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Trügerische Affäre

von Astrid Korten (Autor:in)
277 Seiten

Zusammenfassung

Ich hasse dich ... Drei Worte, die das Dunkel durchdringen, die alles mit sich reißen, das Herz brechen, geflüsterte Schreie bringen und die Stille stören. Die norwegische Architektin Jonte Sandvik scheut die Öffentlichkeit und lebt lieber in der Welt des Films, statt ihrem eigentlichen Beruf nachzugehen. Tagsüber arbeitet sie im XD Cinema Norge in Drammen an der Kinotheke, abends entwirft sie Gebäude, die ihr Ehemann Jonas in architektonischen Bildbänden mit großem Erfolg der Öffentlichkeit präsentiert. Eines Tages gesteht ihr Jonas, dass er eine Affäre hat, und verlässt seine Frau. Für Jonte bricht eine bis dahin mühsam aufrechterhaltene heile Welt zusammen. Seitdem ereignen sich unheimliche Dinge in ihrem Umfeld, auf die sie sich keinen Reim machen kann. Sie ist einsam und führt Selbstgespräche. Auch droht ein schreckliches Geheimnis aus ihrer Vergangenheit sie zu überrollen. Als ein Mord geschieht, muss Jonte sich ihren Ängsten stellen – mit verheerenden Folgen, die sie in Alkoholismus und Irrsinn zu treiben drohen. Nichts ist mehr so, wie es scheint.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über das Buch

Ich hasse dich ...

Drei Worte, die das Dunkel durchdringen,

die alles mit sich reißen,

das Herz brechen,

geflüsterte Schreie bringen

und die Stille stören.

Die norwegische Architektin Jonte Sandvik scheut die Öffentlichkeit und lebt lieber in der Welt des Films, statt ihrem eigentlichen Beruf nachzugehen. Tagsüber arbeitet sie im XD Cinema Norge in Drammen an der Kinotheke, abends entwirft sie Gebäude, die ihr Ehemann Jonas in architektonischen Bildbänden mit großem Erfolg der Öffentlichkeit präsentiert.

Eines Tages gesteht ihr Jonas, dass er eine Affäre hat, und verlässt seine Frau. Für Jonte bricht eine bis dahin mühsam aufrechterhaltene heile Welt zusammen. Seitdem ereignen sich unheimliche Dinge in ihrem Umfeld, auf die sie sich keinen Reim machen kann. Sie ist einsam und führt Selbstgespräche. Auch droht ein schreckliches Geheimnis aus ihrer Vergangenheit sie zu überrollen. Als ein Mord geschieht, muss Jonte sich ihren Ängsten stellen – mit verheerenden Folgen, die sie in Alkoholismus und Irrsinn zu treiben drohen. Nichts ist mehr so, wie es scheint.

Prolog

Der Wald am Drammensfjord wirkt unzugänglich. Alles ist dunkel. Undurchdringlich. Schwarz. Hinter jedem Baum, hinter jedem Strauch lauert das Unheil. Der Wald ist unbezähmbar hungrig. Er ist bedrohlich. Er warnt.

Sie blickt hoch. Über den Bäumen schillert noch blass der Mond und schon schwach die Morgenröte.

Morgensonne, Abendsonne, denkt sie. Und die Sonne, die niemand sieht, die dazwischenliegt, die, die Leben schenkt. Noch zögert sie.

Der Parkplatz ist wie ausgestorben. Ihr Wagen steht verloren in der öden Leere. Es ist gespenstisch still, sodass sie vom Verriegelungslaut des Schlosses erschrocken zusammenzuckt. Vielleicht ist es besser, umzukehren. Heute kein Sport, sagt sie sich. Nicht hier, nicht heute.

Aber es ist doch dein Wald, denkt sie.

Sie liebt diesen Wald, seine unendliche Ruhe, die wohltuende Abwesenheit von menschlichen Geräuschen und Gerüchen. Sie hat eine feste Route, sie kennt den Weg, sie wird sich hier nicht verirren.

Der Wald wartet auf sie. Es ist ein guter Wald, ein Wald, der sie beschützt und umsorgt. Er ist ihr Freund, auch wenn das niemand versteht. Alle finden es seltsam, dass sie stets die weite Fahrt auf sich nimmt, um hier zu joggen.

Der Tag zeigt allmählich sein erstes Licht. Der Morgen umgibt sie sanft und lautlos, er ist noch nicht völlig erwacht. Es ist windstill.

Sie beginnt mit ihrem Lauf.

Nachts kommt er immer wieder hierher zurück. Durchquert hier seit Ewigkeiten die Jahreszeiten, momentan den Winter. Seine Rückkehr im hellen Mondlicht wird vom Knacken und Ächzen der Äste begleitet, die sich im kalten Wind wiegen. Eine Weile hält er am Waldrand inne, hat das Gefühl, mit den kahlen Bäumen und dem trockenen Laub unter seinen Füßen zu verschmelzen. Er starrt zum Parkplatz hinüber und verharrt wie hypnotisiert – reglos, schwarz und aufrecht wie die toten Stämme um ihn.

Der Wind rüttelt an seiner Kleidung und bläht seine Jacke auf. Er wartet seit einer Stunde. Ob er noch gut aussieht? Als er heute Morgen in den Spiegel geblickt hat, sah er halbwegs passabel aus. Er schaut selten in den Spiegel. In Gedanken sieht er stets den jungen Mann: schlank, sportlich, strahlend grüne Augen und Haare so schwarz, dass sie im Sonnenlicht bläulich glänzen. Mittlerweile sieht er so erschöpft aus, wie er sich fühlt, grau wie sein Haar, fahl wie seine Gesichtsfarbe. Alt. Nicht wie im letzten Sommer. Kein blauer Himmel, kein Lächeln. Er steht im Schatten.

Es war ihm immer wie ein grausamer Scherz der Natur erschienen, dass sein Herz ein totes schwarzes Loch war, sein Teint jedoch frisch und jugendlich gerötet, sein Lächeln charmant und bezaubernd wie bei Leonce in Büchners Theaterstück Leonce und Lena. Frühling auf den Wangen und Winter im Herzen.

Plötzlich hört er Gelächter hinter seinem Rücken. Er dreht sich um. Der Wald holt tief Luft, um seinen fauligen Atem auszustoßen. Der Vollmond verschwindet hinter Wolken, der Parkplatz versinkt in tiefer Dunkelheit. Sein Puls geht schneller, sein Magen zieht sich vor Angst zusammen.

„Du bist zu Hause“, ruft der Schatten und kommt ihm in der Finsternis entgegen. Eine Stimme, deren Gesicht er nicht finden kann.

Es gibt kein Zurück mehr. Er hält inne. Spürt die Müdigkeit, die Schwere hinter der Stirn, die sich aufzulösen beginnt. Bald wird er schlafen.

Wenn sich der Vorhang für das Finale erhebt …

Sie ist nicht allein.

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubt sie, einen Schatten wahrzunehmen. Es läuft ihr kalt den Rücken herunter. Sie erhöht ihre Geschwindigkeit, schaut gelegentlich zurück, aber sie sieht niemanden. Vermutlich nur die letzten Fetzen der Nacht.

Dennoch, da ist etwas. Heute wird sie nur eine Runde joggen, sie will so schnell wie möglich zum Parkplatz zurücklaufen.

Auf den Waldpfaden liegt eine dicke Schicht verdorrter Blätter, eine Hinterlassenschaft des Herbstes. Die Bäume sind blattlos, gespenstisch kahl.

So entsetzlich entblößt ..., denkt sie.

Sie sehnt sich nach dem Frühling, nach den vielversprechenden Knospen an den Zweigen, wo das neue saftige Grün jeden Moment auszubrechen verspricht. Aber bis dahin werden noch ein paar Monate vergehen.

Der belaubte Waldpfad ist kein Problem. Sie kennt die Strecke, kann sie blindlings gehen. Die geübte Joggerin in ihr übernimmt die Führung. Jetzt links abbiegen! Da beginnt der zweite Abschnitt des Pfades.

Doch sie irrt sich, biegt zu früh ab. Das ist ihr noch nie passiert. Sie läuft nicht mehr auf der Hauptstrecke, folgt plötzlich einem unbekannten Seitenpfad.

Dort, wo sich der Wald öffnet, als wollte er sich von sich selbst befreien, ist ein Schatten. Sie läuft weiter, konzentriert sich auf den Schatten. Ihre Schritte werden langsamer, bis sie nur noch auf der Stelle joggt.

Sie starrt auf den Schatten.

Es ist ein Körper. Ein lebloser Körper. Er liegt hinter einem hohen, kahlen Strauch. Der Kopf wirkt seltsam verdreht, das Gesicht kann sie nicht sehen. Dennoch ist etwas an diesem Körper, das ihr bekannt vorkommt. Sie überlegt, wer das da sein könnte, und presst sich eine Hand auf den Mund. Unmöglich!

Sie lässt die Hände fallen, steht regungslos da und lauscht ihrem hechelnden Atem. Dann geht sie ein paar Schritte auf den Toten zu, sucht nach einem Hinweis für den Verdacht, den sie hat, den Blick auf die grausame Wahrheit geheftet. Instinktiv hält sie wieder eine Hand vor den Mund, dann vor die Augen.

Sie muss den Notruf wählen, aber ihre zitternden Hände gehorchen ihr nicht. Sie denkt nicht an den Schrecken, den der Anblick des Todes verursacht hat, auch nicht an den Schrei, der stumm über ihre Lippen kommt. Sie muss von hier fort!

Wo ist der Parkplatz? Wo ist sie zu früh abgebogen? Ein Raubvogel fliegt nah über ihren Kopf hinweg. Der Klang seiner flatternden Flügel kommt ihr ohrenbetäubend vor. Ist das schon der erste Aasfresser? Sie möchte nach etwas greifen, womit sie ihn verscheuchen kann, aber die Tränen verschleiern ihren Blick.

Sie läuft zurück, wird schneller und schneller, das Schluchzen heftiger. Überall sind tote Augen, die sie anstarren. Vorwurfsvolle Augen. Tote, tadelnde Blicke. Ihr ist kalt, obwohl sie schwitzt und außer Atem ist. Sie will sich verstecken, irgendetwas tun, aber sie flieht mit rasendem Atem und weit offenen Augen. Sie will laut schreien, aber es klingt hell und leise. Wie ein geflüsterter Schrei.

Sie erreicht den Parkplatz, ihre Beine versagen, sie bricht zusammen. Die bedrohliche Lähmung, die kreischende Stille und die alles verschlingende Schwärze bringen ihr Schluchzen zum Schweigen.

Manchmal

Manchmal

fliehe ich in die Wolken,

in die dunkle Unendlichkeit,

ich atme nicht

und lasse mich durch die Lüfte tragen.

Manchmal

fliehe ich in die Erde,

durch Erde und Sand

in die Tiefe

und berühre das Herz der Welt.

Manchmal

fliehe ich in die Zukunft,

durch Wolken aus Fantasie

und überlasse mich dem Traum.

Manchmal

fliehe ich in die Vergangenheit,

ich behüte sie,

umarme sie

und lass mich durch die Erinnerungen treiben.

Manchmal

verharre ich im Jetzt,

sehe mich um

und erschaudere

und fliehe … zurück in die Wolken.

Kapitel 1

Die praktische Ärztin – eine Frau ohne Namen in einem Herbst ohne Regen – hat einen Blick in ihren dunklen Augen, der mir nicht gefällt. Eine Füchsin auf der Lauer. Die Ärztin hinter dem rosa lackierten Tisch thront auf einem Stuhl mit einer hohen Lehne, die ihren Kopf mit dem weiß gefärbten Haar überragt, und klärt mich über die Laborbefunde auf.

Ich höre zu, warte, präge mir jedes ihrer Worte ein. Eine unangenehme Energie durchläuft meinen Körper, immer schneller zucken meine Muskeln, die Synapsen lösen sich aus sich selbst heraus, auf der Suche nach einer Dunkelheit, die mich sicher umschließen wird. Mein Blick irrt durch den Raum. Rosa und weiß. Sommer. Draußen ist Herbst, eigentlich schon Winter. Ich frage mich, welchen Zweck dieser Stuhl wohl erfüllt. Die Lehne passt eher zu einer Modedesignerin, die den ganzen Tag in starrer Haltung an einer Sommerkollektion arbeitet.

Ich kann die Stille, die sich nach ihren letzten Worten an mich klammert, kaum ertragen. „Das kann nicht sein. Das ist unmöglich.“ Ich schüttle meine langen dunklen Locken. Mein Geist konzentriert sich auf das Echo ihrer Worte, überprüft sie noch einmal, jedes einzelne, auf ihren Gehalt hin. „Ich hatte seit zehn Monaten keinen Sex, dachte, es sei der Beginn der Menopause. Bei der Nachbarin meiner Freundin setzte sie nach einer Chemotherapie bereits mit dreißig ein. Ich bin fünfunddreißig.“

Hatte meine Freundin Annika mir das nicht erzählt? Oder war es jemand anders gewesen? Die junge spröde Kollegin aus dem Büro? Sie mustert mich neuerdings auf eine eigentümliche Art, als würde ich mich in einer Nische ihrer Gedanken einnisten, um sie zu bedrohen.

Meine Erinnerung lässt mich neuerdings oft im Stich. Und die Klauen, die meine Brust ständig zusammendrücken, wollen sich auch nicht von mir lösen. Schließe ich die Augen, ist alles weggewaschen, und öffne ich sie? Ja, dann kann alles wieder beginnen. Eines Tages möchte ich das Bewusstsein verlieren, völlig. Mich für ein paar Stunden oder am liebsten für immer in das dichte Gewebe des Rausches fallen lassen, mich davon bedecken, begraben, behüten lassen. Ich weiß, dass das möglich ist.

Warum habe ich nur solche Gedanken? Ob das eine hormonelle Ursache hat? Darüber sollte meine Hausärztin mit mir sprechen. Aber stattdessen verbreitet sie diese Absurdität. Sie muss sich irren. Ich werde einen Facharzt aufsuchen, einen Gynäkologen, der sich mit der Menopause auskennt.

„Sie sind definitiv schwanger, Frau Sandvik. Der Schnelltest ist eindeutig, ebenso die Blutuntersuchung. Ihre Periode ist zweimal ausgeblieben, und Sie haben ein Spannungsgefühl in den Brüsten, sagen Sie. Das sind weitere Indizien für eine Schwangerschaft.“

Ist dir dieser absurde Gedanke nicht auch schon gekommen, Jonte?, meldet sich die innere Stimme, die immer hinter meiner Stirn lauert. Back-Vocal, wie ich meinen inneren Peiniger nenne, ist ein Widerling, der mich zu oft quält.

Ich starre die Wände an, und wieder habe ich das Gefühl, in diesem Raum den Sommer zu durchqueren. Eine Schneise in ihn hineinzuschlagen.

„Man wird nicht schwanger ohne Samenspender, ohne Geschlechtsverkehr, außer man ist die Heilige Mutter Gottes“, beharre ich und werde lauter: „Ich bin nicht Maria aus Bethlehem, sondern Jonte Sandvik aus Drammen, und Ihre Diagnose entbehrt jeder Grundlage. Es gibt dafür keine Erklärung!“ Unruhig rutsche ich auf dem Stuhl hin und her. Es fühlt sich gut an, in Bewegung zu sein.

„Schauen Sie, Frau Sandvik, ob Sie es erklären können oder nicht, Sie sind schwanger, und es wäre besser, das einfach zu akzeptieren.“ Die Ärztin spielt mit dem Kugelschreiber. „Ich würde Ihnen dringend empfehlen, nach Hause zu fahren und in Ruhe darüber nachzudenken. Dann können Sie immer noch entscheiden, was Sie tun werden.“

Ich bin von unangenehmer Kühle umgeben. Habe das Gefühl, dass etwas in meinem Hals Schluckbeschwerden verursacht. Glaubt diese Frau, dass eine Schwangerschaft einem fucking Event gleichkommt? Ich blicke nach unten, auf die Schuhe von Dr. Holge. Sie trägt schwarze Söckchen mit gackernden Hühnern … Jetzt verstehe ich. Keine schlaue Füchsin, sondern ein dummes Huhn, umgeben von einem rosafarbenen Sommer. Hühner glauben, was sie gackern.

Ich gönne ihr die Sekunden Entspannung, aber die Ärztin, die ich aufsuche, soll mir nicht sagen, dass ich schwanger bin.

Kein Erzeuger in Reichweite! Back-Vocal lacht hinter meiner Stirn laut auf.

Ich stehe in der Mitte eines Bildes, das nicht stimmt. Der Raum ist zu warm, zu weiß, zu rosa. Mit der Frau dort stimmt auch etwas nicht.

„Wenn Sie das Kind nicht bekommen wollen, kann ich Sie zum Zwecke einer Schwangerschaftsunterbrechung an einen Gynäkologen verweisen; wenn Sie das Kind bekommen wollen, natürlich ebenso.“

Bestimmt nicht, denn damit hat Klein Jonte nicht gerechnet!

Ich muss fast lachen über Back-Vocals Stänkerei. Das alles hier kann nicht wirklich passieren, nichts davon stimmt. Mir bricht der Schweiß aus allen Poren.

„Überlegen Sie sich das Ganze in Ruhe“, wiederholt sie leise, den Blick auf irgendetwas unten auf dem Boden gerichtet, was ich nicht sehen kann. „Haben Sie Familie oder Freunde, mit denen Sie sich erst mal beraten können, Frau Sandvik?“

Sie weiß nichts von mir, sie kennt mich nicht. Gibt Floskeln an eine Frau weiter, die behauptet, unbefleckt empfangen zu haben. Ich möchte weinen, diese arrogante Frau Doktor austricksen, die mich ansieht, als hätte sie eine dumme Trine vor sich.

Magst du die nette Hühnerfrau etwa nicht?

Ich stehe abrupt auf. Die Ärztin auch. Ich glaube, eine gewisse Erleichterung in ihrem Gesicht zu lesen, aber es ist schwer erkennbar, da ihr selbstgerechter Ausdruck andere Emotionen plattwalzt. Frauen, die ihre Zeit gern hinter einem rosafarbenen Schreibtisch verbringen, zeigen keine mimische Regung. Nicht nach dem Sex, nicht auf der Beerdigung ihrer Mutter.

Dr. Holge hebt den Blick und versucht, mich noch immer davon zu überzeugen, dass ich Mutter werde. „Es ist keine Schande, schwanger zu sein“, sagt sie, und es klingt wie ein Vorwurf.

Ich nicke, reiche ihr die Hand zum Abschied und verlasse wortlos die Praxis.

Einst wollte ich schwanger werden, als ich noch von der Ehe mit Jonas überzeugt war, obwohl er von Anfang an meine zweite Wahl war. J O N A S – fünf Buchstaben – Punkt! Nur ein flüchtiger Moment. Kein Vergleich mit dem Mann, den ich vor Jonas gekannt und verloren habe: Aaron … Ein Name, der für Liebe, Wärme, Vertrauen und Geborgenheit stand. Aaron hätte der zukünftige Vater meiner Kinder werden sollen, denn niemand konnte meiner großen Liebe das Wasser reichen. Nicht im Geringsten. Auch Jonas nicht.

Ein Bild schiebt sich vor die Erinnerung an Jonas. Rosa und Weiß verblassen. Da ist kein Sommer mehr mit Jonas beim Verlassen der Praxis. Ich gleite ab, in die Kälte. Das Dunkel. Den Winter. Grau in Grau.

Wie wird mein Noch-Ehemann reagieren, wenn er hiervon erfährt? Ich versuche, es mir vorzustellen, aber da kommt nichts. Ich sehe keinerlei Reaktion. Denn es wird ihn nicht interessieren. Jonas ist passé, Jonas hat jemand anders. Seit er mir das gesagt hat, habe ich die Dinge nicht mehr im Griff. Welche Dinge? Ich rede von meinem ganzen Leben.

Plötzlich vernehme ich Schritte. Alarmiert fahre ich herum. Mir wird heiß und kalt, mein Gaumen ist trocken und meine Kehle wie zugeschnürt. Doch da ist gar nichts. Kein Psychopath mit weit aufgerissenen Augen, böse und blutbesudelt. Keine masturbierende Kreatur, die mich wie ein Sexspielzeug behandelt und schließlich geschwängert hat. Ich habe mir diese Schritte nur eingebildet. Ein nervöses Kichern entschlüpft meiner Kehle. Wie verrückt ein Lachen in der winterlichen Dunkelheit doch klingt.

Nur noch wenige Schritte bis zum Wagen. Ich sehe mich um. Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, einen Schatten wahrzunehmen. Ich sehe noch einmal hin. Nichts.

Warum überfällt mich neuerdings immer wieder das Gefühl, beobachtet zu werden? Verdammt, wer kennt sich schon mit einer Psyche wie der meinen aus?

Ich hätte da eine Frage, nörgelt Back-Vocal.

Ich laufe weiter, Schritt für Schritt, einem anderen Gedanken entgegen, den ich gar nicht wahrhaben will, und ignoriere meine innere Stimme.

Sieben Buchstaben kreisen in meinem Kopf.

Ex-Lover, lacht Back-Vocal, hab ich es erraten?


Kapitel 2

Einst war ich Jonte Soren, Ehefrau von Jonas Soren, und bin immer noch eine Angestellte im XD Cinema Norge in Drammen, obwohl ich einen Abschluss als promovierte Architektin habe. Ich arbeite gern im Kino und bin immer zu Überstunden bereit. Mit dem Abtauchen in die Welt des Films kann ich für einige Stunden dem Alltag entkommen. Es ist eine Flucht, bei der man sich nicht von der Stelle bewegt – und mit dem Fliehen kenne ich mich aus.

Ich arbeite zweiunddreißig Stunden pro Woche, bin meist auf Diät und lese stets alles, was über Architektur veröffentlicht wird. Wenn ich nicht lese, entwerfe ich am Zeichenbrett ausgefallene Projekte für Architektur-Wettbewerbe.

Ich wollte nach dem Studium ganz bewusst diese Jonte sein und lehnte jede Frage, die in die Richtung dessen ging, was mich inspirierte, konsequent ab. Die meisten Fragen kamen von meiner Mutter, die die Nase über meinen Halbtagsjob rümpft. Sie kann sich immer noch nicht vorstellen, dass ich mich damit begnüge, obwohl ich ein eigenes Architekturbüro und zahlungskräftige Auftraggeber haben könnte.

Dass ich keine Schwierigkeiten hatte, unter meinem Niveau zu arbeiten, wurde von niemandem in meiner unmittelbaren Umgebung verstanden, außer von meinem Ehemann. Jonas war selbst aus freien Stücken kürzergetreten und hatte auf seine Karriere verzichtet.

„Schau uns an“, sagte er manchmal scherzhaft. „Die promovierte Architektin, die in einem Großkino arbeitet, und der kreative Marketingspezialist, glücklich in einem Halbtagsjob an der Volkshochschule.“

Ich wusste sehr wohl, dass ich nicht glücklich war, aber ich nahm es hin und widersprach ihm nie. Wir wohnten in einem Eckhaus, umgeben von einem schönen Garten, und wir nahmen das Leben, wie es kam.

Einst dachte ich, es sei selbstverständlich, dass ich mich um den Haushalt kümmere. Jonas ignorierte im Haushalt jede Arbeitsaufteilung, und ich drängte ihn nicht. Ich hätte lediglich einen sinnlosen Streit entfacht und ihn mit einem Kindheitstrauma konfrontiert, durch das unerwünschte Erinnerungen an das Verhalten seiner Mutter heraufbeschworen worden wären: ein zwanghaftes, manipulatives, hinterlistiges und oft gewalttätiges Verhalten, wie er behauptete. Ein Streit weckte stets seine Verlustangst und lähmte ihn. Das konnte ich sogar nachvollziehen.

Damals hielt ich den Status quo unter Kontrolle, in den ich mich fast atemlos hineinmanövriert hatte. Ich unterdrückte meinen inneren Widerstand und dachte, dass mein Leben auf diese Weise übersichtlicher wäre. Wenn ich ohne Druck hübsche Häuser entwarf und mit den Hauptfiguren aus den Kinofilmen darin lebte, könnte mich nichts unangenehm überraschen. Ich zählte darauf, dass die Geister der Vergangenheit tatsächlich in der Vergangenheit verblieben.

Jonas hatte schon immer Schwierigkeiten, sich zu binden. Er hatte keine Freunde, hielt sein soziales Umfeld auf Distanz und mied besonders den Kontakt zu meiner Mutter.

„Ich mag keine Mütter“, sagte er stets und fügte erklärend hinzu: „Alles in meinem Körper war verknotet, wenn sie in meiner Nähe war. Meine Organe verwickelten sich ineinander und bildeten eine kompakte, schmerzende Kugel. Ihre Stimme hatte immer einen falschen Ton und die Wände in meinem Kinderzimmer eine imaginäre schwarze Oberfläche. Bis meine Mutter starb. Danach leuchtete aus dem Dunkel eine Helligkeit, ein Licht von besonderer emotionaler Kraft, das mein Leben beflügelte. Ihr Tod war für mich wie eine Befreiung. In meinem Leben wird eine Mutter niemals wieder eine Rolle spielen.“

Ich habe immer versucht, es so einzurichten, dass Mom mich besuchte, wenn Jonas nicht zu Hause war. Das Gleiche galt für die Besuche meiner Freundin Annika, die im drei Kilometer entfernten Strømsgodset wohnt. Wir sind seit der Schulzeit befreundet und könnten durchaus Zwillinge sein: Wir sind beide ein Meter siebzig, haben halblanges dunkelblondes Haar, blaue Augen und den gleichen Kleidergeschmack, aber nicht die gleiche Kleidergröße. Annika bleibt mühelos schlank, mir fliegen die Pfunde ebenso leicht zu. Ich muss dauernd auf mein Gewicht achten. Annika ist Single, Stewardess und durchstreift die Welt. Sie trifft überall auf alle möglichen Typen, mit denen sie sich in waghalsige Abenteuer stürzt.

„Du musst alles einmal ausprobieren“, behauptete sie. „Man weiß nie. Vielleicht finde ich meinen Traummann irgendwo in Afrika oder in Alaska.“

„Oder im Kino zwischen zwei Popcornfetischisten“, hätte Mom gewiss darauf erwidert.

Wenn Annika und ich zusammen sind, spricht sie in der Regel, und ich höre ihr zu. Meine Freunde behaupten, ich sei eine gute Zuhörerin. Annika war meine Stütze und Zuversicht, als Aaron, meine große Liebe, mit dem Motorrad gegen einen Baum gefahren war und dabei sein Leben verloren hatte. Ich war dreiundzwanzig, als meine Welt einstürzte. Kein Vogel zwitscherte mehr, der Wald war dicht und finster, das Wasser der Fjorde wogte nicht mehr in Blau und Grün, die Menschen wurden stumm, die Welt stand still. Ich grub diese Stille in mein Gedächtnis, leckte stumm meine Wunden und traf die Entscheidung, mich von allen Gefühlen zurückzuziehen und nie wieder jemanden so sehr zu lieben. Ich hielt mein Versprechen, und Annika wurde meine Zeitzeugin. Aber fünf Jahre später heiratete ich Jonas – eine zweite Wahl.

Annika nahm eine abwartende Haltung gegenüber ihm ein, sie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte, weil der Unterschied zu Aaron, meiner ersten Wahl, immens war. Obwohl es ihr gefiel, dass ich meine perfektionierte Nichtansprechbarkeit ablegte, um mich wieder dem Leben zu widmen, hat sie mich oft gefragt, ob Jonas dafür wohl der Richtige sei. So zwang sie mich mehr oder weniger dazu, mich zu erklären.

„Er ist ein sensibler Mann, der von seiner Mutter seelisch missbraucht wurde. Das erklärt seine abweisende Haltung gegenüber den beiden wichtigsten Frauen in meinem Leben.“

Annika gestattete ihm seine Zweifel. Ich habe mich stets positiv über Jonas geäußert, zitierte seine witzigen Anekdoten und schmückte mit Vorliebe seine ungeschickten Versuche aus, zu kochen oder ein Hemd zu bügeln. Das Einzige, was er je zum Haushalt beitrug, scheiterte an seiner Unfähigkeit. Ich wiederholte zudem endlos, wie galant er war, dass er meine Einkäufe trug, mir oft Rosen mitbrachte oder mir grundlos ein Schmuckstück schenkte. Jonas hatte eine sehr liebenswürdige Seite, er verwöhnte und überraschte mich. Wenn er das tat, fühlte ich mich als etwas Besonderes. Ich habe nie mit jemandem über den anderen Jonas gesprochen, über den Mann, der von einem Moment auf den anderen wütend werden konnte und mich dann auf übelste Weise beschimpfte. Seine gewalttätigen Reaktionen kamen immer unerwartet und waren völlig unberechenbar. Diese Seite meines Mannes habe ich nicht verstanden, und ich wollte es auch gar nicht. Ich hatte für mich entschieden, Jonas zu lieben. Er ähnelte in keiner Weise dem Mann, den ich verloren hatte, und das beruhigte mich. Das erlaubte mir, an meine große Liebe zu denken, von Aaron zu träumen, ohne in einen Loyalitätskonflikt zu geraten.

Einst gelang es mir, mit dem Leben, das ich führte, zufrieden zu sein. Dann trat eine Veränderung ein, als Jonas und ich einen Entwurf für einen Wettbewerb einreichten, der mit dem Fritz-Höger-Preis für Architektur aus Mauerwerk, ausgezeichnet wurde. Unser Projekt – das Haus „Transformation“ – war ein Umbau einer in den 1930er-Jahren gebauten Scheune in ein Ferienhaus. Die behutsame und mit nachhaltigen Baumaterialien durchgeführte Transformation überzeugte die Jury. „Mit ihrem Projekt beweist das Architektenduo JO furios, wie man eine Dialektik zwischen Alt und Neu schaffen kann, ohne den identitätsstiftenden Bezug zum dörflichen Umfeld zu verlieren“, hieß es.

Wir nahmen an anspruchsvolleren Wettbewerben teil und gewannen weitere Preise. Unsere Projekte überzeugten durch eine klare Schlichtheit und vermittelten eine erfrischende Leichtigkeit, obwohl es sich um Massivbauten aus Backstein handelte. Die Bauherren wurden allmählich auf uns aufmerksam.

Seit dem ersten Erfolg hat mein Kokon einen Riss bekommen. Nach der Veröffentlichung des Bildbandes über unsere Projekte, der ein Bestseller wurde, gelingt es mir immer weniger, die Außenwelt von mir fernzuhalten und mich abzuschotten.

Die Außenwelt ist ein zu weites, ein zu dunkles, zu verzweifeltes Feld. Für mich zu halsbrecherisch. Ich schaffte es aber immer noch, unterzutauchen und meinen sorgfältig aufgebauten Schutzschild aufrechtzuerhalten, solange Jonas sich mit Unterstützung des Verlages in den Werbezirkus stürzte. Aber eines Tages beendete er unsere Beziehung.

Seit diesem Tag bin ich gezwungen, mich selbst wiederzufinden. Ich muss seinen Namen abschütteln und wieder Jonte Sandvik werden: blaue Augen, dunkelblond mit braunen Strähnchen, die Seele dunkler als Jonas’ Wand aus Kindertagen.

Wenn es besonders schlimm ist, liege ich in der Finsternis des Schlafzimmers, starre mit trockenen Augen in das Schweigen des Raumes und versuche, mich an Aaron zu erinnern. Ein Erinnerungsfetzen ist wie eine heftige, fast greifbare Spannung, die in der Luft hängt, schmerzhaft wie Nadelstiche. Nichts darf meine Gedanken in diesen Augenblicken stören, sonst verliere ich das Bild, das sich mir offenbart: ein Bett – und Aaron, vollkommen auf dem Weiß, der mich liebevoll umarmt, mich innig küsst. Dann schließe ich meine Augen, und auf meine Iris wird sein Lächeln projiziert. Nun kommt er durch die Schlafzimmertür auf mich zu. Ich sehe seine Silhouette. Seinen Schatten. Und denke: Gleich wird er aus dem Schatten heraustreten und wieder bei mir sein. Lächelnd, um mich zu trösten. Und ich weiß: Ich bin immer noch auf der Suche nach den verlorenen Momenten unserer Liebe, die ein so jähes Ende fand.

Manchmal, wenn Mom den Mut aufbringt, fragt sie, wie sein Tod für mich war. Ich antworte, dass es schwer war, und belasse es dabei. Ich könnte ihr auch sagen, dass es wie eine innerliche Kreuzigung war. Ich könnte ihr erzählen, dass ich in den Tagen danach fast ohne Unterbrechung geweint habe, selbst im XD Cinema – auch wenn ich dort den Mund geschlossen hielt und kein Geräusch von mir gab, sodass die Tränen nach innen flossen. Ich könnte Mom sagen, dass ich jede Nacht von Aaron träume und dass ich ihn an jedem Morgen erneut verliere. Doch warum sollte ich Mom den Tag verderben? Folglich sage ich ihr nur, dass es schwer war. Das stellt sie in der Regel zufrieden. Es ist bloß ein Albtraum, und er treibt mich aus dem Bett. Zitternd.

Seit jenem Tag interessiere ich mich nur noch für die Dinge oberhalb meines Halses: das Gehirn, das Bewusstsein, das Wissen, die Überlegung, das Gedächtnis, die Identität – und das Übel. Es kam zurück, als wäre es nie fort gewesen, als hätte ich keinen einzigen Tag ohne es verbracht. Es hatte mich in meinem Geisterturm der Schrecken nie vergessen.

Seit dem Tag bin ich auf der Suche nach einem für mich geeigneten Unfall.

Kapitel 3

Meine Mutter ist schockiert, obwohl sie versucht, das mit einem Lächeln zu überspielen. Sie hat natürlich Fragen. Eine steht sofort im Raum.

„Schwanger? Das habe ich nicht erwartet. Du hast schon seit Längerem nicht mehr von einem Kinderwunsch gesprochen. Was hält Jonas davon?“

Sie kneift die Augen zusammen. Als könnte sie dann klarer sehen.

Ich atme tief durch und wäre jetzt lieber das kleine Mädchen, gut zugedeckt im warmen Bett, dass einen Gutenachtkuss von der Mutter bekommt.

Mein Blick schweift durch das Wohnzimmer. Halbherzig, widerwillig. Hilflos. „Jonas und ich haben uns vor fünf Monaten getrennt, Mama“, sage ich leise.

Das Gesicht meiner Mütter spricht Bände. „Wie bitte? Was sagst du da? Wieso erfahre ich erst jetzt davon?“

Ich lächle. Zum ersten Mal an diesem Tag fühle ich wirklich ein Lächeln. Ein fremdes, fernes Gefühl, das plötzlich ganz nah ist – unmittelbar auf meinen Lippen.

Mit solch einer Mutter hat man echt Glück, hat Annika mal behauptet. „Mit ihr hast du es prima getroffen.“ Muss es nicht heißen, dass meine Mutter es mit mir gut getroffen hat? Nein, Annikas Variante ist wohl zutreffender, denn ich bin alles andere als ein Glückskind für Eltern.

Mom ist eine wunderbare Mutter. Sie stapft an den Wochenenden stundenlang durch den Wald. Früher erzählte sie mir nach ihrer Rückkehr stets Geschichten von blauen Drachen, Lebensbäumen, Zauberern und Geistern, die sie in den Wäldern getroffen hätte. Ich hörte ihr aufmerksam zu und versuchte, hinter den Figuren, die auf der Bühne ihrer Fantasie zu leben begannen, die Erzählerin zu finden.

Seit dem Tod meines Vaters sind wir füreinander da und versichern einander, dass es uns doch gut geht, dass Jonas ein sympathischer Mann und dies ein reizendes Haus ist, und das ist es ja auch. Dass das Wetter stets wunderbar ist, obwohl im Winter die Kälte erbarmungslos in unsere Knochen dringt. Dass der Fjord und die Wälder atemberaubend sind, auch wenn ich da widerspreche.

Manchmal wird meine Brust plötzlich eng, meine Wangen warm, kurz bleibt mir die Luft weg, dann verscheuche ich die Gedanken, die mich wie Waldgeister plagen. Sie verschwinden widerstrebend, murmelnd, kichernd – und ich kann wieder atmen. Bin wieder ich, in meinem Wohnzimmer.

Meine Mutter versucht, den Sinn meiner Worte zu verstehen. Ich fühle mich unbehaglich und blicke aus dem Fenster. Im Hintergrund, am Ende des Gartens, liegt wie ein Trugbild der Fjord. Nur für mich und aus einem einzigen Grund. Damit ich ihn sehen kann: den eisblauen Fjord, der gerade erst ausgebreitet worden ist wie ein dunkelblauer Teppich.

Es war dumm von mir, meiner Mutter und auch Annika die Trennung von Jonas bis heute verschwiegen zu haben. Mom hat mir nie Vorwürfe gemacht, das ist nicht ihre Art. Sie gibt mir lieber stumm das Gefühl, es verbockt zu haben. Warum Kassiererin im Großkino? Zu stressig, demotivierend, unter deiner Würde. Es kommt nicht oft vor, dass Mom ihre Meinung ändert. Aber jetzt ist sie für mich da, und das war schon immer so.

Mom schüttelt langsam den Kopf. „Du wirst mir doch jetzt nicht weismachen wollen, Jonte, dass du dich schämst, weil du dich scheiden lässt? Hast du es mir deshalb verschwiegen?“

„Jonas hat die Entscheidung getroffen, mich zu verlassen. Über Scheidung haben wir noch nicht gesprochen.“

„Und worüber habt ihr gesprochen?“

„Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er ausgezogen ist. Er hat mich zwar zweimal angerufen, um zu fragen, wie es mir geht, aber ich weiß nicht, wo er wohnt oder mit wem er zusammenlebt. Er möchte seine Ruhe haben und hat mir versprochen, dass er vorbeikommen wird, wenn er sich über unsere Situation im Klaren ist.“

„Bist du dir denn sicher, dass er eine andere hat, Jonte?“

Mir wird leicht übel, aber ich lächle, blinzle. „Ja, das hat er mir ins Gesicht gesagt, als er mich verlassen hat.“

An jenem Tag wirbelte sein Geheimnis ungezügelt durch das hell ausgeleuchtete Haus. Jonas wartete bereits auf mich. Als ich von der Arbeit nach Hause kam und die Haustür öffnete, spürte ich auf einmal, dass meine Welt jeden Augenblick einstürzen würde. Ich konnte das Übel riechen.

Jonas saß stocksteif in seinem Sessel. Neben ihm standen wie zähnefletschende Hunde zwei große schwarze Koffer, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Seine Hand strich nervös entlang der Oberseite eines der Koffer, als müsste er sich seines Aufbruchs vergewissern.

Ohne Umschweife kam er zur Sache. „Ich gehe. Ich habe lange darüber nachgedacht. Es liegt nicht an dir. Es hat nur mit mir zu tun, und ich hätte es dir schon früher sagen sollen. Aber ich wusste nicht wie. Es tut mir leid. Das musst du mir glauben.“ Die banalen Worte waren unaufhaltsam aus ihm herausgeströmt.

Ich setzte mich auf einen der Esstischstühle und starrte ihn an, hasste diesen Mund, aus dem der Wortschwall gekommen war, seine Stimme, seine Gesten, aber vor allem mein Zittern. „Fährst du in den Urlaub?“ Eine lächerliche Frage, aber es war die einzige, die mir einfiel.

„Nein, Jonte, ich gehe für immer. Ich verlasse dich. Es ist vorbei. Dir ist doch auch aufgefallen, dass es zwischen uns schon seit Längerem nicht mehr so gut läuft. Wir reden kaum noch miteinander, wir berühren uns nicht mehr. Wir machen nichts mehr zusammen. Was hat das alles noch mit einer Ehe zu tun?“

Ich wollte sagen, dass er kaum noch mit mir sprach, dass jeder Versuch meinerseits, ein Gespräch zu beginnen, seit Monaten nur noch in einer irritierten Reaktion endete, dass er mich monatelang nicht mehr berührte und dass selbst bei einem leichten körperlichen Kontakt zwischen uns, ein Widerstreben von ihm ausging. Ich hatte Lust, die Einflüsterungen von Back-Vocal hinauszubrüllen, ihm zu sagen, dass er nachts nicht zu Hause war, ohne mir zu sagen, wo er sich aufhielt, dass er sich nicht mehr die geringste Mühe gab, mich als Mensch wahrzunehmen. Aber ich schwieg.

Er stand auf. „Ich glaube, wir sollten uns vorerst auf den telefonischen Kontakt beschränken. Später können wir über die Aufteilung unserer Sachen und die Scheidung sprechen. Ich bin für dich in jedem Fall über das Handy erreichbar.“

„Wo wirst du denn wohnen?“ Ich wollte die Antwort eigentlich gar nicht wissen.

Er lächelte vage. „Bei meiner neuen Liebe. Ja, ich bin meiner großen Liebe begegnet. Es tut mir leid, Jonte, aber du bist es nie gewesen. Es ist nun mal, wie es ist. Es liegt nicht an dir. Du bist okay.“

Plötzlich wurde mir die Möglichkeit des Todes bewusst oder vielmehr die Tatsache, dass der Tod jederzeit eintreten konnte. Und während er dasaß und mir das Gefühl gab, bei vollem Bewusstsein ins offene Messer zu laufen, hatte ich seine Beerdigung vor Augen. Ich stand kerzengerade vor seinem Sarg, als er ins Grab hinabgelassen wurde, nahm später Beileidsbekundungen entgegen und lächelte innerlich hinter einem unterdrückten Schluchzer.

Du bist okay. Ich hatte das mal schon mal im Kinofilm „Kramer gegen Kramer“ gehört und fühlte mich beiseitegeschoben, wie Dustin Hoffmann von Meryl Streep. Weggeworfen, wertlos, lächerlich.

Jonas nahm seine beiden Koffer und ging zur Tür. „Mach’s gut, Jonte. Ich rufe dich an. Pass gut auf dich auf.“

„Wie soll es denn geschäftlich weitergehen?“, rief ich ihm hinterher und holte einmal tief Luft, wappnete mich.

Er drehte sich um, stellte die Koffer wieder hin. „Geschäftlich ändert sich vorerst nichts.“

Plötzlich spürte ich, wie mein Herz heftig schlug.

„Wir können nicht mehr zusammenleben, aber wir können doch nach einer kleinen Pause weiter gemeinsam Projekte entwerfen.“ Er sah mir direkt in die Augen. „Wir zwei sind immerhin ein sehr erfolgreiches Duo.“

Aha, ein Duo also, aber kein Paar mehr.

Was gehört eigentlich zu einer guten Ehe? Schamlosigkeit, Unbekümmertheit, Gerüche, Stille, berauschende Augenblicke ... Mir fehlen die Bilder in dieser Ehe, die Farben und die Geräusche, Vertrautheit, Verlangen, ein Lächeln, das Lachen und die Tränen. Aaron war das Glück gewesen. Bei ihm habe ich die Liebe gespürt. Habe all diese Dinge erlebt …

Der Schmerz findet immer Antworten.

Jonas räuspert sich. „Jonte?“

„Was zählen diese Erfolge, wenn darüber die Ehe kaputt geht?“ Meine Stimme klingt verzerrt.

„Ach, Jonte, lass das doch. Als Architektenduo sind wir längst sehr erfolgreich. Das sollten wir nicht aufgeben. Oder denkst du plötzlich anders darüber?“

Wieder ließ ich mich von ihm in seine Welt ziehen, in der ich immer tiefer versank, bis ich vollständig untergegangen war. „Nein.“ Meine Antwort kam aus der Tiefe.

„Na also, das meine ich doch auch. Ich zähle auf dich. Nach wie vor. Wir werden gemeinsam berühmt und reich werden, Jonte. Lass uns daran nicht rütteln, bitte.“

Dann war er fort.

Stunden später erwachte ich mitten in der Nacht und suchte nach einer Stimme in der Stille, bis langsam die Erinnerung zurückkam, die mich aus dem Schlaf gerissen hatte. Und doch war ich mir meines Gedächtnisses nicht sicher …

Meine Mutter holt mich in die Gegenwart zurück. „Ist wirklich alles zu Ende?“, will sie wissen und sieht mich einen Moment an. Versucht zu verstehen. „Wollt ihr euch denn auch als Architektenduo trennen?“

„Nein, wir werden erst einmal etwas Abstand finden, wollen aber dann weitermachen wie bisher.“ Ich höre, dass meine Worte nicht allzu überzeugend klingen.

„Willst du das denn, Jonte? Schaffst du das, ihn irgendwann weiterhin zu sehen?“

Ein wohlbekanntes Pfeifen bohrt sich mir langsam in den Gehörgang. „Warum sollte ich das nicht schaffen, Mom?“

„Weil du es nicht erträgst, verlassen zu werden, und weil es dich in der Vergangenheit jedes Mal aus der Fassung gebracht hat.“

„Du meinst meine depressive Reaktion auf den Verlust von Aaron?“

„Ich meine deine Reaktion auf den Verlust deines Vaters.“

Kapitel 4

Jonas blieb nach dem Tod seiner Mutter bei seinem Vater, und mir gefiel der Gedanke an die behütende Gegenwart eines neuen Vaters. Ich vermisste meinen Vater, der damals schon viele Jahre tot war. Mein fröhlicher, schelmischer, fleißiger Supervater, der Mom auf Händen getragen und mich meine Prinzessin genannt hatte.

Ich war elf, als er eines Abends im Dezember nicht rechtzeitig vom Polizeidienst zum Abendessen nach Hause kam. Meine Mutter glaubte, dass er wieder mal mit jemandem zu verbissen über Fußball diskutierte, er war von Fußball besessen und verlor dabei oft jedes Zeitgefühl. Doch die Wahrheit war nicht so amüsant: Ein Lastwagen hatte ihn erfasst und schwer verletzt beiseitegeschleudert. Nach dem Unfall wurde er vom Dienst freigestellt, da eine bleibende Behinderung ihn arbeitsunfähig machte.

Die wahre Tragödie geschah aber erst drei Jahre später, als er sich das Leben nahm.

Meine Trauer über seinen Tod zeigte sich erst in voller Stärke, als ich Jonas’ Vater Tore traf. Im Nachhinein verstehe ich immer noch nicht, wie ich zu dem Schluss kommen konnte, dass dieser Mann die Leere, die mein Vater in mir hinterlassen hatte, füllen könnte. Als die Beziehung mit Jonas ernster wurde, leistete ich mir diesen Trugschluss. Doch beim Anblick dieses Mannes stürzte ich ab. In einem entlegenen Winkel meines Hirns öffnete sich eine Tür, hinter der die Trauer auf mich wartete.

Jonas bereitete mich auf die Begegnung mit den Worten „Mein Vater ist ein stiller, introvertierter Mann“ vor, und so hoffte ich auf einen Mann, der sich klug und überlegt an unserem Gespräch beteiligen würde. Ich dachte, dass wir Freunde werden könnten, denn er war auch noch Polizist wie mein Vater. Aber der Begriff stiller Mann erwies sich als glatte Untertreibung. Jonas’ Vater war geradezu stumm. Er sprach so gut wie gar nicht mit uns. Er schlich durch das Haus, als wollte er sich unsichtbar machen, seine Schwermut tropfte überall zu Boden. Oft dachte ich, er wäre nicht zu Hause, dabei hatte er sich nur in seiner Bibliothek verkrochen.

„Er verbringt die meiste Zeit mit seinen Büchern“, erklärte Jonas. „Papa war Leiter der Polizeidienststelle Drammen, aber die Arbeit hat ihn zermürbt. Er hat die Gewalt nicht mehr ausgehalten und wurde deswegen von Kollegen gemobbt. Eines Tages gab er auf. Er konnte sich auch nicht mehr gegen meine Mutter behaupten, die den Ehezwist zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hatte. Nach ihrem Tod hat er sich als Lehrer versucht, aber die ständigen Auseinandersetzungen mit den Schülern waren seinem Seelenfrieden nicht gerade förderlich.“

Eine Zeit lang suchte ich in mir nach einer Möglichkeit der Betäubung und wünschte mir, ich könnte in den Bewegungen dieses Mannes, in seiner Langsamkeit, die an Benommenheit grenzte, ein wenig von meinem eigenen Vater aufspüren. Doch da war nichts.

Meine hohen Erwartungen an diesen neuen Vater erwiesen sich als arge Enttäuschung und aktivierten jenen Teil meiner Erinnerung, den ich besser hätte ruhen lassen sollen: meine Trauer und meinen Schmerz. Meine Schuldgefühle. Verlust, Verzweiflung und Wut tauchten aus der Tiefe auf und bahnten sich einen Weg an die Oberfläche. Ich hatte keinen Panzer mehr. In den ‚kalten Winterjahren‘ waren meine Emotionen verbrannt.

Durch die Begegnung mit diesem lebenden Gespenst wurde ich plötzlich erneut zu dem zwölfjährigen Mädchen, das voller Angst die Haustür geöffnet hatte, um Polizisten ins Haus zu lassen, die den Freitod meines Vaters bestätigen mussten. Mein Widerstand gegen die Trauer war nutzlos gewesen, ich landete im Abgrund tiefster Verzweiflung, sobald ich meinen Vater im Sarg liegen sah.

Nach dem Unfalltod von Aaron, meiner großen Liebe, hatte Mom mir die Adresse der Psychologin gegeben, die sie nach dem Tod meines Vaters in Anspruch genommen hatte. So lernte ich Dr. Nora Bergström kennen.

„Eine späte Trauer ist eine wuchtige und rohe Trauer. Eine, die selbst körperlich schmerzt“, dozierte Dr. Bergström. „Sie müssen die Trauer akzeptieren, sie sozusagen erlernen. Sie brauchen diese Fähigkeit, um zu überleben, falls Sie jemanden durch den Tod verlieren. Oder wenn Sie verlassen werden.“

Verlustängste steigen immer aus einem betäubenden Schlaf auf, sie riechen schlecht. Sie breiten sich im ganzen Körper aus, beschleunigen den Herzschlag und schrecken vor nichts zurück. Nach meinem Besuch bei der Psychologin musste ich mich zwingen, in den darauffolgenden schlaflosen Nächten nicht ständig aufzustehen. Ich streckte mich in der Dunkelheit, drehte und wälzte mich und wartete auf den Morgen, der mich von meiner Angst befreien würde. Schließlich kam der Morgen, an dem ich eine Entscheidung traf: Ich wollte nie wieder verlassen werden.

Aber da war noch etwas. Ich spürte in mir blinden Zorn aufsteigen, etwas Wildes, Dunkles überfiel mich. Etwas, das ich seitdem nie wieder in den Griff bekommen habe.

Kapitel 5

Meine Mutter geht auf meine Äußerung nicht ein, sie benimmt sich, als hätte ich das Substantiv Schwangerschaft nie erwähnt.

„Du hast gerade große Ähnlichkeit mit einem Wischmopp, Jonte“, ist ihr einziger Kommentar. Dann stürzt sie sich auf die Zubereitung gesunder Ernährung. Ich höre sie in der Küche rumoren, ich verharre still in meinem Sessel.

Es fühlt sich seltsam an, plötzlich über Jonas’ Fortgehen zu sprechen. Ich hatte bis heute niemandem davon erzählt, hatte nicht die Kraft dazu. Aber ich kann es nicht mehr länger leugnen. Solange ich die Trennung nicht erwähnt habe, konnte ich den Dingen ihren Lauf lassen, einfach so, als wäre nichts geschehen. Ich konnte immer noch glauben, dass alles in Ordnung sei. Aber jetzt, da ich es ausgesprochen habe, ist die Trennung Realität geworden.

Ich werde mich wie damals in mein inneres Dunkel zurückziehen und die Füße zwischen Verständnislosigkeit und Zorn baumeln lassen, weil ich nicht weiß, was ich sagen oder tun soll. Weil das alles meine Kräfte übersteigt.

Jonas war mehr oder weniger ein Mann, der von seiner Mutter verlassen worden war und deshalb stets große Schwierigkeiten hatte, Beziehungen mit Frauen einzugehen. Das habe ich immer geglaubt. Auch, dass ich die Frau war, die es verstand, seinen Widerstand zu durchbrechen. Die Frau, die ihn eroberte, die die Schatten der Vergangenheit vertrieben und ihn zu dem Mann gemacht hat, der er schon immer sein wollte.

Wir sind immer noch das Architektenduo JO, das einen hoch dotierten Wettbewerb gewonnen hat und seitdem mit Anfragen und Aufträgen bombardiert wird. Ich zeichnete nach Dienstschluss, und Jonas entwarf nach meinen Vorschlägen das Interieur.

Es war meine Idee gewesen, uns für eine Ausschreibung zu bewerben. Jonas zögerte anfangs, aber dann las er den Namen der Stiftung und war von der Idee begeistert.

„Wir werden die deutsche Ausgabe von Norman Foster“, jubelte er vor nicht allzu langer Zeit, als hätten wir gemeinsam den Beweis für das perfekte Paar erbracht. „Bald werden alle über uns, das Architektenduo JO, sprechen, Jonte. Dann werden wir der Aufmerksamkeit der Medien nicht mehr entkommen können. Jeder weiß, dass JO aus zwei Personen besteht. Ich kann die PR-Trommel nicht mehr alleine rühren.“

Ich wollte nie in die Marketing-Aktivitäten eingebunden werden. Jonas hingegen nahm diese Aufgabe gerne wahr. Er genoss die Aufmerksamkeit, die das Projekt Bauhaus erregte. Ich lernte einen anderen Jonas kennen: einen Mann, der selbstbewusster denn je war, der aus sich herauskam; einen Mann, der die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.

Der Verleger unseres Architekturbandes stellt mir manchmal immer noch neugierige Fragen über die Ursache meiner Medienangst, davon überzeugt, dass die Ursache Angst sei.

„Ich stehe nicht gerne in der Öffentlichkeit, und Jonas ist durchaus in der Lage, für uns beide zu sprechen“, erkläre ich dann stets.

In den letzten Wochen vor unserer Trennung wurde Jonas immer fröhlicher, strahlte förmlich. Ich glaubte, es sei wegen des Erfolgs, wegen des Geldes, das uns plötzlich zufloss, wegen der Chance, uns hauptberuflich der Architektur widmen zu können.

Jetzt ist Jonas fort, er lebt mit jemand anders zusammen. Wir sind nur noch geschäftlich miteinander verbunden. Und da liegt das Problem. Jonas hat unser Büro erst einmal auf Eis gelegt, obwohl ein drittes Projekt geplant ist. Aber Jonas ist auf einer Falling-in-Love-Tour. Er schwebt auf Wolke sieben durch das Leben, seit er seine große Liebe gefunden hat. Ich kenne nicht einmal ihren Namen, weiß nicht, wo sie wohnt oder wie sie aussieht.

Oder ob sie Kinder will?, stichelt Back-Vocal. Biete ihnen doch deines an.

Sobald meine Gedanken diesen Punkt erreichen, liegen meine Hände auf meinem Bauch. Es kann nicht sein, es ist unmöglich. Wie und wann hätte das passieren sollen?

Ich zermartere mir mein Hirn, das kurz vor einem Kollaps steht. Was habe ich vor nahezu vier Monaten angestellt? Mit wem hatte ich Geschlechtsverkehr? Die Antwort ist stets dieselbe: mit niemandem.

Ich hatte mit niemandem Sex, seit ich allein lebe. Ich bin ausgegangen und habe lediglich einmal in einer Kneipe mit einem jungen Mann heftig geknutscht. Das war alles. Obwohl der Typ attraktiv war und mich zu sich nach Hause einlud, lehnte ich den Sex mit ihm ab.

Was aber ist vor vier Monaten passiert? An drei Abenden hatte ich zu viel getrunken, konnte nicht mehr nach Hause fahren und nahm mir ein Taxi. Allein! Da bin ich mir sicher. Verdammt, wieso bin ich dann schwanger?

Ich bin wütend und versuche abzuschätzen, wie gefährlich gerade mein Zerstörungspotenzial ist.

Es kann nicht sein, sage ich mir immer wieder.

Eine Hand legt sich auf meine Schulter, ich zucke zusammen.

„Wo bist du nur mit deinen Gedanken?“, fragt Mom.

Ich schlucke. „Ich bin schwanger, Mama, und weiß beim besten Willen nicht, wie das sein kann?“

„Verhütest du denn nicht sowieso? Du nimmst doch die Pille, oder?“

„Nein. Ich vertrage sie nicht.“ Ich kann mir kaum vorstellen, dass Mom auf weitere intime Erklärungen dringen wird und mich über das Benutzen von Kondomen ausfragt.

„Du weißt nicht, wer der Vater ist?“

„Nein.“

„Du weißt nicht einmal mehr, mit wem du zusammen warst? Puh, Jonte.“

„Ich bin seit mindestens zehn Monaten nicht mehr mit jemanden zusammen gewesen. Jonas hat mich in den letzten Monaten unserer Ehe nicht mehr berührt, und nach seinem Auszug ist nichts mehr in dieser Richtung passiert.“

„Aber das ist doch gar nicht möglich, Jonte. Der Wind hat dich ganz sicher nicht bestäubt.“ Meine Mutter zögert einen Moment. „Warst du schon mal so betrunken, dass du dich nicht mehr daran erinnert hast, mit wem du womöglich Sex hattest?“

„Nein. Ich bin sicher, dass so etwas nicht passiert ist.“

Sie schüttelt den Kopf. „So wie du das formulierst, hört es sich eher unsicher an. Schließlich muss etwas in dieser Richtung vorgefallen sein. Du wirst doch wohl nicht der Ansicht sein, dass du ohne Sex schwanger geworden ist?“ Sie spricht mit mir, als hätte ich nicht mehr alle Sinne beisammen.

So fühle ich mich auch. Aber da ist noch etwas anderes. Ich habe plötzlich keine Angst mehr. Denn ich habe in diesem Moment eine Entscheidung getroffen: Ich werde einen Mord begehen. Das Leben in mir hat mich zum Töten inspiriert. Fast muss ich lachen. Und ich merke, dass die Angst, die ich bisher kannte, in den Hintergrund gerückt ist.

Du hast keine Angst mehr? Hahaha!

Lach nur! Ich habe vor niemandem mehr Angst - schon gar nicht vor Jonas. Ich fühle mich dazu imstande, ein Leben zu beenden, und dieses Wissen gibt mir Kraft. Denn ich spüre, dass ich die Stärkste, die Klügste, die Kaltblütigste bin. So wollte ich schon immer sein.

Wow, sie hat wirklich keine Angst mehr! Da krieg ich ja Angst …

Es spielt keine Rolle, was Jonas plant, was er denkt. Es spielt keine Rolle, wovon er träumt oder was er noch für sein Leben plant. Es spielt keine Rolle, ob er sich schuldig fühlt oder sich jemals traut, herauszufinden, was ich getan habe. Es spielt keine Rolle mehr, denn ich werde ihn vernichten, auslöschen. Töten.


Kapitel 6

Annika hat sich für heute Abend angekündigt. Ich vermute, dass meine Mutter sie auf mich angesetzt hat.

Nach der Dusche mustere ich mich vor dem Spiegel von Kopf bis Fuß. Meine Taille ist breiter, mein Bauch runder, meine Brüste fühlen sich schwer an. Die Waage zeigt eine Gewichtszunahme von fast drei Kilo. Bravo!

Vielleicht bildest du dir das Kind ja nur ein, um eine Entschuldigung für deine Fressattacken zu haben.

Im Haus ist es ruhig, als wäre in den vergangenen Monaten nichts Erwähnenswertes geschehen. Ich ziehe mich an, gehe ins Schlafzimmer. Die Vorhänge sind geöffnet. Seltsam …

Wenig später stehe ich im Flur. Es riecht nach Putzmittel. Der Geruch ist wie ein Trigger, der unschöne Gedanken in mir auslöst. Wieso? Ob die Schwangerschaft meine Sinne geschärft hat und zugleich meine Gedanken vergiftet?

Ich überprüfe das aufgeräumte Wohnzimmer und die Küche. Alles perfekt – zu perfekt. Ich öffne die Küchenschränke und durchsuche sie, danach die Schränke im Wohnzimmer. Ich weiß nicht genau, wonach ich suchen soll, aber ich erhoffe mir einen Hinweis, warum ich schwanger bin.

Im Schrank, Jonte?, höre ich die Stimme hinter meiner Stirn. Vielleicht haust der geheimnisvolle Erzeuger ja in deinem Kleiderschrank!

Ich gehe die Treppe hinauf und schaue, wie verrückt es auch sein mag, im Kleiderschrank nach, schüttle den Kopf über den Wahnsinn, und sehe kurz aus dem Schlafzimmerfenster. Die Straße ist menschenleer, bis auf einen Schatten in gut dreißig Metern Entfernung, der von der gegenüberliegenden Straßenseite aus anscheinend in meine Richtung sieht.

Ich schließe die Augen und streiche mit den Fingern über das Fensterbord. Dann schlage ich die Augen ganz schnell wieder auf und sehe noch einmal hin. Die Straße ist verwaist. Ich bleibe einen Moment wie erstarrt stehen, bis mir Tränen in den Augen brennen, und ich begreife, dass es eine Halluzination gewesen sein muss. Diese verdammte Schwangerschaft! Jetzt kann ich nur noch beobachten, lauschen und warten. Darauf verstehe ich mich inzwischen sehr gut, aufs Warten.

Im Lauf der vergangenen Monate habe ich eine Menge gelernt und mir diese nützliche Fähigkeit angeeignet. Warten auf Jonas.

Alles in diesem Haus riecht nach Verzweiflung, nach Einsamkeit, aber gewiss nicht nach Wahn. Warum hat Jonas beim Abschied gelächelt? Um mich zu irritieren? Oder war es nur meine tief greifende Verwirrung? Er steht immer neben mir. Ich sehe ihn überall: im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, im Badezimmer. Überall.

Diese plötzliche, intensive Gewissheit, ihn zu vermissen, und diese Absurdität, schwanger zu sein, bringen mein Gemüt erheblich aus dem Lot. Auch fühle ich mich schuldig, weil ich schwanger bin, und ich höre sie im ganzen Haus über mich lachen: Mom, Jonas, seine neue Liebe, Annika. Schwanger, und ich finde nirgendwo einen Hinweis. Alle Spuren sind verwischt … Nichts. Keinen einzigen Hinweis.

Im Untergeschoss gehe ich in den Wintergarten. Neben dem Kamin liegt das Holz gestapelt. Vor den weiß gekalkten Backsteinmauern stehen die Bücherregale. In der Mitte des Raumes eine einladende Couch. Ich zünde den Kamin an, betrachte die vielen Bücher, die Jonas und ich im Laufe der Jahre gelesen haben. Wir haben hier viele gemeinsame Abende verbracht und uns unterhalten, während die Abenddämmerung langsam in Dunkelheit überging, mit den Büchern und meiner Zeichentafel als stille Zuhörer.

Plötzlich zucke ich zusammen. Ich höre ein Geräusch. Ein Rascheln? Schritte? Ja, ich bin mir sicher. Jemand schleicht ums Haus, durch den Garten. Verdammt! Ich werde eine Alarmanlage einbauen lassen, denn dieser Bereich des Hauses stellt geradezu eine Einladung für Einbrecher dar.

Einbrecher! Dass ich diese Möglichkeit nicht früher in Betracht gezogen habe. Ob ein Einbrecher vor vier Monaten die rote Linie überschritten hat? Aber daran müsste ich mich doch erinnern? Das lässt man doch nicht im Schlaf mit sich geschehen!

Ich gehe hastig zur Küchentür, remple in meiner Panik eine Salatschüssel von der Anrichte. Sie zerbricht auf dem Steinboden in unzählige Glasteile. Ich zucke die Schultern.

Verschließ die Küchentür! Bring dich in Sicherheit!

Als ich einen Blick durch das Fenster riskiere, stoße ich einen Schrei aus, wie ein in die Falle getriebenes Tier. Eine Frau späht durch eine der Butzenscheiben. Ich erkenne sie an ihrem zarten Körperbau.

Mein Herz rast, als ich die Küchentür öffne. „Verdammt, Annika! Warum klingelst du nicht einfach an der Haustür?“

Sie sieht mich entgeistert an. „Hab ich, aber du hast mich wohl nicht gehört.“ Sie geht an mir vorbei und wirft einen Blick auf die Scherben.

„Ich habe sie gerade zerbrochen“, gestehe ich. „Es war ein Versehen.“

Annika lacht. „Das sagen alle.“ Dann drückt sie mich überschwänglich und fängt gleich darauf an, mir einen frischen Orangensaft zu pressen.

„Ich werde dich mit Vitaminen vollstopfen“, kündigt sie an, „und dir etwas Leichtes zubereiten. Du solltest deinen Magen jetzt nicht überstrapazieren. Hast du heute schon etwas gegessen?“

Sie weiß es bereits!

„Ein paar Käsecracker und kurz vor der letzten Vorstellung ein Sandwich, das mir eine der Kassiererinnen angeboten hat. Das Kino war heute ein wahres Irrenhaus. Ich habe das Gefühl, dass meine Beine abgestorben sind. Alle wollten Popcorn und Cola. Ich bin nur noch hin und her gerannt.“

Sie streicht mir liebevoll über den Rücken. „Verstehe. Deine Mutter hat mir erzählt, was los ist“, erklärt Annika. „Schäm dich, Jonte, du hättest dich mir längst anvertrauen können. Es ist keine Schande, wenn dein Mann dich einfach so verlässt, und es spielt auch keine Rolle, wenn du unerwartet schwanger wirst.“

Ich atme erleichtert auf.

„Aber was ist das für eine seltsame Sache, dass du nicht weißt, wer dich geschwängert hat?“, fragt sie fast beiläufig und grinst mich dabei mit einem wissenden Blick in den Augen an. „Bist du um die Häuser gezogen, und das Ganze ist außer Kontrolle geraten?“

Nein, keine Sensationsgier, die Frage klingt ernst. Einladend. Du kannst es mir ruhig sagen, Jonte, entnehme ich dem Klang ihrer Stimme, du musst dich für nichts schämen, geschweige denn entschuldigen. Annika weiß, dass ich manchmal meinen Alkoholkonsum nicht unter Kontrolle habe. „Ich bin mit keinem Mann ins Bett gehüpft. Dass ich nicht weiß, von wem, ja nicht einmal, wie ich schwanger wurde, fühlt sich scheußlich an, als wäre ich auf eine unglaublich brutale Weise missbraucht worden. Es fühlt sich schmutzig an.“

Annika nickt. „Möchtest du das Kind behalten?“

Ich zucke zusammen. „Das weiß ich nicht. Mein Arzt meint, dass ich mir erst einmal Gedanken darüber machen soll, was ich wirklich will. Kaum vorstellbar, ein Kind von Mister Unbekannt auszutragen. Ich kann es immer noch nicht fassen.“

Sie legt ihre Arme um mich. „Weiß Jonas es schon?“

Annika hat sich vorbereitet, sie sagt es fast feierlich. „Ein Kind, das in einer Ehe gezeugt wird, gilt als Nachkomme beider Ehepartner.“

Ich hasse ihre Worte. Das Letzte, was ich jetzt brauche, ist ein Zusammenstoß mit der rechtlichen Realität. „Wie kommst du nur darauf? Allmächtiger, was für eine Ansage, verdammt! Das wird übel, wenn ich Jonas ein Kuckuckskind ins Nest lege.“ Meine Augen werden feucht.

Annika stemmt die Hände in die Hüften. „Ach was, er kann die Vaterschaft anfechten. Geh mal davon aus, dass er das sofort nach der Geburt tun wird. Andernfalls wird das Kind zu seinem gesetzlichen Erben. Und er ist unterhaltspflichtig.“

„Woher hast du das alles? Von meiner Mutter? Aus dem Internet?“ Ich wische mir die ersten Tränen von den Wangen. „Ich werde ihn bald anrufen.“

„Irgendeine Tendenz musst du doch haben. Könntest du dir denn vorstellen, das Baby zu behalten?“

„Ich will überhaupt kein Kind. Nicht auf diese Weise, nicht mit der Aussicht auf einen hässlichen Streit mit dem Mann, der im Grunde nicht mehr mein Ehemann ist. Er wird das nicht hinnehmen, da bin ich mir sicher. Aber einen Schwangerschaftsabbruch? Ich weiß nicht, ob ich das kann.“ Mein Verstand schreit auf: Weg mit der Brut! Aber unter diesem Gedanken ist eine Art Ohnmacht, die ich hasse und gleichzeitig schätze.

„Du bist nicht dazu imstande, stimmt’s? Du wirst es nicht tun. Das habe ich mir schon gedacht.“ Annika sieht mich ernst an. „Es würde auch nicht zu dir passen. Ich finde das großartig von dir.“

Und du wärst besser beraten, wenn du mit den Weisheiten in deiner Handtasche auf direktem Wege zum nächsten Kosmetiksalon abzischen würdest.

Ihre Worte treffen, überrumpeln und berühren mich zugleich. Ich beiße die Zähne zusammen und schlucke meinen Ärger runter. „Mir bleibt nur wenig Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. Ehrlich gesagt, möchte ich auf diese Weise keine Mutter werden. Aber …“

„Es ist vermutlich deine letzte Chance, Jonte.“

Vielleicht meine letzte Chance. Ihre Worte umkreisen mich.

Es fehlt nicht viel, um den rasenden Zorn in meinem Inneren in einem lauten Schrei zu entladen.

In der Nacht plagen mich Albträume, in denen ich gegen einen Eindringling in der Küche kämpfe. Ich nehme den Griff einer gusseisernen Pfanne in die Hand und hebe sie hoch. Die Pfanne ist zu schwer, um sie mit einer Hand halten zu können. Ich lege mich auf den Boden und robbe leise zur Seite in die völlige Dunkelheit, den Stiel eisern mit den Fingern umklammernd, den Atem anhaltend. Wenn ich den Eindringling nicht sehen kann, sieht er mich auch nicht.

Ich höre ihn schlurfen. Nur ein einziger Stoß, vielleicht gegen sein Schienbein. Effektiver wäre es, ihm den Schädel einzuschlagen. Ich bin bereit, ihn zu töten. Sosehr ich leben will, so sehr will ich seinen Tod. Ich werde in seinem Blut tanzen.

Die Schritte kommen näher.

Sein plötzliches Lachen versetzt mich in Panik.

„Jonte, gib auf! Was bezweckst du mit deinem Widerstand? Es hat keinen Zweck. Ich bestimme hier die Regeln.“

Vage nehme ich eine finstere Gestalt wahr, kann es kaum noch erwarten. Ich stemme mich hoch und hebe wie in Zeitlupe die Pfanne, höre das Pfeifen meiner Waffe, sehe, wie der Schatten rückwärtstaumelt. Ein tödlicher Schlag mit der Pfanne. Das Gusseisen lässt die Knochen zersplittern. Meine Kräfte versagen.

Allmählich wird die Küche durch ein Flimmern zum Leben erweckt. Ein Lichtstrahl erreicht mich, gefolgt vom Klicken seiner Waffe.

„Zieh dich aus!“

Er wird mich nicht töten, er braucht mich. Er will mich.

Der Gedanke hämmert sich durch mein Hirn. Solange er auf Befriedigung aus ist, habe ich eine Chance, dem Ganzen zu entkommen. Daran halte ich mich fest.

Hände berühren mich. Ich spüre sein Gewicht auf meinem Körper und halte den Atem an und … wache schweißgebadet auf.

Meine Fäuste graben sich in die Bettdecke. Das Einzige, was mir die Stille der Nacht gibt, ist eine Beklommenheit, die meine Brust aushöhlt.

Jetzt, in diesem Augenblick, will ich nur an Aaron denken und suche wieder die Erinnerung. Doch die Dunkelheit legt sich wie eine schwere Decke auf meine Seele.


Kapitel 7

Ich habe vor allem zwei Träume: Der erste ist schön, der zweite ist voller Gewalt. Alle zwei lassen mich zitternd und einsam zurück.

Der erste Traum handelt von einem Mann, dem ich noch nicht begegnet bin. Ich könnte sagen, er küsst sanft meine Lippen, und es dabei belassen, der Einfachheit halber. Doch das wäre eine Lüge. Es wäre ehrlicher zu sagen, dass ich mich mit jeder Faser meines Wesens danach sehne, von ihm geküsst zu werden.

Seit zwei Nächten träume ich einen anderen Traum, der tagsüber in meinem Kopf herumschwirrt. Eine verweste Leiche wird in einem Wald in der Nähe der Autobahn gefunden, und niemand weiß, wer es ist. Es besteht keinerlei Verbindung zu den registrierten Vermissten. An der Fundstelle gibt es keine verwertbaren Spuren vom Täter. Die Tote war in eine schmutzige Scheidung verwickelt und durchlebte eine Trennung, in der beide ihre Worte mit zusammengepressten Lippen zischten und die Messer rund um die Uhr wetzten. Der Traum ist nicht vollständig, er besteht nur aus aufeinanderfolgenden Fragmenten.

Ich fahre mit den Fingern über meine Notizen, die ich mir morgens mache, und öffne die Datei auf dem Laptop. Sobald etwas notiert ist, funktioniert meine Vorstellungskraft, die Gedanken sprudeln, und der Zeichenstift fliegt über die Tafel. Aber die Leiche im Wald wird immer von dem ohrenbetäubenden Schrei eines Babys mit strampelnden Beinchen und einem Daumen im Mund gestört. Wenn ich von dem Baby träume, ist es immer ein Mädchen.

Ich sollte meine Träume mit meiner Psychologin besprechen. Sie nehmen jede Nacht an Bedrohlichkeit zu, und ich kann mich kaum noch auf meine Arbeit konzentrieren. Wenn ich anfange zu zeichnen, grüble ich weniger über das, was gerade in meinem Bauch passiert. Aber auch darüber werde ich mit ihm sprechen müssen.

Mein Handy summt Say Something von Justin Timberlake. Ich überprüfe die Anzeige. Anonym.

„Hallo?“

„Bis du es, Jonte?“

Es ist Jonas.

Er ruft neuerdings ohne Rufnummernerkennung an. Der Verlag hat es ihm empfohlen, da unsere wachsende Popularität nach dem Erscheinen des Architekturbandes das Risiko von Belästigungen birgt. Muss ich jetzt auch eine neue Nummer beantragen? Dazu habe ich nun gar keine Lust. Und Jonas denkt auch nicht darüber nach, er macht sich keine Gedanken um meine privaten Probleme.

„Wie geht es dir, Jonte?“ Seine Stimme klingt eigenartig.

Jetzt sollte ich ihm unbedingt sagen, dass ich in etwa sechs Monaten ein Kind zur Welt bringen werde, das seinen Namen tragen wird, falls er keine rechtlichen Schritte dagegen unternimmt. „Ich habe ein neues Projekt im Auge“, sage ich stattdessen und fasse die Ausschreibung kurz zusammen. „Es ist ein altes Kloster. Der Orden möchte daraus ein Luxushotel machen.“

Er ist begeistert. „Das könnte ein großartiges Projekt werden. Hast du schon erste Entwürfe gemacht?“

Kein Wort über eine Scheidung. Kein Wort über seine neue Freundin. Ob es überhaupt eine Freundin gibt? Vielleicht ist die Beziehung schon zu Ende, und er möchte zu mir zurückkommen. Der Gedanke lässt mich zusammenzucken. Ich will nicht, dass Jonas zurückkommt.

Hm, ist ja interessant, wusste ich gar nicht … Seit wann willst du das nicht mehr?, fragt Back-Vocal.

„Bist du noch da, Jonte? Hast du schon angefangen?“ Seine Stimme klingt plötzlich scharf. Wieso bedrängt er mich.

„Ich bin schwanger.“

Die Stille am anderen Ende der Leitung hat etwas Bedrohliches, sie kündigt weiteres Unheil an.

Ich beiße die Zähne zusammen und schlucke meinen Ärger hinunter. „Ich denke, wir sollten zuerst darüber reden. Du kannst nicht der biologische Vater sein, aber das Kind wurde während der Ehe gezeugt. Ich bürde dir damit eine Verantwortung auf, die du vermutlich nicht willst. Und deine Freundin, wird damit auch nicht unbedingt glücklich sein.“

„Ich habe keine Freundin“, erwidert Jonas sanft.

Wusste ich es doch. Seine Affäre ist bereits zu Ende.

„Ich habe einen Freund.“


Kapitel 8

Jonas war in allem das Gegenteil meiner einstigen großen Liebe. Er ergriff nie die Initiative und musste ständig überzeugt werden. Nach unserem Kennenlernen erzählte er mir von seiner Mutter, die seine Jugend ruiniert und seine Angst vor Frauen geschürt habe. Er hasste sie, und ich hasste sie aus Solidarität.

Es dauerte Monate, bis er mich berührte. Anfangs bestanden unsere Begrüßung und unser Abschied aus einem flüchtigen Kuss auf die Wange, und nur manchmal begegneten sich dabei fast zufällig unsere Lippen. Irgendwann ergriff ich auf einer Party die Initiative. Ich hatte ein paar Gläser Wein getrunken, Jonas auch. Er war lockerer als sonst, tanzte begeistert mit mir und streichelte mir ein paarmal über Rücken und Po. Ich war überrascht, ermutigte ihn, und als wir uns küssten, fühlte es sich gut an. An diesem Abend hatten wir zum ersten Mal Sex, Jonas war warm und zärtlich. Die Erinnerung an einen anderen gut gebauten Mann schob ich in dieser Nacht schnell beiseite.

Es war nicht die atemberaubende Lust, die ich bei Aaron kennengelernt hatte. Es war kein heißer Sex, ich hatte keine Angst davor. Es war süß, vorsichtig, kontrolliert …

Ich habe später nie davon geträumt.

Wir heirateten ein Jahr später. An meinem Hochzeitstag sah ich, wie mein Schwiegervater sich lebhaft mit einer Frau unterhielt. Ich folgte aufmerksam seiner Mimik, seiner Gestik und war erstaunt über sein Strahlen. Wer war sie? Wie schaffte sie es nur, dass mir Tore auf einmal wie ein völlig anderer Mensch vorkam: sympathisch, warmherzig, kraftstrotzend und temperamentvoll. Sie drehte sich um, ich sah in ihr Gesicht, das mir völlig fremd war. Ich hatte später keine Gelegenheit, mit ihr ein paar Worte zu wechseln. Sie blieb nur kurz.

Ich konzentrierte mich wieder auf Jonas, der meinen Arm streichelte. „Du bist eine schöne Braut, Jonte. Du siehst wunderschön aus“, flüsterte er.

Hatte Jonas wirklich gesagt, dass ich wunderschön ausgesehen habe? Ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher. Ich erinnere mich, dass er an unserem Hochzeitstag fröhlich war. Dass ihn das große Interesse an uns überrascht hat. Dass er begeistert meinte, wie sehr er sich darüber freue. Dass seine Reaktion auch mich glücklich machte.

Ich erinnere mich an die warme Sonne auf meinen nackten Schultern, den guten Wein, das köstliche Essen. Die gemütliche Atmosphäre, meine strahlende Mutter. Aber ich bezweifle nun, dass Jonas gesagt hat, dass ich wunderschön ausgesehen habe. Ich erinnere mich nur allzu gut an seine Worte, als wir nach der Feier in der Nacht nach Hause fuhren: „Es war eine gute Entscheidung zu heiraten.“

So war es, aber gewiss nicht so, wie ich es mir erträumt hatte. Wir haben geheiratet, weil Jonas nicht sein ganzes Leben lang mit seinem Vater verbringen wollte. Tore erdrückte ihn, hielt ihn auf ewig im Elend seiner Jugend gefangen.

Jeder, der in einer Beziehung lebt oder gelebt hat, weiß, dass der andere ein Rätsel ist. Auch ich weiß das. Ein Teil des anderen Jonas blieb mir schlicht und einfach verborgen, weil dieser andere ein rätselhaftes Wesen mit eigenen Geheimnissen ist und eine zerbrechliche Seele voller Schatten.

Auch ich behalte meine verborgenen Verletzungen für mich und versuche, meine verworrenen Empfindungen und dunklen Gefühle zu unterdrücken. Ich habe nie geahnt, dass der Mann, mit dem ich gelebt, geschlafen, gegessen und Sex gehabt hatte, mit dem ich mich in Übereinstimmung, in Einklang und Harmonie glaubte, sich als Fremder erweisen und die abstoßendsten Gedanken in mir auslösen würde.

Ich fühle mich verloren, denn ich weiß nicht, was ich von Jonas halten soll. Mir ist, als hätte er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Was soll man tun, wenn man begreift, dass die verborgene Seite eines Menschen in einem nach Kloake stinkenden Sumpf feststeckt?

„Ich habe einen Freund.“ Jonas’ Worte dringen langsam in mein Bewusstsein und lassen plötzlich unzählige diffuse Dinge in einem klaren Licht erscheinen. Warum habe ich noch nie etwas bemerkt, nicht einmal darüber nachgedacht? Jonas war scheu, ein Einzelkind ohne gutes Vorbild. Seine Mutter liebte ihn nicht, und er hatte keine Erfahrungen mit Mädchen. Er war zögerlich, schüchtern und abwartend, unerfahren. Manchmal kam es mir so vor, als würde er vor meinen Berührungen zurückschrecken, und irgendwann wurde es zur Gewohnheit, zur Selbstverständlichkeit, dass stets ich die Initiative ergriff.

Er weinte oft nach dem Sex. Ich dachte, es sei auf eine tiefe emotionale Erfahrung beim Geschlechtsverkehr zurückzuführen. Aber heute weiß ich, dass es Tränen der Erleichterung waren. Weil er es wieder mal hingekriegt hatte. Und weil es vorbei war.

Er mochte es nicht, wenn ich mich in seiner Gegenwart umzog, ja er untersagte es mir geradezu und bestand auch darauf, dass ich die Badezimmertür abschloss, wenn ich unter der Dusche stand, damit er nicht versehentlich in den Raum kommen konnte. Er achtete penibel darauf, mich nicht nackt sehen zu müssen. Ich dachte immer, es wäre ihm peinlich, weil er nicht gelernt hatte, mit dem Körper einer Frau umzugehen. Doch offenbar gewöhnte er sich auch nie daran.

Ich erinnere mich an seine Zurückweisungen und wie verletzt, unglücklich und beschämt ich mich danach gefühlt habe. In solchen Momenten dachte ich oft an Aaron und an unsere Liebe. Sie war um so vieles inniger.

Ich begann selbst allmählich weniger Lust zu empfinden. Nur wenn ich unter Alkoholeinfluss stand, nahm sie manchmal so beispiellose Formen an, dass ich mich am liebsten an ihn gedrängt hätte. Aber das Risiko einer erneuten Ablehnung schreckte mich ab. Die Ursache für dieses Verhalten hatte ich nur bei mir gesucht. Ich duftete nicht gut genug, ich war nicht attraktiv genug, im Bett taugte ich nicht viel, ich war zu dick, ich törnte ihn nicht mehr an.

Wer war ich eigentlich in all den Jahren? Ein eingeschüchtertes Aschenputtel, dem sein Spiegel sagte, dass es kein Schneewittchen war? Wie konnte ich zu dieser grotesken Jonte Sandvik herabsinken, diesem gefügigen, verunsicherten und feigen Geschöpf? Wie war es möglich, dass ich einem homosexuellen Mann ohne jeden Verdacht das Jawort gab? Wie hatte ich jemals Lust oder gar Liebe in seinen Augen wahrnehmen können?

Ich will die Antwort nicht wissen, schiebe sie beiseite. Sie kann mir nur wehtun. Stattdessen gehe in den Keller und stelle einige Utensilien zusammen. Dann nehme ich Mantel und Tasche und laufe in den Wald.

Was mich nur wundert: Wieso hält sogar Back-Vocal die Klappe?

Ich fühle mich sicher im Wald am Drammensfjord, ob ich ihn nun tagsüber oder in der Nacht betrete. Tagsüber sieht man vereinzelt Touristen oder Spaziergänger aus Drammen, in der Dunkelheit dreht dort nicht einmal ein Waldhüter seine Runden.

Meine nächtlichen Spaziergänge über unebene Wege sind stets mit den Erinnerungen an eine glückliche Kindheit verbunden. Der Wald beruhigt mich. Doch heute Abend dresche ich mit der Faust auf die Äste eines Baumes ein. Reagiere mich ab, beruhige mich wieder und lasse nun das Knacken von Zweigen und den vereinzelten Ruf einer Eule wie eine magische Sinfonie in mein Ohr.

Ich gehe weiter. Der Boden ist aufgeweicht vom Regen, der Himmel bedeckt, sodass nicht mal ein fahles Mondlicht den schlammigen Weg zwischen den Tannen erhellt. Ich gelange an eine kleine Lichtung, die ein schützendes Dickicht umsäumt. Dort halte ich inne, blicke prüfend ins Dunkel und lege die bauchige Tasche ab, aus der ich gut abgelagertes Kaminholz nehme. Das Reisig im Wald ist viel zu nass, um damit ein Feuer zu entfachen. Mit kundigen Griffen schichte ich das Holz und entzünde es mit ein wenig Brandbeschleuniger. Dann nehme ich die mitgebrachten Fotos von Jonas und mir aus der Tasche und werfe sie nacheinander in die Flammen. Sehe zu, wie sein Gesicht sich auflöst, sein Körper zerschmilzt.

Es ist Zeit, die Beweise einer Beziehung, einer Hochzeit, eines Urlaubs auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Jonas liebt einen Mann, die vergangenen Jahre waren nichts als eine Lüge.

Warum etwas davon aufheben? Weg mit dem Dreckszeug!

„Alles muss ausgelöscht werden!“, kreische ich wie eine Hexe.

Mit jedem Foto, das ich in die Hand nehme und kurz betrachte, um es dann ins Feuer zu werfen, befreie ich mich von einem weiteren Stück einer verlogenen, schmerzenden Vergangenheit …


Kapitel 9

Er strahlt, ich sehe die vergnüglichen Lichter in seinen Augen. Ich kenne diesen Jonas nicht. Er küsst mich herzlich und hält mich fest. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.

„Du bist blass“, sagt er besorgt. „Ernährst du dich auch gesund?“

Sie ist schwanger, du Idiot!

„Ich habe keine Lust, mich mit meiner Nahrungsaufnahme zu beschäftigen!“ Es klingt wütend, unschön, sogar ein bisschen giftig. Ich versuche, meine Worte wieder zu entschärfen. „Ich fühle mich einfach nicht wohl, Jonas.“

„Weil du schwanger bist“, stellt er fest.

„Zuerst einmal, weil du gegangen bist“, rücke ich es zurecht.

Bravo! Endlich nennst du die Dinge mal beim Namen.

„Da ist ja auch einiges zusammengekommen, Jonas. Als Frau hat es mich natürlich schockiert, dass du plötzlich auf Männer stehst.“

„Das kommt nicht von ungefähr, Jonte. Das war mein ganzes Leben schon so, aber ich habe nicht gewagt, dem nachzugeben. Ich habe immer Rücksicht auf meinen Vater genommen.“

„Auf Tore?“

Er schaut einen Moment zur Seite. „Mein Vater hat absurde Vorurteile gegenüber Homosexualität, und er hält auch weiter daran fest.“

„Weiß er, dass du einen Freund hast?“

„Ja, ich habe es ihm gesagt. Er war am Boden zerstört, völlig entsetzt und wurde richtig ekelhaft, aber ich habe eigentlich auch nichts anderes erwartet. Ich fand seine Reaktion einfach nur peinlich. Ich schämte mich für ihn. Ich bin sein Sohn, und ich denke, dass mein Vater spätestens jetzt seine Vorurteile überwinden und meine homosexuelle Veranlagung unterstützen sollte.“

Er hält inne.

Erwartet er eine Antwort von mir? Denkt er allen Ernstes, das nun ausgerechnet ich für meinen schwulen Mann in die Bresche springe? Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.

„Woran denkst du?“, will Jonas wissen.

Ein Wort schwirrt mir noch immer durch den Kopf: Veranlagung. Sie kommt nicht von heute auf morgen, sie ist von Geburt an da. Aber das muss nicht unbedingt bedeuten, dass man sich dessen immer bewusst ist. Mir fällt auf, dass ich tatsächlich schon dabei bin, Jonas unbewusst in Schutz zu nehmen.

Ich sehe ihm in die Augen. „Als wir geheiratet haben, war dir da bereits bewusst, dass du in Wahrheit auf Männer stehst?“

Er zuckt zusammen und schaut zur Seite. „Ich habe es ignoriert, glaubte, dass es nur eine vorübergehende Laune wäre, dachte, es sei in Ordnung, solange ich nicht darauf achte. Dass es mit der Wut auf meine Mutter zu tun hat. Ich wollte dir nicht wehtun, Jonte. Aber ich komme einfach nicht da raus. Tut mir leid.“

Tut mir ja sooo leid, Jonte. Eine Runde Mitleid für mich!

„Ich habe dich wirklich geliebt“, fährt Jonas fort. Jetzt schaut er mich wieder an. „Und ich liebe dich immer noch. Du bist ein guter Mensch, mein bester Freund. Du hast mir meinen Glauben an die Frauen zurückgegeben.“

Wohl eher den Glauben an die Männer, nachdem er dich für einen verlassen hat …

Ich habe Lust, ihm seine Designervase an den Kopf zu werfen.

Doch er fährt schon fort: „Ich werde dir wegen des Kindes keine Steine in den Weg legen, obwohl es nicht meins ist. Ich werde dir helfen und dich nicht im Stich lassen. Weiß der Vater des Kindes es schon?“

„Ich weiß nicht, wer der Vater ist.“

„Das spielt auch keine Rolle.“

„Doch, das tut es sehr wohl, Jonas! Denn ich weiß nicht, wieso ich schwanger bin. Weil ich gar nicht schwanger sein kann! Sag mir verdammt noch mal nicht, dass das nicht wichtig ist!“.

Wieder dieser irritierte Blick in seinen Augen. „Warst du betrunken und kannst dich nicht mehr daran erinnern?“, fragt er betroffen.

„Manchmal trinke ich mehr, als gut für mich ist, ich weiß“, gebe ich zu. „Aber das wüsste ich doch dann noch. Außerdem mache ich niemals Dinge, die ich danach bereue.“

Die Lüge meines Lebens dringt in den Raum und legt sich über alle Gegenstände wie fallender Staub.

Jonas lächelt vage.

Mein Blick irrt herum, der Raum scheint auseinanderzufallen, Möbel drehen sich im Kreis. Rauschen dröhnt in meinen Ohren.

„Jonte, was …?“, ruft Jonas.

Langsam kehre ich aus dem Niemandsland zurück.

Jonas hat den Sessel näher herangezogen, ich liege auf dem großen Sofa vor dem Tisch aus Glas, mit Blick auf das blassrote Bild, dessen sanfte Farben ich so gernhabe. Ein Feld im Frühling, eine Klatschmohnwiese.

„Atme tief durch.“ Jonas sieht mich besorgt an. „Du warst kurz ohnmächtig. Aber zum Glück konnte ich dich auffangen. Möchtest du etwas trinken? Ich hole ein Glas Wasser. Bleib bitte ruhig liegen.“

Er geht in die Küche, ich schaue ihm nach. Sekunden später kommt er mit einem Glas Wasser zurück. Ich nehme einen Schluck, aber ich würge und halte mir eine Hand vor den Mund. Jonas eilt wieder in die Küche. Bringt ein Handtuch. Sanft wischt er meine Finger und meinen Mund ab.

„Alle glauben, ich wäre nur noch ein kopfloses Huhn“, sage ich. „Alle denken, dass ich verwirrt bin und dass ein alkoholgeschwängerter Abend außer Kontrolle geraten ist. Ich bin natürlich ein paarmal ausgegangen, nachdem du mich verlassen hast. Aber ich bin mir absolut sicher, dass ich seitdem mit niemandem Sex hatte. Und dennoch bin ich jetzt schwanger. Ich fühle mich missbraucht.“

„Vielleicht wurdest du ja vergewaltigt“, erwidert Jonas. „Kann es sein, dass jemand das Haus betreten hat? Du schläfst immer sehr tief, fast schon komatös.“

Ich starre ihn entsetzt an.

„Ist es denn wirklich so ein abwegiger Gedanke?“

„Nein, aber du bist der Erste, der meine Geschichte ernst nimmt und mir glaubt.“

„Natürlich glaube ich dir. Versuch dich daran zu erinnern, ob du an irgendeinem Morgen nach dem Aufwachen einen Blackout hattest?“

Ich erinnere mich tatsächlich. In der Nacht davor hatte ich in der Diskothek einen blonden Typen heftig geküsst. Er wollte mich nach Hause begleiten. Ich wachte morgens auf und erinnerte mich nur noch daran, dass ich abgelehnt und er empört darauf reagiert hatte. Wie ich allerdings in dieser Nacht nach Hause gekommen war, das wusste ich nicht mehr.

Der Typ ist dir gefolgt und hat dein Haus betreten! Anders kann es gar nicht gewesen sein …

Für einen Moment bekomme ich keine Luft mehr.

Jonas schnippt mit seinen Fingern vor meinen Augen. „Wo bist du denn mit deinen Gedanken? Erinnerst du dich nun an den Blackout?“

„Vage, aber hältst du das wirklich für möglich? Warum sollte sich jemand in mein Haus schleichen? Das kommt mir so absurd vor.“

„Dennoch solltest du darüber nachdenken. Ich denke, das ist die einzig mögliche Erklärung für deine Schwangerschaft. Oder hast du mal jemanden mit nach Hause genommen?“

„Ich schleppe nie jemanden ab, wenn du das meinst.“

Setz das Arschloch vor die Tür, Jonte! Der macht auf einfühlsam und stellt dich als Schlampe hin.

Ich bereite mich darauf vor, mich aus der Geborgenheit der Couch hochzustoßen und ihn abzuweisen, erstarre aber in der Bewegung, als Jonas fortfährt.

„Ich rede nicht von abschleppen, Jonte. Ich spreche von Trunkenheit und Blackout. Du hast ein Problem, und das musst du endlich akzeptieren. Versuche nicht immer, es schönzureden. Das hat auch immer mehr zwischen uns gestanden. Ich habe in den letzten Monaten unserer Ehe mit immer größerer Sorge beobachtet, dass du dir hier und dort einen Schluck gegönnt hast.“

Ich trinke heimlich, und Jonas weiß davon. Der Alkohol wärmt und schützt mich doch nur vor der Außenwelt. Zu gerne würde ich mich jetzt Jonas anvertrauen, aber er ist nicht mehr mein Freund.

„Du trinkst doch nicht etwa noch immer, Jonte? Jetzt, wo du schwanger bist.“

Ich hebe verständnislos die Augenbrauen „Wie bitte? Natürlich nicht!“, schnauze ich ihn an.

Er schließt einen Moment die Augen und holt tief Luft. „Gut, denn sonst würdest du bewusst Schäden an dem Baby in Kauf nehmen. Du kannst den Mann, der dafür verantwortlich ist, verdammt hart treffen, indem du ihn rechtlich belangst. Falls du herausfindest, wer der Mistkerl ist.“

Jonas wirkt aufgewühlt, fast zornig. Ich erkenne die charakteristischen Zeichen: das Stirnrunzeln, das Schnaufen durch die Nasenlöcher, die Augen, die in ihren Höhlen größer wirken.

Der Raum dreht sich wieder um mich.

„Du musst dich ziemlich beschissen fühlen. Achte auf deine Atmung. Und lass die Finger vom Alkohol, bevor er dich ganz aufsaugt. Jonte?“

Ich erfasse, wie Jonas in Wahrheit über mich denkt. In seinen Augen bin ich eine realitätsferne, versoffene Frau voll maßloser Selbstüberschätzung. Was ihn hertreibt, ist nur sein schlechtes Gewissen.

Mein Blick schweift zu dem Bild an der Wand. Zwischen all den blassroten Blüten ist ein unscharf konturierter schwarzer Fleck, der – so glaube ich – mich darstellt.

Das Bild steht still. Der Raum dreht sich weiter.

Kapitel 10

Ich bin erschöpft, fühle mich völlig verloren.

Jonas hat ein paar Sandwiches zubereitet und Tee gemacht. „Du hast gar kein Obst im Haus“, murrt er. „Du musst mehr Obst essen. Das ist jetzt wichtig, Jonte.“

Ich lächle und versuche, ein Sandwich zu mir zu nehmen. Mein Mund ist trocken, das Brot klebt an meinem Gaumen. Jonas schiebt eine Tasse Tee in meine Richtung.

„Du bist ja plötzlich so fürsorglich.“

„Das hat Haakon mir beigebracht.“ In seiner Stimme liegt Zärtlichkeit.

Ich habe das Gefühl zu ersticken.

„Mein Freund heißt Haakon, Haakon Jensen, und er ist ein ganz besonderer Mann, ein inspirierender Mann, ein wunderbarer Mann. Haakon ist dänischer Abstammung. Seit ich ihn kenne, freue ich mich wieder darauf, mit dir neue Projekte anzugehen. Das Klosterhotel klingt fantastisch. Wie weit bist du mit den Entwürfen?“

Für Jonas ist das Thema Schwangerschaft wohl erledigt. Er verschwendet vermutlich auch keinen weiteren Gedanken an einen möglichen Eindringling, der seine Noch-Ehefrau missbraucht haben könnte. Sein Mitgefühl ist zu fragil, um lange aufrechterhalten zu werden. Es wird von seiner leidenschaftlichen Liebe beiseitegefegt.

Ein Hoch auf Haakon Jensen, den sensiblen Supermann dänischer Abstammung!

Ich hasse plötzlich alle Dänen. Und gleichzeitig überkommt mich wieder der Hass auf meinen Ex-Mann, den billigen Betrüger, der seine Veranlagung vor mir verborgen hielt und mich missbrauchte, um den von seinem Vater gewünschten Status aufrechtzuerhalten.

„Hörst du mir eigentlich zu, Jonte? Was hältst du von der Idee, dich von der Schwangerschaft dadurch abzulenken, dass du an dem Klosterprojekt weiterarbeitest? Hast du bereits einen Bewerbungstitel im Sinn?“

„Zwischen Himmel und Erde!“

„Wow, das ist fantastisch! Wie unglaublich treffend“, jubelt Jonas. „Wir tauchen gemeinsam in das Projekt ein. Ich übernehme das Marketing. Einfach grandios!“

Ich sehe ihn fassungslos an. Dieser Mann da ist mir völlig fremd, ihn gab es in meiner Ehe noch nicht. Um meine Irritation zu kaschieren, erkundige ich mich: „Wie kommst du jetzt mit deinem Vater zurecht?“

„Wir gehen uns im Moment aus dem Weg. Ich dachte, es wäre vielleicht eine gute Idee …, wenn du ihn mal besuchst und ihm sagst, dass du kein Problem damit hast, dass ich homosexuell bin, und dass du es unterstützt, dass ich für mich selbst diese Entscheidung getroffen habe.“

Das ist doch wohl die Höhe! Hast du das gehört, Jonte?

„Warum sollte ich das tun? Was versprichst du dir denn davon? Als ob er sich je für mich interessiert hätte!“ Meine Stimme klingt kalt. Eiskalt.

„Er hat gedroht, mich zu enterben, wenn ich bei Haakon bleibe“, antwortet er leise.

„Wach auf, Jonas! Du bist doch sonst nicht so blöd. Man kann sein leibliches Kind nicht enterben!“

„Mein Vater könnte bewirken, dass ich nur den gesetzlich festgelegten Anteil bekomme. Das würde das Erbe schon mal halbieren.“

„Du hörst dich aber verdammt gut vorbereitet an. Ist dein Vater krank? Rechnest du damit, dass Tore bald stirbt?“ Ein Horrorszenario drängt sich mir auf und dreht seine Runden in meinen Kopf wie ein Karussell. Mir wird schwindlig.

„Mein Vater ist alt, nicht krank. Aber er ist ein sturer Kopf. Wenn er in einem Anflug von Altersstarrsinn entschieden hat, mich zu enterben, dann zieht er das auch durch. Und da er Polizist ist, fallen ihm ja vielleicht ein paar Gründe ein, um das juristisch zu untermauern. Bitte, sprich mal mit ihm.“

Mir platzt beinahe der Kopf. Ich verliere völlig den Faden dieses Gesprächs. Worum geht es hier in Wahrheit? In was werde ich da hineingezogen?

Der einzige stichhaltige Grund, warum sein Vater ihn enterben könnte, der mir einfällt, ist, dass Tore einen Mordanschlag auf ihn verübt hat … Aber das ist ja lächerlich!

„Sorry, das ist alles ein bisschen viel auf einmal für dich“, sagt er nun und lacht.

Er lacht. Der Jonas, den du kanntest, hat in deiner Nähe nie gelacht. Der war immer so ernst. Humor ist ein Ausdruck von Intelligenz. In seinem Hirn fehlt wohl das Humorzentrum!, hat Annika einmal gesagt. Sie hat schon immer Jonas’ Intelligenz angezweifelt.

Aber ich weiß, dass Jonas nicht dumm ist.

„Mein Vater ist alt geworden“, fährt Jonas fort. „Er ist immerhin schon neunundachtzig. Er vernachlässigt das Haus, deshalb habe ich Kara, eine robuste junge Frau eingestellt, die jede Woche zum Saubermachen kommt. Ein Catering-Unternehmen bringt täglich warmes Essen. Er wird immer langsamer und liest nur noch ein Buch pro Woche. Den Rest der Zeit verschläft er, vermute ich. Wenn wir uns unterhalten, nickt er oft ein. Vielleicht sollte ich seinen Arzt bitten, doch einmal nach ihm zu sehen.“

In diesem Moment bin ich mir plötzlich sehr sicher, dass mein Noch-Ehemann aalglatt ist. Er hält mich zum Narren, spielt ein Spiel mit mir.

Welches Spiel?

„Ach, im Augenblick passiert so viel, dass ich manchmal am liebsten davor weglaufen möchte“, seufzt er. „Tut mir leid, wenn ich dich so mit meinen Problemen überfahre. Ich überlasse es natürlich dir, ob du meiner Bitte nachkommst. Vielleicht ist es auch zu viel verlangt“, schließt er zerknirscht und wechselt abrupt das Thema. „Willst du das Kind überhaupt behalten? Nein, sag nichts, das war dumm von mir, ich weiß ja, dass du schon immer ein Kind wolltest. Haakon und ich werden dich nicht damit alleine lassen, Jonte, irgendwie wird es ja auch mein Kind sein. Außerdem möchte ich nach der Scheidung mit dir befreundet bleiben, dich unterstützen, auf dich achten und dir bei Bedarf mit Rat und Tat zur Seite stehen. Dafür sind Freunde doch da.“

Was faselt er da? Was stimmt hier nicht? Was ist das denn für ein Quark? Haakon und ich, Jonte …

„Ich möchte, dass du jetzt gehst“, sage ich leise.

Er nickt und steht auf. „Ich rufe dich wieder an. Mach dir keine Sorgen und grüble nicht länger darüber nach, wie du schwanger geworden bist. Betrachte es doch einfach als ein unerwartetes Geschenk.“

Ich sollte ihn mit Gewalt rauswerfen, aber ich atme nur tief durch und unterdrücke meine Aggressionen. Ich schließe kurz die Augen und versuche, mich zu beruhigen. Dann schießt es aus mir heraus: „Gib mir bitte die Schlüssel zu diesem Haus zurück. Du hast jetzt ein neues Zuhause.“ Kälte liegt in meiner Stimme.

Er wirkt nicht überrascht, Jonte. Was heckt er aus?

„Ich habe keinen Schlüssel mehr, Jonte. Ich habe ihn irgendwo im Zentrum von Drammen verloren. Tut mir leid.“

Bla, bla, bla, und mindestens ein Tut mir leid zu viel.

„Ich werde ein neues Türschloss anbringen lassen, damit gehen wir auf Nummer sicher. Wer hat eigentlich noch einen Schlüssel zu diesem Haus?“

Diesem Haus? Nicht mehr unser Haus. Es ist wirklich vorbei, ich muss mich dem stellen.

„Meine Mutter und Annika. Aber sie können mich ja wohl kaum geschwängert haben.“

Jonas versucht, die Ironie hinter meinen Worten einzuschätzen. „Das ist nicht lustig, Jonte.“

„Entschuldigung, ich muss mal kurz ins Bad.“

Jonas läuft mir nach. „Ich schicke dir gleich morgen einen Schlosser vorbei, der ein neues Sicherheitsschloss einbaut. Am besten ein Drei-Riegel-Schloss. Wenn ich dir einen guten Rat geben darf: Gib nicht mehr jedem einen Ersatzschlüssel. Höchstens deiner Mutter. Versprichst du mir das?“

Jetzt platzt mir endgültig der Kragen. Ich stoße ihn mit aller Kraft an das Waschbecken, packte ihn an den Haaren und ramme seinen Kopf mehrmals gegen die Wasserhähne. Blut spritzt auf die gekachelten Wände und dekoriert sie mit abstrakten Mustern in Rot. Sein Schädel splittert unter meinen Händen. Zähne springen ihm aus dem Mund und kullern in den Abfluss. Aber ich kann nicht aufhören. Nicht aufhören, bis …

Ich blinzle und blicke in den Spiegel. Jonas steht immer noch grinsend hinter mir. Meine rechte Hand hat sich zu einer Faust geballt, aber ich habe meinen Noch-Ehemann nicht angerührt.

Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, du selbstverliebtes Arschloch!, ruft die Stimme hinter meiner Stirn ihm zu.

Er kommt auf mich zu und küsst mich flüchtig auf die Stirn, als wollte er Back-Vocal beruhigen. „Pass gut auf dich auf, Jonte.“

Ich nicke und begleite ihn stumm hinaus.

Geschieht das alles wirklich? Ich kann dem Leben in diesem Moment nicht mehr folgen. Vor ein paar Wochen war es doch noch ziemlich überschaubar.

Das tiefe schwarze Loch in dem Gemälde an der Wand zieht mich magisch an. Ich falle tief, tiefer und tiefer.

Kapitel 11

An dem Tag, als das Türschloss ausgetauscht wurde, zeigte sich der Himmel in einer Mischung aus schmutzigem Grau und fleckigem Blau. Der Mann, der das Schloss anbrachte, gefiel mir nicht. Er beugte sich nach vorn und hob einen Schraubenzieher auf. Mein Blick verweilte auf den schwarzen Nagelrändern, auf den von Tabak gelb verfärbten Fingern, auf den Flecken am Kragen des zerknitterten Hemdes. Ich sah einen Mann, allein, gebrochen, und fragte mich, wie viel Zeit ihm in diesem Leben wohl noch blieb. Das aufgedunsene Gesicht war von Couperose gezeichnet, Schweiß stand ihm auf der Stirn, und dunkle Ränder umrandeten seine Augen. Dunkle Augen, in denen etwas Finsteres lag. War sein Blick ein Vorbote dessen, was noch kommen würde?

Mein Bauch nimmt an Umfang zu, und Annika hat mir eine Hebamme empfohlen, die ihre Praxis ganz in der Nähe hat. Meine Freundin ist stets hilfsbereit und aufrichtig; und Aufrichtigkeit ist das unsichtbare Band, das uns verbindet, wie unsere leise gemachten Versprechungen und die still gehaltene Treue. Aber da ist auch ein Geheimnis, das nur in meinem Körper schlummert, das an mir nagt aus der Nische der in mir nistenden Schuld heraus.

Ich kann es kaum glauben, dass in mir ein Kind heranwächst, ein Kind, das auf unerklärliche, auf eindeutig missbräuchliche Weise in meinen Bauch gelangt ist. Wenn meine Gedanken in diese Richtung gehen, pfeife ich sie schnell zurück, denn ich verzweifle nur, wenn mich Fantasien über Männer quälen, die in mich eindringen, während ich halb bewusstlos bin. Mir bricht der Schweiß aus, wenn ich daran denke, dass jemand heimlich meine Beine gespreizt, mich berührt, liebkost hat. Ich kriege dann kaum noch Luft.

Allerdings fühle ich mich mit dem neuen Türschloss sicherer. Bisher habe ich jede Nacht nur dreimal nachgesehen, ob die Tür auch wirklich abgeschlossen ist.

Nachdem Jonas bei mir gewesen war, träumte ich in den darauffolgenden zwei Nächten, dass ich im Alter von sechsunddreißig Jahren meinen Mann erschossen habe und meine Mutter davon keineswegs überrascht war. Jonas stolperte rücklings mit einem seltsam wissenden Gesichtsausdruck, als ob er schon immer geahnt hätte, dass ich es tun würde. Gleichzeitig wirkte er überrascht. Er vermochte sich nur kurz auf den Beinen zu halten, nur einige Sekunden lang. Aber in diesen Sekunden wurden seine Gefühle in seinem Blick sichtbar: Bestürzung, Selbstmitleid, Entsetzen und ein so umfassender Ekel vor mir, dass er darüber vor meinen Augen zu altern, ja zu zerfallen begann. Dann dämmerte diesem Greis die Erkenntnis. Das unbegreiflichste aller Gefühle forderte sein Recht ein, der alles andere überlagernde König der Emotionen: der Hass.

In den letzten Sekunden seines Lebens versuchte er, ein Wort mit den vor Abscheu verzogenen Lippen zu formen, versuchte, ein Wort herauszuschleudern, das mich hätte zerschmettern können – aber da wachte ich schweißgebadet auf.

Es war ein seltsamer Traum, zumal ich fünfunddreißig Jahre bin, keine sechsunddreißig.

Ein Blick in die Zukunft, Jonte? Vielleicht tötest du ihn ja in einem Jahr … Die Stimme in meinem Kopf verhallt wie ein fernes Echo.

Ich bin neuerdings ziemlich vergesslich und verliere ständig Dinge. Aber auch Zeit. Dann lebe ich in der Schwebe, auf einer schmalen Schiene zwischen zwei Welten, als hätte ich mein seelisches Gleichgewicht eingebüßt. Vielleicht ist mein Zustand dafür verantwortlich, der sich Schwangerschaft nennt und sich illegal anfühlt.

Ts, ts, Jonte, du drehst am Rad. Du schaffst es nicht. Dieses Kind aus dem Nichts bringt dich um …

„Es muss ein Irrtum sein.“ Ein Flüstern. „Es kann nur ein Irrtum sein.“

Ich fühle mich klein und verloren, möchte einfach nur aufwachen und feststellen, dass ich alles nur geträumt habe. Ich bin nicht schwanger, Jonas ist nicht homosexuell … Oder noch besser: Die Sonne scheint durch die Fenster und kitzelt Aaron neben mir an der Nasenspitze …

Aber ich habe schon zu viel geträumt. Ich muss damit aufhören! Es ist an der Zeit, wieder ins normale Leben zurückzukehren, meine lähmenden Ängste abzuschütteln und sich dem Alltag zu stellen. Ich muss wieder arbeiten, mich, wenn nötig, auch den Konsequenzen des Erfolgs stellen, der sich wie eine Ölpest verbreitet hat. Ich ermahne mich und sage mir, dass viele davon träumen, so gefragt wie Jonas und ich zu sein. Warum nur habe ich es immer vor allem als Last empfunden?

Nur er schwamm im Erfolg. Was genau hat er damals noch mal gesagt? „Wir werden die norwegische Ausgabe von Norman Foster.“

Wenn das passieren würde, sähe unser Leben wahrlich anders aus. Seltsam, dass ich mir das kaum vorstellen kann. Meine Fantasie entfaltet sich in alle möglichen Richtungen, wenn ich mitten in einem neuen Projektentwurf stecke. Das Letzte, woran ich denke, ist der Ruhm. Wenn ich zeichne, ändern sich meine Gedanken, ja selbst mein Äußeres, das bin nicht mehr ich. Dann bin ich eine andere Jonte.

Was für ein schizoider Gedanke, du bist wirklich plemplem, knurrt die Stimme hinter meiner Stirn.

Sind diese Gedanken auch auf mein hormonelles Ungleichgewicht zurückzuführen? Ich muss mit jemandem über die Dinge sprechen, die mich im Moment beunruhigen. Aber ich verschließe mich, gebe diesem Bedürfnis nicht nach. Ich grübele zu viel über Jonas.

Er war mein Kompass, er trug die Lampe, wenn es in meinem Leben dunkel wurde. Jetzt glaube ich nicht mehr daran, und der Gedanke, dass er vielleicht den Fremden aufspüren würde, ist naiv. Meine Schwangerschaft interessiert ihn nicht.

Plötzlich läuft mir ein eisiger Schauer über den Rücken, die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf. Jemand wird sterben!, durchfährt es mich. Ein instinktiver Gedanke? Nein, ich spüre es. Ich kann den Tod riechen.

Ich stehe auf. Würge. Und bin schon an der Badezimmertür, öffne sie. Stürze zur Toilette und übergebe mich. Wieder und wieder.

Danach stütze ich mich an dem schneeweißen Waschbecken ab. Finde mein Gesicht im Spiegel und senke sofort den Blick.

Ein Wort dringt in mein Hirn: Scham.

Ich schäme mich tatsächlich.

Dabei bin ich das Opfer.

Gegen Abend verlasse ich das Haus. Laufe wieder mal in Richtung Wald. Durch den Schnee, der wie ein Leichentuch daliegt. Ich sehe nach links, nach rechts. Halte inne. Irgendetwas stört mich. Da ist etwas, zwanzig Meter von mir entfernt, vielleicht auch dreißig. Bei den Sträuchern, die vor dem Eingang meiner Nachbarin gewachsen sind, diese Sträucher, die ich lange Zeit für Christrosen gehalten habe. Genau da ist etwas, das mich stört. Etwas, das mich beobachtet.

Ich zucke mit der Schulter und wende mich nach links, Richtung Wald. Laufe an den vertrauten Häusern vorüber. Die Namen der Nachbarn fliegen nur kurz vorbei an dem Gedankengeflüster hinter meiner Stirn: Was hat dich da beobachtet? Schau nach! Warum bleibst du so ruhig, du Närrin?

Da merke ich, dass meine Augen mit Tränen benetzt sind. Aber ich weine nicht, es ist eher eine Reizung, vielleicht durch das grelle Weiß des ersten Schnees. Meine Augen sind nicht mehr daran gewöhnt, von Weiß und Winterluft umspielt zu werden. Doch plötzlich halte ich inne und gehe zurück zu den falschen Christrosen.

Malvi Oddbjǫrn, die Nachbarin zur Rechten, schiebt ihre Gardine zur Seite und öffnet das Fenster, als ich mich dem Strauch vor ihrem Haus nähere. Sie hat einen Gruß auf den Lippen, hält aber jäh inne, zögert. Erstarrt. Ihr Gesicht ist kreidebleich.

Es hat ihr die Sprache verschlagen.

Malvi zeigt zitternd auf den Strauch. Ich folge ihrer Geste. In ihrem Vorgarten liegt ein schwarze Katze. Die toten dunklen Augen sind weit aufgerissen und blicken durch die Sträucher zum Weg.

Im Sommer hätte mich das Summen zahlreicher Fliegen gewarnt. Aber im Winter laufen die Verwesungsprozesse langsamer ab. Außer Käferlarven sind nur Mücken und Zikaden auf dem Gesicht, eine Spinne krabbelt über die Schneeoberfläche neben dem Katzenkopf.

Mir stockt der Atem. Ich habe noch nie vor stillen Tieraugen gestanden, die mich ansahen, ohne dass unter ihnen Atem dahinfloss. Denn genau das tat diese Katze. Sie sah mich an.

Wenn man bedenkt, dass ein Tierkadaver fünf Minuten nach dem Tod zu verwesen beginnt, dann kann die Katze da noch nicht allzu lange liegen. Das Gewebe hat sich noch nicht verflüssigt, ist aber immerhin schon ein gigantisches Festmahl für Winterungeziefer, das sich gerade an den dunklen Augen labt.

Meine Augen weiten sich, mein Körper fühlt sich taub an. Übelkeit steigt in mir auf, ich lege eine Hand auf den Mund und starre weiter wie hypnotisiert die Szene vor mir an. Um mich herum windet und dehnt sich das Brummen von Mücken und Zikaden wie eine Aufnahme auf einem alten Magnetband, die sich verklemmt hat. Es scheinen plötzlich viel mehr aufgetaucht zu sein, als hätte sich diese Mahlzeit herumgesprochen. Das pulsierende Summen verstärkt sich immer mehr, meine Mundwinkel zucken. Ich knirsche mit den Zähnen, um die Geräusche zu bändigen, die in meinen Schädel eindringen. Vergeblich.

Tränen treten mir in die Augen vor Anstrengung. In meinem Kopf fällt ein Vorhang aus Finsternis. Ich setze mich apathisch wieder in Bewegung, drehe mich um und laufe weiter. In der Ferne höre ich bereits das Plätschern des Baches, der am Waldrand entlang verläuft.

Die Bäume empfangen mich mit offenen Armen. Ich gehe gebeugt zwischen ihren Zweigen hindurch und komme aufrecht wieder heraus. So war es, so ist es, und so wird es immer sein. Der Wald hilft mir, meine Gedanken zu ordnen, er bringt Klarheit in mein inneres Chaos und verwirrt nicht meine Sinne wie diese tote Katze vor Malvi Oddbjǫrns Haus.

Je tiefer ich in den Wald eindringe, umso dunkler wird er. Schwarz wie die mit Ungeziefer übersäten Augen der Katze. Dunkle Augen, die in den Abgrund des Bösen blicken mussten. Vermutlich von Nachbarskindern in Malvis Garten gelegt.

Ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Fjord, der vor mir zwischen den Ästen aufgetaucht ist. Wenn ich mich gestresst fühle oder von der Vergangenheit gequält werde, ist mein Verstand wie eine trübe Flüssigkeit, in welche die Erinnerungen wie dunkle Tropfen hineinfallen, die alles aufwühlen.

An diesem Abend wirkt der Wald bedrohlich: ein undurchdringliches Grün um mich herum. Der Himmel ist tiefgrau verhangen. Hier und da dringt das Licht der Abenddämmerung durch die Wolkendecke, gleitet durch Bäume und tanzt auf der silbrigen Wasseroberfläche in rosa und goldenen Jaspisfarben. Ein dünner Nebelstreif gleitet über den Drammensfjord wie ein sichtbar gewordener Atemzug.

Etwas verschiebt sich in mir, etwas trudelt an die Oberfläche, etwas Böses.

Mein Kopf ist wieder klar. Aber ich weiß, dass die schwarze Katze eine Warnung ist – eine Prophezeiung, die für mich bestimmt ist, auch wenn dieser Gedanke einem Klischee entspricht.

Ich schließe die Augen und sehe das röteste Rot und das schwärzeste Schwarz, übergebe mich ein zweites Mal. Dann reiße ich die Augen auf, mein Körper wird leicht, ich kämpfe gegen die Ohnmacht, bleibe bei Bewusstsein, gerade so. Ich halte inne, horche, schlucke und öffne meine Augen.

Und plötzlich gebe ich meinen Widerstand auf, und alles fügt sich zu einem klaren Gedanken: Vergewaltigung.

Der Wald vergisst nicht.

Er verschlingt mich.

Auf dem Rückweg gehe ich wieder an Malvi Oddbjǫrns Haus vorbei, weil ich weiß, dass sie beim Anblick einer Katze – tot oder lebendig – immer in Panik gerät. Ich betrete ihr Haus und tröste eine völlig aufgelöste Malvi, die sich nicht erklären kann, wie der Kadaver in ihren Garten gelangen konnte.

Kapitel 12

Ein Geräusch lässt mich mitten in der Nacht hochschrecken. Das Telefon klingelt. Es ist Jonas’ Vater, der sich für den späten Anruf entschuldigt. Er wirkt leicht angetrunken.

„Ich möchte mit dir sprechen, Jonte. Könntest du bitte morgen zu mir kommen?“

Nach Jonas’ kürzlichem Besuch überrascht mich der Anruf meines Schwiegervaters nicht, obwohl wir uns höchstens dreimal im Jahr sehen: an seinem Geburtstag, an Jonas’ Geburtstag, an meinem. Die Feiertage verbringt er lieber allein, aber Jonas besucht ihn regelmäßig. Dann spielen sie Schach oder diskutieren über Bücher. Beim Abschied drückt Tore seinem Sohn stets einen fetten Scheck in die Hand. Ich glaube, dass das Geld der wahre Grund für seine Besuche bei dem alten Mann ist. Jonas kaufte davon Bronzestatuen, die im ganzen Haus zu finden sind. Jonas liebt Bronze, umso mehr verwundert es mich, dass er keine einzige mitgenommen hat. Als wären sie nun nicht mehr von Bedeutung.

Manchmal bekam ich auch ein Geschenk: eine schöne Ledertasche oder ein Schmuckstück, wenn Jonas mich beschimpft oder geschlagen hat und Bedauern über seine dunkle Seite zeigen wollte.

Aber Jonas’ Vater ist nicht meine Angelegenheit.

„Ist etwas vorgefallen?“, fragte ich vorsichtig. Ich möchte wissen, ob er nur etwas Gesellschaft will oder Gesprächsbedarf hat. Denn obwohl er ein langweiliger, schweigsamer und in meinen Augen nichtssagender Mann ist, werde ich ihn keineswegs sich selbst überlassen. Tore hat erst kürzlich von der Homosexualität seines Sohnes erfahren. Das muss den konservativen alten Mann schwer erschüttert haben.

„Vielleicht. Ich bin mir noch nicht sicher“, antwortete er lapidar. Er spricht so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann. „Es geht um Jonas.“

In der Nacht schlafe ich unruhig und träume ein paarmal, dass mein Schwiegervater in meinem Schlafzimmer herumschleicht. Es ist seltsam. Obwohl ich sogar im Traum weiß, dass er nicht in meinem Zimmer sein kann, akzeptiere ich es und frage ihn wiederholt, warum er gekommen sei, was er mir zu sagen habe.

Er antwortet jedes Mal: „Es geht um Jonas.“

Als ich aus dem Traum hochschrecke, brummt mein Schädel. Ein Blick auf den Wecker zeigt mir die fünfte Stunde. Ich frage mich, ob ich ihn richtig verstanden habe. Der alte Mann hatte getrunken, war sentimental, und würde nach dem Aufwachen gewiss in sein lethargisches Verhalten zurückfallen. Er wollte noch nie mit jemandem reden, schon gar nicht mit mir. Wir haben uns nichts zu sagen, wir haben keine Gemeinsamkeiten.

Aber sein Anruf beunruhigt mich. Es geht um Jonas.

Erwartet er von mir, dass ich mich schick herausputze, um aus seinem homosexuellen Sohn einen Hetero zu machen?

Vergiss es!, dröhnt die Stimme boshaft in meinem Kopf. So wie ich das sehe, hat ihn dein Körper eher noch tiefer in die Homosexualität getrieben …

Plötzlich ist es halb acht. Ich habe mal wieder die Zeit verloren. Rasch greife ich nach meinem Morgenmantel, den ich gestern Abend ans Fußende des Bettes gelegt hatte.

Ich greife ins Leere. Er ist nicht da.

Er ist bestimmt auf den Boden gefallen.

Ich lege mich auf den Teppich und spähe unters Bett. Nichts. Meine Hausschuhe, die ich am Abend dort hingestellt hatte, sind ebenfalls verschwunden.

Ich sehe mich um. Der Morgenmantel hängt an der Tür, aber ich kann mir nicht erklären, wie er dort hingelangt sein kann. Und wo sind meine Hausschuhe? Ich finde sie nicht.

Merkwürdig. Ich blicke zum Fernseher. Der Bildschirm zeigt die Morgennachrichten, wenn ich mich nicht täusche. Der Ton ist ausgeschaltet. Ich habe vor dem Schlafengehen gar nicht ferngesehen. Da bin ich mir sicher.

Mach dich nicht verrückt, sage ich mir, das ist lediglich Vergesslichkeit. Du bist überanstrengt und überspannt.

Momentan arbeitet mein Hirn nicht gerade auf Hochtouren, aber das wird sich mit der Zeit schon geben. Ich bin erschöpft. Nicht nur, weil ich seit Tagen unruhig schlafe, sondern vor allem, weil ich unter ständiger Anspannung stehe. Mom hat mal erwähnt, dass sie während der Schwangerschaft ebenfalls sehr träge war und die Außenwelt oft nicht mehr zu ihr durchdrang. Das wird auch bei mir der Fall sein.

Du hast den Morgenmantel an die Tür gehängt!

Und meine Hausschuhe?

Du hast gar keine getragen! Die liegen irgendwo herum.

Dann ist es still in meinem Kopf.

Ich sollte mir keine Sorgen um meinen Schwiegervater machen. Ich werde ihn aufsuchen, mir anhören, was er zu sagen hat, und wieder verschwinden.

Mein Schwiegervater lebt in einem großen, finsteren Haus in Lierstranda, einem kleinen Ort auf der anderen Seite des Drammensfjords. Die Jalousien und bodenlangen, schweren Vorhänge aus Velours lassen kaum Sonnenlicht herein, und die dunkel lackierten Türen und Zargen sorgen für ein mulmiges Gefühl, sobald man das Haus betritt. In allen Zimmern hängt ein muffiger Geruch, weil die Fenster stets geschlossen sind. Sie sind die tausend Augen der Nacht.

Ich komme nicht gern in dieses Haus. Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass es verantwortlich ist für das bösartige Verhalten von Jonas’ Mutter und dass es vielleicht ihren Geist vergiftet hat. Sobald ich das Haus betrete, verspüre ich eine enorme Lust, widerliche Dinge zu sagen, übermäßig laut zu lachen oder einen Streit mit den Anwesenden zu entfachen. Das Haus erregt meinen Widerwillen und ruft Ekel in mir hervor.

Schau, wie es dort steht, dröhnt meine innere Stimme. Finster, abweisend, bedrohlich, als würde es dich warnen, nicht näher zu kommen, wenn du nicht verschlungen werden willst.

Die Haustür ist einen Spaltbreit offen wie ein quergestellter Mund, der grinst.

Die beiden erwarten dich bereits, Jonte, Tore und das Haus.

Mein Herz schlägt in meiner Kehle. Ich stehe jetzt vor der geöffneten Tür und versuche, Geräusche aus dem Inneren des Hauses zu identifizieren, doch da ist nichts. Vorsichtig drücke ich die Tür ein wenig weiter auf.

„Tore?“

Stille.

Die Stille des Todes.

„Tore?“, rufe ich etwas lauter und spähe hinein. Alles ist dunkel. Undurchdringlich schwarz.

Das Schweigen ist kein gutes Zeichen. Ich habe diese Art von Stille schon einmal vernommen.

Es ist jetzt nicht der richtige Moment, um darüber nachzudenken, Jonte!

Zwei Mädchen radeln lachend an dem Haus vorbei, eine Frau wechselt mit dem Kinderwagen die Straßenseite. Ich sehe es und sehe es nicht. Für mich existiert nur noch diese bedrohliche Stille. Ich gehe einige Schritte hinein, bleibe stehen und horche, um mich davon zu überzeugen, dass nur meine Schritte zu hören sind.

„Tore, ich bin es. Jonte“, rufe ich ein weiteres Mal. „Wo steckst du denn? Tore?“

Das Erste, was ich rieche, ist ein mir vertrauter Geruch. Der süßlich schwere, klebrige Geruch von Eisen, der an allem haften bleibt, der Geruch von Blut.

Mein Herz hämmert. Ich gehe in die Küche. Nichts. Vielleicht ist der alte Mann im Wohnzimmer und hat mich nicht kommen hören. „Hallo …“

Das Wohnzimmer liegt im Halbdunkel, beim Durchqueren stoße ich immer wieder gegen etwas. Die schweren Vorhänge sind ebenfalls nur einen Spaltbreit geöffnet. Ich ziehe sie ganz auf und drehe mich um. Der Raum ähnelt einem Schlachtfeld. Stühle sind umgeworfen, die Türen der beiden Vitrinen stehen offen, auf dem Boden liegen Unterlagen verstreut. Es riecht wie in einer Kloake. Ich halte mir mein Halstuch vor die Nase.

„Tore?“

Ich lausche, warte auf eine Antwort. Nichts, nur ein eigenartiges Surren, das aus dem ersten Stock kommt.

Ich gehe die Treppe hinauf. Das Surren kommt näher. Mein Atem beschleunigt sich, und meine Panik löst ein unkontrolliertes Flattern in meiner Kehle aus. Unsichtbare Hände legen sich um meinen Hals. Ist das Surren etwa nur in meinem Kopf?

Obwohl ich noch nie hier oben war, bin ich davon überzeugt, dass ich jetzt vor der Schlafzimmertür stehe. Ich halte den Atem an und schließe die Augen. Eine bodenlose Leere erfasst mich.

Welcher Abgrund lauert hinter dieser Tür?

Ich habe das Blut aus meinen Albträumen vor Augen. Blut! Überall Blut! Das Bettlaken. Der Teppichboden. Alles ist rot durchtränkt. Das blutbefleckte weiße Kleid.

Ich drücke die Türklinke. Öffne langsam die Tür. Gerate in Panik. Würge. Ringe nach Luft. In dieser Sekunde bleibt die Welt stehen. Eine gespenstische Stille tritt ein.

Da ist kein Blut. KEIN BLUT!

Ich öffne die Augen und starre auf den roten kreisförmigen Kranz um seinen Kopf.

Blut!, zischt Back-Vocal, als hätte er mich reingelegt. Rot auf Weiß. Kommt dir das nicht bekannt vor?

Ich blicke in die geöffneten Augen meines Schwiegervaters: große dunkle Krater wie die Fenster dieses Hauses, tränenlos, die leeren Augen eines alten Mannes. Mir wird übel. Es sind die längsten Sekunden in meinem Leben – und die kürzesten. Die Zeit bleibt stehen und zerrinnt mir zugleich zwischen den Fingern. Zeit hat ihre Bedeutung verloren. Zeit bedeutet nun nichts mehr.

Dass dies alles nur Wahn sei, ist der erste Eindruck, den ich verspüre. Diese Irrealität ist fast greifbar und scheint wie eine dünne Pechschicht über der Wirklichkeit zu kleben. Doch das Grauen, das mir durch Mark und Bein dringt, ist real.

Alles wird gut, Jonte. Ein sanftes Flüstern in meinem Kopf.

Ich schließe die Augen wieder, atme tief ein und aus. Konzentriere mich: Ich muss die Polizei verständigen.

Zuerst nach draußen gehen, frische Luft einatmen. In diesem Haus werde ich kein Wort herausbringen.

Ich schreite langsam die Treppe hinunter, mein Blick fällt auf die Kommode neben der Garderobe. Etwas stimmt nicht.

Als ich unten bin, beuge ich mich nach vorne. Erkenne es. Zucke zusammen.

Ich sehe etwas, das da nicht sein kann. Nicht sein darf.

Mein Herz gerät ins Stolpern. Schweißperlen fließen über meine Stirn. Mir schwinden die Sinne.

Vor der Garderobe stehen meine Hausschuhe.

Kapitel 13

Nachdem ich aus den Trümmern, die der erste Schock hinterließ, hervorgeklettert bin, habe ich mich Stück für Stück wieder zusammengesetzt. Ich fürchte mich nicht allzu sehr vor den Toten. Die Lebenden sind in meinen Augen viel angsteinflößender. In den finstersten Ecken ihrer Seelen lauern oft Monster, die darauf warten, geboren zu werden. Mit Monstern kenne ich mich aus. Ich bin ihnen schon einmal begegnet.

Es wimmelt von Leuten auf dem Bürgersteig. Vier Streifenwagen. Zwei Notfallfahrzeuge. Polizisten, Männer und Frauen in weißen Anzügen. Nachbarn, eine Frau mit einem Baby auf dem Arm. Erste Journalisten tauchten auf. Blitzlichtgewitter.

Mir wird schwindlig. Ich halte mich am Zaun fest, kann nicht sprechen, mich nicht bewegen. Der Notarztwagen kommt an, fährt an mir vorbei mit Blaulicht und Sirene und bremst ab.

Was wollen die hier? Dein Schwiegervater ist bereits tot.

Aus einem vorbeisausenden Auto dringen wummernde Bässe. Beamte der Kriminaltechnik und andere Polizisten sind ins Haus gegangen. Bisher hat niemand es wieder verlassen.

Eine Frau kommt auf mich zu, sagt, dass sie drei Häuser weiter wohnt. „Das bedeutet nichts Gutes. Dass sie den alten Mann noch nicht rausgebracht haben …“ Sie schüttelt den Kopf und sieht mich mit finsterem Gesichtsausdruck fragend an.

Hinter ihr steht eine andere Nachbarin. „Achte ein wenig auf deine Worte, Greta!“, zischt sie. „Siehst du nicht, dass es Frau Sandvik nicht gut geht.“

Ich will das alles nicht hören.

Ein Polizist wirft einen leeren Kaffeebecher auf den Rasen und reibt seine vor Müdigkeit gereizten Augen. Ich betrachte ihn aufmerksam: Dunkle Ränder sind unter den Augen, die Lider geschwollen; das Stigma einer durchzechten Nacht. Kommt mir bekannt vor. Dann geht er auf mich zu. „Sie sind Frau Sandvik, die Schwiegertochter von Herrn Soren? Würden Sie bitte mit mir kommen?“

Die Leute werfen mir neugierige Blicke zu. Ich möchte davonlaufen. Ich möchte aus dieser Straße verschwinden und nie wieder zurückkehren. Vitbankveien 22 für immer aus meinem Gedächtnis löschen.

„Kommen Sie bitte?“, fordert der Polizist mich erneut auf, reibt sich die Hände und bläst seinen Atem hinein. „Ich verabscheue den Winter“.

Wir betreten das Haus, während der Notarzt es wieder verlässt.

Ein Mann in einem weißen Overall liegt auf Knien vor der Wohnzimmertür und steckt Gegenstände in kleine Plastiktüten. Im Arbeitszimmer sprechen zwei Männer in Zivil mit einem älteren Herrn. Sie stellen sich mir vor. Der Ältere ist ein Rechtsmediziner. Die anderen beiden sind Polizeibeamte der Kripo.

„Ihr Schwiegervater ist noch im Schlafzimmer, Frau Sandvik“, sagt einer der Ermittler. „Der Notarzt hat seinen Tod bestätigt. Wir bringen ihn in die Rechtsmedizin, sobald der Fotograf mit den Aufnahmen am Tatort fertig ist und die Kriminaltechnik die Spurensuche im Zimmer abgeschlossen hat“.

Ich starre ihn an. „In die Rechtsmedizin?“

„Um uns die exakte Todesursache bestätigen zu lassen. Mein Beileid, Frau Sandvik“, fährt der Polizist fort. „Es tut mir leid. Es sieht so aus, als hätte er Selbstmord begangen. Wussten Sie, dass er im Besitz einer Waffe war?“

Selbstmord?

„Ja. Mein Mann hat das vor Jahren einmal erwähnt. Ich fand es beängstigend, dass er eine Pistole besaß. Aber Jonas – mein Mann – fand das in Ordnung, weil sein Vater als ehemaliger Polizist wusste, wie man mit einer Waffe umgeht. Hat er … sich damit umgebracht?“

„Wo können wir Ihren Mann erreichen, Frau Sandvik?“

Ich gebe dem Polizisten Jonas Handynummer. „Wir leben getrennt.“

„Und wo wohnt Ihr Mann jetzt?“

„Das weiß ich nicht“, antworte ich leise.

„Sprechen Sie denn nicht mehr miteinander?“

„Doch. Es ist alles noch zu frisch, zu kompliziert.“

„Haben Sie Ihren Schwiegervater öfter besucht?“

Vielleicht sollte ich jetzt nicht sagen, dass ich nur selten in diesem Haus war. Und ich sollte schon gar nicht erwähnen, dass Tore mit mir über seinen Sohn sprechen wollte. Oder vielleicht doch? Ich möchte jemanden um Rat fragen. Meine Hausschuhe habe ich unter meinem Mantel verborgen und vor dem Eintreffen der Polizei in mein Auto gelegt. Ich werde natürlich niemandem sagen, dass ich sie neben der Kommode gefunden habe. Ich hätte ja keine Erklärung dafür. Das könnte die Polizei misstrauisch machen, und das ist das Letzte, was ich möchte.

Ich will mein sicheres Leben, mein früheres Leben zurück und wieder gemeinsam mit Jonas an neuen Projekten arbeiten und vielleicht mit ihm zusammenleben. Wenn Jonas gelegentlich Männerbekanntschaften machen will, wäre das auch in Ordnung. Er hat versprochen, mir bei der Erziehung des Kindes zu helfen. Im Gegenzug werde ich ihm helfen, den Verlust seines Vaters zu bewältigen. Dieser Suizid wird ihn schwer treffen und das Gefühl von Ablehnung verstärken, aber ich werde ihm beistehen. Alles wird gut.

Das ist doch Bullshit, Jonte! Jonas und du in einer freien Ehe? Völliger Schwachsinn!

„War Ihr Schwiegervater depressiv, Frau Sandvik?“

„Ja, er war ein sehr in sich gekehrter Mann.“

„Hat er jemals über seinen Gemütszustand gesprochen?“

„Nein, er war äußerst wortkarg. Aber es war nicht zu übersehen, dass er zur Schwermut neigte.“

„Sie wundern sich also nicht, dass er den Freitod gewählt hat?“

„Na ja, ich weiß nicht. Irgendwie schon. Er hat niemals auch nur mit einem Wort angedeutet, dass er sich umbringen wollte. Es gab dafür keinerlei Anzeichen. Ich verstehe das alles nicht. Ich war zuerst im Wohnzimmer, und dort herrschte das reinste Chaos. Als wäre eingebrochen worden. Wie kommen Sie darauf, dass es Selbstmord ist?“

Der Polizist mit den müden Augen kommt auf uns zu. „Wir haben Herrn Soren erreicht, Benni. Er ist auf dem Weg.“ Dann sieht er mich an. „Ihr Schwiegervater muss offiziell identifiziert werden.“

Ich zucke. „Muss ich das machen?“

Mir wird übel, wenn ich an seine Augen und das Loch in seinem Kopf denke.

„Wir können auch auf Ihren Mann warten.“

Mir ist schwindelig.

Der Polizist schiebt einen Stuhl in meine Richtung. „Wir warten besser auf Ihren Mann“, sagt er.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752115703
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Psychospiele Ehe Lügen Psychothriller Sucht Betrug Wahn Psychopath Liebe Affäre

Autor

  • Astrid Korten (Autor:in)

Das Spezialgebiet der Autorin sind Suspense-Thriller, Psychothriller und Romane. Sie schreibt außerdem Romane, Kurzgeschichten und Drehbücher. Ihre Thriller erreichten alle die Top-Ten-Bestsellerlisten vieler Ebook-Plattformen. Die Autorin wurde in USA mehrfach ausgezeichnet.
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Titel: Trügerische Affäre