war da ganz anders gewesen. Sie war ein sinnlicher Mensch und – wie er – allen schönen Dingen des Lebens zugetan. Sie war eine Genießerin, hatte Geschmack und hatte als Krankenschwester hart gearbeitet. Geduld war ihre Stärke, doch manchmal konnte das bei Katharina auch in Sturheit ausarten. Sie hatte sich immer gerne Zeit gelassen und wollte ihren eigenen, natürlichen Rhythmus finden.

Sie war keine Träumerin wie Anna, sie konnte sehr realistisch sein, deshalb war Katharina für ihn der Fels in der Brandung gewesen, an dem er sich orientiert hatte. Auch er strebte nach Besitz und Sicherheit. Katharina war sein Eigen gewesen, und er hatte sie nie mehr hergeben wollen.

Katharina … Wenn seine Gedanken sie umkreisten, legte sich die Einsamkeit wie ein schweres Tuch auf ihn und erinnerte ihn an jenen schicksalsträchtigen 27. Oktober 1995, der ihm bewusstgemacht hatte, dass er seit Katharinas Ermordung aufgehört hatte zu leben.

München, November 1995

Das Büro des Beerdigungsinstituts Borowski war spartanisch eingerichtet: ein schlichtes Kreuz an der weißen Wand, ein einfacher Schreibtisch aus Nussbaum und ein grauer Teppichboden, der die Schritte dämpfte.

Die Schreibtischlampe unterstrich mit ihrem kalten Licht die schaurige Atmosphäre, und Dr. Jörg Kreiler konnte ein Frösteln nicht unterdrücken. Auf dem Schreibtisch stapelten sich die Akten, die der Mann dahinter rasch beiseiteschob, als Jörg sich setzte.

Lothar Borowski begrüßte ihn mit einem wohlwollenden Blick. Jörg schätzte den Bestattungsunternehmer in seinem dunklen Anzug auf mindestens siebzig, vielleicht älter, aber seine rosafarbene Haut strahlte vor Gesundheit. Sein kahler Schädel hatte unter der grauen Beleuchtung etwas mondähnlich Imposantes. Die tiefschwarze Fliege hing auf eine Weise schief, die vermuten ließ, dass er sich in Windeseile für seinen Gast umgezogen hatte.

Borowski führte ihn schweigend in die Kapelle. Während sie stumm nebeneinander hergingen, dachte Jörg an die drei Worte, die seine Welt hatten einstürzen lassen. Drei Worte, die Katharinas Mutter in den Telefonhörer gesprochen hatte. Nein, es waren vier Worte gewesen: „Katharina ist tot. Ermordet.“ Und nach einer kurzen Pause am anderen Ende der Leitung: „Kommst du zur Beerdigung? Ihre Leiche wird in etwa vier Tagen freigegeben.“

Er hatte den Hörer aufgelegt und danach und auch später das Telefon immer wieder läuten lassen. Wie konnte sie ihre Tochter bloß so nennen? Ihre Leiche statt einfach nur Katharina.

Eine Leiche hatte keinen Namen, keine Konsistenz, keine Wünsche. Für sie würde sich nichts mehr ereignen. Sie würde nie mehr zu irgendetwas ihre Meinung sagen, nie mehr von ihrem Schmerz sprechen. Aus Katharina war eine unbewegliche starre Hülle geworden, für die nichts mehr eine Rolle spielte, auch er nicht.

Als Arzt wusste er, was man in einem Leichenschauhaus mit einem Körper nach der Obduktion machte. Außer dass man sie in ein Kühlfach legte oder sie beiseitestellte, bis jemand sie abholte, geschah nichts mit ihr. Gar nichts.

Und jetzt war er hier in Borowskis Beerdigungsinstitut und wollte vor der morgigen Beisetzung Abschied von seinem Mädchen nehmen. Er glaubte, im Hintergrund dezente Musik zu hören. Oder war es Katharina, die, von weichem Samt umgeben, in dem Mahagonisarg lag und seinen Namen rief? Es klang wie ein süßes, weit entferntes Lied.

Sein Herz pochte. „Öffnen Sie bitte den Sarg.“

Lothar Borowski sah ihn entsetzt an. „Morgen ist die Bestattung. Ich habe alles Mögliche getan, sie einigermaßen für die Beerdigung vorzubereiten. Dennoch ist es kein schöner Anblick. Wollen Sie sich dem wirklich aussetzen? Ich könnte das Licht noch mehr dämpfen.“

„Bitte.“ Seine Stimme klang tonlos.

Borowski hob den Deckel und trat mit gesenktem Kopf, die Hände respektvoll gekreuzt, einige Schritte zurück.

Jörg holte kaum wahrnehmbar Luft. Er wusste, was der Tod bedeuten konnte, doch zwischen dem natürlichen Ableben und diesem Tod stand eine Bestie, die ein blühendes Leben auf grausame Weise ausgelöscht hatte.

Sein Herz galoppierte. In seinem Kopf hallten Katharinas Schreie durch die Nacht, begleitet vom Singsang ihres Mörders. Er hörte ihr unaufhörliches Weinen, ihr krampfhaftes Schluchzen während der Vergewaltigung, ihr Flehen, sie nicht zu töten.

Er nahm eine Haarsträhne in die Hand und flüsterte leise: „Meine Liebe.“

Dann drehte er sich abrupt um, ging zum Eingang der Kapelle und nahm am äußersten Ende einer Reihe von Klappstühlen Platz. Er blickte auf seine im Schoß gefalteten Hände. Tief in seinem Inneren spürte er das Zittern, von dem er gehofft hatte, es würde nachlassen, wenn er sich einen Moment hinsetzte. Der Tod seiner Mutter hatte ihn tief berührt, doch der Schmerz, den er heute empfand, war unvergleichbar größer. Er griff in die Tasche seines Sportsakkos und tastete nach den blauen Beruhigungstabletten: Valium 20.

Er rutschte auf seinem Stuhl herum und blickte auf, als ein Mann die Kapelle betrat. Auch Borowski wunderte sich über das Erscheinen des Fremden. Der Mann blieb steif an Katharinas Sarg stehen, die Hände gefaltet, während seine Augen herumhuschten. Augen, in denen nur kalte Gleichgültigkeit lauerte. Jörg hörte, dass der Fremde kurz mit Borowski sprach. Die Worte bedeuteten nichts.

Für einen Moment schloss Jörg die Augen und konzentrierte sich auf die flüsternden Geräusche, doch er hörte nur das pfeifende Dröhnen in seinem Kopf und den leisen Hauch seines Atems.

Sein Mädchen war tot. Vorher war ihm alles hell, strahlend und leicht erschienen. Er hatte sie grenzenlos geliebt, Katharina war ihm unsterblich erschienen. Jetzt hatte sie ihn verlassen, zurückgelassen mit seiner Sehnsucht. Sie hatte nicht auf ihn gewartet, es gab kein Auf Wiedersehen, keinen Abschiedskuss. Er konnte nur abwarten, wie es ohne sie weitergehen würde. Konnte es überhaupt weitergehen? Jeder kehrte nach der Beerdigung in sein Leben zurück. Und Anna? Wie würde sie mit dem Tod ihrer Schwester umgehen? Die süße Anna erinnerte ihn so sehr an Katharina. Merkwürdig, dass ihm diese Ähnlichkeit mit einem Mal so quälend bewusst wurde.

Er beobachtete den Fremden, der sich nun vom Sarg entfernte.

Was wäre, wenn Katharinas Mörder hier auftauchen würde, fragte er sich. Was brütete ein krankes Hirn nach einem Mord sonst noch aus? Vielleicht, sich an dem Anblick ein letztes Mal aufzugeilen?

Als er die Kapelle verließ, rannte er beinahe in Katharinas Jugendfreund Severin Corelli hinein, der wohl auch in aller Stille Abschied nehmen wollte. Plötzlich hielt Severin inne und drehte sich nach ihm um. Seine Augen blickten vorwurfsvoll. Wollte er ihm damit sagen, dass er Katharina im Stich gelassen hatte?

Er wandte sich ab, um diesen Augen zu entgehen, die ihn aus einem fremden Gesicht anstarrten.

Die Gegenwart der Villa holte ihn wieder ein. Er biss die Zähne zusammen und atmete langsam und konzentriert durch. Dann drückte er die Zigarette im Aschenbecher aus, ging ins Schlafzimmer, öffnete die Schublade seiner Kommode und nahm Katharinas Glasperlenkette heraus, die Anna ihm vor Jahren geschenkt hatte. Sie war zerrissen. Er hielt die kleinen Kugeln lose in der Hand und ließ sie durch seine Finger gleiten.

Die Geister der Vergangenheit hatten noch immer Macht über ihn. Er hatte beim Anblick von Katharinas Leiche alles verloren. Warum musste sich ihr Mörder Jahre später ein neues Opfer suchen und sich ausgerechnet an ihrer Schwester Anna austoben? Sie wäre damals beinahe unter seinen Händen gestorben. Wenigstens hatte er ihr Leben retten können. An diese tröstliche Tatsache klammerte er sich so lange, bis sein Alter Ego ihn hämisch auslachte. Was für eine durchsichtige Verdrängungsstrategie!

An Schlafen war nicht zu denken. Er litt an Schlaflosigkeit, die seine Wahrnehmung allmählich auch tagsüber trübte. Und sobald er eindöste, sah er heute wie damals immer wieder in schauderhafter Deutlichkeit Katharinas zertrümmertes, in einer Blutlache liegendes Gesicht. Daran hatte sich nichts geändert, auch nicht, nachdem er Anna das Leben gerettet hatte. Dieses halluzinatorische Bild wirkte echt bis in die Details, selbst den Stoff ihrer Bluse oder die Form des Blutflecks hätte er genau beschreiben können.

Um die quälenden Gedanken loszuwerden, versetzte er sich in Trance und regredierte sich mit aller Kraft in eine bessere Welt: tropische Sonnenuntergänge in der Karibik, wo von dunkelgrünen, fleischigen Blättern der Regen tropfte und die Lianen bis auf den Boden hingen. Ein Papagei flatterte krächzend davon, Katharina berührte ihn. Sie sagte mit dieser sanften Stimme, die ihn so erregte, dass sie verrückt nach ihm sei, nach seinem Haar, nach seinem Mund, nach seinem Lachen, seinem Körper …

Er drehte sich auf die Seite und klemmte die dünne Bettdecke zwischen die Knie. „Katharina …“

Endlich übermannte ihn der Schlaf.

Kapitel 2

Rom – 22. September 2006

Seine langen, makellosen Finger umspielten Stein für Stein die Mauer der Aussichtsplattform der Villa d’Este. Unten auf den Kieswegen des Tivoli-Gartens eilten Menschen wie Ameisen von Brunnen zu Brunnen. Er fragte sich, ob Pirro Ligorio, der den Park für die Familie d’Este angelegt hatte, sich wohl je hätte träumen lassen, dass er eines Tages damit Millionen von Touristen erfreuen würde.

Die Villa d’Este lag ein Stück nordöstlich von Rom, an die Sabiner Hügel geschmiegt. Er war schon oft dort gewesen, und jedes Mal hatte es ihm besonderes Vergnügen bereitet, auf dem höchsten Plateau zu stehen und auf die sprudelnde Vielfalt der Springbrunnen herabzublicken, alle derart raffiniert angelegt, dass keiner dem anderen glich.

Alles sollte ganz schnell gehen – wie immer. Die Aussichtsplattform der Villa eignete sich vortrefflich für geheime Übergaben. Hier, mehr als 200 Meter über den Tivoli-Gärten, würde Pawel Kubanek, den alle nur die Katze nannten, niemandem begegnen, den er kannte. Nur Touristen nahmen die Anstrengung von dreihundertsiebenundzwanzig Stufen in Kauf, um den Ausblick auf die sprudelnden Brunnen zu genießen. In Rom kannte er jeden Winkel, er hatte hier einige Jahre gelebt.

Die Auftraggeber waren mit seiner Arbeit zufrieden. Pawel Kubanek wusste, dass er einer der besten Auftragskiller Russlands war. In den letzten Jahren war die RAK, eine russische Organisation fragwürdiger Charaktere, immer mächtiger und einflussreicher geworden. Das Drogen- und Geldwäschegeschäft sowie der Menschenhandel wurden ausgeweitet. Sexuelle Ausbeutung und die Entnahme und der Handel mit Organen waren zwar ein gefährliches, aber auch ein sehr lukratives Geschäft.

Er tötete Menschen, die der RAK gefährlich werden konnten. Häufig kamen seine Opfer aus dem Rotlichtmilieu: Zuhälter, die Verrat begingen; eine Prostituierte, die ihren Mund nicht halten konnte; ein Dealer, der die Jugendlichen auf dem Kinderstrich mit verunreinigtem Heroin der Konkurrenz versorgte. Hin und wieder erhielt er sogar den Auftrag, Persönlichkeiten aus Politik oder Wirtschaft aus dem Weg zu räumen.

Sie alle waren wie die Bösen in den Märchen, die seine Mutter ihm an den kalten Winterabenden unter Moskaus Brücken erzählt hatte. Er fürchtete sich nicht in den dunklen, undurchdringlichen Wäldern ihrer Seelenlandschaft, sondern tötete sie mit grausamer Effizienz und ohne jegliche Gefühlsregung.

Manchmal ließ er seine Opfer Blut schmecken, das er ihnen zu trinken gab, ihr eigenes Blut. Ihre Schreie hallten dann in seinem Kopf nach und verbanden sich mit den pochenden Schlägen seines Herzens.

Er wischte sich mit einer eleganten Handbewegung eine silberblonde Strähne aus dem Gesicht.

„Dein Name!“, forderte plötzlich eine Stimme neben ihm.

„Man nennt mich die Katze“, flüsterte Pawel Kubanek, ohne sich zur Seite zu wenden.

Unauffällig schob der Mann ihm einen braunen Umschlag zu, den er geschickt in die Innenseite seines Mantels wandern ließ. Dann verschwand der andere genauso unauffällig, wie er gekommen war.

Auch Pawel verließ die Aussichtsplattform, um in sein Hotel zurückzukehren. Es lag nicht weit entfernt vom Tivoli-Garten.

In der Penthousesuite des Hotels angekommen, öffnete er den braunen Umschlag und lächelte. Routine, dachte er im ersten Augenblick. Als er jedoch die Transfersumme auf dem Überweisungsträger las, stutzte er. Der Vorschuss war wesentlich höher als die Summen, die sonst auf sein Schweizer Bankkonto flossen.

Er blätterte die Unterlagen durch. Kein Foto, sondern Namen und Adressen. Und der Auftrag, eine Akte zu beschaffen und sie einem gewissen Konstantin Kollmann zukommen zu lassen.

Entgegen seiner Gewohnheit fragte er sich, weshalb ein Klient ein solch starkes Interesse an einer alten Ermittlungsakte hatte: ein Verbrechen, das als ungelöster Mordfall längst Geschichte war.

Üblicherweise erledigte er die Aufträge, ohne Fragen zu stellen. Den Kanälen, über die er an seine Auftraggeber kam, konnte er vertrauen. Die polnischen und russischen Kontaktleute wussten, dass er keine Spuren hinterließ; deshalb stand er hoch im Kurs. Wer war dieser Konstantin Kollmann überhaupt? Ob er der Sache nachgehen und den Klienten überprüfen sollte?

In den nächsten Tagen führte Pawel einige Telefonate, flog nach Düsseldorf und traf sich in einem Café in der Kö-Passage mit Benny Kretschmar, dem er Päckchen mit gebündelten Banknoten überreichte. Am selben Abend schlenderte er schon wieder durch die dunklen Gassen Roms.

Drei Tage später traf per Kurierdienst ein großer Umschlag ein. Er enthielt die Akten, die Konstantin Kollmann angefordert hatte. Ein Gerichtsdiener des Amtsgerichts Aachen hatte sie für Kretschmar kopiert, ebenso eine weitere Ermittlungsakte jüngeren Datums, nachdem Benny die Bedenken des Justizangestellten mit einer stattlichen Summe hatte ausräumen können. Bevor sie morgen an Konstantin Kollmann gingen, würde Pawel einen Blick hineinwerfen.

Er betrat die Terrasse der Penthousesuite und schaute über die Dächer dieser wunderbaren Stadt. Gierig sog er die klare Luft auf. Er genoss es, mit seinem geliebten Rom allein zu sein. Der bequeme Korbsessel war der ideale Platz, um sich in die alten Prozessakten zu vertiefen …

Aachen, 12. Oktober 1944 – Aufzeichnung Richter Kollmann

Seitdem er Kriegsgerichtsrat war, wimmelte es in seinem Terminkalender nur so von Einträgen. Richard Kollmann starrte auf die dicht beschriebenen Zeilen unter dem Datum Freitag, 13. Oktober 1944: 10 Uhr Verhandlung Grabosch, Krasinski, Jansen, Mahler.

Wehrmachtsstreifen, die Jagd auf Plünderer machten, hatten die vier jungen Männer aufgegriffen, und in der alten Kaiserstadt Aachen galt das Standrecht.

Die Schreibtischlampe verlieh dem Arbeitszimmer mit ihrem kalten weißen Licht eine unbehagliche Atmosphäre. Trotz der einschläfernden Wärme, die vom Kohleofen ausging, konnte Kollmann ein Frösteln nicht unterdrücken. Seit amerikanische Einheiten den Aachener Stadtwald bombardierten und der Bodenkrieg den deutschen Westen erreicht hatte, litt er unter starken Migräneanfällen.

Er schloss die Lider und rieb sich heftig die Schläfen, aber der dröhnende Schmerz, der ihm zu schaffen machte, konnte nicht einfach wegmassiert werden. Er öffnete die Augen und schenkte sich ein weiteres Glas Rotwein ein.

Auf dem schweren Mahagonischreibtisch stapelten sich die Akten festgenommener Jugendlicher. Er plante, die morgige Gerichtsverhandlung im Eilverfahren mit sofort verkündbarem Urteil zu beenden. Deshalb hatte er die Gerichtsakten der Angeklagten am Vormittag mit größter Sorgfalt studiert.

Durch diese exzellente Vorbereitung würde die Sitzung höchstens eine halbe Stunde in Anspruch nehmen, und es blieb dann immer noch genügend Zeit, um anschließend zu Fuß zum Hotel Quellenhof zu gehen, in das SS-Reichsführer Himmler um zwölf zu einem kleinen Imbiss geladen hatte.

Der schwere Wein und die Opiattablette, die er vor einer Stunde eingenommen hatte, betäubten allmählich den Kopfschmerz. Ein feines Lächeln umspielte jetzt seine Mundwinkel. Die Burschen unmittelbar nach der Verhandlung von einem Exekutionskommando hinrichten zu lassen wäre eine Überlegung wert und würde ganz sicher Himmlers Stimmung heben. Der Gedanke ließ ihn schaudern. Womöglich brachte es ihm sogar eine Berufung zum Oberlandesgericht ein.

Stille lag über dem feudalen Wohnhaus, das zu den wenigen hochherrschaftlichen Villen gehörte, die bislang von Angriffen verschont geblieben waren. Draußen zogen graue Wolken am fahlen Mond vorbei. Sein Licht sickerte durch die Äste der alten Eiche und warf die Schatten, knöcherne Finger einer alten Frau, auf die Wände des Arbeitszimmers.

Kollmann leerte das Glas mit dem schweren roten Burgunder, löschte das Licht seiner Schreibtischlampe und ging schmunzelnd die Stufen zum Keller hinunter, wo das Vergnügen auf ihn wartete.

Am Freitag, den 13. Oktober 1944, einem bewölkten, kühlen Tag, wurden eine Gruppe junger Soldaten und ein vierzehnjähriger Zivilist wie Rinder bei einer Viehauktion ins Kriegsgericht getrieben.

Zur Vernehmung des achtzehnjährigen Grenadiers Maryam Krasinski, eines jungen Mannes mit kindlich weichen Gesichtszügen, erschien auch seine Mutter Dónya. Man hatte ihr gesagt, dies sei eine reine Routineangelegenheit, die schnell über die Bühne gehen werde.

Sie setzte sich in die letzte Reihe des Gerichtssaals, neben ihr der jüngere Sohn Jánosz und eine junge Frau, die in stummer Verzweiflung ein wimmerndes Baby umklammert hielt.

Dónya Krasinski weinte still in sich hinein, und ihre Augen blickten ausdruckslos zu dem erhöhten, langen Tisch. Noch war er verwaist, noch war kein Urteil über Maryam gesprochen. Als das Tribunal den Saal betrat und kalte graue Augen den Raum überblickten, legte sie unwillkürlich die Hand an ihre Kehle und spürte das Flattern ihres Herzschlags.

Kurze Zeit später verurteile ich ihren Sohn Maryam zum Tode.

Pawels Hände zitterten, als er die Akten beiseitelegte, und er starrte eine ganze Zeitlang ins Leere. Er war auf etwas völlig Unerwartetes gestoßen, und die Dokumente hatten sein bisheriges Leben völlig ins Wanken gebracht. Pawel griff sich an die Stirn und massierte seine Schläfen. Erinnerungen flackerten auf, Bilder der Vergangenheit: der Umzug von seiner Geburtsstadt Warschau nach Russland, eine Kindheit ohne Hoffnung, der Hunger, die Kälte, die Einsamkeit.

Pawel Kubanek dachte an Moskau, an das Denkmal für Minin und Poscharski, das er so oft betrachtet hatte: eine Bronzeskulptur des Bildhauers Martos, die vor der Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz stand. An der Kremlmauer befand sich der Alexander-Garten. Plötzlich war er wieder ein Kind auf dem Schoß seiner Mutter, das dort mit ihr auf einer Bank saß. Während sie ihn an ihren warmen, weichen Körper drückte, um ihn gegen die klirrende Kälte zu schützen, erzählte sie ihm von seinem Vater und seinem Großvater, die eines Tages kommen und sie beide in ein warmes Haus bringen würden.

Ganz in der Nähe des Kreml und des Roten Platzes waren einige der ältesten Steinbauten des Kitai-Gorod, der Moskauer Altstadt, erhalten geblieben: Baulichkeiten des alten Zarenhofs, das Haus des Bojaren Romanow und die Annen-Kirche aus dem 15. Jahrhundert. Wenn er traurig und es besonders kalt war in Moskaus dunkelsten Gassen, schlichen sie sich in den alten Zarenhof. Dort erzählte seine Mutter ihm Geschichten von gläsernen Bergen und blauen Drachen, von Lebensbäumen und Mondblumen, von Talismanen und Tarnkappen, von Zauberern und Geistern, vom Feuervogel und der Regenbogenschlange, von weissagenden Träumen und dem Weg ins Himmelreich. Er lauschte ihren Worten, die ihn trösteten und ablenkten von dem nagenden Hunger, der seinen kleinen Körper ausmergelte.

Er tippte mit den Fingern einen nervösen Rhythmus auf dem Aktendeckel. Morgen würde er mit der Suche nach seinem wahren Ich beginnen und nach der Person fahnden, von deren Existenz er bislang nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte.

Kapitel 3

Italien, Costa Smeralda – 3. Oktober 2006

Anna streckte genießerisch ihre Nase in den kühlen Wind. Sie fuhr auf der Straße nach Porto Cervo. Der Fahrtwind roch wunderbar frisch und rein. Wie in einer Projektionstrommel zogen Tausende mit Margeriten bewachsene Grashügel und riesige Flächen von Zwistrosen mit ihren aufdringlich weißen Blüten an ihr vorbei, gefolgt von Strohblumenfeldern und feuchten Tälern voller Erdbeerbäume, Erika und Oleander.

Anna holte tief Luft und sah im Rückspiegel zu ihrer Tochter. Lisa war auf dem Kindersitz eingeschlafen.

Jedes Jahr verbrachten sie im Herbst eine Woche in ihrem Haus an der Liscia di Vacca. Max hatte es vor Jahren erworben. Die Villa war mit architektonischem Feingefühl in die faszinierende Landschaft eingebettet worden und umgeben von einer prächtigen Parkanlage; eine Oase der Ruhe und ein Platz, an dem ihre Tochter ihren Spieltrieb ausleben konnte.

Manchmal dachte Anna dabei an ihre eigene Kindheit, an die Wochenenden, an denen sie mit ihrer Freundin Mathi und ihrem Großvater in den Hühnerstall ging, um kleine Küken unter einer großen Wärmelampe zu bewachen. Opa Alexe konnte wunderbare Geschichten aus Rumänien erzählen und hatte ihr so wichtige Dinge beigebracht wie Toleranz, Großzügigkeit und Anstand, die Neigung zur Musik, Kunst und Literatur und die Bedeutung einer Freundschaft. Das Wichtigste aber war, dass er sie lehrte, dass man nur sich selbst gehörte.

Eine Ewigkeit war seitdem vergangen. Sie war früher so fröhlich und unkompliziert gewesen, bis dieses Schwein …

Ich muss unbedingt etwas unternehmen, dachte sie. Max hatte darauf bestanden, schon diese Woche nach Italien zu fahren. Die Luftveränderung würde ihr guttun und sie auf andere Gedanken bringen, aber die Abgeschiedenheit hatte ihr nicht die ersehnte Erholung gebracht. Vielleicht hätte sie ein wenig Abwechslung aufgemuntert, aber im Ort gab es außer einem winzigen Lebensmittelladen, einem Fischhändler und einem Metzger nichts, was dieses Bedürfnis hätte befriedigen können, und die kleine, direkt neben der Kirche liegende Bar mochte vielleicht für die Einwohner eine Attraktion sein, für sie jedenfalls nicht.

Es gab kein größeres Vergnügen, als mit Lisa auf den Spielplatz zu gehen oder im Meer zu baden, aber in dieser ersten Urlaubswoche war alles anders geworden, nachdem sie mit Max und Lisa zum ersten Mal die Bar betreten hatte. Vielleicht lag es daran, dass an der Wand über der Theke das große Bild eines Erzengels hing, der mit seinem Schwert einen am Rand der Hölle liegenden Dämon niederstach. Vor dem Bild flackerte eine Kerze in einem roten Plastikbehälter.

Sie verschwieg Max, dass diese Augen Erinnerungssequenzen in ihr wachriefen. Der Dämon hatte stechende schwarze Augen wie der Mann in ihren Träumen, der sie in dem kalten, dunklen Raum so sehr gequält hatte. Jakob …

Sie blickte wieder in den Rückspiegel und betrachtete kurz ihre Tochter, die am Daumen nuckelte. Seltsam, dachte sie. Lisa liebte es besonders, in diese Bar zu gehen und sich wie die Dorfbewohner auf den Barhocker zu setzen, dabei ein Eis zu schlürfen und dieses Bild anzustarren.

„Was fasziniert dich bloß daran? Es ist so grausam …“, flüsterte Anna und erschauderte.

„Ich mag diese Bar nicht“, hatte sie zu Max gesagt. „Zu viele Dämonen an der Wand.“

Doch er hatte nur gelacht und sich über sie lustig gemacht. Es gäbe keine Dämonen, sagte er und suchte von da an gelegentlich allein die Bar auf, um meistens erst nach Mitternacht beschwipst heimzukehren.

Seine sonst so messerscharfen und raschen Rückschlüsse, die sie immer bewundert hatte, versagten hier, obgleich sie sonst so unerwartet wie Gedankenblitze kamen und immer eine fundierte logische Basis hatten, mit der er Probleme löste. Ja, das war es, was so besonders an ihm war. Aber bei ihr setzte sein Verstand aus. Er hatte keine Ahnung, welche Abgründe sich plötzlich auftaten.

Sie musste einen klaren Kopf bewahren und nicht immer sofort aus dem Häuschen geraten, wenn für den Bruchteil einer Sekunde eine Erinnerung aufblitzte wie vorhin.

Sie hatten im Ort einen Segler getroffen, der manchmal den kleinen Hafen ansteuerte und mit dem Max an einigen Abenden in der Bar ein Glas Rotwein trank. In der Bar hatte sie ihn „Jakob“ genannt.

„Sie verwechseln mich, Frau Gavaldo“, hatte er geantwortet.

Plötzlich war es still geworden in der Bar, der Raum hatte seine physischen Eigenschaften verändert, und es schien, als verlöre er seine Substanz. Alle hatten sie angestarrt. Sie hatte Lisa an die Hand genommen und war mit ihr eilig zum Auto gerannt. Das arme Kind war ganz verwirrt gewesen und hatte vor Schreck sein Eis auf den Boden fallen lassen.

Wie konnten Lisa, Max und die Bewohner des Dorfs auch wissen, dass Jakob sie noch immer verfolgte, sie beobachtete und sich womöglich noch immer in diesem Haus in Grünwald aufhielt; vielleicht in seinem mit den Zeichen des Todes übermalten Kellerraum oder im Dachgeschoss mit dem großen Bogenfenster. Wenn Erinnerungssequenzen sie in diese Räume führten, was bedeutete das? Nein, sie wollte nicht darüber nachdenken.

Nach Lisas Geburt hatte sie sogar geglaubt, dass die Zeit allmählich die Wunden heilte, auch weil der Tod durch neues Leben verdrängt worden war. Aber es gab hier in Italien zu viele Nächte, in denen sie kerzengerade und schweißgebadet im Bett saß.

Seltsam, dachte sie, Jörg hatte sie von Anfang an vor der Flüchtigkeit des Erinnerns gewarnt. Was würde er zu dem Dämon sagen? Warum wurde sie gezwungen, in die Augen dieses Ungeheuers zu schauen? „Während du dabeisitzt und dein Eis schlürfst“, sagte sie zornig und blickte in den Rückspiegel.

Lisas dunkle Augen musterten sie mit einem seltsamen Blick.

Plötzlich raste ihr Herz. „Hast du ausgeschlafen, Schätzchen?“

Lisa nickte. „Mit wem sprichst du da, Mami?“

„Ach, weißt du, manchmal denken Erwachsene einfach nur laut.“

Das Mädchen schien mit der Antwort zufrieden zu sein und sah durchs Seitenfenster. „Mami?“

„Ja, Kleines?“

„Stehst du auf Papi?“

„Äh, ja.“

Lisa nickte zufrieden. „Gut. Papi steht auch auf dich.“

Anna hob die Augenbrauen. „Hat er dir das erzählt?“

„Nein.“

„Woher weißt du das denn?“

„Ich weiß es. Ich bin klug“, antwortete Lisa.

„Aha.“

„Papi hat gesagt, du bist toll.“

„Hat er?“ Anna errötete unter dem prüfenden Blick ihrer sechsjährigen Tochter.

„Ja“, bestätigte das Kind.

„Gut.“

„Und warum hast du dann Angst?“

Anna erstarrte und trat auf die Bremse. Ihr Blick verschleierte sich, sie schloss die Augen. In Gedanken stieg Nebel hinter den Grashügeln auf. Er verwandelte die saftigen Wiesen in geisterhafte Weiden, zog über die Zwistrosen hinweg und umhüllte den Wagen. Der blaue Himmel war jetzt grau. Von weitem ragte ein Baum mit Hunderten von Krähen darauf gespenstisch empor.

Sie öffnete die Augen und lockerte den Sicherheitsgurt, dann drehte sie sich langsam um und starrte ihrer Tochter direkt in die Augen.

Das Mädchen war ein schönes Kind, mit seinen dunklen Locken, den großen dunklen Augen, einer feingezeichneten Nase und vollen Lippen. Und dennoch fragte sie sich, ob Jakobs Brut aus der Hölle in den Kindersitz geschlüpft war.

Sie bildete sich ein, dass das Kind sie anlächelte und ihr zärtlich übers Haar strich, doch beim Anblick des kleinen fremden Wesens empfand sie Angst und Zorn. Trieb die kleine Furie sie in den Wahnsinn? Das würde sie nicht zulassen. Sie war eine Heldin. Jakob hatte ihr das immer wieder ins Ohr geflüstert und ihr gesagt: Heldinnen töten, oder sie werden getötet. Sie würde überleben. Nichts würde sie davon abhalten, auch nicht diese kleine Bestie im Kindersitz.

In ihren Schläfen begann es dumpf zu pochen. Die Gegenwart holte sie wieder ein. Leise verließ sie in Gedanken die geisterhaften Weiden. Der Nebel lichtete sich, und der Himmel erhielt sein strahlendes Blau zurück. Sie glaubte, aus der Ferne das Wimmern eines Babys zu hören, und kam zur Besinnung, gerade rechtzeitig.

Ihre Tochter schluchzte heftig und versuchte, sich aus dem Kindersitz zu befreien. „Mami! Mami!“ Tränen rannen über Lisas Wangen, und sie streckte verzweifelt die Arme nach ihr aus.

„Meine Kleine. Warum weinst du denn?“, fragte sie betroffen.

„Du hast so komisch geguckt, Mami. Ich habe Angst.“

Sie stieg rasch aus, löste den Sicherheitsgurt des Kindersitzes und umarmte ihre Tochter. „Du musst keine Angst haben, Kleines. Alles ist in Ordnung.“

Lisa sah sie mit großen Augen an. Noch immer kullerten Tränen über das kleine Gesicht. „Wirklich?“

„Ja, Schätzchen“, flüsterte Anna und wiegte das Mädchen sanft hin und her, bis es sich beruhigte.

Wenig später fuhr sie weiter. Ihr Kopf dröhnte, ihr Herz schlug bis zum Hals. Dass sie raste, merkte sie gar nicht. Sie blickte in den Rückspiegel. Jakob hat mal wieder die Zähne gefletscht, dachte sie.

„Was meinst du, Kleines. Wollen wir heute Abend Onkel Jörg anrufen?“

Lisa nickte und lächelte.

Kapitel 4

München, 2. Oktober 2006

Es war ein sonniger Tag; eine Frühlingsbrise streichelte seine Haut, und doch fühlte sich die Luft schwer wie Eisen an.

Als Konstantin Kollmann am Abend die halbe Meile bis zum Kleinhesselohersee joggte, glaubte er, gegen die Last glücklicher Tage ankämpfen zu müssen, und er dachte unwillkürlich an das Sprichwort, nach dem nichts schwerer zu ertragen war als eine Reihe guter Tage.

Vom Joggen heimgekehrt, riss er als Erstes den großen Umschlag auf, den er gestern mit der Morgenpost erhalten hatte. Außer den alten Prozessakten enthielt er eine Notiz mit Informationen, auf die er gewartet hatte. Zögernd löste er den Knoten der braunen Kordel und klappte den Aktendeckel auf.

Sein Blick verdunkelte sich, als er die vor ihm liegenden Dokumente durchblätterte: Maryam Krasinski, ehelicher Sohn einer polnischen Landarbeiterin und eines deutschen Arbeiters, wurde im Alter von achtzehn Jahren am 16. Oktober 1944 hingerichtet. So stand es zumindest im Protokoll.

Er zitterte plötzlich und hatte das verängstigte Kind vor Augen, das viele Jahre später – am Abend des 20. Juli 1971 – im Haus in der Ludwigsallee 25 in Aachen aus dem Schlaf gerissen worden war.

Die Männer, die damals in das Haus seines Großvaters eingedrungen waren und den ehemaligen Richter auf bestialische Weise getötet hatten, waren zweifellos am Leben gewesen.

Er hatte sich in jener mörderischen Nacht ihre Vornamen eingeprägt. Ihre Sprache hatte er nicht verstanden, ihre Namen schon. Dieses Wissen behielt er für sich. Auch in den darauffolgenden Tagen verharrte er während der polizeilichen Vernehmung in Schweigen. Schließlich gaben die ermittelnden Beamten auf und führten sein Verhalten auf das durchlebte Trauma zurück.

Er wollte nicht, dass diese Männer gefasst wurden. Sie könnten gegenüber der Polizei die Schande erwähnen. Die Scham, versagt oder sich eine Blöße gegeben zu haben, diese quälende Empfindung wollte er mit niemandem teilen. Deshalb hatte er die Filmkassette aus dem Rekorder genommen und geschwiegen. Nur seiner Mutter vertraute er sich zwei Tage nach der Ermordung seines Großvaters an, und sie schworen einander, für immer zu schweigen. Jahre später begann er mit seinen Recherchen und beauftragte unzählige Detekteien im In- und Ausland mit der Suche nach den Männern und ihrem Anführer. Sie kosteten ihn ein Vermögen. Er selbst hatte die Polizeiakten eingesehen, Ermittlungsprotokolle gelesen und das Wesentliche notiert. Die Mörder seines Großvaters hatten Spuren hinterlassen: An dem Abend war das Wort Malinka gefallen. Er fand heraus, dass Malinka eine ehemalige polnische Widerstandsorganisation war und die Mörder ehemalige Mitglieder waren. Heute, fünfunddreißig Jahre später, wusste er, wo sich jeder Einzelne von ihnen aufhielt. Sogar den Anführer hatte eine Detektei ausfindig gemacht. Den, von dessen Hinrichtung diese Akte berichtete.

Auf eine Menge Fragen hatte er Antworten gefunden, aber jede Antwort warf noch mehr Fragen auf, die ihm vorher nie in den Sinn gekommen wären, besonders seit die Erinnerungen ihm den Schlaf raubten und ihn zu dem machten, was er war: skrupellos und von einer Kälte, die ihn selbst erschreckte.

Stets begleiteten ihn Erinnerungen an die unvergesslichen Abende, an denen er seinen Großvater besucht und mit ihm Rommé gespielt hatte, um seine Stärke, seine Schnelligkeit, überhaupt seine ganze Persönlichkeit mit ihm zu messen. Er lebte vom Lob und vom Beifall des Richters, wie die Nachbarn ihn nannten, dort draußen auf der Veranda hinter dem alten Haus.

Der Großvater zeigte ihm nach dem Spiel die Kisten auf dem Dachboden, die zahlreiche Papiere enthielten, und erzählte ihm Geschichten von Menschen, die ihm ihr Leben verdankten. Dabei legte der alte Mann den Arm um seine Schulter. Er bemerkte die Anziehungskraft und die Grausamkeit dieser grauen Augen; eine primitive Geilheit, die den betörenden Duft der am Dachfenster wild emporrankenden Rosen vernichtete und den Mond zitternd schillern ließ, eine blasse Scheibe unten im Weiher.

Er hatte die Lippen des Alten gespürt, wie sie an seinem Hals saugten, die herumrührende Zunge in seinem Mund, eine streichelnde Hand an seinen Genitalien, die andere hielt ihn fest, unerbittlich. Irgendwann drang der alte Mann in ihn ein. Dabei entging ihm natürlich die Veränderung in seinem Enkelkind, die Schauer einer mörderischen Wut, ein Schrei, ein Junge, der von den Fängen eines Falken durchbohrt und durch die Luft davongetragen wurde.

Oft erwachte er heute aus seinem Schlaf; immer waren es die Schreie und das Stöhnen des Spätsommers, jener hitzigen Nächte nach dem verlorenen Kartenspiel, und er, in den Fängen seines Großvaters. Damals war er fünf Jahre alt gewesen.

Unzählige Male hatte der Richter sich in den darauffolgenden Jahren, während er schlief, aus dem Staub seines Grabes erhoben, um ihn auf dem Dachboden zu missbrauchen, immer und immer wieder. Die Gewalt des Richters, der sein Großvater war, hatte ihm seine Kindheit geraubt und ihn besudelt. Sie schlug tiefe Wurzeln in seinem Herzen, sie kannte weder Blüte noch Erntezeit, weder Frühling noch Winter, sie war immer reif, immer frisch.

Er seufzte. Die Prozessakte war vom vielen Durchblättern ziemlich zerfleddert, die Seiten waren zerknittert und an den Rändern ausgefranst, an der rechten unteren Ecke befand sich ein bräunlicher Kaffeefleck. Aber das war gleichgültig. Seine Zeit war gekommen.

Die Hirnoperation eines zwielichtigen Privatpatienten hatte ihm die Lösung gebracht: die Kontaktadresse eines Auftragskillers. Für diesen Hinweis hatte er sogar auf sein Honorar verzichtet.

Der Mann, den alle nur die Katze nannten, hatte erste Anweisungen erhalten und war bereits auf dem Weg nach Essen.

Kapitel 5

Salzburg

Jörg Kreiler wachte auf der Wohnzimmercouch in seinem Ferienhaus auf, ihr Lächeln vor Augen. Irgendwo draußen am Stadtrand von Salzburg stromerte die Nacht herum. Noch immer hielt er die Aufnahmen in der Hand, die heute mit der Post gekommen waren.

Seit Wochen hatte er auf diesen Moment gewartet. Die Aufnahmen von ihr und dem Kind, einem sechsjährigen Mädchen, lächelnd, schwarze Locken, dunkle Augen. Diese Augen, dachte er, haben etwas Unergründliches. Plötzlich kam ihm Annas Peiniger und Katharinas Mörder in den Sinn: der Arzt Nicolas Giacomo Corelli, der sich Jakob nannte, wenn er seinen Perversionen nachging. Er war nur ein armseliges krankes Müttersöhnchen gewesen, das reihenweise junge Frauen umbrachte, die seiner Mutter glichen. Corelli hatte Katharina schon als Kind im Visier gehabt. Niemand hatte Verdacht geschöpft, weil Katharina mit Corellis Adoptivsohn Severin befreundet war. Sie war das unbeschriebene Blatt, das Corelli mit seinen Wünschen und Vorstellungen füllte, bis Katharina sich in ihn, Jörg Kreiler, verliebte. Corelli hatte sie dafür mit dem Tod bestraft. Aber warum musste sich dieses Schwein später auch noch auf die heranwachsende Anna stürzen? Ganz klar, weil sie ihrer Schwester Katharina glich.

Er ertappte sich neuerdings dabei, dass tief in seinem Inneren Verständnis für dieses Motiv aufflackerte. Jakob hatte Katharina begehrt, und in Anna hatte der Bastard nur Katharina gesehen. Diese verdammte Ähnlichkeit machte auch ihm zu schaffen.

Er starrte auf die Fotografie. Das waren nicht Max’ Augen im Gesicht des Mädchens!

Schon der bloße Gedanke an Annas Ehemann ließ ihn wütend werden. Max, der ihr nur das unangenehme Gefühl des Nicht-ausgefüllt-Seins brachte. Er war der Inbegriff der Eintönigkeit, der Ödnis, ein entsetzlicher Langweiler, der diese Frau nicht verdient hatte.

Nie würde er sie verstehen, denn Anna war keine turbulente Aktienkurve. Sie verkörperte die Leichtigkeit des Tanzes und drückte das Gefühl der Sehnsucht nach Liebe aus. Aber sie hatte Sicherheit gesucht, finanzielle Sicherheit. Ihre Eltern waren alles andere als vermögend gewesen. Das prägt einen Menschen. Nur kein Risiko eingehen.

Mein Gott, wie naiv! Emotionale Abenteuer, Leidenschaften, rauschende Sinnlichkeit, nichts wusste sie davon! Nichts! Könnte er ihr doch sagen, dass sein Haus in ihrer Abwesenheit in Schweigen verfiel, obwohl er dennoch die Nähe von etwas spürte, einen Geist, den Gedanken an Feuer, das drohte, ihn zu verzehren. Die Erinnerung an Katharinas festen Körper, ihre Bewegung, wenn sie das Licht löschte, bevor sie sich liebten …

Er kratzte sich den Oberarm auf und starrte auf die blutige Spur.

Warum blieb Anna bloß bei diesem gestylten Nadelstreifenhänfling? Er wusste sie doch nicht zu lieben. Nicht mit einer Begierde wie die seine, die immer heftiger wurde, immer tiefer, die sich verausgabte. Max’ Gleichgültigkeit war nur grauenvoll. Er verschwendete keinen Gedanken an ihren Körper, ihre Haut, ihre Seele.

„Aber ich, ich schreie nach dir, Anna“, flüsterte er. „Anna, hörst du? Komm, lass mich fliegen mit dir. Abheben von allem.“

Er zitterte jetzt am ganzen Körper. Katharina war so reizvoll, so außergewöhnlich, faszinierend schön und so ausgesprochen weiblich gewesen. Mit Geduld, aber auch mit Entschlossenheit hatte er sie umworben. Auch Anna war bildschön. Die Ähnlichkeit mit ihrer Schwester Katharina verblüffte ihn immer wieder aufs Neue.

Aber Anna war feminin, romantisch, sanft und zerbrechlich, eine bezaubernde Träumerin, fast als wäre sie gerade einem Märchenbuch entstiegen. Ihre Schönheit war zart und elfenhaft. Lachen und Weinen lagen bei ihr oft nahe beieinander, da sie sehr gefühlvoll war und rasch auf äußere Einflüsse reagierte.

Seine Finger glitten zart über das Gesicht auf dem Foto, das ihn anlächelte: Katharina in anderer Gestalt. Niemand wusste etwas von seiner Qual, nicht mal Anna selbst.

Die Zeit der Umsicht war vorbei. Er würde sie bald wiedersehen, in fünf Tagen, in einer Woche, jedenfalls bald, in München oder in dem Haus am Meer; im Bikini am Pool, in Schlauchtop und kurzem Rock, in einem Kleid, schimmerndes Azurblau im Spiel des Sonnenlichts.

Er brauchte frische Luft und ging hinaus. Die Straße war menschenleer. Noch einmal betrachtete er im Licht der Straßenlaterne ihr Foto. Anna sah fröhlich aus, und das verwirrte ihn noch mehr. Angewidert warf er es auf den Boden und zertrat es im Straßenschmutz, setzte sich darauf und weinte.

Noch immer glaubte er, Katharina an einem der Fenster im oberen Stockwerk ihres Hauses zu sehen. Ihre blauen Augen strahlten, und sie winkte zu ihm herab, ihr blondes Haar war zur Seite gebürstet.

Nach all den Jahren war er immer noch nicht frei. Anna war in sein Leben getreten und hatte wieder alles aufgewühlt, die Trauer, die Verzweiflung, die Vergeblichkeit, die Tränen und … die Liebe.

Kapitel 6

Essen – Freitag, 6. Oktober 2006

Während der zwanzig Jahre, die Sedar Biljano im Essener Stadtteil Kettwig wohnte, war die Ruhrbrücke zu seinem Lieblingsplatz avanciert. Von hier hatte der zweiundsiebzigjährige Mann in dem braunen Wollmantel, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, einen wunderschönen Blick auf das mittelalterliche Fachwerkhaus-Ensemble der Kettwiger Altstadt mitsamt der Evangelischen Marktkirche oberhalb des Mühlengrabens, eines ehemaligen Seitenarms der Ruhr. An diesem Vormittag tat die herbstliche Sonne ein Übriges und schenkte dem märchenhaften Panorama seine schönsten ockergelben und rotgoldenen Farben. Die alte Steinbrücke aus dem Jahr 1786 führte über die idyllische Teichanlage, und fast hatte er den Eindruck, im Mittelalter zu sein.

Auf den gut ausgebauten Wanderwegen in Richtung Essen-Werden herrschte reger Betrieb. Auch Sedar Biljano war heute Morgen den Promenadenweg bis zur Ruine Kattenturm entlanggegangen und hatte im nahe gelegenen Ausflugslokal einen Kaffee getrunken. Aber den Heimweg hatte er mit einem Ausflugsboot der Weißen Flotte angetreten, das direkt am Ruhrufer an der Bootsanlegestelle Kattenturm abfuhr.

Seine alten Knochen machten längere Spaziergänge nicht mehr mit. Doch das war nicht der einzige Grund; an diesem Vormittag beschlich ihn das unangenehme Gefühl, dass hinter seinem Rücken jemand war, der ihn im Auge behielt. An der alten Burgruine hatte er versucht, diesen Eindruck zu ignorieren und dem Drang zu widerstehen, einen Blick über die Schulter zu werfen. Als er sich dann doch umgedreht hatte, war weit und breit niemand zu sehen gewesen, der ihm verdächtig vorgekommen wäre. Doch seit das Boot am Promenadenweg angelegt hatte, war das Gefühl wieder da.

Langsam schlurfte er von der Brücke in Richtung Kirchtreppe. Sie war eine schmale Gasse, die durch eine Gruppe gut erhaltener Fachwerkhäuser führte, die unter Denkmalschutz standen und sich bis ins 14. Jahrhundert zurückdatieren ließen. Die Treppe endete auf dem tiefer gelegenen Tuchmacherplatz im Herzen der Kettwiger Altstadt, wo er ein kleines Haus besaß.

Auf dem gepflasterten Platz stand seit einigen Jahren die Skulptur Weberbrunnen, die an die jahrhundertealte Tradition der Tuchmacherei in Kettwig erinnerte. Und dort glaubte er einen Schatten zu sehen, nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber er war sich absolut sicher.

Rasch schloss er die schwere Eichentür seines Hauses auf und verriegelte sie von innen. Dann schob er die Gardine ein wenig beiseite und spähte durchs Fenster, das ihm einen Blick auf das gesamte Häuserensemble an der Kirchtreppe ermöglichte. Nichts. Die Gasse war menschenleer.

Am Anfang der ruhigen kleinen Straße lag eine mit Brettern vernagelte Kneipe, an ihrem Ende ein kleiner Antiquitätenladen. Ansonsten war sie von alten Fachwerkhäusern gesäumt, eine Kleinstadtidylle, in der sich gegen Abend Kinder auf ihren Fahrrädern austobten. Biljano wusste, dass sich die Familien hier schon immer ziemlich sicher gefühlt hatten. Und genau das war der Grund, weswegen er selbst sich hier niedergelassen hatte.

Er zog seine Schuhe aus, stellte sie in den Dielenschrank und steckte seine Füße in braune Filzpantoffeln. Dann schlurfte er ins Schlafzimmer, legte sich aufs Bett und grübelte.

Die Vorhänge seines Hauses blieben tagsüber geschlossen. Der Putzfrau hatte er wegen der Schwierigkeiten, die sie machte, vor drei Wochen gekündigt, und allmählich türmte sich das Geschirr in der Küche. Sie hatte in seinen Sachen herumgeschnüffelt und ihn irgendwann gefragt, ob der Kandinsky an der Wand über seiner Couch echt sei.

Verdammt, hatte er gedacht. Wenn jemals herauskäme, dass er das Bild und auch andere wertvolle Gegenstände damals aus Kollmanns Haus hatte mitgehen lassen, wäre er geliefert.

Als er heute in den frühen Morgenstunden aufgewacht war und nicht wieder einschlafen konnte, hatte er sich noch einmal Karl Nüskers „Vermächtnis“ angesehen: den Doppel-8-Schmalfilm aus dem Jahr 1944 über eine Misshandlungsorgie, den er auf eine DVD überspielt hatte. Es war, viele Jahre später, ein zutiefst befriedigendes, ja erhebendes Gefühl gewesen, mit anzusehen, wie sein Kamerad Michail Heptna diesem Widerling die Augen ausgestochen hatte.

Allerdings konnte er bis heute nicht nachvollziehen, warum Krasinski gewollt hatte, dass der Junge bei dieser Schweinerei zugegen war. Schließlich beinhaltete sein Plan lediglich die Ermordung des Kriegstribunals von 1944, lautlos und schnell und ohne wesentliche Spuren zu hinterlassen. Sie hatten Kollmanns Haus wochenlang observiert, sich Notizen gemacht und festgestellt, dass der Richter und sein Tribunal noch immer ihren sadistischen Neigungen nachgingen.

Jedes Mal, wenn sich Biljano diese Aufzeichnungen monströser menschlicher Verfehlungen anschaute, wurde ihm übel. Und trotzdem musste er sich eingestehen, dass eine dämonische Faszination ihn geradezu zwang, sich diese Bilder immer wieder anzusehen.

Der alte Mann zog die schmuddelige Steppdecke bis zu den grauen Bartstoppeln hoch. Seine Augenlider wurden schwer, der Spaziergang an der frischen Luft hatte ihn ermüdet. Er musste sich ein wenig ausruhen und ein kurzes Mittagsschläfchen einlegen, schließlich würde er am Abend Besuch bekommen.

Den Nachmittag hatte er damit verbracht, endlich seine Wohnung aufzuräumen: den Flur, die Küche, die Garderobe sowie Wohn- und Schlafzimmer. Er hatte einen Schlauch ins Abwaschbecken der Küche gehängt und den Abfalleimer mit einem Desinfektionsmittel ausgespült.

Lange Zeit starrte er auf das Bild seiner Eltern, das über dem Küchentisch hing, und wandte sich schließlich ab. Nein, das Chaos ließ sich nicht beseitigen. Der Geruch nach abgestandenen Essensresten, den vielen Schmeißfliegen und der Fäulnis in der Küche hielt sich hartnäckig in seiner Nase. Er schluckte eine Viagra und spülte sie mit Aquavit und Wasser hinunter. Dann öffnete er mit dem spitzen Nagel seines kleinen Fingers die Schnupftabakdose aus Rosenquarz und stopfte sich eine Portion Koks in den linken Nasenflügel. Den Rest verrieb er auf dem Zahnfleisch und schloss einen Moment die Augen. Wenn die Hure nicht bald käme, würde er explodieren. Er biss sich auf die Lippen und starrte wieder auf das Porträt seiner Eltern, Tanĵa und Milan Biljano.

Wenig später hörte er die Klingel, und er öffnete die schwere Eichentür. Die Hure mit den grünen Augen lächelte. Sie kannte seine Gewohnheiten. „Hallo, Kleiner.“

Kleiner, dachte er. Er war ein zweiundsiebzigjähriger, geiler alter Bock.

„Da“, sagte die Hure, die er Lissi nennen durfte, und streckte ihm die schwarze Schuhcreme entgegen. „Du kannst mir helfen.“

„Nein, Lissi.“ Er war ruhig, als hätte er gewusst, dass dies passieren würde.

Sie stemmte ihre Arme in die Seite. „Nein?“ Sie lächelte. „Nein? Du wagst es, nein zu sagen? Bist du ein kleiner böser Junge, Sedar? Sag’s mir. Bist du ein kleiner böser Junge? Hm?“

„Nein, Lissi.“

„Ich werde deinem Vater sagen, dass du versucht hast, mich zu begrabschen.“

„Nein, Mutter.“

„Nein, Mutter? Nenn mich Lissi, nenn mich nicht Mutter!“ Ihre glänzenden grünen Augen sahen ihn prüfend an, als überlegte sie, welche Peitsche sie heute nehmen würde. Dann warf sie ungeduldig ihren Kopf herum, stieß das Fenster auf und beugte sich zu dem kiesbestreuten Hof hinunter, während ihre weichen Brüste platt gedrückt auf dem Fenstersims lagen. „Es stinkt hier drinnen bestialisch, du böser Junge!“

Sedar nutzte die Gelegenheit, um aus der Küche ins Schlafzimmer zu schleichen. Er zog sich aus und versteckte sich im Kleiderschrank, als er ihre Schritte und das gellende Lachen aus dem Badezimmer hörte. Er duckte sich und sah durch die Tür des Kleiderschranks die schwarzen Lackstiefel mit den spitzen Absätzen auf sich zukommen.

„Du kleiner böser Junge! Wo bist du? Lissi möchte es dir so richtig besorgen!“

Er spürte eine enorme Erregung und öffnete die Tür des Schranks. Auf allen vieren kroch er ihr entgegen und leckte ihre Stiefel. Dann spürte er den ersten Peitschenhieb auf der Haut.

Als Pawel vom Joggen in die gemietete Wohnung in der Ruhrtalstraße zurückkehrte, warf er einen Blick auf den Bildschirm. Im Haus am Tuchmacherplatz war es still, als wäre nichts geschehen.

Er nahm eine Dose aus dem Küchenschrank, öffnete sie und löffelte die kalte Hummersuppe am Tisch, während er den Bildschirm im Auge behielt. Er schaltete auf die zweite Kamera um, die er im Schlafzimmer angebracht hatte. Seine dünnen Lippen wurden noch schmaler als sonst, als er den alten Mann und die Hure im Bett betrachtete.

Sedar Biljano verlangte von ihr, ein Schloss für seine Schlafzimmertür zu besorgen und es nächste Woche mitzubringen.

„Wozu brauchst du ein Schloss, alter Mann?“

„Ich glaube, jemand beobachtet mich.“

Pawel verzog seinen Mund zu einem Grinsen. Es war ihm gelungen, bei Biljano Angst zu entfachen. Die Bedrohung erschien ihm an diesem Abend wohl allgegenwärtig. Er musste gespürt haben, dass jemand ihn beobachtete.

„Ich bin zu schlau, zu unsichtbar, du alter Narr“, flüsterte Pawel.

Am frühen Nachmittag hatte der Alte mit blassen, über dem Bauch gefalteten Händen zwei Stunden im Bett gelegen und den eigenen leidenschaftlichen Wutanfällen gelauscht. Seine bloße Existenz verursachte Pawel Magenkrämpfe; manchmal stellte er sich vor, Biljano habe heimlich seine Kissenüberzüge aus der Wäsche genommen und seine Körpersäfte hineingerieben. Er hatte den Eindruck, den stinkenden alten Mann überall zu riechen, wohin er auch ging. So fing es an.

Lissis erigierte Brustwarzen starrten ihn vom Bildschirm an wie Schneckenaugen.

Lustereczko, lustereczko, powiedz przecie, kto jest najpiękniejszy w świecie? Spieglein, Spieglein an der Wand! Ist sie die Schönste im ganzen …?“

Ihre grünen Augen gefielen ihm außerordentlich gut, besonders aber gefielen ihm die großen Brüste.

„Ty jesteś gotowy?“ Er sah in den Spiegel. Emotionslos scannte er den Schatten eines geheimnisvollen Lächelns. „Ja“, zischte er. „Ich bin so weit!“

Seine Oberlippe fing an zu zucken, sein Nacken und seine Schultern waren schweißnass. Er stand auf, nahm seinen Arztkoffer und verließ das Haus.

Draußen sog er die kalte Luft ein und stieg in sein Auto. Die Ruhrtalstraße schlängelte sich vor ihm durch die Nacht.

Er schaltete die Stereoanlage ein und lauschte den Klängen von Schuberts Winterreise. So begann er immer, der Zwang zu töten. Er gab Vollgas.

Viel später gab er der Hure den Befehl. „Oblejcie im rany kwasem! Einem Dieb hackt man die Hand ab!“

Lissi gehorchte, befreite Biljano von seiner rechten Hand und verätzte sie mit Säure. Sie tat es, ohne mit der Wimper zu zucken, und schaute den sterbenden Biljano dabei in die Augen. Das imponierte ihm, und er empfand beinahe so etwas wie Achtung.

Nach Biljanos Tod befahl er ihr, im Bett nicht zu sprechen, sich nicht zu bewegen, nicht zu strampeln und nicht zu stöhnen. Widerstandslos gehorchte sie. Sie hatte gesehen, wozu er fähig war. Als seine blutverschmierten Hände über ihren Körper glitten, übermannte ihn das überwältigende Gefühl, über ihr ein Ungeheuer zu gebären. Einen Moment später ließ er die Hosen bis zu den Knien herunter.

Sie schloss die Augen wie im Augenblick der Kommunion.

Mam nadzieję, że wiesz, co cię czeka! Ich hoffe, du weißt, was dich erwartet!“

Sie nickte.

„Verstehst du meine Sprache?”

Wieder ein knappes Nicken.

„Kto jest najpiękniejszy w świecie?”

Sie begann zu weinen.

Er wiederholte seine Frage. „Lustereczko, lustereczko, powiedz przecie, kto jest najpiękniejszy w świecie?”

„Du bist der Schönste im ganzen Land!“, flüsterte sie.

Als er mit ihr fertig war und sich wieder anzog, lag die Hure bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt neben der blutüberströmten Leiche von Sedar Biljano.

Auf der Ruhrtalstraße – mit Biljano und der Hure im Kofferraum – schaltete er seine Stereoanlage ein. Bei den ersten Klängen von Schuberts Winterreise legte sich ein geheimnisvolles Lächeln auf sein Gesicht, und er umklammerte das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Seine Gedanken waren bei der Akte, von der er sich eine Kopie angefertigt hatte.

Tagebuch Maryam Krasinski

Ich blieb gelassen, als Kriegsgerichtsrat Kollmann die Entscheidung des Feld-Kriegsgerichts begründete. In einem rüden Ton und heftig gestikulierend wurde die Vollstreckung der Todesurteile für Montag, den 16. Oktober 1944, durch Erschießung am Katschhof anberaumt.

Für einen Moment starrten wir einander in die Augen, der Richter und ich, sein Opfer. Als hätte jemand einen Vorhang weggerissen. Ich sah in die eiskalten grauen Augen des kahlköpfigen, korpulenten Verhandlungsleiters, dann musterte ich die Beisitzer von Kopf bis Fuß: Hauptmann Kemper und Gefreiter Wilhelms und Oberkriegsgerichtsrat Dr. Specke, der Vertreter der Anklage. Ich sah eine unbeschreibliche Leere, Trostlosigkeit jenseits aller Verzweiflung, das Böse in vollendeter Form.

Sie sind gar nicht hier, dachte ich. Nicht wirklich. Sie schwelgten schon in Fantasien, sie malten sich schon aus, wie sie mich und die anderen vor der Hinrichtung weiter quälen könnten.

Nur der Protokollführer, Gefreiter Nüsker, senkte bei der Urteilsverkündung den Kopf, und ich fragte mich, ob der junge Mann, der nicht viel älter sein konnte als ich selbst, sich wohl schämte.

In diesem Moment ertönte ein Schrei vom Zuschauerraum her. „Nein! Maryam, nein! O Gott!“

Mein Blick zuckte über die Reihen bis zu meiner Mutter, die sich an meinen Bruder klammerte und haltlos schluchzte. Ich presste die Hände zusammen, obwohl ich nichts empfand außer absoluter Leere. Zum Tode verurteilt: Worte, die mir nichts sagten.

„Mama, ich habe nichts getan, ich habe nichts getan! Der Richter hat mir mein Leben versprochen. Ich will nicht sterben, Mama“, rief ein Junge neben mir und streckte verzweifelt die mageren Arme der eigenen Mutter entgegen. Seine Kraft reichte nicht aus, und sein Schrei erstickte.

Ich sah den Jungen an, spürte den Schmerz beim Anblick der frischen Wunden auf seinen Händen, als hätte jemand glühende Zigaretten darauf ausgedrückt.

Ein Beamter des Wachpersonals griff ein und schleifte den Jungen aus dem Gerichtssaal.

Die wildromantische Burgruine Kattenturm befand sich in einem Waldstück direkt am Ufer der Ruhr. Einzig der fragmentarisch erhaltene Turm erinnerte an die ehemalige Burg Lüttelnau, die im 13. Jahrhundert an dieser Stelle errichtet worden war und den Adelsherren als Sitz gedient hatte. Legenden zufolge hatte es sich um ein Raubritternest gehandelt. Eine geheimnisvolle Anziehung ging von diesem Ort aus, der man sich nur schwer entziehen konnte. Bei genauerem Hinsehen waren noch das offen liegende Kellergewölbe, zwei Fensteröffnungen und die Überreste eines Wandkamins zu erkennen, wo ein Spaziergänger in den frühen Morgenstunden Biljanos entstellte Leiche entdeckte, in vier Teile gehackt und zusammen mit toten Giftschlangen in einen Ledersack eingenäht.

In Kettwig erzählte man sich, in der Nähe der Burg einen großen, elegant gekleideten, geheimnisvollen Fremden mit blonden Haaren gesehen zu haben, der am Abend zuvor am Kattenturm ein Ticket gelöst hatte. Aber die Kettwiger wussten schon immer, dass die Burgruine ein schauriger Platz war. Am nächsten Tag bereitete Pawel sich auf seinen nächsten Auftrag vor und holte die Autobahnkarte aus dem Handschuhfach. Sein Ziel: Florenz, Italien, wo ein gewisser Mirko Selicz seinen Urlaub verbrachte. Er würde wie Sedar Biljano das Wettrennen gegen das Böse verlieren.

Pawel machte einen kurzen Zwischenstopp in Leverkusen, wo er am Nachmittag die Hure auf dem Gelände der ehemaligen Mülldeponie ablegte, auf dem sich jetzt die Landesgartenschau 2005 präsentierte. Er fand, Lissi hatte – eingebettet von Autobahnen, Industrieanlagen und dem umschmeichelnden Rhein, umgeben von blühenden Trieben – für eine Hure eine ideale Grabstätte gefunden. Die Besucher der Landesgartenschau erwartete jedenfalls ein ungewöhnlicher Fund: eine bis zur Unkenntlichkeit entstellte Frauenleiche.

Kapitel 7

Italien

Der 8. Oktober 2006, ein sonniger, freundlicher Sonntag, begann harmlos. Eine sanfte Brise spielte mit dem heruntergefallenen Laub, als Max Gavaldo den Wagen wenige Meter vom Spielplatz entfernt parkte, der am Rande des Dorfs lag. Er sah sich suchend um: eine Hüpfburg, eine Rutsche, mehrere Schaukeln, ein Klettergerüst. Dann hörte er Lisas Stimme und entdeckte sie auf einer Schaukel neben der Hüpfburg. Anna stand dahinter und gab ihr einen Schubs.

Lisa hatte vor lauter Aufregung feuerrote Bäckchen und kreischte vor Vergnügen. „Ja. Weiter so, Mami, weiter so!“

Anna lachte laut. „Noch höher? Soll ich nicht doch aufhören?“

„Nein, nein, Mami. Nein.“

„Höher?“

„Ja! Ja, Mami!“

Anna tat ihrer Tochter den Gefallen. „Ist es gut jetzt?“

„Nein, Mami, nicht aufhören!“

Lisa schlenkerte mit den Füßen. „Da kommt Papi. Pa-papi schau mal, ich bin ganz oben, fast bei den Vögeln am Himmel.“

Anna winkte Max zu.

Mit energischen Schritten trat er an sie heran. Seine Lippen strichen über ihre Wange. „Hallo, Liebes.“

„Max! Dieses Kind macht mich ganz fertig!“ Sie wandte sich wieder Lisa zu. „Noch eine Runde schaukeln? Sollen wir beide dich anschubsen und dann auffangen?“

„Ja! Ja! Ja!“

„Okay!“

„Gut, dass du da bist, Max. Woher hat die Kleine bloß dieses Temperament?“

Max lachte. „Dreimal darfst du raten!“ Er ließ die Hand über ihren Rücken gleiten.

Sie schloss die Augen, legte den Kopf an seine Schulter und sagte leise: „Gleich kann ich nicht mehr!“

„Nein, nein, Mami, Papi. Macht weiter, bitte!“

„Noch höher?“, flöteten die Eltern.

„Ja! Ja!“

Max und Anna gehorchten und schubsten die Schaukel an.

„Geht es dir nicht gut?“, flüsterte Max ihr ins Ohr.

„Ich bin gereizt. Es ist das grelle Licht. Es erinnert mich an die Blitze in meinem Kopf, diese Bildersequenzen. Es ist wie ein Puzzle, das sich nicht zusammenfügen lässt. Entschuldigung.“

„Schon gut, Anna.“

Lisa kreischte, und Anna lachte.

Am Abend warf sie nach dem Abendessen zu einem Glas Rotwein zwei Aspirin und Baldriankapseln ein und sah, dass Max sie dabei beobachtete. Sie hatte sich entschieden, einige Medikamente, die Jörg ihr verschrieben hatte, doch wieder zu nehmen.

Allmählich fand sie ihre Balance zurück. Sie ging nach oben ins Kinderzimmer, um Lisa gute Nacht zu sagen. Sie musste auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Die vage Angst, die sie seit ein paar Tagen quälte, schien mit einem Mal viel weniger Macht zu besitzen.

Das gesprenkelte Licht der blauen Lampe, die auf Lisas Nachtschränkchen stand, ergoss eine sprudelnde Vielfalt funkelnder kleiner Sterne ins Kinderzimmer. Ihre Tochter wartete bereits auf das abendliche Ritual.

„Ist ja komisch“, begann Anna. „Ich hätte schwören können, ich hätte ein kleines Geißlein namens Lisa in dieses Zimmer gehen sehen.“ Sie stemmte ihre Hände in die Hüften. „Komm raus, komm raus, wo immer du bist.“ Sie öffnete die Tür des blau lackierten Kleiderschranks und tat so, als würde sie nach etwas suchen. „Hat das Geißlein sich vielleicht in diesem Schrank versteckt? … Hm … nichts!“ Sie schloss die Schranktür. „Ich frage mich, wo es wohl steckt.“

Lisa kicherte unter ihrer Bettdecke. „Mami! Das ist doch kein Schrank, das ist der Uhrkasten! Und ich bin unsichtbar.“

Anna betrachtete die Konturen ihrer Tochter, die sich unter der geblümten Bettdecke abzeichneten. „Was rumpelt und rumpelt denn da unter der Bettdecke? Mein kleines Geißlein? Wenn es unsichtbar ist, wie kann es dann sein, dass ich es gefunden habe?“

Lisa kreischte vor Vergnügen und kroch unter der Decke hervor. „Hast du gewusst, wo ich war, Mami?“

„Ich hatte keine Ahnung, Kleines. Möchtest du Jasper haben?“

„Ja, Mami.“

Anna lächelte. Schon ihre Schwester Katharina hatte den kleinen, alten wuscheligen Teddybären innig geliebt und ihm als Kind ihre Sorgen und Wünsche anvertraut. Mittlerweile fehlte dem Stofftier ein Ohr, und es wurde von vielen Nähten zusammengehalten, aber Jasper war auch Lisas Liebling. Und wie ihre Schwester sprach auch ihre Tochter mit Jasper.

Anna legte ihn auf das Kopfkissen und deckte Lisa zu. Plötzlich wurde sie ernst, und die Welt schien sich zu verdunkeln.

„Mami, was ist denn?“, fragte Lisa leise.

„Es gibt nichts auf der Welt, was ich so liebhabe wie dich. Das weißt du doch, oder?“

„Ich hab dich auch lieb, Mami.“

„Ich weiß. Gute Nacht, mein Schatz.“

„Gute Nacht, Mami.“

Anna stand auf, löschte das Licht und schloss die Tür des Kinderzimmers. Sie lehnte sich einen Moment an die Wand und machte die Augen zu. Da … da war es wieder.

Sie zitterte, ihr Herz pochte, ein jäher Ruck mit dem Kopf, und für die Dauer einer Sekunde spürte sie die Lederriemen, die sie an die Pritsche im Keller seines Hauses gefesselt hatten, dazu einen stechenden Schmerz in der Brust.

Er weiß, wo ich wohne, kam ihr in den Sinn. Der Gedanke vermischte sich mit dem merkwürdigen Gefühl, als Einzige die Wahrheit über ihre Tochter zu kennen. Sie holte tief Luft, wiederholte Max’ Worte, dass er tot und alles vorbei war, und ging die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.

Als sie den Raum betrat, stand Max auf und reichte ihr ein Glas Wein. Ihm entging ihre Anspannung nicht. Er hasste Schwierigkeiten, und dieser Abend sah ganz nach einem Streit aus.

„Alles in Ordnung, Schatz?“

„Morgen darfst du dir eine neue Variante von Der Wolf und die sieben jungen Geißlein ausdenken.“

„Wie wär’s denn mal mit einem neuen Märchen? Äh, Rotkäppchen?“

„Das hat sich aber nicht versteckt. Das wurde sofort aufgefressen.“

Er grinste. „Unsere Tochter liebt anscheinend das Grausame. Na, dann werde ich mal nachdenken. Hilfst du mir dabei?“

Sie antwortete nicht. Unsere Tochter liebt das Grausame. Wie konnte er nur so etwas sagen?, fragte sie sich. Sie fühlte sich in seiner Nähe plötzlich unbehaglich und mied seinen Blick. Du hast keine Ahnung.

„Möchtest du mir irgendetwas sagen, Anna?“

„Es sind diese Kopfschmerzen“, log sie. „Sie werden immer heftiger.“ Sie strich eine lange blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Hast du deshalb vorhin die Tabletten genommen?“

Sie seufzte. „Es gibt ein Leben jenseits der Therapie, Max“, sagte sie mürrisch, ging zum Fenster und starrte gedankenverloren in die Dunkelheit der sternklaren Nacht.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch, das von den Büschen kam: ein dumpfer Aufprall oder der Wind, der in den Bäumen rauschte. Sie versuchte, das Gefühl, beobachtet zu werden, abzuschütteln. Vielleicht hatte sie nur einen Ast gehört, der auf die Erde gefallen war.

Sie drehte sich um. Max war bereits ins Schlafzimmer gegangen. Sie konzentrierte sich auf das Rauschen des Meeres und glaubte in der Ferne im blassen Mondlicht die Brandung zu sehen.

Später öffnete sie im Schlafzimmer das Fenster und schaute noch einmal in den Garten. Am Himmel glitzerten unzählige Sterne. Sie blickte zu den Büschen. Da, dachte sie. Da war es wieder! Knackende Zweige, als würde jemand drüben über den Rasen gehen.

Sie hatte sich zu sehr in Sicherheit gewähnt, als könnte niemand herausfinden, wo sie sich zurzeit aufhielt. Jakob war ihr damals schon nach Italien gefolgt. Oder war das vielleicht nur Einbildung gewesen? Sie schloss rasch das Fenster und setzte sich aufs Bett.

„Jemand beobachtet das Haus, Max. Ich kann ihn fühlen“, flüsterte sie.

„Niemand beobachtet das Haus, Anna. Und wenn schon. Bei mir bist du in Sicherheit.“

Sie unterdrückte einen Fluch und verfolgte mit zusammengekniffenen Augen, wie er aus dem Bad mit einem Glas Rotwein in der Hand durch das Schlafzimmer auf sie zukam. Ihre Welt schien sich zu verdunkeln, und er nahm sie auf den Arm. Er hatte das Talent, ihr manchmal das Gefühl zu geben, sich völlig lächerlich zu machen. Wie in diesem Moment, als er sich neben sie auf den Rand des hohen, breiten Bettes sinken ließ, das Glas abstellte, sanft ihr Kinn umfasste und sie zwang, ihm ins Gesicht zu sehen.

„Ich bin hoffnungslos in dich verliebt, noch immer, und das nach all den Jahren.“

Genau das war der Punkt: Dieser Mann mit den heiteren Augen und dem kraftvollen, attraktiven Aussehen brachte sie mit seiner Liebe vollkommen um den Verstand.

Anna erwachte durch ein Geräusch, das ihr seltsam vertraut vorkam, und schaute auf die Uhr. Es war vier Uhr morgens. Sie verharrte in vollkommener Dunkelheit bewegungslos unter der Decke und dachte: Wenn du jetzt das Licht einschaltest, wird Jakob dich sehen können, wird er wissen, dass du wach bist, und dich umbringen. Eine nagende Angst machte ihr zu schaffen. Für einen Moment explodierten Farben hinter ihren Augen, ein blutiges Rot in allen Schattierungen. Die Angst fuhr ihr in alle Glieder.

Mit der linken Hand tastete sie nach dem Nachttisch, öffnete die Schublade und griff nach Max’ Pistole, einer kompakten Walther PP. Sie wusste nicht mehr, ob er die Waffe geladen hatte, daher schob sie sie unter die Bettdecke und zog das Magazin heraus. Sie ertastete das erste Teilmantelgeschoss, bereit, abgefeuert zu werden.

Sie blieb noch einen Moment liegen, um ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, dann setzte sie die Füße auf den Parkettboden, kroch zum Fenster, schob die Gardine beiseite und spähte in die Nacht. Ihr Herz schlug heftig. Draußen setzte Nieselregen ein.

Plötzlich blitzte drüben an der Pinie für einen Moment ein Licht auf. Sie neigte den Kopf, als lausche sie einer inneren Stimme, und starrte in Richtung Pinie. Einen Moment schloss sie die Augen. War sein Schatten nicht schon einmal aufgeblitzt, heute, als sie mit Lisa auf dem Spielplatz gewesen war? Und sie hatte geglaubt, sein Kichern zu hören, aber es war so schnell verhallt, wie es aufgetaucht war. Sie hatte sich umgeschaut. Nichts.

Aber er war da. Sie war sich sicher. Jetzt war es wieder still, totenstill. Ihre Augen zuckten unter den Lidern. Sie fühlte sich wie … ja, wie damals in dem dunklen Raum … Sein Atem kam näher, und das Geräusch wispernder Stimmen umfing sie. Ihr Herz raste.

„Jakob?“, flüsterte sie. Sie öffnete die Augen, und dann sah sie ihn hinter dem Baum, unten im Garten. Riesige, glühende Augen starrten sie aus der Ferne an. Ihr Körper wurde von heftigem, hysterischem Zittern geschüttelt.

Sie richtete die Waffe in die Finsternis.

„Jakob!“, zischte sie. „Sehe ich etwa ängstlich aus? Komm raus! Du wirst den Schmerz fühlen, noch bevor du den Knall hörst, du widerliches Schwein! Hast du das verstanden?“

Sie grinste, und dann drückte sie ab und leerte das ganze Magazin in die Richtung, in der sie ihn vermutete.

Auf dem Rücken liegend, schreckte Max Gavaldo aus tiefem Schlaf hoch. Es dauerte einige Sekunden, bis er die Pistole sah, die Anna soeben auf den Holzboden hatte fallen lassen. Und es dauerte weitere Sekunden, bis er klar denken konnte und begriff, dass sie soeben vom Schlafzimmerfenster in den Garten geschossen und dabei das gesamte Magazin geleert hatte.

„Es ist ein Schmerz“, hörte er sie flüstern, „der alles auf deiner Bahn auslöscht.“

Max’ Puls raste vor Entsetzen. „Was … hast du getan, Anna?“, fragte er mit zitternder Stimme.

Plötzlich herrschte Grabesstille im Raum. Anna taumelte und sank zitternd zu Boden. Ihr Blick war verwirrt. Verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht.

„Wenn du je mehr sein möchtest, als du bist, dann musst du bereit sein, dich neu zu erschaffen“, flüsterte sie. „Das hat er gerade zu mir gesagt, Max. Und da habe ich auf ihn geschossen.“

Er sprang aus dem Bett, eilte zu ihr und kniete sich vor sie hin.

„Um Gottes willen, wer hat das gesagt, Anna?“

Sie schaute ihn aus irren Augen an, dann zeigte sie auf einen Baum im Garten. „Da hat er gestanden, wie damals, als wir Lisa im Covent haben taufen lassen. Ich wusste immer, dass er nicht tot ist.“

„Anna, damals stand dort niemand. Das hat Jörg Kreiler dir doch erklärt. Das war eine Halluzination. Und auch heute ist niemand dort unten im Garten. Du darfst dich nicht an die Vergangenheit klammern!“

„Nein! Nein! Er hat die gleichen Worte benutzt. Ich erinnere mich ganz genau.“

„Komm, beruhige dich bitte, Anna.“ Max nahm ihre Hände, zog sie hoch und führte sie zum Bett.

„Ich habe ihn getroffen, Max“, sagte sie finster. „Er hat gejault wie ein Hund.“

„Du nimmst jetzt eine Beruhigungstablette und versuchst, ein bisschen zu schlafen. Ich gehe in den Garten und sehe nach, ob da etwas ist.“

„Nein“, flüsterte sie. „Lass mich jetzt nicht allein.“

„Beruhige dich. Ich werde dir beweisen, dass da nichts ist. Ich bin gleich wieder zurück.“

Lisa kam barfuß ins Schlafzimmer, das Gesicht vom Schlaf gerötet. Anklagend hatte sie ihre Mundwinkel heruntergezogen. „Ich bin wach geworden“, piepste sie.

Max nahm sie in den Arm. „Tut mir leid, Süße.“

„Was ist, Papi?“

„Nichts. Überhaupt nichts. Mami hat nur schlecht geträumt. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung. Komm, ich bringe dich zurück ins Bett.“

Anna musterte Max kurz und sah in seinem Blick, dass er sie für verrückt hielt.

Als er in den Garten ging, griff sie zum Telefon und wählte die Nummer von Jörg Kreiler.

Später, als ihre Tränen versiegt waren, schaute sie nach Lisa, die sich mit einem zufriedenen Seufzer auf die Seite drehte, und setzte sich in den Schaukelstuhl. Ihr Gesicht war weißer als das einer Porzellanpuppe, die sonst so strahlend blauen Augen waren blutunterlaufen.

„Getupft“, flüsterte sie und schaute zum Regal. Es stimmt, dachte sie, während Lisas Plüschtiere sie stumm von ihren Plätzen auf dem Regal beobachteten. Die Viecher meiner Tochter sind tatsächlich alle getupft.

Jörg Kreiler hatte ihr diese Biester geschenkt. Das Mädchen aber spielte nur mit Jasper, dem alten Stofftier ihrer Mutter. Sie hatte Lisa häufig dabei beobachtet, wie sie den alten Teddy streichelte, ihre Nasenspitze an sein rechtes Ohr presste und ihm dabei ihre kleinen Geheimnisse anvertraute. Aber auch wie sie ihm ihr Leid geklagt und vergeblich in Jaspers schwarzen Augen nach einer Antwort auf ihre Fragen gesucht hatte. Alles wiederholt sich im Leben, dachte Anna.

Getupft! Ein seltsames Wort, das eine gewisse Kraft zu haben schien, sofern das überhaupt möglich war, und wenn ja, dann stand diese Kraft nicht nur für das Gute. Gefleckt war gut, gesprenkelt schon ein wenig hässlicher, aber getupft war irgendwie anders, obwohl sie nicht sagen konnte, warum.

Getupft, getupft, hatte Jakob gesagt.

Vielleicht sollte sie Lisa einen getupften Teddybären schenken. Das hätte Jakob gefallen.

Kapitel 8

München – Nacht von Sonntag auf Montag

Für einen Chefarzt der Neurochirurgie und Psychiatrie des Kreiskrankenhauses München-Bogenhausen waren der Dienst und die Visite am Abend normalerweise ein Segen, doch heute Abend sollte sich Jörg Kreiler darin täuschen.

Eine Flut von Anrufen hielt ihn pausenlos auf den Beinen: Eine Hirnblutung, ein Schädelhirntrauma und die Intensivstation meldete einen frischen Apoplex.

Um elf Uhr zog er sich in sein Büro zurück. Er legte sich für einen Moment auf die Couch und starrte an die Decke. Seine Beine fühlten sich wie gelähmt an, sein ganzer Körper war reglos. Er war erschöpft und deprimiert. Warum rackere ich mich auch so ab? Für wen machst du das, Jörg Kreiler?

Er hatte auf der neurochirurgischen Intensivstation die Hirnblutung eines Patienten zwar stoppen können, aber er wusste nicht, ob der zweiundvierzigjährige Mann und Vater von zwei kleinen Kindern die Nacht überleben würde. Er war fachlich versiert, aber manchmal war das nicht genug. Manchmal kamen die Patienten zu spät und manchmal auch er, wie damals bei seiner geliebten Katharina. Ihr Leben hatte er nicht retten können.

Es war nach Mitternacht, als er schließlich die Klinik verlassen konnte.

„Sie rufen mich an. Ich meine, falls Veränderungen eintreten, lassen Sie es mich wissen.“

Die Assistenzärztin nickte. Auch sie war erschöpft. „Wir halten Sie auf dem Laufenden. Sehe ich Sie morgen?“

Er schaute sie an. Sie war hübsch, aber brünett und kräftig. Er stand auf schlanke blonde Frauen, wie Katharina eine gewesen war.

„Nein, ich habe morgen den ganzen Tag in meiner Praxis zu tun. Der Terminkalender ist voll. Bis Mittwoch, Frau Kollegin.“

„Auf Wiedersehen, Herr Professor.“

Als er die Klinik verließ, hatte es aufgehört zu regnen. Am Himmel war ein Streifen mit Sternen zu sehen. Er zitterte vor Erschöpfung, als er vom Parkplatz des Krankenhauses fuhr.

Einige Stunden später schreckte ihn das Telefon von seiner Couch auf. Er schaute auf die Uhr. Fünf Uhr morgens! Am anderen Ende meldete sich Anna, aufgebracht und spürbar erschöpft.

„Anna, beruhige dich. Was ist denn passiert?“

Er schnappte sich eine Packung Marlboro und schob sich eine Zigarette zwischen die Zähne.

Geduldig hörte er zu, wie sie tränenerstickt von dem nächtlichen Vorfall berichtete.

„Komm zurück“, sagte er zärtlich und blies eine Rauchwolke ins Zimmer. „Komm zu mir. Es sieht so aus, als würden die Erinnerungslücken sich allmählich schließen. Du brauchst unbedingt psychologische Betreuung. Weine nicht. Wie schnell kannst du denn in München sein?“ Er hörte ihr einen Moment zu. „Gut, dann ruf mich sofort an, wenn du angekommen bist. Und jetzt trocknest du deine Tränen und nimmst eine Valium-zwanzig. Es sind die kleinen blauen Tabletten, die ich dir vor deiner Abreise verschrieben habe. Danach wirst du ruhiger sein, okay? Und lass morgen Nacht Lisa zwischen euch schlafen. Das wird dir und der Kleinen nicht schaden.“

Wenig später beendete er das Gespräch und legte den Hörer auf. Er erhob sich, nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und blickte auf die Straße. Die Morgendämmerung begann sich auf Zehenspitzen in den Tag zu schleichen, im Osten färbte ein schwacher Lichtstreifen den Himmel.

Italien, in derselben Nacht
Ein Vogel mit schwarzen Schwingen flog dicht über Max’ linke Schulter hinweg. Er schreckte zurück, ging in die Hocke und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Das schwere Bündel in seinen Armen entglitt ihm und fiel mit hartem Aufschlag auf den mit Laub übersäten Weg.

Einen Moment lang blieb er geduckt hocken und zuckte zusammen, als der Rabe zurückkehrte. Doch dieses Mal flog der Vogel höher und war schon bald aus seinem Blickfeld verschwunden.

Was hatte es zu bedeuten, dass ein Rabe ihm so nahe kam? Sei vernünftig. Denk keine verrückten Sachen über Vögel. Doch die Furcht erwies sich als hartnäckig, und sein Verstand raste wie eine Billardkugel durch einen Irrgarten entsetzlicher Erinnerungen. Er begann zu zittern und zwang sich, seine Gedanken in logische Bahnen zu lenken. Der Rabe war bloß ein Vogel. Anna hatte ihn wohl schon mit ihrer Wahnvorstellung angesteckt.

Er ließ sich auf den feuchten Boden sinken. Anna … Er konnte immer nur an sie denken und das, was ihn für immer mit seiner Frau verband: ihre gemeinsam verbrachten Jahre mit all den unzähligen Erinnerungen, ihre Liebe, ihre Ehe, Lisas Geburt. Alles andere hatte er verdrängt. Er wollte nichts über den Psychopathen wissen, der sie vor Jahren in seine Gewalt gebracht hatte, aber vor allem wollte er nicht wissen, was dieses Monster mit ihr angestellt hatte. Doch seit heute Nacht wusste er, dass sie beide noch immer mit Jakobs Schatten lebten …

„Ich habe gedacht, dass mein Erinnerungsvermögen wie ein Puzzle wäre und dass sich ein klares Bild ergäbe, wenn sich die Lücken schließen, aber das ist bis heute nicht geschehen“, hatte Anna gesagt.

Es gab keine reale Gefahr mehr für seine Frau, und doch war ihm in letzter Zeit unbehaglich zumute gewesen. Irgendetwas ging in ihr vor. Wenn er sie auf dieses Gefühl ansprach, wich sie ihm aus und wies ihn zurück. Er konnte sie nicht erreichen. Und heute Nacht hatte Anna Arko, ihren Rottweiler, erschossen, der sich im Garten herumgetrieben hatte. Und sie war überzeugt, dass es dieser Psychopath gewesen war.

Verdammt noch mal, dachte er. Du bist kein kleiner Junge mehr, Max Gavaldo. Du bist fünfunddreißig und ein Mann. Führ dich nicht auf wie ein Kind.

Er sagte sich, dass es die frische morgendliche Herbstbrise war, die ihn frösteln ließ – nicht sein Grauen oder sein Aberglaube. Und auch nicht, dass er erst in der vergangenen Nacht geträumt hatte, ihm wären sämtliche Haare ausgefallen. Er schauderte bei dem Gedanken daran.

Annas Erinnerungsvermögen war zurückgekehrt, und sie versuchte das hier in Italien vor ihm zu verbergen. Manchmal klang ihre Stimme so fremd wie die einer anderen Frau.

Er war blind gewesen und anscheinend immer noch nicht erwachsen genug zu sehen, dass seine Frau den Versuch unternahm, sich mit jenem Teil der Vergangenheit, in dem sie von Jakob in einem dunklen Raum gequält worden war, auseinanderzusetzen. Sie hielt diese Erinnerungen vor ihm zurück, sie versteckte sie wie Alpträume, die im tiefen Schlaf vergraben blieben, um sich zu schützen.

Er schauderte. Ein Käfer krabbelte über die karierte Wolldecke, und ein leichter Blutgeruch drang in seine Nase. Er wischte den Käfer weg, erhob sich, nahm das Bündel wieder auf und ging tiefer in den Wald.

Als Begräbnisplatz für Arko hatte er eine Stelle mit Aussicht im Sinn gehabt. Sein Freund Benedikt van Cleef, Leiter der Mordkommission München, hatte ihm einmal erklärt, dass Mörder ihre Opfer häufig an solchen Stellen vergruben, deshalb hatte er nach einem Ort Ausschau gehalten, den nur er selbst wiederfinden konnte und wo die Kennzeichen Anna nicht sofort ins Auge stechen würden.

An der gewählten Stelle angelangt, legte er den Hund zur Seite und wappnete sich für die nächste Aufgabe, das Graben. Der Boden war hier nicht so hart wie an anderen Stellen im Wald, dennoch fiel es ihm schwer, schließlich war er diese Arbeit nicht gewohnt.

Seine Hände in den Lederhandschuhen waren schweißnass. Er griff nach dem kleinen Spaten. Vom knirschenden Klirren des ersten Stoßes ins Erdreich wurde ihm schwindlig, doch er riss sich zusammen. Er blickte auf die harten Muskeln seiner Arme, seine schlanken Hände, die Füße in den Stiefeln, zwängte seine Kraft in ein Geschirr erinnerter Bewegungen – einstechen, nachtreten, heben und schwingen, einstechen, nachtreten, heben und schwingen. So hatte es ihm sein Vater beigebracht. Schließlich verfiel er in einen von jeglichem Denken losgelösten Rhythmus, einen vertrauten Takt.

Als er Arkos Körper in das ausgehobene Loch bettete und mit Erde bedeckte, weinte er. Er weinte nicht um den Hund, obwohl er ihn gemocht hatte, er weinte um Anna, um die Frau, in die er sich vor Jahren verliebt hatte und die von Tag zu Tag seltsamer wurde.

Als das Grab gefüllt war, sammelte er Blätter und verteilte sie auf der Oberfläche, so dass der Platz mit seiner Umgebung verschmolz. Er trat zurück und betrachtete ihn aus verschiedenen Blickwinkeln. Als er sicher war, dass das Grab auch von Anna nicht gefunden werden konnte – die bestimmt danach suchen würde –, packte er den Spaten weg und ging den Weg zurück.

Eine Stunde später schenkte er sich einen Cognac ein und beobachtete das Feuer im Kamin. Mit seinen Gedanken in der Morgendämmerung zu sitzen erschien ihm irgendwie erträglicher, als ruhig im Bett liegen zu müssen. Immer wieder drängte sich ihm Annas Bild auf, wie sie vor dem Fenster stand und in die Nacht hinausschrie. Er liebte seine Frau, sie war für ihn von unwiderstehlichem Zauber. Seltsam, dass ihm erst heute Morgen auffiel, dass er nur zwei Empfindungen kannte: heiße Sehnsucht und unbändigen Ehrgeiz. Er war ein brillanter Manager mit einem todsicheren Spürsinn für Neuerungen, steckte voller Ehrgeiz und wollte die Welt erobern. Aber nur mit Anna an seiner Seite.

Ich werde ihr sagen, dass sie den Hund getötet hat, dachte er. Und ich werde nicht zulassen, dass sie je wieder sagt: Das Böse lebt mitten unter uns.

Er gestattete sich zum ersten Mal, seine Gedanken der Angelegenheit zuzuwenden, die er die ganze Zeit aus seinem Bewusstsein verdrängt hatte. Er hatte an alles denken wollen, nur an eines nicht – an den Mann, der für Annas desolaten Zustand verantwortlich war und der das alles ausgelöst hatte: Jakob.

Er musste wissen, was dieser Kerl seiner Frau angetan hatte, und am besten sofort. Er griff zum Hörer und wählte die Rufnummer von Benedikt van Cleef, aber am anderen Ende der Leitung meldete sich niemand. Enttäuscht legte er auf. Wenig später schlief er erschöpft auf der Couch ein.

Kapitel 9

Costa Smeralda, Freitagnacht


Anna lag mit geschlossenen Augen im Bett, döste weg und wachte wieder auf. Gestern hatte sie von dem Mann geträumt, der ihr vor Jahren in dem Keller eine weiße Paste ins Gesicht geschmiert hatte, damit es für einen Tag und eine Nacht die blasse Aura einer Totenmaske ausstrahlte. Nein, dachte sie. Er hatte es als fahle Aura bezeichnet.

Als er das erste Mal zurückgekommen war, hatte in dem Raum noch schwache Helligkeit geherrscht. Es hatte nach Farbe gerochen. Der Mann hatte Beschwörungskreise auf den Boden gemalt und ihr gesagt, ihr blieben noch drei Tage bis zu ihrem Tod.

Die Nacht im dunklen Raum, gefesselt an einen Stuhl, und seine Worte hatten ihren Widerstand gebrochen. Er hatte sie auf den Tisch gelegt, ihr die Hand- und Fußgelenke gefesselt und ihr den Mund mit einem Knebel verschlossen.

Wieder stand er vor ihr. Sie konnte ihn riechen. In ihrer Erinnerung durchbohrten stechende Blicke ihren Körper. Er legte eine Wolldecke über ihre Nacktheit, und unter der Decke streichelten seine Hände sie sanft und zärtlich. Sie konnte nicht schreien und sich nicht rühren, ihr Atem stockte unter seiner Berührung.

Als sie vorsichtig versuchte, ihre Hände und Füße zu bewegen, verwandelte sich das dumpfe Pochen in einen stechenden Schmerz.

Ihr Kopf fühlte sich an wie mit Watte gefüllt, und hinter den Lidern wirbelten seltsame Traumbilder. Sie spürte eine Plastikplane unter ihrem Körper. Der Raum erschien ihr nicht mehr so dunkel und so kalt. Eine Kerze flackerte in einer Ecke, und ein merkwürdig verbrannter Geruch lag in der Luft.

„Deine Schwester zu töten war ein besonderes Ereignis. Ich habe es genossen“, flüsterte er. „Doch dein Tod wird vollkommener und ohne jegliche Störung sein. Du wirst mich danach ein ganzes Leben begleiten.“

Sie sah den Wahnsinn in seinen Augen aufflackern. Sein Kopf war gesenkt, und die Arme hielt er hinter dem Rücken, als würde er etwas vor ihr verstecken.

Dann bewegte er sich. Mit der einen Hand hielt er einen Spiegel vor ihr Gesicht, mit der anderen zeigte er ihr einen geöffneten blutverschmierten Schädel, aus dem Hirn herausquoll.

Sie schreckte hoch. War sie wach, oder träumte sie? Sie wusste es nicht. Ihr Gesicht war nass vor Schweiß und Tränen. Es war stockfinster im Zimmer. Draußen vor dem Bogenfenster blickten die Augen der Finsternis totenstill ins Dachgeschoss. Durch den Türspalt fiel ein schwacher Lichtstrahl. Er lag nicht neben ihr. Sie schlug die Bettdecke zurück, warf den Morgenrock über und stand auf.

„Wo bist du?“, flüsterte sie. Wie in Trance lief sie den Gang entlang. Licht drang aus dem Badezimmer. „Komm raus.“ Die Tür war angelehnt. „Bist du hier?“, flüsterte sie.

Sie kannte den Geruch, der ihr durch die Badezimmertür entgegenströmte. Sie hörte das Wasser, öffnete die Tür und versuchte durch die Nebelwand aus Wasserdampf etwas zu erkennen.

„Komm zu mir. Ich mache, was du willst“, flüsterte sie leise und bewegte sich mit ausgestreckten Armen auf die Badewanne zu. Der Duschvorhang war zugezogen. Vorsichtig schob sie ihn beiseite und wich entsetzt zurück. Fassungslos starrte sie auf die blutigen Schlieren am Boden und dann auf den Mann, aus dessen Mund und Hals Blut sickerte, welches das Wasser dunkelrot färbte: Max, schwarze, weit aufgerissene Krater dort, wo die Augäpfel gewesen waren.

Sie schrie, versuchte ihn aus dem Wasser zu ziehen, doch er war zu schwer. Sie rutschte aus und stürzte zu Boden.

Plötzlich hörte sie Jakobs Stimme. Sie schaute in den Spiegel und sah sein Gesicht. Seine dunklen Augen waren starr auf sie gerichtet, als registrierte er jede Regung. Er trat aus dem Spiegel hervor, kam auf sie zu und umfasste bewundernd ihre makellosen Hände.

„Soll ich dir helfen?“ Nur ein Flüstern. Er berührte ihre Brustwarzen und blickte dabei zur Seite. „Sag es!“, zischte er.

Hell und durchdringend schallte ihr Schrei durch die Stille des Hauses. Anna öffnete die Augen und schloss sie gleich wieder vor dem grellen Blitzlicht der Erinnerung. Nein! Bitte nicht wieder eine Erinnerung! Mit einem leisen Stöhnen öffnete sie die Augen ein zweites Mal.

Sie lag auf den Fliesen des Badezimmers und schaute sich verwirrt um. Sie fror. Wie lange liege ich schon hier? Sie betrachtete ihre Hände, starrte auf das Nachthemd. Kein einziger Blutspritzer war zu sehen. Sie zog sich vorsichtig am Rand der Badewanne hoch. Auch die Badewanne war sauber und leer. Kein Wasser tropfte aus dem Hahn.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch.

In der Tür stand Max mit Lisa auf dem Arm, die an ihrem Daumen lutschte.

Das Mädchen sah sie seltsam vergnügt an und drückte ihre Puppe fest an ihren kleinen Körper, eine Puppe in einem getupften Kleidchen, die ihre Hand nach ihr ausstreckte.

Zwei Stunden später erwachte sie erneut in ihrem Bett. Max murmelte etwas, was sie nicht verstand, und brachte sie damit in die Gegenwart zurück. Sie spürte seinen Atem. Behutsam bewegte sie den Arm über die Bettdecke und legte ihre Hand in seine.

Die letzten Tage waren anstrengend gewesen, da sie sich hatte zwingen müssen, sich normal zu benehmen und so zu tun, als wüsste sie nicht, dass Jakob, dieser Hurensohn, sie tot sehen wollte – und womöglich auch Max. Vielleicht sogar ihr kleines Mädchen. Ja, vielleicht sogar Lisa!

Max fiel es schwer, seine Gefühle zu verbergen. Schließlich hatte sie vergangene Woche seinen Hund erschossen.

Ha! Dass ich nicht lache, dachte sie verächtlich. Der Rottweiler war doch schon lange nicht mehr Max’ Hund gewesen. Er hatte unter Jakobs Einfluss gestanden. Ihr Ehemann und sein lächerlicher Köter konnten sie – und ihre Tochter Lisa, die friedlich in ihrem Bett schlief – nicht vor Jakob schützen. Max würde alles vermasseln und sie in Gefahr bringen. Deshalb hatte sie geschossen. Sie hatte die Sache selbst in die Hand genommen und den schwarzen Hund getötet. Weshalb hatte dieses Viech sich auch mitten in der Nacht in ihrem Garten herumgetrieben?

Seltsam war es, höchst seltsam. Dabei war sie sich so sicher gewesen, dass Jakobs Blicke sie durchbohrt hatten, als sie am Fenster gestanden hatte. Hatte der Hund ihn vielleicht begleitet? Ja, so musste es gewesen sein. Nur so konnte es gewesen sein. Sie hatte sich also doch nicht geirrt.

Sie schaute auf und merkte, dass Max wach war. Seine Augen leuchteten in der Dunkelheit. Er musterte schweigend ihr Gesicht. Sie verspürte den Drang, sich wegzudrehen, zwang sich jedoch, seinem Blick zu begegnen.

„Ich denke, wir sollten nach Hause fahren“, sagte er so leise, dass sie nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte.

Sie rührte sich immer noch nicht, atmete kaum, dann drehte sie den Kopf weg.

„Anna?“ Max streichelte ihre Schulter.

„Ich …“ Sie drückte ihr Gesicht ins Kissen. Ihre Wangen waren heiß und trocken. Was sollte sie sagen? Schließlich wandte sie sich ihm zu. „Du hast natürlich recht, Max. Man muss die Vergangenheit begraben“, sagte sie und dachte: Ich muss raus aus diesem Haus!

„Du kannst dich immer auf mich verlassen. Egal, was geschieht. Ich liebe dich.“

Tränen traten ihr in die Augen. Sie starrte zur Decke. Wenn die Dinge doch so einfach wären, wie er glaubte. Doch sie sagte nur: „Ich liebe dich auch, Max.“

Es war, als würden ihr die Worte aus dem Herzen gerissen, zurück blieb eine klaffende Wunde. Ich bin wie eine zu weit aufgezogene Uhr, zum Zerreißen angespannt und plötzlich so zerbrechlich, dass Max es wohl mit der Angst zu tun bekommt.

Er wiegte sie in seinen Armen, flüsterte beruhigende Worte, streichelte zärtlich ihren Rücken, während sie weinte und schluchzte. Er zeigte keinerlei Ärger oder Fassungslosigkeit, sondern ließ sie jetzt reden und wusste, dass ihre Sätze eine Betäubung gegen den Schmerz waren, eine Mauer aus Worten, die sie vor dem Augenblick schützen sollte.

Irgendwann flossen keine Tränen mehr.

München, Freitagnacht
Irgendetwas im Haus war plötzlich verändert. Konstantin Kollmann stellte seine Schuhe nicht mehr in den schwarz lackierten Dielenschrank, sondern ließ sie im Flur stehen. Er wollte die Schranktür nicht mehr öffnen. Er glaubte, quietschende Geräusche zu hören, als ob sich im Schrank etwas regte.

Jemand hatte seine Witterung aufgenommen, dachte er. Vielleicht war es sein Großvater, der im Schrank die gelben Zähne zu einem bösen Grinsen fletschte.

Er träumte, dass sich in der Nacht alle Türen weit öffneten und der Richter kleine Puppenhände nach ihm warf, die ihn würgten. Doch dann hörte er neben dem Quietschen knochige alte Hände, die sich über das Treppengeländer hinauf in sein Schlafzimmer schoben. Es war schon schlimm genug, es zu hören, aber es zu sehen …

Er spürte den Lufthauch, hielt sich den rechten Arm vor die Augen und weinte. Jemand berührte seine Schulter.

Auf dem Nachtschränkchen lag ein Kartenspiel: Rommé. Der Richter stand vor ihm, nahm die Karten in die Hand und mischte sie.

„Träumst du von mir? Wie schön“, sagte er und grinste. Seine Worte klangen, als kämen sie aus der Hölle.

Konstantin Kollmann wachte morgens um drei Uhr auf, starrte in die Dunkelheit und sagte sich: Es ist nur ein Traum. Er knipste das Licht an und erschrak. Dann spürte er die warme Nässe zwischen den Beinen und weinte.

„Nein, ich will jetzt nicht Rommé spielen, Großvater“, schluchzte er.

Kapitel 10

München – Freitag, 13. Oktober 2006

Im Traum wanderte Konstantin Kollmann immer wieder als fünfjähriges Kind durch den Garten seines Großvaters. Er begegnete seiner Mutter, wenn sie an der Flussbiegung entlangschlenderte, wo die Rosen wuchsen. Sie lächelte ihn an und streckte die Hand nach ihm aus, und alles war wieder gut.

Nein, nichts war wieder gut, dachte er, wenn er erwachte. Seine Widersacher waren schon hinter ihm her und würden ihn vernichten, noch bevor er sie beseitigen konnte.

Seine Mutter war weg, schon lange. Mandy Kollmann hatte ihn in der Nacht des 20. Juli 1971 auch nicht beschützen können. Sie war gar nicht da gewesen. Die Stimmen in seinem Kopf tuschelten, dass sie mit irgendeinem unbedeutenden Niemand durchgebrannt war und ihn, ihren Sohn, zurückgelassen hatte. Doch das stimmte nicht. Sie war zu seinem Vater, Georg Kollmann, gefahren, der in dieser Nacht im Krankenhaus einer Lungenentzündung erlegen war.

Gestern hatte er endlich eine Nachricht von der Katze bekommen. Noch waren nicht alle Widersacher beseitigt, dennoch verschaffte die detaillierte Beschreibung der Tötung ihm tiefe Genugtuung. Wie gerne hätte er gesehen, wie nicht identifizierbare Insekten Eier in den Wunden ablegten, doch leider hatte man die Leiche bereits am nächsten Tag entdeckt.

Sein Gehirn saugte jedes Wort des geschriebenen Tötungsprotokolls auf. Es war eine kleine Entschädigung für all die Jahre qualvoll drängender Erinnerung. Nur so konnte alles ins Gegenteil verkehrt werden, umgedreht, zurückgedreht. Was geschehen war, schien lange her zu sein, länger, als es eigentlich war, denn die Zeit verging nicht gleichmäßig. Bald würde er der Katze mitteilen, auf welche Weise die nächsten Opfer sterben sollten. Der Killer wartete bereits auf seine Anweisungen. Er würde seine Arbeit machen, danach würde er für immer aus seinem Gedächtnis verschwinden. Jetzt zahlte er es den Bestien mit gleicher Münze zurück.

Inzwischen hatte Pawel den Mann ausfindig gemacht, der damals im Haus seines Großvaters behauptet hatte, dass seine Mutter in dieser Nacht mit einem anderen durchgebrannt sei. Sein Name war Mirko Selicz.

Er sah Selicz in den Armeestiefeln herumpoltern, ein grober, kantiger Klotz, dessen Schirmmütze eine lächerliche Glatze verdeckte und dessen Uniform über dem Wanst spannte. Er war immer wieder überrascht, wie sehr das strahlende Bild eines militärischen Helden von der Wirklichkeit abwich. Seine Schritte waren alles andere als lautlos gewesen, er war überaus hörbar, laut und polternd, ein Männerlachen, das den Himmel aufreißen konnte und sogar die Wolken zum Zittern brachte. Ein Mann, dessen Stiefeltritte er als Kind erdulden musste und die noch heute wie Feuer brannten. Aber noch schlimmer als das Feuer des Schmerzes brannten die Lügengeschichten, die Selicz seinem Großvater, dem früheren Kriegsgerichtsrat und späteren Richter am Landgericht Aachen, Richard Kollmann, aufgetischt hatte, denen zufolge seine Mutter ihren Sohn der großväterlichen „Obhut“ überlassen hatte, um im stadtbekannten Bordell anschaffen zu gehen. Dabei hatte sie sich ihrem fünfjährigen Sohn nie entzogen und auch niemals als Prostituierte gearbeitet.

Er stand am Ufer des kleinen Sees und trat ans Wasser. Bestimmt war das Wasser warm, so warm wie das Lächeln seiner Mutter und weich wie ihre Haut. Die Nacht verschattete seine Augen, bis sie die dunkle Farbe seiner Mutter annahmen.

„Hallo.“

Erstarrt blieb er am rutschigen Ufer stehen. „Mama?“

Sie eilte auf ihn zu, schob sich durch die Weidenwedel, ihr Haar in dunklen Locken über die Schultern gebreitet. Sein vom Kummer betäubtes Herz erwachte mit einem wilden Satz.

Kapitel 11

München

„Es ist besser, wenn ich dich zu Kreiler begleite“, sagte Max.

„Weshalb? Ich bin doch keine Gefahr für die Allgemeinheit“, widersprach Anna.

Max blieb ruhig. „Ich würde liebend gern wissen, wie sich ein Psychiater dein Verhalten in Italien erklärt.“

„Was? Du spinnst. Nichts war in Italien, überhaupt nichts!“ Sie war wütend, wobei sich gleichzeitig eine merkwürdige Kälte in ihr ausbreitete.

„Schrei nicht so, Anna. Lisa muss nicht unbedingt jeden Wortwechsel mitbekommen. Und ich spinne nicht! Du hast geglaubt, unser Hund wäre dieser …“

„Wag es nicht, seinen Namen auszusprechen, Max Gavaldo!“

„Ich bin nicht derjenige, der Hilfe benötigt“, sagte er mit ruhiger Stimme, „sondern du.“

Eine Kaffeetasse zerschellte vor seinen Füßen. „Was bildest du dir eigentlich ein? Wie kannst du mich so verletzen?“

Er seufzte. „Das war nicht meine Absicht. Bitte, beruhige dich. Also gut. Wenn du allein gehen möchtest, dann geh. Wenn du möchtest, dass ich dich dorthin begleite, dann mache ich auch das.“

Seine dunklen Augen musterten sie.

„Ich gehe allein zu Kreiler. Es ist meine Therapie und nicht deine!“, sagte sie grimmig, drehte sich abrupt um und schaute aus dem Fenster.

Sie kochte vor Wut und fragte sich, woher Max das Recht nahm, sie zu bevormunden. Wusste er denn nicht, dass sie unter zu viel Druck stand? Es war alles zu viel, und es war nicht ihre Schuld. Eine zu große Last ruhte auf ihren Schultern. Jakob trieb sich immer noch hier herum. Hatte Benedikt van Cleef nicht behauptet, dass er ihn erschossen hatte? So ein Blödsinn!

Jakobs dunkle Blicke, die sie in Italien durchbohrt hatten, sein warmer Atem an ihrem Ohr, das waren doch keine Halluzinationen!

Sie zwang sich, Max anzusehen. Er stand noch immer da und schaute sie seltsam an. Sie hielt seinem Blick lange stand, streckte ihm dann doch ihre Hand entgegen und signalisierte, dass er Geduld mit ihr haben musste.

Er kam auf sie zu und nahm sie in den Arm. „Tut mir leid, Anna. Ich wollte keinen Streit.“

Sie begleitete ihn zur Haustür, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. „Nein, Max, es ist meine Schuld“, sagte sie. „Wenn ich dich küsse, kann ich den blauen Himmel sehen.“

Er lächelte. „Das hast du lange nicht mehr gesagt.“

„Ich weiß.“

Sollte heute nicht einer dieser magischen Herbsttage werden, an denen die Zeit stillzustehen schien?, fragte sie sich, nachdem Max die Auffahrt verlassen hatte. Sie betrat die Terrasse und schaute auf den Starnberger See. Bei Föhnwetter wie heute hatte man eine herrliche Aussicht auf die Berge.

Leben, wo andere Urlaub machen, hatte Max gesagt, als er die Villa erworben hatte. Sie ließ ihren Blick über den Garten schweifen: die perfekt gepflegten Wege, auf denen Steinstufen aus rötlichem Granit die einzelnen Komponenten des Gartens miteinander verbanden, den kleinen Rosengarten, die tiefer angelegte Spielwiese mit einer Hüpfburg, einer Schaukel und einer alten Eiche mit einem Baumhaus sowie den Swimmingpool mit dem arabischen Pavillon. Weiter hinten arbeitete Mathias Rommel, den Max angestellt hatte, um den Garten in Ordnung zu halten und das Haus zu hüten, wenn die Familie auf Reisen war. Er erkannte sie, wie sie auf der Terrasse stand, hörte kurz mit dem Rechen des Laubs auf und winkte ihr zu. Gedankenlos hob sie die Hand.

Rommel hatte nach seiner Anstellung die Wohnung über der Garage bezogen, und es tat gut, den Mann in ihrer Nähe zu wissen. Umso mehr jetzt, wo Jakob wieder in ihr Refugium eingedrungen war, hier am Starnberger See. Sie konnte ihn immer noch sehen. Nicht sein Gesicht, nicht so deutlich wie Mathias da vorne, aber seinen Schatten schräg hinter ihr, sein Haar, das ihr Gesicht streifte, die Wärme seines Atems an ihrem Ohr.

Das Beste wäre, den heutigen Tag behutsam anzugehen.

Kreilers Villa war in Nebelschleier gehüllt. Anna schob den Riegel des niedrigen Tors beiseite und ging die Eingangsstufen hinauf. Die schwere Haustür war verschlossen. Sie klingelte. Durch die Sprechanlage forderte eine Stimme sie auf, ihren Namen zu nennen. Daraufhin öffnete sich die Tür.

Im Haus war es dunkler als draußen, und sie hatte das Gefühl, durch den Korridor zu schweben. Auf ihr Klopfen öffnete eine Frau mit braunem Haar und wässrig blauen Augen die Tür mit der Aufschrift Sekretariat einen Spaltbreit und sah sie fragend an.

„Ist das hier die Praxis von Professor Kreiler?“

„Äh… Sie suchen Professor Kreiler, Frau Gavaldo?“, fragte die Sekretärin irritiert.

Sie verharrte einen Moment. Wieso spricht diese Frau mich mit Gavaldo an, dachte sie. Sie zuckte mit den Achseln und sagte: „Ja, genau.“

„Erster Stock, vierte Tür links.“

„Danke.“

Sie schritt langsam den Korridor entlang. Vor dem Aufzug drehte sie sich um und blickte Kreilers Sekretärin, die noch immer in der Tür stand, direkt ins Gesicht. Aber es war nicht auszumachen, ob sie ihren Blick erwiderte oder nicht. Dann stieg sie rasch in den Aufzug.

Ihr Kopf schmerzte. Wieso hat die Sekretärin mich so seltsam angesehen? Sie hatte ihr doch nur eine simple Frage gestellt. Und dann dieser Name. Aber irgendwie sagte ihr der Name Gavaldo etwas. Vielleicht wüsste Jakob …

Im ersten Stock sah sie jemanden aus einem Büro kommen, einen Mann mittleren Alters, eleganter Anzug, sehr gepflegt. Er reichte Kreiler die Hand zum Abschied.

Ein Patient?, fragte sie sich. Sie blieb diskret im Hintergrund.

Der Mann ging an ihr vorbei, ein Blick voller Bewunderung streifte sie, ein freundliches Nicken.

Dann blickte sie den Psychiater an. „Dr. Kreiler?“

Jörg Kreiler runzelte die Stirn. „Anna …? Hatten wir einen Termin?“

„Ja, um elf Uhr.“

„Um elf?“

„Ja, entschuldigen Sie, ich habe mich verspätet.“

Kreiler spürte, dass etwas nicht stimmte. „Bitte, komm doch herein, Anna.“

„Sie verwechseln mich. Mein Name ist Katharina, Katharina Wendel.“

Als sie die Worte aussprach, schauderte sie. Die Kopfschmerzen waren jetzt unerträglich. Sie spürte Jakobs Aura in diesem Haus.

Kreiler hielt einen Moment inne, schwieg und musterte sie alarmiert. Dann reagierte er sehr schnell. „Meine Sekretärin ist schon gegangen, Frau …? Wie war noch Ihr Name?“

„Wendel. Katharina Wendel. Ihre Sekretärin hat mir die Tür geöffnet. Sie war noch in ihrem Büro. Sie kam mir irgendwie bekannt vor. Wo hatten Sie vorher Ihre Praxis? Außerhalb Münchens?“

Während die Sätze aus ihr heraussprudelten, sah sie sich im Raum um – Schreibtisch, Liege, Computer, Bücherregal – und saugte alles in sich auf.

„Nein, in der Stadt. Da Sie das erste Mal bei mir sind, brauche ich einige Informationen.“

„Welche Informationen?“

„Ihr Alter, Beruf und Familienstand. Wer hat Sie zu mir geschickt?“

„Niemand. Ich habe Ihre Anschrift aus dem Telefonbuch. Ich wollte jemanden aus der Stadt. Wir wohnen auf dem Land. Es ist schwer, einen Psychiater zu finden, der nicht Monate ausgebucht ist. Ein Kollege von Ihnen konnte mir erst einen Termin in zwei Monaten geben, aber da es dringend –“

„Dringend?“

„Ich komme wegen eines Problems, das –“ Sie zündete sich eine Zigarette an. „Meine kleine Schwester kann es nicht leiden, wenn ich rauche. Ich habe es mir schon zweimal abgewöhnt.“

Kreiler schaute auf die Zigarette und zog die Augenbrauen hoch. „Sie sprachen von einem persönlichen Problem?“

„Ja … Ben. Mein Stiefvater …. Er ist verschwunden. Ich glaube, meine Mutter hat ihn getötet.“

„Warum glauben Sie das?“

„Seit seinem Verschwinden geht es ihr gut. Sie ist seitdem so fröhlich.“

„Geht es denn Ihnen gut?“

„Sicher, warum fragen Sie?“

„Nur so. Sind Sie berufstätig?“

„Ja, ich arbeite als Krankenschwester in einer Münchner Klinik. Ich kenne niemanden außer meiner Familie. Niemanden, mit dem ich sprechen kann, dem ich mich anvertrauen kann.“

„Auch nicht mit Ihrer Schwester Anna?“

„Sie ist noch zu jung.“

„Haben Sie mit Ihrer Mutter mal darüber gesprochen?“

„Nein! Natürlich nicht. Ich könnte vielleicht mit Severin reden. Was meinen Sie dazu?“

„Severin?“

„Mein Schulfreund.“

„Sie haben nie darüber geredet … äh, mit Ihrem Schulfreund?“

„Doch ich habe es versucht, aber …“

„Ja?“

„Ich muss gehen. Ben wird böse, wenn ich zu spät nach Hause komme. Sie wissen schon.“

Er sagte: „Was weiß ich?“

„Ich muss gehen.“

„Kommen Sie wieder?“, fragte er vorsichtig.

Sie stand plötzlich auf. Ihr Blick war merkwürdig verschleiert, das Zimmer drehte sich vor ihren Augen. Plötzlich taumelte sie und fiel zu Boden.

Wenige Minuten später öffnete sie die Augen und sah ihn fragend an.

„Sie sind ohnmächtig geworden“, sagte er.

Ihr Gesicht war gerötet, doch ihre Augen waren jetzt hell und klar. „Wieso siezt du mich eigentlich, Jörg?“

Er reichte ihr ein Glas Wasser und erwähnte den Vorfall mit keinem Wort.

„Geht es wieder?“

Sie nickte. „Weshalb bin ich ohnmächtig geworden?“

„Du stehst noch immer unter Schock. Das ist nichts Besonderes.“

„Weißt du, Jörg, Jakob hat alle Menschen zum Narren gehalten. Er hat mich auch in Italien zum Narren gehalten. Deshalb habe ich geschossen. Aber ich habe nicht ihn getroffen, oder?“

„Du hast den Hund erschossen, und in deinem Fall würde ich sagen: Du hast genau das Richtige getan!“

Sie schaute ihn erstaunt an. „Wieso?“

„Nun, du hast Jakob gezeigt, dass du mit ihm fertig wirst.“

„Aber der arme Hund …“ Sie lachte. „Ja, du hast recht. Ich hab’s Jakob gezeigt. Wieso hat dieses Viech sich auch dort in der Nacht herumgetrieben?“

Du hast wirklich einen ziemlichen Knall abbekommen, Anna, meine süße Anna …

„Ich würde dir gerne einen Vorschlag unterbreiten. Was hältst du davon, wenn wir Hypnose einsetzen?“, fragte er.

Anna blickte ihn unsicher an. „Warum?“

„Weil du soeben geglaubt hast, du seist Katharina, und weil deine Erinnerung zurückkehrt. Du lebst, Anna. Deine Schwester ist tot.“

Ja, nur so kann es gehen, dachte er. Nur so würde er wirklich zu ihr vordringen können, und dann …

„Es gibt Momente in meinem Leben, die ich niemals vergessen werde, und dazu gehört die Erinnerung an meine Schwester Katharina. Wenn die Angst mich wieder quält, erinnere ich mich gerne an sie. Sie war das Licht.“

Jetzt war sie sichtbar erregt. Sie reagierte anders, als er erwartet hatte. Die Person Katharina schien sich in ihr zu manifestieren. Dann sagte sie, dass das Leben, ihr Leben, abgeschnitten sei.

„Wenn die Toten handeln, falls sie es denn überhaupt tun, ist es nur ein ‚Rest’, eine gespensterhafte automatische Reaktion.“ Er bat sie, ihm ihre Empfindung genauer zu erklären.

„Manchmal glaube ich, verrückt zu werden. Ich höre Stimmen und kann mich nicht konzentrieren. Möchtest du nicht auch, dass es mir wieder gutgeht, nachdem meine Erinnerung zurückkehrt?“

„Sicher, aber ich glaube nicht, dass eine Akteneinsicht etwas Positives hervorbringen wird. Eher das Gegenteil. Nicht umsonst schützt sich unsere Seele, indem sie eine unangenehme Erinnerung verdrängt. Ich sorge mich um dich, und ich halte die Hypnose für ein besseres Instrumentarium.“

Anna versuchte, ihre Gereiztheit zu überspielen, aber es gelang ihr nicht.

„Vielleicht. Vielleicht kehrt meine Erinnerung ja an einem anderen Ort zurück“, sagte sie leise.

„Du meinst in meiner Klinik?“

Sie nickte.

Endlich ist sie einsichtig geworden, dachte er.

„Alles, was ich tue, erscheint mir sinnlos. Ich lebe nicht, ich existiere nur. Ich brauche deine Hilfe, Jörg. Ich würde einer Hypnose und einem Klinikaufenthalt jetzt zustimmen. Du hast mir ja immer dazu geraten.“

Er streichelte ihr Haar, so wie er es früher bei Katharina getan hatte, und versuchte es wie eine freundschaftliche Geste wirken zu lassen.

„Schon gut, Anna. Ich werde alles Notwendige in die Wege leiten.“

„Ich werde durch dich wieder zu mir selbst finden.“

Er gab sich nachdenklich. Sie war ihm manchmal so nah wie Katharina, aber mit der Rückkehr ihrer Erinnerung würde sie die Vergangenheit bewältigen und seine psychologische Betreuung irgendwann nicht mehr brauchen.

Das darf nicht sein. Ich werde es zu verhindern wissen.

„Vielleicht hast du recht“, sagte sie leise.

Er wusste, dass ihre Beziehung zu Max stark belastet war. Ihr Mann konnte ihr nicht helfen, sosehr er sich auch bemühte, und deswegen hatte er Schuldgefühle.

Sie versuchte tapfer, ihre Tränen zu unterdrücken. „Ich bilde mir das alles doch nicht ein. Jemand beobachtet mich. Er hat es auf mich abgesehen. Ich traue mich nicht mehr aus dem Haus.“

„Warum erzählst du das nicht der Polizei?“

Sie sah ihn mit verkniffenen Augen an. „Der Polizei kann man nicht vertrauen. Ich traue nur Max.“

Das werde ich ändern!

„Max und dir natürlich.“

„Ja, natürlich.“

Sie hatte sich wieder im Griff. Schade.

„Ohne Max gäbe es keine Lisa. Ich habe Angst, Jörg. Ich träume jede Nacht, dass ich mich verliere. Ich sehe einen Schatten, ein Gesicht, Jakobs Gesicht, dann wieder das meiner Schwester Katharina. Und die Toten der Vergangenheit. Wenn ich nachts aufwache, höre ich Jakobs Stimme, sein Lachen, rieche ihn und höre die Stimme des Mannes, der mich zweimal töten wollte, ertaste seinen Körper, fühle seinen Hass, spüre ihn in mir und fühle mich schmutzig, aber dann wache ich im Traum auf, und er ist nicht mehr da. Zurück bleibt immer nur die Angst. Wie soll ich damit fertig werden, Jörg? Sag es mir!“

Er gab sich erneut nachdenklich.

„Ich ertrage eine so schreckliche Zeit nicht noch einmal. Ich möchte eine Therapie. Jetzt bin ich bereit. So etwas wie am Mittwochabend darf nicht noch mal passieren.“ Plötzlich lächelte sie und sah ihn liebevoll an. „Und die Klinik ist gut erreichbar. Max und Lisa können mich oft besuchen.“

Sie hat eine Entscheidung getroffen, dachte er, und es ist Katharina, die Schwester in ihr, die sie dabei unterstützt. Allmählich begann Katharina, sich in ihr durchzusetzen. Bald würde allein sie vor ihm sitzen und Wachs in seinen Händen sein.

„Du kannst mich in der Therapie vor den Dämonen beschützen, Jörg.“

Er lächelte. „Ich werde es versuchen. Allerdings unter einer Bedingung.“

„Welcher?“, fragte sie.

„Du musst mir versprechen, deine Medikamente regelmäßig einzunehmen.“

„Woher …? Gut, ich verspreche es.“

„Okay. Dann wäre das geklärt. Soll ich mit Max sprechen?“

„Nein, das mache ich selbst.“

Er blieb am Fenster stehen, bis ihr Wagen das Grundstück verlassen hatte.

Am Abend stellte Anna die Weingläser auf die Küchentheke, holte das Geschirr aus dem Schrank und deckte den Tisch.

„Erinnerst du dich an Pater Mateos Worte im Convento di Carmo, als unsere Tochter getauft wurde?“, fragte sie.

Max nickte und schaute in den Garten.

Anna stellte sich hinter ihn und umarmte ihn. „Ein schöner Blick, nicht wahr?“

„Es ist so friedlich. Ich könnte den ganzen Tag hier sitzen und die Aussicht genießen.“

„Max, lass uns reden. Um unseretwillen. Pater Mateo sagte damals, dass jedes Trauma erlebt, durchlitten und bewältigt werden muss.“

Sie fuhr sich fahrig durch die Haare und sah ihn eigenartig verwirrt an. Ihre Augen schnellten wie beim Beobachten eines Tennisspiels hin und her. Er konnte es kaum ertragen, sie so zu sehen.

„Weißt du, manchmal glaube ich, dass diese Bestie noch immer in mir steckt und meine Gedanken zu beherrschen versucht.“ Sie presste ihre Fingernägel in die Handflächen, und wie auf ein Signal durchrieselte sie ein leises Zittern. „Ich höre Stimmen, Max. Ich ertrage das Chaos in meinem Kopf nicht mehr.“

Er seufzte.

„Max!“

„Ich grüble schon seit Italien, wie ich dir helfen kann.“

„Ich will die Hypnose-Therapie, um die Dämonen in mir zu vertreiben und mit dir und Lisa endlich normal leben zu können.“

Er gab sich einen Ruck. „Du hast recht. Es ist besser für uns alle.“

„Die Hypnose wird in zwei bis vier Sitzungen durchgeführt, danach darf ich die Klinik wieder verlassen. Die anschließende Therapie kann ich ambulant durchführen.“

„Es ist einen Versuch wert. Wir brauchen dich, Anna. Wir lieben dich“, sagte er. Alles in ihr ist dunkel und trübe und monströs wie ein schwarzes Loch, in das sie immer tiefer hineingezogen wird, dachte er.

Er behielt sie im Auge, sah, dass ihr Blick rastlos durch den Raum wanderte. Wer spielte mit ihr, mit ihren Gedanken? Was war es, das Besitz ergriff von ihr? Verdammt, dachte er, was für ein Scheißspiel wird hier gespielt? Er fühlte sich ohnmächtig, sorgte sich um sie, aber er musste einen klaren Kopf bewahren. Wenn auch er in Panik ausbrechen würde … Sein Verstand würde sich wie eine Reißleine verfangen, aber sein Gegner war ein dämonischer Schatten namens Jakob. Wahrhaftig ein Schatten, ein toter Körper.

„Schon gut“, sagte er tonlos. „Wann wirst du aufgenommen?“

„Am kommenden Montag. Am Sonntag haben wir Gäste, und danach werde ich mich den Dämonen stellen.“

Kapitel 12

Florenz – Freitag, 13. Oktober 2006

In Florenz konnte man alle wichtigen Sehenswürdigkeiten leicht zu Fuß erreichen, deshalb hatte die Reisegruppe auf den Bus verzichtet. Er wäre eher hinderlich, zumal die Innenstadt für den Privatverkehr gesperrt war.

Pawel folgte der kleinen Touristengruppe. Mitten unter ihnen befand sich sein nächstes Opfer, Mirko Selicz. Die Gruppe schritt über die Piazza Santa Trinita, die im Herzen des elegantesten Florentiner Viertels lag und an der die Via Tornabuoni begann. Hier erhoben sich die Säulen der Justiz, umgeben von aristokratischen Palästen. Nach Einbruch der Dunkelheit aß die Reisegruppe dort immer in einem kleinen Restaurant zu Abend.

Florenz war für ihn so etwas wie sein zweites Zuhause. Er war schon oft für Aufträge in dieser Stadt mit ihren in faulen Farben gehaltenen Fassaden gewesen und kannte ihre dunkelsten Ecken. Unauffällig schloss er sich der Reisegruppe an.

Die Luft war stickig und schwül wie im Hochsommer. Vom Fluss schlug ihnen ein modriger Geruch entgegen.

„Der vor Ihnen auf der Piazza della Signoria liegende Neptunbrunnen wurde von Bartolomeo Ammanati 1575 vollendet. Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert war bereits alles an herrlichen Palästen oder prächtigen Kirchen erbaut. Nur die öffentlichen Plätze boten noch ein Betätigungsfeld“, erklärte die Reiseführerin gerade.

„Stimmt es, dass Florenz seine prächtigen Bauwerke und seinen üppigen Kunstreichtum hauptsächlich den Medicis verdankt?“, hörte Pawel Selicz fragen.

„Ja, das stimmt“, sagte die Reiseleiterin, blieb einen Moment stehen, hob ihre Hand und zeigte in Richtung des Palazzo Vecchio. „Sehen Sie mal. Über die ganze Länge der Ponte Vecchio führt der berühmte Corridoio, der in nur fünf Monaten von Vasari erbaut wurde. Dieser Verbindungsgang sollte dem Großherzog der Toskana, Cosimo dem Ersten de Medici, die Möglichkeit bieten, vom Palazzo Vecchio aus zu seinen Wohnräumen im Palazzo Pitti zu gelangen, ohne sich in das Gedränge der Stadt begeben zu müssen. Außerdem war der Corridoio wie viele florentinische Bauwerke des Mittelalters und der Renaissance so angelegt, dass er in unruhigen Zeiten Schutz vor den Gefahren in den belebten Straßen bot.“

Selicz grinste. „Ich glaube, das ist nicht der wahre Grund.“

Pawel blickte gelangweilt zur Seite. Selicz’ Gefasel über den heimlichen Zugang für die Mätressen des Großherzogs interessierte ihn nicht mehr.

Ein Mann mit einem Strauß dunkelroter Rosen im Arm eilte an ihm vorbei und schrie einer Frau nach, die in einem durchsichtigen Plastiksack Kleidungsstücke trug und vor dem Mann davonlief.

Wenige Meter vor der Brücke entdeckte Pawel einen Stand. Ein schmächtiger Gemüsehändler streifte dort einen Stahlhandschuh mit Schnittschutz über seine rechte Hand.

„Im Mittelalter standen hier übrigens die Läden und Werkstätten von Fischhändlern, Metzgern, Gerbern und Kürschnern. Hier wurden die Häute acht Monate lang eingeweicht und dann mit Pferdeharn gegerbt. Es muss bestialisch gestunken haben“, plapperte Selicz weiter.

Wieso konnte der alte Bastard nicht endlich sein Maul halten?, fragte sich Pawel.

Die Gruppe ging am Stand des Gemüsehändlers vorbei. Er blieb stehen und starrte fasziniert auf die riesigen Kokosnüsse. Der Händler hielt eine in der linken Hand, mit der anderen umfasste er einen Hammer und schlug mit der spitzen Seite auf die Oberseite, dort, wo sie aufbrechen sollte. Nach jedem Schlag drehte er sie ein wenig, und nach ein paar Umrundungen brach sie schließlich auseinander. Dann schälte er das Fleisch aus der harten Schale und legte es sorgfältig auf einen Teller.

„Bei der Reinigung der Brücke, die den Charakter einer Marktstraße hatte, wurden die Abfälle in den Fluss geworfen. Da versteht sich von selbst, warum die Brücke erst später zu einer Touristenattraktion wurde. Kommen Sie, lassen Sie uns weitergehen“, hörte er die Reiseleiterin sagen.

Er verharrte noch einen Moment am Gemüsestand und starrte den Händler an. Ihre Blicke trafen sich, und er erkannte das unausgesprochene Verständnis zwischen ihnen, das gespeist war von Seelenfreude und zügelloser Wut. Die heftigen Schläge mit dem Hammer hatten Pawel den maliziösen Hass des Mannes gezeigt, der sich wohl gegen irgendjemanden richtete. Es war kein Zufall, dass er hier stand, es war ein Hinweis.

Die Gruppe schlenderte in Richtung Uffizien, eines der berühmtesten und zugleich ältesten Museen der Welt. Pawel folgte ihnen. Ein letztes Mal drehte er sich zum Stand um. Mit offenem Mund, angestrengt die Lippen schürzend, schnitt der Gemüsehändler mit einem gekrümmten Messer eine Gurke auf. Ein hämisches Grinsen verzerrte jetzt sein Gesicht.

Pawel wandte sich ab, betrat die Uffici und fand die Gruppe vor dem Hauptanziehungspunkt des Museums, der Medici-Venus.

Er beobachtete, wie Selicz still seinen Blick über den formvollendeten Körper gleiten ließ. Er musste seinen brennenden Blick im Nacken gespürt haben, denn jetzt drehte er sich zu ihm um und blickte in die dunklen Gläser seiner eleganten Sonnenbrille.

Am Nachmittag besuchte die Gruppe die Galleria dell’ Accademia, die im 18. Jahrhundert eröffnet worden war, um den Studenten der Kunstakademie die Großartigkeit toskanischer Meister des 14. bis 16. Jahrhunderts vor Augen zu führen.

Hinter der eleganten klassischen Figur des David, der hier erstmals ohne den besiegten Goliath dargestellt wurde, behielt Pawel Selicz im Auge.

David schien auf Goliath zu warten, dachte er. Wie auch immer: Goliath hatte gegen David genauso wenig eine Chance wie Selicz gegen ihn.

Am Abend betrat er lautlos den Rasen der Hotelanlage, wo sich die Touristengruppe für die Nacht eingecheckt hatte. Er hatte sich in aller Stille in einem kleinen Café vorbereitet und sich nicht von der Geräuschkulisse ablenken lassen. Am Geschwätz der Leute hatte er kein Interesse. Die Märchen seiner Mutter, ja, die hatten Bestand, aber das Geschwätz war wie der Staub des Tages. Am nächsten Tag würde der Reisebus sicher verspätet nach Rom abfahren, denn ein Gast würde fehlen.

Es war dunkel, aber er kannte den Weg, er war ihn schon oft gegangen, auch in Gedanken. Er wusste, wo der Weg zum Appartement Nummer zwölf eine Kurve machte, als hätte er jeden Schritt auf den Millimeter genau ausgemessen. Er überließ nichts dem Zufall, denn er konnte sich keine Fehler leisten.

Zwei Stunden später. Das Glas der Fensterscheibe war kalt, obwohl die Luft so warm war. Regnerisch, das schon, aber warm. Die Scheibe beschlug ein wenig, als Pawel sie anhauchte. Dahinter sah er nichts, nur Schweigen. Er blieb stehen, vielleicht Minuten, vielleicht nur einige Sekunden, die Zeit wartete und dehnte sich.

Jetzt trat er näher ans Fenster, um besser sehen zu können. Es gab ein Bett, einen Tisch, einen mit Kleidern belegten Stuhl. Auf der Fensterbank eine Vase mit einer Blume. Drinnen bewegte sich etwas, das dort von der Decke hing. Ganz leicht. Sein Gesicht spiegelte sich im Fensterglas, glatt, emotionslos, eine ideale Projektionsfläche für die Poesie des Bösen, die sich hinter seiner Stirn abspielte. Er erinnerte sich an den lautlos wimmernden Mann auf dem Boden, dem er die Zunge herausgerissen und die Hoden abgeschnitten hatte. Danach folgte das Ritual des Gemüsehändlers: Der Kopf wurde gespalten, der Bauch aufgeschlitzt. Dort von der Decke hing nur noch ein zungen- und geschlechtsloses totes Objekt an einem Haken ...

Pawel machte kehrt, ging lautlos durch das Gras davon und verschwand zwischen den Baumstämmen, um im Schutz des großräumigen Parks den in der Nähe des Taxistands befindlichen Ausgang zu benutzen und sich ins sechzehn Kilometer entfernte Pontassieve fahren zu lassen, wo er in einer kleinen Pension ein Zimmer gebucht hatte. Morgen würde er wieder nach Florenz zurückkehren, um seinen Wagen abzuholen. Er verbrachte nie eine Mordnacht in der Stadt des Tatorts. Er war ein Meister verwischter Spuren und ein Meister im Umgang mit der Zeit. Er war der Zeit davongelaufen. Das wusste er, seit er die Krasinski-Akte gelesen hatte. Er würde irgendwann nach München fliegen. Er wusste, dass er dorthin musste, denn immer wieder drängte sich ihm Maryam Krasinskis Bild aus der Prozessakte auf.

Aber er konnte warten, und in seinem Warten lagen die Geduld des Heimkehrenden und die entspannte Haltung eines Mannes, der Geist und Körper unter Kontrolle hatte.

Im Dunkel des Pensionszimmers in Pontassieve nahm er die Akte wieder in die Hand.

Tagebuchaufzeichnung Maryam Krasinski

In der Nacht schreckte das Wimmern des Häftlings nebenan mich immer wieder aus dem Schlaf. Es war Egon Grabosch, der Junge, der in der Verhandlung seine Mutter angefleht hatte.

Vor einem Monat hatte Egon den Bunker in der Oppenhoffallee verlassen, um im Zentrum der zerstörten Innenstadt bei Pfeifen Jansen in der Adalbertstraße Zigaretten zu holen. Er wurde von einer Wehrmachtsstreife aufgegriffen und ins Haus des Richters geschleppt.

„Ich wollte meinem Vater nur eine Freude machen“, schluchzte der Junge, „und ihn mit einer Schachtel Zigaretten zum fünfundvierzigsten Geburtstag überraschen.“

Ich lauschte dem Lamentieren, aber merkte mir nur einen einzigen merkwürdigen Satz: Der Richter hat sein Versprechen nicht gehalten.

Ich durfte nicht an die Vollstreckung denken, aber natürlich tat ich nichts anderes, wie auch Egon Grabosch in der Zelle neben mir. Ich konnte an sonst nichts denken. Ich starrte auf die Uhr, beobachtete, wie die Zeit verging, und fragte mich, wann die Gefängniswärter endlich kommen würden, um mich und die anderen zum Katschhof zu bringen, wo gegen sechs Uhr das Urteil vollstreckt werden sollte. Ich konnte die Uhr oben durch den schmalen Fensterschlitz klar und deutlich erkennen. Sie war alt – mit einem runden Zifferblatt, großen schwarzen Zahlen und einem unaufhörlich vorwärtsrückenden roten Sekundenzeiger, der die Zeit dahinticken ließ: Fünf Stunden lang schon, und noch immer gab es keinen Schlaf für mich.

Langsam ging ich auf und ab, von der grauen Westwand zur verschlossenen Tür und zurück, ein kurzer Weg, ein paar Schritte nur. Die ersten ein, zwei Stunden waren gar nicht so schlimm gewesen. Die Wärter waren gekommen, hatten mir und den anderen Mut zugesprochen und waren eine Weile geblieben. In den letzten Stunden konnte man den Verurteilten ein wenig freundlicher entgegentreten.

Ich kaute an den Fingernägeln und beobachtete dabei die Uhr. Mit jeder weiteren Stunde wurde es schlimmer. Worüber denken andere Menschen nach, fragte ich mich, während sie auf den Tod warten?

Zwei Wachen, die ich noch nicht kannte, gingen schnell an meiner verschlossenen Tür vorbei. Sie schauten durchs Sichtfenster, wollten einen Blick auf mich erhaschen. Ich spürte die heftige, fast greifbare Spannung, die in der Luft hing, schmerzhaft wie stechende Dornen. Die Wachen warteten genauso auf die Vollstreckung des Urteils wie ich. Alle wollten es hinter sich haben. Ich legte beide Hände an die Wand und fühlte die kühle Betonstruktur. Zu Mittag hatte ich einen Apfel gegessen, das Einzige, was ich hatte zu mir nehmen können. Der süße Saft war mir übers Kinn gelaufen, und ich hatte ihn nicht abgewischt. Stattdessen hatte ich mich an die Zellenwand gelehnt, die Augen geschlossen und den Apfel verschlungen, als hätte ich noch nie zuvor einen gegessen.

Ich dachte über glücklichere Zeiten nach, Zeiten, in denen ich verliebt war, wirklich verliebt. Ich hatte Ludmilla im Gerichtssaal gesehen, mit dem Baby im Arm.

Ich malte mir aus, wie ich mit ihr eine Bergwanderung machte und wir wegen eines Gewitters in der Hütte Schutz suchten. Jene Hütte, wo vor einem Jahr in einer leidenschaftlichen Umarmung das Baby gezeugt worden war. Damals hatte der Geruch von Humus und Baumrinde in der Luft gelegen. Sie habe eine so unbekümmerte Art, ihr Gang sei so leicht und schwungvoll wie der eines jungen Mädchens auf dem Weg zu einem heimlichen Abenteuer; jeder könne ihr ansehen, dass an diesem Tag nichts Schlimmes geschehen werde, hatte ich ihr gesagt. Unbekümmert, leicht und schwungvoll – Worte, die mir nur selten in den Sinn kamen. Ich würde sie und das Baby niemals wiedersehen.

Ich schloss die Augen und versuchte, die Tränen zurückzudrängen. Meine Fäuste gruben sich in meine Beine. Jetzt, in diesem Augenblick, wollte ich an Gott glauben.

„Rette mich, Gott“, betete ich. „Bewahre mich vor diesem Tod.“

Doch das Einzige, was mir die Stille der Nacht gab, war eine Beklommenheit, die meine Brust aushöhlte. Vielleicht genau das, was ich verdiene, dachte ich.

Durch das schmale Fenster sah ich auf die Uhr. Eine weitere Stunde war vergangen. Ich wollte schreien. Über mein Schicksal, mein Leben und das Leben der anderen hatten fünf Männer in fünf Minuten entschieden. Ihr Urteil: Tod durch ein Exekutionskommando.

Obwohl ich erst achtzehn Jahre alt war, hatte ich doch im Laufe der Jahre gelernt, dass sich Gerechtigkeit in diesen Zeiten nicht durchsetzen konnte. Ich legte die Stirn an die Wand um der Kühlung willen; die kalten Steine wirkten besänftigend und brachten meinem Gesicht, das wieder einmal zerschunden war, ein wenig Erleichterung.

Vor der Tür entfernten sich Schritte. Alles war wieder ruhig.

Pawel seufzte. Seine Gedanken wanderten zum nächsten unmittelbaren Ziel: Istanbul.

Kapitel 13

Sonntagabend

Im Traum stand sie unter der Dusche. Sie hörte das Rauschen des Wassers, das auf ihren Körper herabprasselte, doch sie vernahm auch die Stimme eines Mannes.

„Meine Erregung wächst bei deinem Anblick. Das prickelnde Gefühl strömt wie eine Droge durch meine Adern. Ob du dich im Keller zur Wehr setzen wirst? Was meinst du, Anna?“

Sie hauchte vor Entsetzen: „Ich mache alles, was du willst.“

Plötzlich saß sie an einem Tisch und beobachtete durch die offene Tür ein kleines Mädchen, das im Treppenhaus auf einer Stufe saß und einen Teddy fest an sich drückte.

Als ob es gespürt hätte, dass sie es beobachtete, blickte das Mädchen plötzlich auf. Ihre Augen begegneten sich. Sie wandte sich nicht verlegen ab, sondern hielt den Blick und schenkte dem Kind ein kurzes Lächeln. Anna erkannte ihre Tochter Lisa.

Schweißgebadet wachte sie auf. Ihre Lider zuckten und öffneten sich. Der Wecker auf dem Nachtschränkchen zeigte achtzehn Uhr. Sie musste sich beeilen. In einer Stunde würden ihre Freunde eintreffen. Sie war schon den ganzen Tag müde und hatte große Mühe, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Eine nagende Angst hatte ihr tagsüber zu schaffen gemacht. Und jetzt dieser Traum! Wieso träumte sie auf solch seltsame Weise von ihrer Tochter? Es schien ihr unwirklich, dass ihr Leben auf zwei Gleisen weiterging. Sie hatte heute ein Abendessen für ein paar Freunde zubereitet, stand Todesängste aus und war gleichzeitig seltsam heiter bei dem Gedanken, Jakobs Schatten nicht mehr fürchten zu müssen, weil sie ihn in Italien erschossen hatte, obwohl Max behauptete, die Kugeln hätten den Rottweiler getroffen. Die Ironie ließ sie schmunzeln. Sie kniff die Augen zusammen und steckte die Hände in die Tasche ihrer weiten, schlabberigen Seidenhose. Immerhin kann ich nun wieder mit Max abends ausgehen, dachte sie.

Mathilda van Cleef verließ mit ihrem BMW die Abfahrt Starnberg und lenkte das Fahrzeug zur Gavaldo-Villa, die auf einem sanften Hügel mit einer kurvenreichen Zufahrt lag. Es war ein Haus aus weißen Steinen mit einem Dach aus ockerfarbenen Ziegeln, das ganz in Flutlicht getaucht war.

Mathilda passierte das Eingangstor, fuhr über die von silbernen Laternen beleuchtete und von Bäumen gesäumte Einfahrt und parkte den Wagen neben dem Haupteingang. Als sie ausstieg, hielt sie einen Moment inne.

Es gab hier viele Zimmer für eine Menge Kinder, dachte sie. Anna und Max wollten mindestens fünf. Doch merkwürdigerweise war Anna nach Lisas Geburt nicht mehr schwanger geworden. Manchmal glaubte Mathilda, in ihr die Sehnsucht nach weiteren Kindern zu spüren, besonders dann, wenn sie ihren Blick auf ihrem gewölbten Bauch spürte.

Ihre Zwillinge würden in etwa zehn Wochen auf die Welt kommen, und mittlerweile war sie ziemlich schwerfällig geworden.

„Nur noch ein paar Wochen“, murmelte Mathilda, während sie auf das Haus zuging. „Dann presse ich euch beide mit einem Pups heraus.“

Max kam mit sicheren Schritten durch die hohe, großzügig bemessene Tür der Eingangshalle auf sie zu. „Mit wem sprichst du denn da, Mathilda?“

Sie begrüßte ihn mit einem flüchtigen Kuss. „Mit den Raufbolden in meinem Leib. Ich bekomme kaum noch Luft, und die Magensäure hat den Höchstpegel erreicht.“ Sie führte ihre Hand zum Hals. „Bis hier. Hallo, Max. Benedikt kommt nach. Er wurde im Präsidium aufgehalten. Ein Junkie ist durchgedreht.“

Max hob die Augenbrauen. „Was für eine Welt! Erzähl es mir später. Da kommt Lisa.“

Mathilda verstand und nickte. Sie marschierte schnurstracks in Richtung des Mädchens, das oben an der Treppe stand und strahlte. Mit vor Freude roten Wangen hüpfte es die Stufen hinunter, stürmte auf sie zu und drückte sie heftig.

„Hallo, Kleines. Bist du froh, wieder zu Hause zu sein?“, fragte Mathilda.

Max lachte. „Meine Tochter ist sich noch unschlüssig.“ Er hob sie in die Luft, schwenkte sie schnell und elegant im Kreis und setzte sie wieder ab.

Lisa nahm Mathildas Hand. „Komm, Mathi, ich zeige dir das Essen.“

„Das Essen?“

Sie schaute Max fragend an, der lächelnd die Schultern hob. „Okay“, sagte er.

„Beim Schnitzel hat Mami das Fleisch totgeklopft“, plapperte Lisa drauflos, „und für mich hat sie Karotten gekocht. Mami sagt immer, Karotten schmecken lecker, aber dann schmecken sie wie immer!“

„Aha. Wo ist denn Mami?“

„Oben. Sie renoviert sich.“

Mathilda schmunzelte.

Anna vernahm Mathildas Stimme aus dem Wohnzimmer. Sie musste sich beeilen. Jakob war außer Gefecht gesetzt, und sie war frei. Das war das Einzige, was zählte. Sie atmete langsam aus. Lieber den Teufel, den man kennt … Aber das war Unsinn. Jakob war kein angenehmer Teufel gewesen.

Plötzlich zweifelte sie wieder wie heute Morgen. Selbst wenn das in Italien ein falsches Spiel gewesen war, hatte sie nun eine Überlebenschance. Mit Überleben kannte sie sich aus. Mit Jakobs Schatten hätte es keine Zukunft für sie gegeben, so viel stand fest.

Sie zog sich rasch das schmale Etuikleid an, strich es an ihrem Körper glatt und betrachtete sich im Spiegel des Badezimmers. Sie legte den Kopf schief und streifte mit dem Kristallstab ihrer Parfümflasche die Ohrläppchen.

Der Tag hatte mit einem Rausch in ihrem Kopf begonnen, und jetzt war sie benommen. Es liegt wohl an Max, dachte sie. Er war zu vielschichtig, fand sie, und es schien ihr nicht möglich zu sein, alle Schichten zu durchdringen und aus ihm schlau zu werden. Auch das war kompliziert und rätselhaft.

Sie lief schnell die Treppe herab. An der bronzenen Davidstatue, die neben dem Treppenabsatz stand, drehte sie sich um und blickte in den großen Wandspiegel.

Jakobs Schatten huschte an ihr vorbei. Im Spiegel erkannte sie seinen bewundernden Blick.

Das Wohnzimmer war eine schimmernde, warme Oase. Überall standen Kerzen, und im ganzen Haus duftete es nach den lachsfarbenen und gelben Freilandrosen. Das Buffet war auf einem schneeweißen Tisch im Esszimmer aufgebaut.

Lisa tippte mit dem Zeigefinger vorsichtig auf Mathildas Bauch. „Mami hat mir erzählt, dass die Babys, solange sie im Bauch sind, durch die Schnabelschnur essen. Stimmt das?“

„Ja, Kleines. Aber es heißt Nabelschnur.“ Mathilda ließ ihren Blick übers Buffet schweifen. „Was gibt es denn Leckeres? Hm … Krabben in hausgemachter Mayonnaise, hauchdünnes Kalbfleisch, und was sehe ich noch? Eine Leber, die wahrscheinlich auf der Zunge zergeht“, sagte sie. „Ich kann es kaum erwarten, so hungrig bin ich.“

„Naschst du auch so gerne, Mathi?“

Mathilda lachte und hob den Zeigefinger an die Lippen. „Schhh … Verrate mich bloß nicht, Kleines. Ich nasche für mein Leben gern. Deshalb bin ich jetzt auch so dick!“

„Aber, du musst ja auch für drei essen, Mathi“, sagte Lisa altklug.

„Nein, das darf sie nicht!“, sagte Anna, die soeben das Esszimmer betrat. „Und hier wird auch nicht genascht!“

„Anna!“ Mathilda umarmte ihre Freundin. „Du siehst toll aus. Ich bin richtig neidisch.“

Anna kicherte. „Und du, als würdest du gleich platzen.“

„Danke. So fühle ich mich auch. Also bitte, keine weiteren Kommentare. Ich …Wir haben dich vermisst.“

Max betrat das Esszimmer und entkorkte eine Flasche Rotwein.

„Wen erwartet ihr denn noch zum Abendessen?“, fragte Mathilda.

„Jörg Kreiler mit seiner neuen Flamme, und Robert Hirschau hat auch zugesagt.“

„Hey, das ist ja toll. Ich habe Hamlet eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich hat er zu viel Psychopathenscheiß um die Ohren.“

Anna wurde blass. „Wahrscheinlich“, sagte sie schnippisch. „Entschuldige mich bitte.“ Sie drehte sich abrupt um. „Die Türglocke.“

O Gott, wie konnte ich nur?, dachte Mathilda.

Benedikt van Cleef lächelte, als er das Esszimmer betrat und seine Frau auf ihn zukam. Mathilda war atemberaubend. Ihr Haar war schon immer von einem leuchtenden Tizianrot wie loderndes Feuer, in der Schwangerschaft erschien es wie das reinste Flammenmeer, das sich in wilden Locken über ihre Schultern ergoss. Ihre rostrot geschminkten Lippen hoben sich zu einem kleinen wissenden Lächeln, als sie auf ihn zukam und vor ihm stehen blieb, so nah, dass er das winzige Muttermal sehen konnte, das direkt über der rechten Oberlippe saß.

Das Mal war ihm bei ihrer ersten Begegnung vor sechs Jahren sofort aufgefallen, und er hatte es schon damals im Krankenhaus sofort küssen wollen. Er hatte seine Frau vor sechs Jahren auf der Intensivstation kennengelernt, als er den Mordanschlag auf Anna untersuchte. Mathilda hatte Anna, die damals im Koma gelegen hatte, täglich besucht. Da er die Patientin nicht hatte befragen können, hatte er sich an Mathilda gewandt und sich Hals über Kopf in sie verliebt. Ein Jahr später waren sie verheiratet.

Benedikt van Cleef begrüßte seine Frau mit einem Kuss und streichelte sanft über ihren Bauch. „Alles okay mit euch dreien?“

„Ich bin gerade mal wieder ins Fettnäpfchen getreten. Aber ich habe keine Lust mehr, jedes Wort in die Waagschale zu legen, bevor ich es ausspreche. Es ist schon so verdammt lange her, dass Anna und ich wirklich ungezwungen miteinander umgegangen sind. Sie ist schrecklich empfindlich geworden. Dabei hat sie doch gerade erst einen vierzehntägigen Urlaub hinter sich.“ Sie zog die Schultern hoch. „Keine Ahnung, was zurzeit mit ihr los ist.“

„Vielleicht solltet ihr euch mal zum Essen verabreden. Unter vier Augen klärt sich manches leichter.“

„Ja, vielleicht hast du recht. Und? Hast du deinen Junkie eingesperrt?“

„Schön, dass du dich um mich sorgst! Ja, ich habe ihn eingesperrt. Zufrieden?“

„Schluss jetzt mit den Verbrechen. Komm, wir machen es uns gemütlich.“

„Ich liebe dich“, hauchte Benedikt ihr ins Ohr.

Max schenkte den rubinroten Chiantiwein in große Gläser.

Wenig später stießen Jörg Kreiler, in Begleitung einer jungen blonden Frau mit piepsiger Stimme, und Robert Hirschau hinzu, der auch heute wieder seine graue Lederjacke trug: sein Markenzeichen, passend zu seinem graumelierten blonden Haar, was ihm zusammen mit dem markanten Kinn und den stahlblauen Augen einen nordischen Charakter verlieh, weswegen er umgehend den Spitznamen Hamlet verpasst bekommen hatte.

Als schließlich die Gläser klirrten, hatte Anna sich wieder beruhigt.

Mathilda bemerkte dennoch eine Unruhe an ihr, und sie schlug vor, in den Garten zu gehen.

Draußen sog sie genüsslich die würzige Abendluft ein. „Ah, ich liebe diese Luft! Es gibt gleich Regen.“

„Entschuldige meinen schroffen Tonfall vorhin“, sagte Anna.

„Schon gut. Jeder hat mal einen schlechten Tag.“ Mathilda gab ihr einen Kuss.

Sie lachten und unterhielten sich, füllten die Lücken, die sie vor ihrer Italienreise offengelassen hatten, und entdeckten ihre Freundschaft neu. Sie sprachen über den Urlaub, über die Schwangerschaft und die Zwillinge, die sich in Mathildas Bauch Boxkämpfe lieferten.

„Hast du Jörg Kreilers neue Flamme gesehen?“, lästerte Mathilda leise. „Ist dieses luftig aufgeföhnte Etwas vielleicht eine Frisur?“

Anna lachte. „Mathi, halt dich zurück! Sie ist schließlich unser Gast, und unsere Gäste sind uns heilig.“

Mathilda machte eine abwehrende Handbewegung. „Ja, ja. Wenn Frauen ihre reizarme Existenz immer wieder durch die Berührungen ihres Friseurs lustvoll aufwerten, kommt so etwas dabei heraus!“

Anna kicherte. „Ist aber gefahrlos, Mathi! Komm, lass uns wieder reingehen.“

Ihre Gäste redeten und redeten und redeten. Am Tisch schweiften Annas Gedanken immer wieder ab. Es hatte plötzlich heftig zu regnen begonnen, und Tropfen peitschten gegen die Terrassentür und gegen die Fensterscheiben. Mathilda unterhielt sich mit Jörg Kreiler, Max schien sich mit Kreilers Flamme zu langweilen und lächelte ihr zu. Benedikt van Cleef und Robert Hirschau waren in ein Gespräch vertieft, und sie beobachtete die beiden. Plötzlich drang ein Wort zu ihr, oder bildete sie sich nur ein, dass Robert leise diesen Namen erwähnte: Lukas? Ein Wort, ein Name. Oder war es das Donnergetöse, das die Stimme in ihrem Kopf aufleben ließ? Der Wind oder der Regen? Oder die Erinnerung an den Modergeruch verwelkter Blüten auf dem Grab ihrer ermordeten Schwester?

„Du bellst den falschen Baum an, Jakob!“, fauchte Anna.

Die Gespräche verstummten. Max wurde blass und sprang auf, das Gesicht voller Sorge.

Irritiert schaute sie ihn an. Alle Blicke waren auf sie gerichtet.

„Was ist denn? Was glotzt ihr mich so an. Sind Fliegen in der Suppe?“

Sie spürte Tränen aufkommen und warf ihre Serviette auf den Teller. „Entschuldigt mich. Ich schau mal kurz nach unserer Kleinen.“

Mathilda erhob sich ebenfalls. „Ich komme mit.“

Im Badezimmer fragte Mathilda: „Ist alles in Ordnung mit dir?“

Anna trocknete die Hände und frischte mit einem pfirsichfarbenen Stift die Lippen auf. „Sicher, wieso fragst du?“

„Weil du ebenso etwas Merkwürdiges gesagt hast.“

„So …? Was habe ich denn gesagt?“

„Du bellst den falschen Baum an, Jakob!“

Anna lachte. „Das soll ich gesagt haben? Du träumst, Mathi!“

„Ich sorge mich schon seit geraumer Zeit um dich, denn du hast dich verändert. Manchmal habe ich das Gefühl, ich kenne dich nicht mehr.“

Annas Züge wurden hart, und sie schaute in den Badezimmerspiegel. „Hast du das gehört, Jakob? Was sagt man dazu? Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen?“

„Red nicht so mit mir. Glaubst du, ich sehe nicht, was los ist? Es ist, als wären zwei Personen in dir. Und eine davon ängstigt mich. Kennst du diesen anderen Menschen in dir?“

Anna wurde kreidebleich. „Willst du, dass ich noch mal Gewalt anwende, liebste Mathilda?“, flüsterte sie mit eisiger Stimme.

Mathilda fuhr erschrocken zusammen. „Anna … Bitte. Himmel … Tu das nicht. Was ist bloß los mit dir?“

Anna warf einen finsteren Blick in den Spiegel. „Tagsüber schaut er den Möwen zu. Nachts blickt er in die erleuchteten Fenster unseres Hauses: unser Familienleben in goldenen Farben, Kerzenlicht, knisterndes Feuer im Kamin. Ein Glas Rotwein, rot wie das Blut in meinen Adern.“

Mathilda fasste sie am Arm. „Wovon sprichst du? Wer beobachtet dich?“

„Ich höre seine Stimme. Er sagt: Wie schön ist die Frau, die mein Kind geboren hat.“ Anna lächelte geheimnisvoll. „Er meint meine Kleine, Mathi.“

„Wer ist er?“

„Es ist kompliziert, ziemlich kompliziert. Er steckt Nadeln in meinen Kopf.“

Mathilda schüttelte sie. „Anna, komm zu dir. Wer ist er?“

Anna sah sie misstrauisch an. „Es ist erregend. Ja, es erregt mich.“

„Sprichst du von Max?“

Sie schloss die Augen. „Nein. Von Jakob.“

Mathilda erstarrte. Und dann kippte Anna einfach um.

Jemand rüttelte sie, schnell, ruckweise wurde sie hin und her bewegt, dann wieder heftig an den Schultern geschüttelt. Anna öffnete die Augen.

„Scheiße!“, schrie Max mit einer tiefen Stimme, die die Wände beben ließ. „Hör sofort mit dieser verdammten Scheiße auf!“

Anna schaute ihn erschrocken an. Wie konnte sie diesem Mann entkommen, der ihr ständig seine Liebe erklärte, während er sie so heftig rüttelte? Irgendwann würde er sie schlagen, davon war sie überzeugt. Sein Gesichtsausdruck war furchterregend.

„Das hier …“ Er zündete sich eine Zigarette an. „Hör zu“, fuhr er fort und sog den Rauch in seine Lunge. „Das hier verwandelt sich langsam in einen Alptraum, in eine unendliche, unerträgliche Geschichte.“

Anna starrte ihn mit offenem Mund an. „Ein Alptraum?“

„Ja, ein Alptraum und eine nie enden wollende Scheißgeschichte.“ Er seufzte. „Ich bin geduldig gewesen, aber du … Es zieht sich einfach ewig hin. Es ist nicht mehr komisch!“, schrie er. „Und schon gar nicht, wie du mit Mathilda umgehst!“

Ein schreckliches Gefühl der Verlorenheit erfüllte sie, und alles kam ihr verzerrt vor: Mathilda, Max, das Badezimmer.

„Bitte … versteh doch!“, flüsterte sie. „Bitte!“

Max’ Miene war versteinert. Sie ließ die Hände sinken und fing an zu weinen.

Benedikt van Cleef kurbelte das Fenster herunter. „Professor Kreiler?“

Kreiler beugte sich durchs offene Fenster und grüßte Mathilda, die auf dem Beifahrersitz saß.

„Könnte ich Sie für einen kurzen Moment unter vier Augen sprechen?“, fragte Kreiler.

„Jetzt? Meine Frau hat das Ganze ziemlich mitgenommen.“

„Mir geht es gut, Benedikt. Geh nur.“

Er tätschelte ihren Arm. „Bist du sicher?“

Mathilda warf einen müden Blick auf Kreiler, dann sagte sie: „Schon gut. Geh ruhig!“

Er stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen. „Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen, Professor“, sagte er und begleitete Kreiler zu seinem Fahrzeug.

„Ich habe eine Bitte an Sie“, begann Kreiler. „Ich möchte mit Ihnen über Annas Fall sprechen. Hätten Sie morgen Zeit, mich in der Klinik aufzusuchen? Für die Therapie muss ich mehr Details über das erfahren, was damals mit ihr geschehen ist.“

Van Cleef runzelte irritiert die Stirn. „Sie haben bereits vor Jahren alle Informationen erhalten, Professor.“

„Ich weiß, aber Anna bildet sich tatsächlich ein, dass Jakob noch lebt und sie bedroht. Was hat dieses Monster ihr angetan, dass er sich so in ihr manifestiert und sie Einbildung und Realität nicht mehr trennen kann? Manchmal glaubt sie ihre ermordete Schwester zu sein. Und … Na ja, den heutigen Abend muss ich wohl nicht kommentieren. Es wäre für meine Therapie wichtig, Genaueres zu erfahren. Die Informationen, die ich damals von Ihnen erhalten habe, sind zwar nützlich, aber ich glaube, Sie haben mir wesentliche Details vorenthalten.“

Van Cleef räusperte sich. „Ich werde es mir überlegen und Sie anrufen. So etwas muss genehmigt werden.“

Kreiler nickte und stieg wortlos in seinen Wagen.

Van Cleef schaute dem Fahrzeug nach, wie es das Grundstück der Gavaldos verließ. Dann stieg auch er ein.

„Alles in Ordnung, Mathi?“

„Ja. Ich habe mich wieder beruhigt, und es geht mir gut. Anna tut mir leid. Sie ist wirklich nicht ganz bei Sinnen. Kreiler muss etwas unternehmen. Also, Sherlock Holmes, befriedige meine Neugier!“

Er lachte und versuchte sie mit ein wenig Humor abzulenken. „Nur die?“

„Lustmolch. In acht Wochen kommen die Gebrüder Klitschko auf die Welt. Außerdem sehe ich, was los ist. Du traust Kreiler nicht.“

„Wie kommst du darauf?“

Sie überhörte seine Frage. „Was wollte er von dir?“

„Er möchte Anna helfen und bittet mich um Details über das, was vor sieben Jahren geschehen ist.“

„Aber, du bist doch schon mit ihm die Akten … Benedikt van Cleef, du hast ihm damals nicht alles gesagt!“

„Stimmt.“

„Und weshalb traust du ihm nicht?“

Er lächelte. „Ach je, ich habe eine kluge Frau geheiratet.“

Mathilda starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit. Es war eine kühle und windige Nacht. Über ihrem Fahrzeug rüttelte der böige Wind an den Ästen der Bäume. Sie schlugen den Weg Richtung Dachau ein.

„Du hast Kreiler jene Details vorenthalten, die du auch mir verschwiegen hast?“

Er antwortete nicht.

„Manchmal hasse ich deinen Beruf“, sagte sie nachdenklich.

Jörg Kreiler war sich sicher: Er hatte heute eine erstaunliche Erfahrung gemacht und für eine kurze Zeit selbst geglaubt, Katharina zu spüren – bis Anna wieder zu sich kam.

Er hatte einen Plan. Sein Vorhaben würde nicht nur Annas Leben verändern, sondern auch sein eigenes: Hypnose. Regression. Das war die richtige Lösung. Weshalb war ihm der Gedanke nicht schon viel früher gekommen?

Er könnte Annas Tränen für immer trocknen und aus ihr einen glücklichen Menschen machen, wie es ihre Schwester Katharina gewesen war. Doch damit sie unter Hypnose regredierte, brauchte er mehr Informationen. Dazu musste er wissen, was dieser Psychopath vor sieben Jahren mit ihr angestellt hatte. Anna selbst hatte ihn auf die Idee gebracht. Mit van Cleef würde er schon fertig.

In ihm würde Anna den Beschützer finden, der sich um sie kümmerte. Er würde sie ihrem grauen Alltag entziehen, ihr schmeicheln, sie liebkosen und ihr zuhören und mit ihr als Katharina in ihr ganz persönliches Reich abtauchen, das nur ihnen allein gehörte.

Anna … Katharina …

Es war so naheliegend, so einfach.

Kapitel 14

München

Benedikt van Cleef machte sich auf den Weg zur neurologischen Station des Kreiskrankenhauses Bogenhausen. Er fand, innerhalb eines Krankenhauses gab es keine zwei Disziplinen, die weniger miteinander gemein hatten als Neurologie und Pathologie. Und heute musste er beide aufsuchen.

In all den Jahren seiner Tätigkeit als Leiter der Mordkommission hatte er nur wenige Pathologen getroffen, die nicht nach demselben Muster gestrickt waren: verschlossene, vor sich hin murmelnde Typen, die sich mit totem Fleisch auf dem Seziertisch, den Abstrichen im Labor und im Kühlhausambiente der Leichenhalle im Souterrain wohler fühlten als mit lebenden, atmenden Patienten. Doch es gab auch eine Ausnahme: Veronika Granel. Trotz der täglichen Konfrontation mit dem Tod war sie eine einfühlsame Frau geblieben.

Er kannte die schlanke Pathologin mit dem graumelierten kurzen Haar seit vielen Jahren. Nach einer abendlichen Obduktion hatten sie gemeinsam in der Kneipe ein Bier getrunken, und seitdem nannten sie sich beim Vornamen. Er war angetan von der exzellenten Arbeit dieser attraktiven Frau und wusste, dass sie ihn ebenfalls schätzte. Von ihr hatte er vieles über die Gerichtsmedizin erfahren, was in einem Lehrgang der Polizei nicht vermittelt wurde.

Sie glaubte, dass alle Psychotherapeuten überaus zartbesaitete Naturen waren, die der Anblick von Blut abstieß. Und nun war er auf dem Weg zu einem von ihnen, Professor Jörg Kreiler. Auf ihn traf Veronikas These allerdings nicht zu. Er war ein hartgesottener Neurochirurg, in dessen Operationssaal das Blut der Kopfverletzungen traumatisierter Unfallopfer floss. Eine Menge Blut. Kreiler genoss allerdings ebenso einen hervorragenden Ruf als Psychiater.

Veronika Granel hatte heute Morgen angerufen und von einem Anruf Kreilers berichtet. Sie mochte ihn nicht besonders.

„Es ist etwas in seinen Augen … Ich kann es dir nicht erklären, Benedikt. Sei auf der Hut“, hatte sie gesagt.

Auch er fragte sich, welchen Grund Kreiler haben konnte, wegen einer Hypnose-Therapie eine Pathologin zurate zu ziehen? Weil eine teuflische Wendung des Schicksals Anna Gavaldo in eine gequälte, zerstreute Frau verwandelt hatte? Er mochte sie, allerdings war auch ihm aufgefallen, dass sie sich in letzter Zeit seltsam benahm. Und gestern Abend … Vielleicht konnte Kreiler ihr tatsächlich helfen.

Veronika glaubte allerdings nicht, dass er mit ihm nur medizinische Details erörtern wollte, sondern dass er etwas Genaues über die Art und Weise erfahren wollte, wie Annas Schwester gestorben war. Das Bild von Katharina – wie sie aufgefunden wurde – war ein übler Belag auf Kreilers Gehirn, das wusste Benedikt. Aber half es ihm herauszufinden, was in der Hypnose real und was eine Fiktion war? Er hatte Max und Anna nie gestattet, den Polizeibericht über Katharinas Folter und Tod zu lesen, ebenso wenig hatte er ihnen damals Einblick in Annas Akte gewährt. Als Anna Wochen später sein Büro betreten hatte, um sich für ihre Rettung persönlich bei ihm zu bedanken, hatte er die Kommentare seiner Kollegen mitbekommen: So eine schöne Frau in den Händen des Psychopathen, der vorher ihre Schwester umgebracht hatte! Schaut euch diese Augen an, dieses lange blonde Haar und diesen Körper!

Anna Gavaldo war damals achtzehn gewesen, klein, zart, temperamentvoll, redselig, blond, eine blauäugige Elfe – bis Nicolas Giacomo Corelli ihr zauberhaftes Wesen zerstört hatte.

Er betrachtete das Schild an der Eingangstür der neurologischen Station 3 D: Die ihr hier eintretet, lasst alle Vernunft fahren. Nur dann bist du die Quelle des Trostes.

Als er ins Sekretariat ging und an das Pult trat, blickte Kreilers Mitarbeiterin auf.

„Sie sind bestimmt Kommissar van Cleef“, flötete sie und richtete den Blick auf die Karte, die er ihr reichte.

Er nickte.

„Professor Kreiler erwartet Sie bereits.“ Sie drückte den Knopf der Sprechanlage. „Kommissar van Cleef ist da.“

„Er möchte hereinkommen, Biggi.“

Sie zeigte auf die holzvertäfelte Tür. „Bitte, Herr Kommissar“, hauchte sie und rollte mit den Augen.

Wow! Bitte, Herr Kommissar! Was drei Worte und ein vielversprechender Augenaufschlag bewirken konnten! Er lächelte sie im Vorbeigehen an.

Drinnen reichte Jörg Kreiler ihm jovial die Hand. „Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Herr Kommissar.“

Van Cleef nickte. „Die Worte, draußen auf der Tafel … interessant. Sie werden nichts dagegen haben, wenn ich mich von Berufs wegen nicht daran halte.“

Kreiler warf ihm ein abwartendes Lächeln zu.

„Welche Patienten behandeln Sie hier eigentlich, Professor?“

„Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium, arthrosklerotische Senilität, eine Gruppe von Demenzen oder einfacher gesagt, nicht diagnostizierte Verwesung der Seele.“

Van Cleef schmunzelte wider Willen.

„Wir Neurologen nennen es auch den Gemüsegarten“, schob Kreiler nach.

Wirklich feinfühliger Haufen, diese Neurologen, dachte van Cleef.

„Mit anderen Worten: Wir versorgen leere Augen, schlaffe Münder und vollgesabberte Kinne. Fröhlich, immer fröhlich. Die Schwestern nennen die Patienten ‚Schatz’ und ‚Süße’ oder ‚mein Hübscher’. Das oberste Gebot lautet: Redet mit denen, die nie antworten.“

„Ja, ich weiß. Meine Mutter starb vor Jahren an den Folgen von Alzheimer“, sagte van Cleef leise.

„Das tut mir leid. Unglücklicherweise sind wir heute immer noch machtlos gegen diesen Zerfall der Hirnmasse. Vielleicht können wir in einigen Jahren hoffen –“

„Ja, vielleicht“, unterbrach ihn van Cleef. „Sie haben sich mit einer ungewöhnlichen Bitte an mich gewandt, Professor. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie Akteneinsicht, um Frau Gavaldo zu helfen?“

„Richtig. Ich werde sie hypnotisieren. Während der Sitzung werde ich mit Hilfe von gezielten Suggestionen und Trance-Szenarien und Symbolen ihre Einstellungen, ihr Erleben und ihr Verhalten, was die traumatischen Geschehnisse betrifft, umlenken. Deswegen sollte ich erfahren, was damals mit ihr geschehen ist.“

„Ich verstehe. Sie versetzen sie in diesen, äh, Trance-Zustand und erfahren, ob eine gewisse, äh, Persönlichkeitsspaltung vorliegt.“

Kreiler nickte.

„Aber was geschieht, wenn sie Dinge sieht, die sie gar nicht sehen will?“

„Dann wird die Trance behutsam und gründlich zurückgenommen, und Frau Gavaldos Wahrnehmung wird wieder von innen nach außen gelenkt“, antwortete Kreiler.

„Und wie lange dauert so was?“

„In der Regel nur einige Minuten.“

„Sind Sie sicher, dass Sie das Richtige tun? Wird es ihr nicht schaden? Ich meine, sie hat genug durchgemacht. Und diese Akte … Es sind gebündelte Grausamkeiten.“

„Ich kann Sie beruhigen. Im Rahmen meiner ärztlichen Schweigepflicht darf ich Ihnen keine Details über Frau Gavaldos Gesundheits- und Gemütszustand nennen. Aber so viel kann ich Ihnen sagen: Ihr geht es nicht besonders gut. Ich halte die Hypnose für unabdingbar. Wenn ein Therapeut erfahren genug ist und flexibel vorgeht, sprechen die meisten Patienten gut auf Hypnosetechniken an. Und …“ Kreiler blinzelte ihm direkt ins Gesicht, und er musste unwillkürlich an eine Schlange mit spiralförmig sprühenden Augen denken, „… Herr van Cleef, ich bin eine Kapazität auf diesem Gebiet.“

Benedikt wurde es zu bunt. „Sie hätten genauso gut sagen können, dass Sie über gottähnliche Fähigkeiten verfügen“, bemerkte er sarkastisch.

Kreiler musterte ihn kalt. „Gottähnliche Fähigkeiten?“

Van Cleef hielt seinem Blick stand.

„Damit Sie nur einen vagen Hinweis darauf bekommen, Herr Kommissar, wie talentiert jemand sein muss, um ein neurochirurgisches Team zu leiten: Ich bin Facharzt für Neurologie, Psychiatrie, Neurochirurgie und Unfallmedizin. Ich ein ausgebildeter Psychoanalytiker und Psychotherapeut. Ich wurde belobigt von fünf Gesundheitsbehörden in Europa. Also frage ich Sie: Wenn ein Mann in die Kirche geht und auf die Knie fällt und zu Gott betet, dass seine hochschwangere Frau aufgrund eines Autounfalls ihre Babys nicht verliert oder kein akutes Gehirntrauma wegen des postoperativen Schocks davonträgt, was glauben Sie, wen er da anfleht?“

Van Cleef wurde kreidebleich. Er verstand die indirekte Anspielung auf Mathildas Schwangerschaft.

„Also, nur zu, Herr Kommissar! Gehen Sie in die Kirche, zünden Sie eine Kerze an, und mit ein bisschen Glück wird alles gut. Aber wenn Sie dort auf der Suche nach Gott sind, dann war er gerade im Operationssaal Nummer vier. Und er mag es gar nicht, kritisiert zu werden. Sie fragen mich, ob ich gottähnliche Fähigkeiten habe? Ich werde Ihnen etwas sagen: Dort bin ich tatsächlich Gott!“

Meine Güte, diese Weißkitteleitelkeit, dachte Benedikt. Wenn sie in der Mordkommission auch so übertrieben auf ihre Ehre bedacht wären, wären sie wahrscheinlich mehr mit ihren Profilneurosen als mit dem Lösen der Fälle beschäftigt. Wie kam er eigentlich darauf, den Doktor mit einer Schlange zu vergleichen? Weil diese skulpturale Wandleuchte hinter Kreilers Rücken ihn mit ihren vier Farbfeldern in einen seltsamen Zustand versetzte?

„Schon gut“, sagte er, wohlwissend, dass er einen empfindlichen Nerv getroffen hatte. „Ich habe die Akte dabei, kann sie Ihnen aber nicht dalassen. Daher mache ich Ihnen einen Vorschlag. Ich habe noch einen Termin in der Pathologie. Ich wäre in etwa einer Stunde wieder bei Ihnen. Werfen Sie in der Zeit einen Blick hinein. Offene Fragen könnte ich danach mit Ihnen erörtern. Ich muss aber eines klarstellen, Professor Kreiler: Ich stimme nur zu, weil ich bemerkt habe, dass Frau Gavaldo tatsächlich etwas … verwirrt scheint und …“

Kreiler unterbrach ihn. „Vielleicht noch eines zu Ihrer Information, Herr van Cleef. Der Hypnosezustand ist keineswegs etwas Unnatürliches, das nur künstlich herbeigeführt werden kann. Jeder von uns ist sogar recht oft in Hypnose, zum Beispiel jeden Morgen, wenn man sich verschlafen aus dem Bett rollt. Wir befinden uns dann in einem Zustand zwischen Wachbewusstsein und Schlaf. Das Gehirn sendet in diesem Bereich sogenannte Alphawellen aus. Dies ist genau der Zustand, der normalerweise auch unter Hypnose erreicht wird. Im Bereich der Delta- und Thetawellen befinden wir uns im natürlichen Schlaf oder bei sehr geringer Frequenz im Koma. Dieser Bereich kann durch Hypnose nur in sehr seltenen Fällen erreicht werden, da dazu ein extremes Stadium der Tiefenhypnose notwendig ist.“

Van Cleef seufzte.

Kreiler beugte sich ein wenig zu ihm vor. „Vielleicht so viel: Frau Gavaldo kam gestern in meine Praxis und glaubte, ihren Peiniger Jakob gesehen zu haben.“

„Okay, okay, Sie haben mich überzeugt.“ Van Cleef sah sich um, zog einen Stuhl vor Kreilers monströsen Schreibtisch und setzte sich. „Vielleicht sollte ich Ihnen etwas über den Mörder Corelli erzählen“, fragte er versöhnlich.

„Entschuldigung, Herr van Cleef, aber ich möchte mir erst mal ein völlig eigenes, unbefangenes Bild machen. Ich hätte daher gern vorher die Akte studiert.“

Du überheblicher Neuronenklempner, dachte Benedikt. Wenn mir Annas Wohl nicht so wichtig wäre, würde ich dir einen ordentlichen Tritt verpassen.

„Wie Sie meinen“, antwortete er gedehnt. „Ich will keineswegs Ihrem kompetenten Urteil vorgreifen.“

Er ruckte geräuschvoll mit dem Stuhl nach hinten und erhob sich. Gedankenverloren starrte er einen Moment auf die auffällige Wandleuchte.

Kreiler hob die Augenbrauen. „Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?“

„Nein, nein“, sagte van Cleef, „es ist Ihre Wandleuchte. Sie hat ein erstaunlich beruhigendes Licht.“

„Es ist eine Spezialanfertigung. Das Licht unterstützt die Hypnosetherapie.“

„Ja, Professor. Alles ist irgendwie programmierbar in Ihrem Metier, besonders der Mensch. Wir sehen uns“, sagte er und warf beim Hinausgehen Kreilers Mitarbeiterin eine flüchtige Grußhand hin, bevor er sich zu Veronika Granel aufmachte.

Als er über den Flur zum Treppenhaus lief, wurde er das Gefühl nicht los, Anna soeben verraten zu haben. Das Gespräch hatte einen faden Beigeschmack hinterlassen. Im Treppenhaus blieb er vor dem Fahrstuhl stehen. Warum traute er Kreiler nicht über den Weg? Weil der Psychiater ihn an eine zischend säuselnde Schlange erinnerte, die ihre Opfer mit rotierenden Pupillen hypnotisierte und sich anschließend einverleibte? Und dann dieses Licht. Ein sinnliches Rot, ein beruhigendes Blau, ein stärkendes Orange. Die mystische Kraft der sprudelnden Farben übertrug sich auf den Betrachter. Eine Schlange greift nur an, wenn sie in Gefahr ist, dachte er.

Mit einem dumpfen Brummen öffnete sich die Fahrstuhltür. Sein Gefühl täuschte ihn eigentlich nie. Auch Kreiler hatte sich während ihres Gesprächs unwohl gefühlt.

Ihm fiel der Kinofilm mit Antonio Banderas ein, den er sich neulich mit Mathi angesehen hatte: Als Orpheus seine Frau aus der Unterwelt zurückbrachte, aus der Hölle, sagte man ihm, er dürfe nicht zu ihr zurückblicken, ganz gleich, was geschehe, doch schließlich konnte er dem Klang der Stimme nicht widerstehen, die seinen Namen rief, so wandte er sich um und verlor sie für immer.

Weg hier!, dachte er, betrat den Fahrstuhl und drückte energisch den Knopf für das Erdgeschoss, wo sich die Pathologie befand.

Kapitel 15

München

Das Sprechzimmer war dem Wartezimmer und dem Sekretariat sehr ähnlich, nur mit indirekter Beleuchtung und schweren Vorhängen vor den Fenstern. Neutrale Farben dominierten. Die Wände waren in einem satten Cremeton gehalten, die Möbel bezogen mit beigefarbenem Leinen. An den Wänden hingen zarte Landschaftsaquarelle und eine eingerahmte Promotionsurkunde sowie einige internationale Auszeichnungen – und die speziell angefertigte Lichtinsel mit ihren funkelnden Farben.

Durch die Sprechanlage erklang die Stimme seiner Assistentin: „Professor Kreiler, die Station hat angerufen. Anna Gavaldo ist auf dem Weg nach oben. Sie haben noch ein bisschen Zeit.“

„Danke, Biggi.“

Er überlegte, wie Anna wohl nach der heutigen Sitzung auf ihn reagieren würde. Er musste es schaffen. Notfalls würde er Bobby, sein zweites Ich, zurate ziehen. Gedankenverloren schaute er aus dem Fenster seines Sprechzimmers.

Plötzlich hörte er ein zartes Klopfen an der Tür und gewahrte einen Hauch ihres Parfüms. „Du darfst ruhig reinkommen, Anna.“

„Hallo, Jörg.“

Er drehte sich um. Ihr Anblick überwältigte ihn. Sie wirkte so zart, so verletzlich.

„Du siehst toll aus“, sagte er, als sie die Tür hinter sich schloss. „Braungebrannt und kerngesund.“

Er tat, als begegnete er Anna heute zum ersten Mal nach dem Urlaub, und erwähnte mit keinem Wort den gestrigen Vorfall.

„Was man von dir nicht gerade behaupten kann. Du solltest mehr vor die Tür gehen. Du bist bleich wie ein Gespenst“, sagte sie.

Sie sieht toll aus, dachte er. Wie Katharina damals nach unserem ersten gemeinsamen Urlaub.

„Du scheinst dich über irgendetwas zu wundern“, bemerkte er.

Anna sah sich um. „Nein, es ist nur … ich dachte, es wäre …“

„Ja …?“

„Kälter.“

Er runzelte die Stirn. „Kälter?“

„Ja, ich dachte das Sprechzimmer in einer Klinik wäre kälter.“

„Oh, ich verstehe. Das Zimmer. Du bist ja heute das erste Mal hier.“

„Es ist viel gemütlicher, als ich es mir vorgestellt hatte.“

Kreiler lächelte. „Danke. Es erfüllt seinen Zweck.“

Sie schaute auf das schwarz-weiß getupfte Stofftier. Der Teddybär lehnte an der Schreibtischlampe und musterte sie mit seinen dunklen Augen.

„Hat er einen Namen?“

Kreiler zuckte mit den Schultern. „Ich nenne ihn Bobby. Er steht mir zur Seite, wenn ich meine kleinen Patienten therapiere. Kinder fühlen sich wohler, wenn sie ein Kuscheltier in ihrer Nähe wissen. Sie glauben, es könne sie beschützen, wenn es brenzlig wird.“

Anna nickte. „Du benutzt ein Stofftier, um ihr Vertrauen zu gewinnen? Finde ich gut. Interessant. Darf ich mich setzen?“

Sie ist nervös. „Nur zu.“

Anna setzte sich und schlug ihre Beine übereinander. „Ich habe mich doch nicht auf deinen Platz ge…“

Doch! Hast du. In Kreilers Kopf gab die Stimme seines Freundes Bobby Murmellaute von sich. Sei still, Bobby. Ich bin dran, befahl Kreiler seiner inneren Stimme.

„Nein, es ist alles in Ordnung. Du sitzt auf dem Stuhl des Glücks.“

Sie lächelte verwirrt. „Stuhl des Glücks?“

„Weißt du, warum du hier bist, Anna?“

„Was soll das, Jörg? Ich bin nicht verrückt, und ich habe den Grund der Einweisung ganz sicher nicht vergessen. Einen Teil meiner Vergangenheit schon, aber das hier nicht!“

Er lachte. „Sehr gut. Du reagierst so, wie ich es erwartet habe. Dann können wir also anfangen?“

Noch immer klang ihre Stimme verärgert. „Ja!“

„Mit Unterstützung von Hypnose und suggestiver Regression wirst du, wie ich hoffe, die Vorfälle der vergangenen Jahre noch einmal durchleben, was natürlich sehr hilfreich für deine Genesung wäre.“

„Damit können wir dann die Dämonen vertreiben?“, fragte sie.

Ja, aber danach wirst du mein Mädchen sein.

Nein, Bobby, mein Mädchen, nicht dein Mädchen!

„Wir werden sehen, Anna“, antwortete Kreiler. „Ich denke schon. Nein, ich bin mir absolut sicher, dass wir es schaffen werden. Die Sitzungen werden auf Video aufgezeichnet, damit du sie dir später ansehen kannst, falls du das wünschst. Würdest du dich jetzt bitte hinlegen.“

Sie nickte.

„Mach es dir bequem“, sagte Kreiler und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. „Ich werfe nur noch rasch einen Blick in meine Notizen, dann können wir das Band und die Kamera starten.“

Anna streifte sich die Schuhe ab und sank auf die Couch. „Müssen wir denn unbedingt ein Band mitlaufen lassen?“

„Allerdings. Das müssen wir. Wirklich. Das ist übrigens nicht meine Idee. Die Versicherungsgesellschaft für die Arzthaftpflicht verlangt das.“

„Ich habe nicht vor, dich zu verklagen, Jörg.“

Er lachte. „Ja, ja. Das sagen sie alle.“

Er deckte sie mit einer Wolldecke zu, dann richtete er die Digitalkamera auf sie und schaltete die Wandleuchte ein. Sofort wurde der Raum von zarten Farben überflutet. Das Rot vermischte sich dem Blau und dem Orangeton.

„Das Licht ist schön“, sagte sie. „So beruhigend.“

„Es hilft bei der Hypnosetherapie. Mit Hypnose bezeichnet man den Zustand, in welchem der Betreffende außergewöhnlich empfänglich für Suggestionen ist. Hast du Angst?“

Anna nickte.

„Wovor denn?“

„Dass ich eine Frage falsch verstehe.“

„Das geschieht nur, wenn du eine Frage falsch verstehen möchtest.“

„Ich habe Angst vor dem, was ich sehen könnte.“

„Das verstehe ich. Aber ich werde dich schützen.“

„Bitte, Jörg“, sagte sie flehend.

„Nach allem, was du mir gesagt hast, kannst du dich nicht mehr daran erinnern, was vor sieben Jahren geschehen ist.“

„Ich … ich habe Lücken.“

Und ich habe Sehnsucht nach dir, nach deinem Körper, nach …

Verdammt noch mal, Bobby, du störst die Sitzung!

„Ich möchte dich darauf hinweisen, dass manche Patienten wesentlich intensivere Sinneswahrnehmungen haben als andere. Es kann dir also so vorkommen, als würdest du dich in der Vergangenheit befinden. Alles, was du siehst, hörst, fühlst, sogar das, was du riechst, könnte dir absolut real erscheinen.“

„Ich verstehe. Genau das ist es …“

„Sorge dich nicht. Ich werde auf dich aufpassen.“

„Ja.“ Sie klang wie ein verängstigter kleiner Vogel.

„Du beschreibst mir alles, was du erlebst, und die Kamera wird das Ganze aufnehmen.“

„Glaubst du, dass ich es schaffe?“, fragte sie ängstlich.

Ich werde es schaffen!

Kreiler antwortete nicht und schaltete das integrierte Aufnahmegerät ein.

„Heute ist Freitag, der 20. Oktober 2006. Aufzeichnung der ersten Sitzung mit Anna Gavaldo. Diese Aufzeichnung wird mit ihrem Einverständnis gemacht. Anna, würdest du …?“

„Entschuldige. Wenn du mit mir redest, möchte ich dir in die Augen schauen.“

Er sah auf sie herab und erblickte die Farbe eines strahlend blauen Himmels, das Meer und seine Brandung, und er spürte gleichzeitig eine taube Verzückung, die wie ein Messer durch sein Inneres glitt. Wie lange werde ich mich in der Gewalt haben?

„Anna, bitte deinen vollständigen Namen für die Aufzeichnung.“

Anna nannte ihren Namen.

„Das Ziel unserer heutigen Sitzung ist die Rückführung. Wir versuchen, dich zu dem Abend zurückzuführen, an dem du überfallen wurdest. Um das zu erreichen, werden wir anfangs ein wenig miteinander plaudern, damit du dich besser entspannen kannst.“ Er lächelte. „Also, was gab es heute Morgen zum Frühstück?“

„Es gab Müsli mit Honig.“

„Was hast du getrunken?“

„Kaffee mit Milch, ohne Zucker.“

„Anna, kannst du mir sagen, wie spät es ist?“

Sie schaute auf ihre Armbanduhr. „Es ist elf Uhr.“

„Und welchen Tag haben wir heute?“

„Freitag, den 20. Oktober 2006.“

„Sehr gut. Wann hast du deinen Mann Max zum ersten Mal getroffen?“

Annas Gesichtszüge entspannten sich mit einem Mal. „Im Convento di Carmo.“

Ich werde dir diesen Kerl schon austreiben!

Bobby! Sei still!

„Und wann war das?“

„Bitte?“

„Wann war das?“

„Damals war ich vierzehn Jahre.“

Kreiler spürte den stechenden Schmerz der Eifersucht in seiner Brust. „Und deine Ehe mit Max?“

„Ja, was soll ich da sagen? Wir sind seit sechs Jahren verheiratet, und ich kriege noch immer Herzklopfen, wenn ich seine Stimme am Telefon höre.“

Soll ich ihn für dich umbringen?, wollte Bobby wissen.

Reiß dich zusammen. O Gott!, dachte Kreiler.

Du entwickelst dich zum Jammerlappen, Jörg.

„Lehn dich zurück, Anna. Entspann dich und konzentriere dich auf meine Stimme. Also, ich möchte, dass du jetzt tief einatmest und dann die Luft herauslässt. Und wenn du dann wieder einatmest, dann möchte ich, dass du dir Folgendes vorstellst. Die Luft wirbelt rund um deine Lunge, und dann strömt sie davon, und wenn sich die Lunge erneut mit Luft füllt, dann möchte ich, dass du dir vorstellst, dass all die Spannungen, die in dir sind, herausgezogen werden. Sie sind wie Rauch, der in dir herumwirbelt, und du bläst ihn raus wie einen tiefen Seufzer. Und all deine Ängste und Sorgen entweichen in einer dichten Wolke aus schwarzem Rauch. Siehst du, wie der Rauch langsam von dir wegschwebt? Spürst du die sanfte Meeresbrise, die dich umgibt?“

Wenig später hatte er sie in leichte Trance versetzt. Sie lag entspannt auf dem Rücken, mit schlaffen Gliedmaßen, geschlossenen Augen und ausdrucksloser Miene.

„Welches Datum haben wir heute?“

„Dienstag, den 11. Oktober 2005.“

„Bist du dir sicher? Siehst du, wie der Wind mit dem Kalenderblatt spielt? Dein Finger gleitet über den Kalender, die Zeit bewegt sich rückwärts, weiter und weiter. Während der Wind die Zeit rückwärtslaufen lässt, gehen auch wir, was das Datum betrifft, rückwärts. Wir gehen immer weiter zurück. Was für ein Tag ist jetzt?“

„Montag, der 8. Oktober 2001 …“

„Wir gehen weiter zurück, weiter, immer weiter. Du bist auf einem weichen Pfad neben einem kühlen Bach und bleibst ein Weilchen stehen, um dem Wasser zu lauschen. Du fühlst dich frei und entspannst dich. Du gehst weiter, ganz langsam. Du siehst ein Blatt, das wie ein Schiffchen auf dem Wasser treibt, und verfolgst mit den Augen, wie es mit der Strömung segelt. Das Blatt begleitet dich. Bei jedem Schritt lässt du mehr los, und bei jedem Schritt, den du den Pfad entlanggehst, fühlst du dich wohl und sicher, du bist ruhig und gelassen, in Geist, Körper und Seele.“

Anna runzelte die Stirn, als Kreiler sie von dem Bach wegführte, und verzog leicht das Gesicht.

„Du kommst zu einer zartgrünen Sommerwiese mit Blumen, du riechst den Duft der Blumen, es ist warm, die Sonne scheint, der Himmel ist blau, du spürst eine leichte Brise auf den Wangen und gehst auf einen Wald zu und siehst einen Weg, der durch den Wald führt.“

Ihre Brust hob und senkte sich. „Und wieder läuft die Zeit zurück, weiter und weiter in die Vergangenheit. Immer weiter … weiter. Welches Datum haben wir heute?“

„Freitag, den 27. Oktober 1995. Heute wurde Katharina beerdigt. Sie hat mich im Stich gelassen.“ Anna begann zu weinen. „Sie wurde ermordet.“

„Bist du sicher?“, fragte er.

Plötzlich stand sie auf dem Friedhof, wo sie Katharina am späten Nachmittag begruben. Die Trauernden am Sarg und der Priester warfen in der winterlich anmutenden Sonne lange Schatten. Wenn der Wind sich zwischendurch beruhigt hatte, hörte man unten auf der Straße gelegentlich einen Wagen vorbeifahren. Es war schnell vorüber. Nachdem der Priester den Sarg und die Trauergäste gesegnet hatte, defilierten die Leute aus dem Dorf vorbei; einige legten Blumen auf den Sarg. Severin, Katharinas Jugendliebe, der schon seit fast drei Jahren in Boston lebte, machte einen verstörten Eindruck. Er blieb am Grab stehen, bis der Letzte gegangen war. Anna wusste, wie ihm zumute war. Sie sah, wie er die Augen zu Boden schlug, und später, als alle fortgegangen waren, sah sie ihn weinen.

Dann bemerkte sie einen Schatten, der mit versteinerter Miene zwischen der trauernden Gemeinde stand und sie beobachtete, ein Schatten, der sich verschob und sich auf die Trauergemeinde senkte, die wie hinter dunklem Milchglas verschwand. Ein Mann hob sich in überirdischer Deutlichkeit aus dem Schatten heraus, dass sie selbst seine Gedanken lesen konnte. Sie hörte sein Flüstern.

„Warum verzweifelst du, Anna, wenn der Tod das Tor zu Freude und Herrlichkeit ist?“

„… ist es Katharina, die in dem Grab liegt?“, fragte Kreiler vorsichtig.

Sie bewegte sich unbehaglich auf der Couch und nickte. „Ich glaube, ja. Ich bin mir aber nicht sicher.“

Er sah jetzt, dass sich ihre Abwehr in einer Mischung aus Furcht und Elend verlor.

„Was siehst du, Anna?“

Sie schilderte unter seiner Anleitung ihre Empfindungen. „Ich schaue mich noch einmal zu Katharinas Grab um, an dem Severin steht. Aber …“

„Anna, sieh genau hin. Wer liegt in dem Sarg?“ Kreiler saß vorgebeugt in einem Ohrensessel, etwa anderthalb Meter entfernt, und staunte über die Veränderung in ihrem Gesicht, wie Trauer einem Ausdruck argwöhnischer Furcht und Entsetzen wich.

Anna wollte nicht hinschauen, sie wollte nicht hinuntersehen, dort, wo ihre Schwester lag, die sie immer beschützt hatte. Was sollte aus ihr werden? Wer beschützte sie jetzt außer ihre Großeltern? Katharina war so stark, sie war unersetzlich für sie.

Anna hielt die Hand ihrer Großmutter fest umklammert. Sie wollte nicht neben ihrer Mutter stehen. Sie verabscheute diese zur Schau gestellte Beherrschung, wie auch Katharina sie verabscheut hatte.

Ein merkwürdiger Impuls erfasste sie, ein Sog, der von Katharinas Grab auszugehen schien und sie zwang, ihre Starre zu lösen. Gleichzeitig überfiel sie die Angst, dass sie sich zu ihrer Schwester ins Grab stürzen könnte. Sie wollte nicht ohne sie leben.

Ein flüchtiger Blick auf das Grab, und plötzlich war es nicht Katharina, die in dem Sarg lag, sondern sie selbst – auf roten Samt gebettet.

„Wer steht am Grab? Was siehst du?“

„Meine Mutter … Sie steht vor einem Grabstein.“

„Und weiter?“

„Auf dem Grab liegt ein Blumengebinde aus Schleierkraut und Lilien.“

Katharina konnte Lilien nicht ausstehen.

Bobby! Bitte!, ermahnte Kreiler seine innere Stimme

Annas Miene verfinsterte sich. Sie rollte sich auf die Seite.

„Anna?“, flüsterte er.

„Nein! Ich kann nicht!“

Das ist … das ist Katharinas Stimme!

Verdammt! Halt endlich deine Klappe und verschwinde.

„Was steht auf dem Grabstein?“

„Ich kann es nicht sehen. Meine Mutter steht davor, mit meiner Schwester.“

Schwester?

„Deine Mutter verlässt jetzt den Friedhof. Kannst du sehen, was auf dem Grabstein steht?“

Anna gab einen klagenden Ton von sich und drehte das Gesicht in die Kissen.

„Sieh nicht weg, Anna.“

Sie blickte hoch, ihre Augen wurden groß. „Anna Wendel. Mein Name steht auf dem Grabstein ...“ Dann versagte ihre Stimme. Ihr Unbehagen war jetzt greifbar, und er befürchtete, dass es in Hysterie übergehen könnte. Außerdem durfte er am Anfang nicht zu weit gehen.

Mit leiser Stimme führte er sie langsam aus der Trance heraus und ging den Weg zurück, den sie durch die imaginäre Landschaft gekommen war. Die Wiese. Der Wald. Der Bach.

„Atme tief durch“, wies er sie an. „Die Luft ist köstlich. So süß und frisch und kühl.“

Ihre Brust hob und senkte sich langsam und gleichmäßig.

„Wenn ich bis fünf zähle, wirst du aufwachen und dich entspannt und erfrischt fühlen, okay?“ Ohne auf ihre Antwort zu warten, begann er zu zählen. „Eins … zwei … drei …“

Annas Lider zuckten, dann öffneten sie sich langsam und zeigten ihm zwei dunkle, geweitete Pupillen, die sich im Licht zusammenzogen.

Kreiler reichte ihr ein Kleenex.

Anna blinzelte hektisch ins Licht, dann hob sie schwungvoll die Füße von der Couch und kam hoch. Ihr Gesicht war gerötet, doch ihre Augen waren glänzend und hell.

„Du hast sehr gut mitgemacht. Ich bin stolz auf dich!“

Sie räusperte sich. „Ich verstehe das alles nicht, Jörg. Das war nicht so!“

„Sag mir, was du denkst.“

„Ich denke, dass das alles verrückt ist.“

Sie hat recht, Jörg.

Sie seufzte. „Warum soll ich mich an Sachen erinnern, die niemals passiert sind?“

„Siehst du, es ist unmöglich, eine Erinnerung zu wecken, ohne gewissermaßen auch die Emotion zu wecken, die mit dieser Erinnerung verbunden ist. Das emotionale Beiwerk kann manchmal so schmerzlich sein, so erschreckend, dass das Gehirn eine Erinnerung vollständig löscht.“

Du Lügner!, kreischte Bobby.

„Nein“, sagte sie erregt. „Es ist alles doch noch da, so frisch, so vollständig. Katharinas Beerdigung, ich war doch da!“

„Das ist mir durchaus klar. Aber damit die Wunschvorstellung weiterbestehen konnte, hast du meiner Meinung nach angenehmere Erinnerungen erfunden, die nun die tatsächlichen Erlebnisse überlagern.“

„Welche Wunschvorstellung?“

„Du wolltest auch tot sein, weil du glaubtest, ohne Katharina nicht weiterleben zu können. Deshalb hast du dich in dem Grab liegen sehen.“

„Es ist trotzdem nicht so passiert! Nein!“

„Wenn du das sagst.“

„Das sage ich nicht nur so, das war auch so!“

„Wie können wir so etwas mit Sicherheit jemals wissen?“

„Wir können es! Du weißt es, ich weiß es. Was redest du da?“

Reg dich ab, Liebes.

„Aber wieso erinnerst du dich denn dann so präzise an Dinge, die niemals passiert sind?“

Sie sah ihn völlig verblüfft an.

„Sieh mal, Anna, du hast deiner Schwester schon immer sehr nahegestanden, und du wolltest ihr auch im Tod nahe sein, damit sie sich im Grab nicht allein fühlt. So geht es vielen, die um einen geliebten Menschen trauern. Und du warst damals noch ein Kind. Das, was du siehst, ist normal.“

„Nein! Nein, ich möchte meine Erinnerungen so behalten, wie sie sind.“

Er seufzte. „Ich glaube, es reicht für heute. Versuche, dich abzulenken. Lies ein Buch oder sieh ein bisschen fern. Grüble nicht zu viel. Alles wird gut!“

Sie lächelte gequält. „Versprichst du mir das?“

„Ja.“

Aber ich nicht!, flüsterte Bobby.

Kreiler schaltete das Tonbandgerät ein und dachte kurz nach. Dann drückte er die Aufnahmetaste und diktierte: „Allmählich beginnt Katharina in Anna zu hypostasieren. Sie hindert ihre Schwester daran, sich mit dem emotionalen und physischen Trauma auseinanderzusetzen. Ich benutze für meine Therapie eine Methode, die im diagnostischen und statistischen Handbuch der Geisteskrankheiten, herausgegeben von der Amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie, beschrieben wurde. Dort heißt es: Das wesentliche Merkmal ist die Existenz zweier unscheinbarer Persönlichkeiten innerhalb des Individuums. Jede Persönlichkeit ist eine voll ausgebildete und komplexe Einheit mit eigenen Erinnerungen, Verhaltensmustern und sozialen Bezügen, die die Handlungen des Individuums bestimmen, wenn diese Persönlichkeit dominiert. Der Übergang von einer Persönlichkeit zur anderen geschieht plötzlich, oft verbunden mit emotionalem Stress … Normalerweise hat die originäre Persönlichkeit weder Kenntnis noch ein Bewusstsein davon, dass die andere Persönlichkeit existiert … Wie es auch bei Anna der Fall ist. Zum zweiten Mal kam Katharina als Person – wenn auch nur zögerlich – an die Oberfläche. Für die Therapie, doch besonders für mich, ist dies ein erster Erfolg.“

Er schaltete das Gerät aus. Anna hatte im Raum einen zarten Jasminduft hinterlassen, den er gierig aufsog. Er spürte die Hitze zwischen seinen Lenden. Er hatte in den vergangenen Jahren immer nur von Katharina geträumt, doch jetzt war er Feuer und Flamme für Anna, wollte sich hinter sie knien und ihren Hintern mit seinen Händen umschließen, ihre kühne Festigkeit fühlen, ihre Wärme, während er die Pobacken auseinanderdrückte. Er wollte mit seiner Zunge ihre süße Wärme kosten und eng umschlungen jeden ihrer Düfte einatmen. Anna wurde seiner geliebten Katharina immer ähnlicher, durch Anna lebte sie weiter. Er spürte, wie sein Glied hart und steif wurde. Seine Hand glitt nach unten. Er öffnete den Reißverschluss seiner Hose, nahm seinen Penis heraus und masturbierte heftig. Er kam gewaltig, schrie Katharinas Namen und war glücklich.

Während er zu den Papiertüchern griff, wusste er, dass in ihm ein Sturm tobte, ein Sturm unbegrenzter Möglichkeiten, keine davon besonders freundlich und jede mit unabsehbaren Folgen.

Er betrachtete sich selbst gern als attraktiv und glaubte, dass er es wert war, von Anna geliebt und erlöst zu werden, doch ihre Worte bewirkten manchmal genau das Gegenteil, besonders dann, wenn sie von Max und Lisa, ihrer Tochter, sprach. Immer dann war sein Schutzwall angeknackst, und er stand vor einem Abgrund, wo sich feine Risse auftaten, die sich allmählich zu größeren Klüften verbreiterten, um dann zusammenzuwachsen zu einem gähnenden schwarzen Loch, das ihn verschluckte und voller Trauer wiedergebar.

Doch jetzt kannte er die Lösung des Problems.

Starnberg
„Anna macht Fortschritte, Max“, sagte Kreiler mit ruhiger Stimme. „In der ersten Sitzung hat sie mir von der Beerdigung ihrer Schwester erzählt. Sie glaubte, selbst in dem Grab zu liegen.“

Er hörte, wie Max am anderen Ende der Leitung den Atem anhielt. „Das ist ein gutes Zeichen. Glaub mir. Damit assoziiert sie den Wunsch, ihrer Schwester nahe zu sein. Anna wollte damals ebenfalls sterben, weil Katharina sie verlassen hatte. Der Mord spielt also hier eine sekundäre Rolle. Ich konnte sie beruhigen.“

„Wann kann ich sie besuchen?“

„Frühestens in drei bis vier Tagen. Sie soll sich vollkommen auf die Therapie konzentrieren. Vertrau mir, Max.“

„Mir bleibt wohl nichts anderes übrig.“

Kreiler ignorierte die Bemerkung. „Hast du einen gehoben?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739482545
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Mord Rache Psychothriller Thriller Entführung Verbrechen Angst Trauma Killer Vergangenheit Krimi Noir Spannung

Autor

  • Astrid Korten (Autor:in)

Das Spezialgebiet der Bestseller-Autorin sind Thriller, Psychothriller und Romane. Sie schreibt außerdem Kurzgeschichten, Dreh- und Kinderbücher. Ihre Thriller erreichen alle die Top-Ten-Bestsellerlisten vieler Ebook-Plattformen. Die Autorin schreibt für den PIPER-Verlag und veröffentlicht auch selbst. Sie ist Mitglied im Syndikat und im Verein BVJA e.V. und Redakteurin beim Amreko Literaturmagazin
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Titel: Haus der Angst