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Puppenmutter

Das Böse in uns

von Astrid Korten (Autor:in)
324 Seiten

Zusammenfassung

Wenn der Liebeswahn zum Verhängnis wird ... Wenn die Wahrheit so verwerflich ist wie die Lüge ... Tessa Simonet lebt mit ihrem Mann Jules in einer abgelegenen Villa am Stadtrand von Paris. Eines Tages wird sie am helllichten Tag in ihrem Haus Opfer eines Übergriffs. In derselben Nacht begeht Jules Selbstmord. Ihre Familie und ihre Freundin Amelie unterstützen Tessa so gut sie können, wobei jeder seine eigenen Interessen verfolgt. Tessa’ Gefühlswelt wird zu einer Achterbahn aus Verunsicherung, Entsetzen, Verwirrung und Angst, als ein Mord geschieht. Wer schreibt Tessa im Liebeswahn bedrohliche Briefe? Wer ist die Puppenmutter? Tessa traut nur noch wenigen Menschen und sucht beharrlich nach Antworten. Dabei übersieht sie, dass auch sie Teil eines perfiden Intrigenspiels ist. Ein raffinierter, sehr spannender und komplexer Psychothriller, in dem der Leser sich fragen wird, ob die Wahrheit so verwerflich sein kann wie die Lüge. PUPPENMUTTER ist der 13. Thriller von Astrid Korten. Nicht umsonst lauert in Zelle 13 in diesem spannenden Psychothriller das Böse: die Puppe Alice. Erste Stimmen: "Mein Fazit: Wer mutig genug ist, der liest "Die Puppenmutter" und lässt sich mitreissen in die Abgründe des menschlichen Wesens, welche teils dunkler sind wie der tiefste See nach einem Unwetter. Klare Kauf- & Leseempfehlung!!!" (Bucheule) „Selten so ein tolles Buch gelesen. Spannend, verwirrend, erschütternd mit überraschendem Ende. Ein MUSS für Thrillerfans. Kann ich absolut empfehlen. Bitte weiter so." (Karin) "Das Finale ist wie das ganze Buch schlichtweg der Hammer! Ist die Wahrheit so verwerflich ist wie die Lüge. Ja! In diesem Thriller ganz sicher. Meine absolute Leseempfehlung!" (Mein Lesezauber) „Ein äußerst raffinierter Psychothriller mit perfekt gezeichneten Figuren und einem sehr überraschenden und verblüffenden Ende.“ WAZ

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2018 Astrid Korten

http://www.facebook.com/Astrid.Korten.Autorin

www.astrid-korten.com

https://twitter.com/charbrontee

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Lektorat: Christine Hochberger, Buchreif

Korrektorat: Melanie Hinterreiter

Bildnachweis: ©Shutterstock /PicFine / © 16038 Trevillion Images

Covergestaltung ©ZERO Werbeagentur München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden.

Ebook & Print

Wahrheit und Lüge

... wie einer, bis zur Wahrheit durchs Erzählen
Zu solchem Sünder sein Gedächtnis macht.

Dass er der eignen Lüge traut.

William Shakespeare (1564 - 1616)

Über das Buch

Wenn der Liebeswahn zum Verhängnis wird ...

Wenn die Wahrheit so verwerflich ist wie die Lüge ...

Wenn das Böse dich im Visier hat ...

Tessa Simonet lebt mit ihrem Mann Jules in einer abgelegenen Villa am Stadtrand von Paris. Eines Tages wird sie am helllichten Tag in ihrem Haus Opfer eines Übergriffs. In derselben Nacht begeht Jules Selbstmord. Ihre Familie und ihre Freundin Amelie unterstützen Tessa, so gut sie können, wobei jeder seine eigenen Interessen verfolgt.

Tessas Gefühlswelt wird zu einer Achterbahn aus Verunsicherung, Entsetzen, Verwirrung und Angst, als ein Mord geschieht. Sie traut nur noch wenigen Menschen und sucht beharrlich nach Antworten. Dabei übersieht sie, dass auch sie Teil eines perfiden Intrigenspiels ist.

Ein raffinierter, sehr spannender und komplexer Psychothriller, in dem der Leser sich fragen wird, ob die Wahrheit so verwerflich sein kann wie die Lüge.

Erste Stimmen:

„Ein äußerst raffinierter Psychothriller mit perfekt gezeichneten Figuren und einem überraschenden und verblüffenden Ende.“ WAZ

Zwischen den Zeilen

1985

Liebes Kind,

es tut mehr weh, als ich dir je sagen kann, aber dies ist mein letzter Brief an dich. Gestern Abend erhielt ich einen Anruf. Sie werden kommen und das Haus nach dir durchsuchen.

Sie wissen von dir.

Du lebst noch, aber ich bin zu ängstlich und zu feige, herauszufinden, wie es dir in dem Loch geht. Ich habe Angst, dass mich jemand fragt, wie das mit dir geschehen konnte. Was mir jedoch am meisten Angst macht, war dein Angriff auf mich. Eine feige Tat, mich mit Alice, deiner Puppe, erschlagen zu wollen. Alice war doch mein Geschenk zu deinem vierten Geburtstag! Ich hatte sie vor etwa zwei Jahren in dem Loch versteckt, wo du sie entdeckt hast. Dann müsstest du jetzt fünf oder sechs sein. So genau weiß ich das nicht mehr.

Mir ist klar geworden, dass du wütend auf mich sein musst. Dabei hattest du es immer gut bei mir, seit du winzig aus meinem Bauch hervorgekommen bist. Ich gab dir deine eigenen vier Wände, zu essen, zu trinken, hübsche Sachen zum Anziehen, eine wunderschöne Puppe, und du hattest mich. Bestraft habe ich dich nur, sobald dein Ungehorsam mich quälte.

Sie werden gleich hier sein. Und das alles wegen deiner Wut. Warum musstest du dich auch aus dem Keller schleichen? Es ist allein deine Schuld. Ist dir das klar? Du wirst keine Mutter mehr haben und ich kein Kind mehr. Sie werden mich einsperren und du wirst in ein Heim kommen. Oder sie bringen dich in eine Pflegefamilie, wo du dein Zimmer mit anderen Kindern teilen musst.

Du hast diese Tür in dem Raum gefunden, hast die fremden Menschen in unserer Straße gesehen. Sie haben dich angestarrt und die Polizei gerufen. Du hast sie dazu gebracht, mich in die Falle zu locken, ehe du vor lauter Angst wieder in dein Loch gekrochen bist. Ich habe dir immer gesagt, dass das Tageslicht nicht gut für dich ist. Du bist ein Kind der Dunkelheit.

Aber sie werden mich nicht kriegen. Doch dazu muss ich unseren Kontakt abbrechen. Für immer. Ich werde keine Gitter zwischen meinem Gesicht und dem Blau des Himmels dulden, dann wähle ich doch lieber den Tod.

Dachte ich ...

In all den Jahren, die ich dir schreibe, habe ich dir nie gesagt, dass ich dich liebe. Du hast nur mir gehört. Ab sofort wirst du dein Leben mit anderen teilen, vermutlich später mit Alice an deiner Seite. Denn eines weiß ich mit Gewissheit: Du wirst deine Puppe, egal wie sie aussieht, nicht dem Müll überlassen. Du wirst jeden töten, der dir Alice nehmen will. Ihr beide seid euch sehr ähnlich. Entfernt man eure Schmutzschicht, dann sieht man die Unschuld und das Böse.

Du hast im Kampf der Puppe den Kopf abgerissen. Ich werde ihn mitnehmen in Zelle 13 und ihn für dich aufheben, bis du Alice würdig bist.

Liebes Kind, die Dinge laufen jetzt gut für dich.

Liebeswahn

Lass uns mit dem Feuer spielen,

Mit dem tollen Liebesfeuer;

Lass uns in den Tiefen wühlen,

Drin die grausen Ungeheuer.

Frank Wedekind

Kapitel 1

Tessa

Tief unter Wasser dringen Schreie an mein Ohr. Ich nähere mich der Wasseroberfläche, die Schreie werden lauter.

Noch schlaftrunken fahre ich hoch, reiße meinen Morgenmantel vom Fußende des Bettes und streife ihn über. Auf dem Weg zum Gästezimmer stoße ich mit dem nackten Zeh gegen die Kommode, schlage mit meinem Knie an die Tür und unterdrücke einen Fluch.

Als ich das Fenster im Gästezimmer öffne, hat das Schreien aufgehört. Vermutlich ist Lianne, die Tochter meiner Schwägerin, wieder eingeschlafen.

Was sind das nur für Albträume, die das Mädchen quälen? Ob ich Lianne mal darauf ansprechen soll? Ich schiebe den Gedanken beiseite. Grübeln bringt nichts.

Zurück im Bett kann ich nicht wieder einschlafen, obwohl Jules nicht neben mir schläft. Wir sind seit zehn Jahren verheiratet, und ich habe ihn mal geliebt. Wir haben uns bei einem Glas Rosé auf dem Bürgersteig von Saint-Germain-des-Prés, einem Stadtteil von Paris, kennengelernt, und ich war sofort von dem Inhaber einer Supermarktkette angetan. Aber mit der Zeit hat er mich aus seiner Welt verbannt. Unsere Ehe war einst glücklich, vielleicht ein Jahr lang. Heute ist alles eingespielt, normal, absehbar. Bis auf den Sex. Den haben Jules und ich eingestellt.

Paris ist für mich das Synonym von Eleganz, perlenbehangenen Frauen, glitzernden Schaufenstern – von einem Sehnsuchtsort für viele. Paris verkörpert aber auch eine immerwährende Party kreativer Menschen, zu denen auch ich gehöre. Wir wohnen am Stadtrand von Paris, in Boulogne-Billancourt, in einer schönen abgelegenen Villa, die kaum Geräusche verschluckt. Mir gefällt die Abgeschiedenheit von der Hektik der Stadt.

Ich stehe möglichst geräuschlos auf, gehe die Treppe hinunter und betrete die Terrasse. Der Kontrast zur quirligen Innenstadt von Paris und dem ruhigen Boulogne-Billancourt kann kaum größer sein. Aus dem einstigen Dorf ist ein nobler Vorort von Paris geworden.

Liannes Schreie hallen erneut durch die Nacht. Graue Wolken ziehen am fahlen Mond vorbei. Sein Licht sickert durch die Äste der alten Eichen und wirft Schatten auf unser Haus. Mir kommt es vor, als wäre ich Teil eines Stephen-King-Szenarios. Ich gehe wieder hinein und schließe leise die Terrassentür.

Es ist das dritte Mal in zwei Wochen, dass Lianne schreit, vermutlich hat sie etwas Beängstigendes geträumt. Mir kommt das Ganze mittlerweile seltsam vor, denn sobald sie am nächsten Morgen auf dem Weg zur Schule an unserem Haus vorbeigeht, winkt sie mir fröhlich zu. Sie scheint ihren nächtlichen Kummer vergessen zu haben.

Oder sie hat ihn verdrängt.

Ich mache mir fortwährend Sorgen um Kinder, da ich für eine große Kinderschutzorganisation arbeite. Aber mitten in der Nacht wach zu liegen und zu grübeln, ist eigentlich nicht meine Art. Nicht mehr, seit mich Feuerwehrleute vor neun Jahren nach meinem Unfall aus meinem Autowrack gezogen haben und ich gerade noch dem Tod entkommen bin. Schwamm drüber.

Ich sehe mich um. Die wertvollen Antiquitäten meiner Großmutter treffen im Wohnbereich auf avantgardistisches Design in Granit, aufgelockert durch ein großes rotes Ledersofa und zwei Loveseats in Limonengrün und Violett. Hoffnung und der letzte Versuch bezeichnet meine Freundin Amelie die Sessel. Sie sitzt deshalb lieber auf dem roten Ledersofa. Kein Wunder bei ihrem lockeren Lebenswandel.

Der Kronleuchter und andere Lichtelemente schenken der Einrichtung Behaglichkeit und Leichtigkeit. Ein sanftes Wasserelement und Pflanzen, die ich besonders mag, runden die behagliche Atmosphäre und das Gefühl des Wohlbefindens ab. Das Ambiente lenkt mich von meiner Ehe ab.

Ich nehme ein Buch aus dem Wandregal, entscheide mich nach kurzem Zögern für den limonengrünen Sessel und grüble über meine Ahnungslosigkeit, was Lianne betrifft. Aber bin ich wirklich ahnungslos? Nein, ich glaube nicht. Ich bin zwar ein wenig einfältig und gutgläubig, aber ich nehme die unklare dunkle Sache oft wichtiger als die klare Helligkeit.

Jules reagiert stets gereizt auf mein – wie er sagt – angeberisches Zu-Wissen-Glauben.

Wie gut, Jules, dass ein Rindvieh, das zum Schlachthof geführt wird, nicht weiß, was ihm bevorsteht. Auch die zweibeinigen Artgenossen haben dieses zweifelhafte Glück“, antworte ich stets, worauf er noch wütender wird. Dann legt er den Arm um meine Schulter, und ich sehe die Anziehungskraft und die Grausamkeit in diesen grauen Augen, seine primitive Geilheit, spüre seine Lippen, die sich an meinem Hals festsaugen, die Zunge in meinem Mund, eine streichelnde Hand an meiner Scham, die andere hält mich fest, unerbittlich. Irgendwann dringt er in mich ein. Dabei entgehen ihm die Schauer meiner mörderischen Wut.

Jules hin, Jules her, egal! Ich spüre deutlich, wie etwas Bedrohliches sich unserem Viertel nähert, fühle es mit jeder Faser meines Körpers.

Um mich abzulenken, schlage ich das Buch in meinem Schoß auf und lese, bis mir die Augen zufallen. Mit aufrechtem Oberkörper bei brennendem Licht döse ich ein.

Der Wecker klingelt, ich stöhne auf. Ein Tag noch, dann ist endlich Wochenende. Das Frühstück verläuft nicht wie immer. Jules hat an diesem Morgen keine riesige Portion Müsli verschlungen, bevor er ins Büro gegangen ist. Ich hasse Müsli. Hm … ich frage mich, wann er in der Nacht nach Hause gekommen ist.

Als ich ebenfalls das Haus verlassen möchte, klingelt das Telefon. Das Display zeigte einen externen Anruf mit einer unterdrückten Rufnummer.

Ich fluche leise und hoffe, dass meiner Stimme mein Unbehagen nicht anzumerken ist. „Tessa Simonet.“

Jemand atmet schwer, keucht – die Häme eines Spinners. Scheißkerl! Ich lege auf, verlasse das Haus und fahre zum Supermarkt.

Kurz nach vierzehn Uhr will Lianne kommen. Ich habe sie zum Essen eingeladen, da ihre Mutter heute länger arbeiten muss.

Ich parke den Wagen gegen dreizehn Uhr in der Einfahrt und steige aus, da kommt sie mir bereits entgegen, ein schockierender Anblick in Limonengrün und Pink.

„Hey, Tessa! Die letzte Stunde ist ausgefallen, deshalb bin ich früher dran.“

„Hallo Süße!“, erwidere ich ihren Gruß und hebe die Einkaufstüten aus dem Kofferraum. „Ich werde uns heute was Leckeres kochen.“

Sie wirft mir einen misstrauischen Blick zu. „Du kannst kochen?“

Ich lache laut auf. „Ja, seltsam nicht wahr. Jules kocht natürlich besser, aber ich werde mir heute besonders viel Mühe geben. Nimm mir bitte mal die beiden Taschen ab!“

Einen Moment lang herrscht Schweigen.

„Alles in Ordnung, Lianne?“, erkundige ich mich vorsichtig.

Sie nickt. „Ups … du hast mich vergangene Nacht wieder schreien hören.“

Ich hätte die Frage nach ihrem Befinden nicht stellen dürfen und könnte mich dafür ohrfeigen. Vor meinem Wechsel in das Personalwesen der Kinderschutzorganisation war ich Erzieherin. Das Gefühl einer vergeudeten Chance ist für mich fast genauso unerträglich wie einem Kind als Erzieherin nicht helfen zu können, weil mir durch den Gesetzgeber die Hände gebunden sind. Dann fühle ich mich beschädigt, isoliert, machtlos. Lianne ist ein Mädchen, das ständig kalkuliert und abwägt.

„Komm, gehen wir rein“, sage ich schließlich, drehe mich um und gehe über den Rasen zur Haustür. Lianne tut es mir nach. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss und öffne die Haustür.

Lianne kommt hinter mir her und bleibt unschlüssig stehen.

Ich hänge meinen Mantel an die Garderobe. „In die Küche damit! Du siehst übrigens müde aus.“

„Ich habe schlecht geschlafen“, erklärt sie. „Meine Eltern haben sich wieder gewaltig gestritten. Wenn das so weitergeht, werde ich eine Weile bei dir wohnen.“

Ich hebe die Augenbrauen und lege ihr den Arm um die schmalen Schultern. „So schlimm? Passiert das denn oft?“

Lianne gähnt. „Neuerdings immer öfter und immer nachts und sie werden immer lauter. Eltern ... sie müssten verboten werden!“ Sie entzieht sich mir. „Und jetzt möchtest du bestimmt wissen, worüber sie sich ständig streiten?“, bedeutet Lianne.

Ich nicke.

„Natürlich um Geld, worüber sollten die beiden sonst streiten? Dabei haben sie fette Bankkonten! Vielleicht hat Dad ja auch eine andere!“

Mir verschlägt es die Sprache. Kein Wunder, dass das Mädchen Albträume hat. Sie hat Angst, dass die Familie auseinanderbricht.

„Gott sei Dank“, sagt Lianne plötzlich und lacht, „wirst du dir beim Kochen Mühe geben.“

Das Eis ist gebrochen.

In der Küche betrachte ich blinzelnd das neonfarbene T-Shirt und die gestreiften Leggins, Sachen, die ich noch nie an Lianne gesehen habe. Vielleicht ist das der Grund für ihre Albträume.

„Gefall ich dir, Tessa? Ich war mit Mom vor ein paar Tagen einkaufen. Das waren Sonderangebote, superbillig. Danach haben wir den Bruder meiner Freundin aus dem Kindergarten abgeholt.“

„Und was hat er bekommen?“

„Eine rote Jacke mit schwarzen Streifen.“

Plötzlich muss ich lachen. O Gott. „Aha! Spidermanlook.“

„Gefällt es dir, Tessa?“ In ihrer Stimme liegt eine Mischung aus Trotz und Flehen.

Ich betrachte fasziniert die funkelnden Cartoon-Äpfelchen auf dem Kirby-T-Shirt. „Du siehst toll aus, Schätzchen.“

Lianne blickt mich mit den funkelnden Augen ihres Vaters an. Ihr Kinn schiebt sich vor. „Ich ziehe es am Montag in die Schule an.“

Wieder schmunzle ich und zerzause ihr das Haar. „Gute Idee.“

„Was gibt es denn heute, Tessa?“

„Hackfleischauflauf mit Weißkohl.“

„Okay. Wann können wir essen?“

„In einer Stunde.“

„Dann gehe ich nach oben und mache meine Schulaufgaben. Ist das in Ordnung?“

Ich nicke.

Im Laufe meiner Vorbereitungen für den Auflauf werde ich immer unruhiger. Ein Stück Schokolade bringt auch keine Abhilfe. Ich habe keine Ahnung, was mit mir los ist.

Plötzlich klingelt das Telefon. Wieder eine unterdrückte Nummer. Das ist kein gutes Omen. Meine Hand zittert, als ich den Hörer in die Hand nehme. „Tessa Simonet.“

Stille.

Mein Herz flattert.

Jemand atmet schwer.

„Hallo. Wer ist denn da?“

Nur ein Flüstern.

Dann ist die Leitung tot.

Ich starre den Hörer an, lege auf und atme langsam ein und aus. Im Haus ist alles still. Nur in meinem Ohr schrillt der Tinnitus. Kalte Furcht lässt mein Herz stocken. Ich fröstle, wische verzweifelt mit der Hand durch die Luft, als jage ich eine Gefahr zum Teufel.

„Gefahr taucht immer aus dem Nichts auf, Tessa“, behauptet Jules immer.

Zwei Anrufe. Unterdrückte Rufnummern. Kein Name, kein Wort, nur dieses schwere Atmen. Die Gefahr liegt irgendwo auf der Lauer wie eine kalte Umarmung. Die Furcht vor der Unberechenbarkeit eines nahenden Unheils lässt mich schaudern.

Ich gehe rasch die Treppe hinauf, um nach Lianne zu sehen. Sie ist in ihre Hausaufgaben vertieft. Gut so!

Plötzlich lässt mich ein Geräusch unten aufhorchen. Ein leises Atmen? Es kommt aus der Küche. Jemand ist im Haus! Die Küchentür, die in den Garten führt, fällt ins Schloss. Ich schnappe mir den Baseballschläger von Jules und gehe langsam die Treppe hinunter.

In der Küche sehe ich aus dem Fenster in den Garten. Nichts. Nur Sträucher. Bäume. Seltsam. Vielleicht war es nur der Wind.

Ich zucke mit den Schultern und stelle den Auflauf in den Backofen: 180°C, 45 Minuten.

Erster Brief

Liebste Tessa,

du bist eigentlich nur ein klitzekleines Bisschen zu hübsch und das ist manchmal irritierend. Ich lasse keine Irritationen zu, die meiner Liebe im Wege stehen könnten. Du bist die pure Natur, ich liebe die Natur, also liebe ich dich. So einfach ist das.

Dass du erschaffen wurdest, gibt der Menschheit einen Sinn. Wenn ich auf der Straße schlampigen, fetten Weibern mit wabbeliger Haut begegne, hilft es mir, an dich zu denken. Dein Bild vor meinem inneren Auge verdrängt meine Neigung, eine scheußliche Bemerkung gegenüber jenen Frauen zu machen, an denen alles falsch ist und denen das nicht einmal etwas auszumachen scheint. Dann siegt die Freude der Abneigung über diese absolute Unvollkommenheit. Dann macht deine Existenz, auch wenn du ein wenig zu schön bist, den Unterschied aus.

Es spielt keine Rolle, aus welchem Blickwinkel ich dich sehe oder von welcher Seite ich dich betrachte. Wenn du mit dem Rücken zu mir stehst, genieße ich deinen runden Hintern. Seitlich gewährst du mir einen Blick auf deine festen kleinen Brüste. Und auf deinen flachen Bauch, den Bauch, in dem unser Kind wachsen wird. Es ist immer noch möglich.

Diese Gedanken erregen mich, geben meiner Fantasie Raum. Es wird eine Zeit kommen, in der du nackt neben mir liegst und mich in deinen Schoss einlädst. Eines Tages wird es dazu kommen, eines Tages, wenn du bereit bist für den großen Akt der Verschmelzung.

Wenn ich dich von deinen Fesseln befreit habe wie seinerzeit Alice.

Bis es so weit ist, schreibe ich dir Briefe, die ich gut aufbewahren werde. Erst wenn die Zeit dafür reif ist, darfst du sie lesen. Dann will ich dich ansehen, wie deine Augen mir folgen. Ich will sehen, wie du reagierst. Ob du errötest. Ob du verlegen sein wirst, oder vielleicht unsicher. Ja, eines Tages …

Bis dahin träume ich von dir und versuche mir vorzustellen, wie es sein wird, wenn ich deine schönen Lippen küsse. Wie du riechen wirst, wie du dich anfühlen wirst.

Jetzt hoffe ich erst einmal auf eine Gelegenheit, dich fest umarmen zu können, ohne Verdacht zu erregen. Sobald sich diese Gelegenheit bietet, wird mich niemand aufhalten können.

Niemand!

Kapitel 2

Tessa

Ich hätte das Tor zum Garten abschließen sollen.

Wie oft hatte mich Jules vor der Gefahr gewarnt, dass Einbrecher durchaus auch am helllichten Tag in unser Haus eindringen und vor mir stehen könnten?

Die alte Waschmaschine, die ich vor der Fahrt in den Supermarkt noch angeworfen habe, schleudert tosend, sodass ich keine anderen Geräusche wahrnehme. Es ist an der Zeit, diese stromfressende Höllenmaschine zu ersetzen, überlege ich und verpasse ihr einen Tritt.

Mittlerweile ist die Luft in der Küche so stickig, dass ich das Fenster zum Garten weit aufreiße und nach Luft schnappe. Der Geschmack von Kaffee klebt an meinem Gaumen. Meine Magensäure erreicht einen Höchstpegel und dringt bis an die Spitze meiner Speiseröhre vor.

Ich sehe kurz nach dem Auflauf und verpasse dem ratternden Ungeheuer, das gerade seine letzten Umdrehungen hinlegt, erneut einen Tritt. Wieder verspüre ich dieses Unbehagen. Ich kann es an nichts Konkretem festmachen, an keiner direkten Bedrohung, an keinem bestimmten Verdacht, bis ich ein Geräusch höre – ein Knarzen, leise und sehr nah.

Entsetzt hebe ich den Kopf.

Ich muss Lianne warnen! Schnell!

Eine Hand legt sich auf meine bebende Schulter, der Geruch von ranzigem Fett und Leder dringt in meine Nase. Ich hebe den Kopf. Das Küchenfenster spiegelt einen Schatten wider. Ich drehe mich um. In dem Moment packt mich ein maskierter Mann, drückt mich mit dem Rücken gegen die Spüle. Ich will schreien, doch seine wulstige Hand gleitet über meine Nase, meine Lippen, mein Kinn.

Ich bekomme keine Luft und schlage und trete wie wild um mich, kralle meine Finger in seine Jacke.

Panik überfällt mich, als ein zweiter Mann die Küche betritt, ebenfalls maskiert. Er ist wesentlich kleiner als mein Angreifer. Ich schließe meine Augen, konzentriere mich, höre es: das Atmen. Das Keuchen. Der anonyme Anrufer!

„Wenn du schreist, puste ich dir dein Hirn weg, Tessa!“, zischt er.

Er kennt meinen Namen!

Sein Griff ist zu fest. Sein rechter Arm hält meinen Oberkörper eisern umklammert, seine Hand ist immer noch auf meinem Mund.

Versuch, den Mund zu öffnen, beiße in seine Hand!

Ich will tief durchatmen, vernehme das Röcheln meiner Bronchien und beginne zu zittern. Ein Asthma-Anfall kündigt sich an.

Mein Spray!

Verzweifelt ziehe ich das bisschen Sauerstoff in meine Lunge, der durch seine Finger in meine Luftröhre gelangt, drohe zu ersticken.

Er beugt sich über mich. „Verhalte dich ruhig. Verstanden?“

Ich nicke.

Langsam nimmt er seine Hand von meinem Mund. „Wo hast du das Geld versteckt?“, schnauzt er.

Du musst dir seine Stimme einprägen.

„Wir haben nie Geld im Haus.“ Ich bin kaum zu verstehen, ringe nach Luft.

Im nächsten Moment schlägt er zu. In meinem Kopf scheint etwas zu zerbersten. Alle Kraft weicht aus meinem Körper. Er krallt seine Hand in mein Haar und schleudert meinen Kopf gegen den Türrahmen. Alles ist in ein glühendes Rot getaucht.

„Nein“, stammle ich. „Bitte.“

„Vorsicht“, kommt es von irgendwoher. Der zweite Mann kommt näher. Er stinkt wie der Inhalt einer Mülltonne!

„Nein! Die Schlampe belügt uns! Wenn du es besser kannst, dann mach es selbst.“

Ich werde grob an den Schultern gefasst. „Zeig uns das Versteck! Los!“

Blut fließt aus meiner Nase, die Tropfen fallen auf mein Shirt. Rot auf Weiß. Der hämmernde Schmerz in meinem Schädel bereitet mir Übelkeit. Die linke Hälfte meines Gesichts brennt, als stände sie in Flammen.

Konzentrier dich! Sie sprechen akzentfrei.

Ich gehe benommen ins Wohnzimmer, die maskierten Männer sind dicht hinter mir. Ich versuche, mir jedes Details der beiden einzuprägen: Sturmhauben, schwarze Handschuhe. Der Teil ihrer Gesichter, der unbedeckt ist, zeigt, dass sie weißer Hautfarbe sind. Keine Emotionen in ihren Augen.

In der Zeitung hat vor einigen Wochen etwas über eine Serie von Raubüberfällen durch Männer mit weißer Hautfarbe gestanden, vermutlich eine Dreierbande: Zwei Täter drangen in die Häuser ein, während der Dritte mit dem Fluchtauto draußen wartete.

Ich schmecke Metall in meinem Mund, schlucke das Blut hinunter und unterdrücke ein Würgen. Meine Nase schwillt an. Auf dem Tisch liegt eine Papierserviette, ich nehme sie rasch an mich.

Der Mann neben mir packt meinen Arm. „Wo ist das Geld! Beeil dich! Oder möchtest du auf dem Friedhof landen?“

Sein Gesicht ist nah an meinem. Ich könnte meine Zähne in seine Wange bohren. Der Biss eines Menschen ist tausendmal übler als der eines Hundes. Wenn ich es richtig anstelle, ist er für sein restliches Leben gebrandmarkt. Dann gibt es einen Beweis, eine Spur.

Ich zeige auf meine Handtasche, die neben dem Sofa steht. „In meinem Portemonnaie sind hundertfünfzig Euro. Nimm sie. Ansonsten habe ich kein Geld im Haus!“

„In dieser Bude wird es ja wohl einen Safe geben“, schreit der Mann mich an und rammt mir seine Faust ins Gesicht. Ich falle, schlage auf den Boden. Erneut lodert der Schmerz in meinem Gesicht. Ich setze mich auf, hocke wie ein verwundetes Tier auf dem Boden, verwirrt und vor Angst fast blind. Mein Mund öffnet sich, doch die Worte wollen nicht kommen. Ich schüttle panisch den Kopf, versuche, die Benommenheit zu vertreiben. Mein Schmerzensschrei erklingt nur in meinem Kopf. Ich ignoriere meine Qual und richte mich auf, taumle. Meine Kopfhaut ist ein einziger Nadelstich. Gänsehaut am ganzen Körper. Dann sehe ich seine Silhouette. Blicke ihm entgegen.

„Los, sag mir, wo der Safe ist!“ Er blickt zu seinem Kumpel. „Schau du oben nach!“

Ich drück meine Hand gegen meinen Mund. O mein Gott! Lianne ist im Obergeschoss, macht Schulaufgaben. Was wird der Typ mit ihr anstellen?

„Der Safe ist unten“, presse ich mühsam hervor. „Haben Sie gehört? Der Safe ist unten!“

Der Mann auf der Treppe bleibt stehen. „Wir wollen nicht nur dein Geld, Schätzchen“, sagt er. „Wo ist dein Schmuck? In deinem Schlafzimmer? Zeig ihn uns! Aber dalli! Und danach werden wir uns ein bisschen mit dir vergnügen!“ Er greift sich in den Schritt, zieht seine Maske unter dem Kinn hoch und leckt sich mit seiner lappigen Zunge über die Lippen.

Ich mache einen Schritt nach vorn und bedeute, dass sie mir folgen sollen, als ich Liannes Stimme höre. O nein, das darf nicht wahr sein. Lass diese Männer nicht merken, dass da oben ein junges Mädchen ist. Wer weiß, was ihnen dann in den Sinn kommt. Ich werde meiner Schwägerin nie wieder gegenübertreten können, wenn ihrer Tochter etwas geschieht. Bitte, bitte, verhalte dich ruhig Lianne!

„Tessa? Hörst du mich? Ich habe 112 angerufen, sie sind auf dem Weg. Papa habe ich auch angerufen, er wird Jules und Mama Bescheid geben.“

Der Mann bleibt stehen und packt meinen Arm. Ich schlucke, habe kaum noch Kontrolle über meine Stimme. „Bitte …“ Kalter Schweiß entweicht meinen Poren.

Plötzlich wendet er sich ab, nickt dem anderen zu und lässt mich los. Seine Lederjacke knarzt. Die Männer laufen zur Haustür. Bevor sie das Haus verlassen, dreht sich der Größere noch einmal nach mir um, kommt zurück, legt seinen Mund dicht an mein Ohr. „Ich komme wieder … wenn du allein bist!“

Kapitel 3

Da ist es wieder, dieses dröhnende Gefühl. Die Angst.

Ich komme wieder. Wenn du allein bist.

Ich bin allein in der Küche, sehe einen Schatten, schwanke, meine Beine geben erneut nach, ich gehe zu Boden. Dann ist ein Schatten bei mir. Beugt sich zu mir herab. Ein wunderschönes, besorgtes Gesicht. Die unterschiedlich farbigen Augen im Nebel.

„Tessa … O mein Gott, Tessa … Sie haben dich geschlagen …“

Lianne!

Aus dem Hausflur dringen, wie entrückt, aufgebrachte Stimmen zu mir. Eine Tür öffnet sich. Eine Hand an meinem Kopf. Ich friere, der Schmerz pocht in meinem Schädel, in meinem Gesicht. Mir wird übel.

„Frau Mallont?“

Die Stimme dringt nur langsam zu mir durch.

„Frau Mallont?“

Mallont? Ich heiße Simonet! Mein Mann heißt Mallont.

Ich blicke benommen auf. Finde mich langsam wieder in der Realität zurecht.

„Hol einen Arzt und einen Krankenwagen!“, sagt eine dritte Stimme.

Erst jetzt befreie ich mich gedanklich aus der frostigen Umklammerung des soeben Geschehenen. Sie sind weg. Sie kommen wieder.

Jules regt sich regelmäßig über die Polizei auf. Ihm zufolge setzt die Polizeibehörde die falschen Prioritäten, sie sparen an der falschen Stelle, indem sie Personal abbauen. Wenn man sie braucht, kommen sie viel zu spät oder erst gar nicht, so seine Meinung.

Wenn er heute nach Hause kommt, wird er von der schnellen Reaktion überrascht sein, die Liannes Anruf hervorgerufen hat. Die Täter hatten das Haus kaum fünf Minuten verlassen, als vier Polizisten hereinstürmten.

Ich habe versucht, den jüngeren der beiden Polizisten davon abzuhalten, den Notarzt und einen Krankenwagen zu rufen, aber er ließ sich partout nicht davon abbringen.

„Hatten die Täter Schusswaffen oder andere Waffen?“, will eine Polizistin wissen, während wir auf den Krankenwagen warten.

„Nein“, antworte ich leise. „Er benutze seine Fäuste.“

„Können Sie die Täter beschreiben, Frau Simonet?“

Ich schüttle leicht den Kopf. „Sie waren maskiert, aber ihre Stimmen würde ich wiedererkennen und ihren Geruch.“

„Haben die Täter etwas an sich genommen?“

„Nein, nicht einmal das Geld aus meiner Börse.“

„Als sie das Haus verließen, haben sie da noch etwas gesagt?“

„Ich komme wieder, hat er gesagt. Ich komme wieder. Wenn du allein bist“, wiederhole ich die Worte meines Peinigers und ringe nach Luft.

„Einbrecher sagen oft solche Dinge, um ihr Opfer unsicher und verängstigt zurückzulassen“, versucht die Polizistin mich zu beruhigen.

Ich höre ihr nicht mehr zu. Alles dreht sich. Mir ist kalt. Ich weine.

„Brauchen Sie eine Pause?“, fragt die Polizistin, deren Namen ich vergessen habe.

„Nein, danke.“ Meine Stimme klingt klein und müde. „Ich will mich nur hinlegen.“

„Wir sind gleich fertig.“

Lianne nimmt mich in den Arm, flüstert mir etwas zu, das ich nicht verstehe. Ich spüre stattdessen die Kälte, den Wirbel, und … Dunkelheit.

Im Krankenwagen, der in der Einfahrt vor meinem Haus steht, komme ich wieder zu mir. Der Notarzt tastet vorsichtig mein Gesicht ab und misst meinen Blutdruck. Er riecht ein wenig nach Knoblauch.

„Ist meine Nase gebrochen?“, erkundige ich mich.

„Ich glaube nicht, aber zur Sicherheit werde ich eine Röntgenaufnahme vom Schädel veranlassen.“ Er drückt vorsichtig gegen meine Nase. „Tut das weh?“

Ich zucke zusammen. „Ein bisschen. Ich sehe bestimmt schrecklich aus?“

„Sie werden hübsche Veilchen um die Augen bekommen, aber in ein paar Wochen werden ihre Blessuren verschwunden sein. Besser, Sie legen die Teilnahme an Schönheitswettbewerben erst einmal auf Eis.“

Witzbold!

„Mein Geruchssinn scheint jedenfalls in Ordnung zu sein“, sage ich. „Was haben Sie gestern gegessen? Scampi in einer Knoblauchsoße?“

Der Arzt grinst. „Touché. Lammfilet in Knoblauchsoße.“

„Dann werde ich also einige Wochen wie ein Zombie den örtlichen Supermarkt unsicher machen? Jeder wird glauben, dass mein Mann mich verprügelt hat.“

„Die Zeitungen werden von dem Überfall berichten, vermute ich. Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken, Frau Simonet. Haben Sie Kopfschmerzen? Ist Ihnen übel?“

„Nein. In meinem Kopf ist nur Leere.“

„Das sind die psychischen Auswirkungen des Übergriffs.“ Er drückt mir eine Gaze auf die Wunde.

Ich ahne, was jetzt kommen wird und mache eine abwehrende Geste. „Bitte keine Psychokacke, Doc. Wie ich meine Schwägerin kenne, hat sie bereits jede Menge davon bereitgestellt, um ihre psychologischen Erkenntnisse über mir auszuschütten. Ich möchte das hier so schnell wie möglich vergessen und mutiere nicht zum Stresshuhn, das nicht mehr wagt, allein zu Hause zu sein. Jules wird das auch nicht akzeptieren. Jules ist mein Mann. Wo bleibt er denn nur?“

Lianne kommt in den Krankenwagen und setzt sich zu mir. Sie nimmt mich in die Arme und hüllt mich ein in ihre Wärme. „Bruce ist da, Tessa. Er sagt, er sollte heute die Hecke schneiden. Die Polizei lässt ihn aber nicht in den Garten. Deshalb flippt er gerade aus.“

„Wer ist Bruce?“, will der Arzt wissen.

Ich versuche aufzustehen, aber er hält mich zurück. „Bruce ist unser Gärtner. Er ist geistig behindert und lebt ganz in der Nähe in einem Heim für betreutes Wohnen“, erkläre ich und sehe dann Lianne an. „Lianne, lässt du ihn bitte wissen, dass ich hier bin und dass es für ihn besser wäre, jetzt nach Hause zu gehen. Aber mache ihm bitte klar, dass mit mir alles in Ordnung ist.“

„Okay. Mach ich gleich.“

Die Polizistin, die mich im Haus befragt hat, schaut in den Krankenwagen. „Alles okay?“

Ich nicke.

„Wann können wir wieder ins Haus?“, will Lianne wissen.

„Sobald die Spurensicherung ihre Arbeit abgeschlossen hat.“

Meine Nichte dreht sich um. „Da kommt Papa. Und Mama“, ruft sie.

„Wo bleibt Jules?“, flüstere ich.

Ich komme wieder. Wenn du allein bist ...

„Wir fahren in die Klinik, um eine Röntgenaufnahme anzufertigen“, bestimmt der Arzt. „Es haben sich ja genügend Familienmitglieder eingefunden, um sich um Ihren Mann zu kümmern. Jetzt denken Sie zuerst mal an sich.“

„Das tut sie nie!“, sagt Lianne und grinst.

Ich denke an Jules.

„Wir wissen beide, dass das nicht wahr ist“, sage ich.

Wo bleibt Jules? Und dann denke ich nur noch eines: Ich verachte dich!

Kapitel 4

Karola fährt mit ihrem Wagen hinter dem Krankenwagen her. Sie wird mich später nach Hause bringen. Wenn meine Schwägerin eine Entscheidung getroffen hat, ist es zwecklos, ihr zu widersprechen. Aber ich bin froh, dass mir im Krankenhaus jemand beisteht. Karola ist ein Jahr älter als ich, Ende neununddreißig. Sie besucht mich oft. Ich mag sie und ihren unverfrorenen Humor, obwohl sie sich zu oft in meine Angelegenheiten einmischt. Wir haben aber auch viel Spaß miteinander. Ihre Tochter bezeichnet sie als einen pubertären Satansbraten. Komisch. Mir kommt Lianne eher liebevoll vor.

Meine Nase ist nicht gebrochen, die Wunde ist sauber mit einem großen Pflaster bedeckt.

„Sie können immer noch starke Kopfschmerzen bekommen“, warnt mich der Arzt in der Notaufnahme. „Dann nehmen Sie zwei Paracetamol und legen sich ins Bett. Im Übrigen empfehle ich Ihnen nach dem Schock dringend Bettruhe.“

Ich möchte so schnell wie möglich nach Hause und hoffe, dass die Spurensicherung ihre Arbeit inzwischen abgeschlossen hat. Lianne wird erst morgen wieder zu mir kommen. Ich musste dem Mädchen feierlich versprechen, dass ich von nun an stets das Tor zum Grundstück abschließen werde.

Den Abend mit Jules allein zu verbringen, ist kein verlockender Gedanke. Ich will das Geschehene so schnell wie möglich vergessen oder wenigstens verdrängen und brauche dringend Ruhe.

Nachdem ich die Klinik wieder verlassen darf, geht Karola in der Krankenhaushalle zum Parkautomaten, vor dem sich eine Schlange gebildet hat. Immer wieder blickt sie besorgt in meine Richtung.

Ich setze mich in einen bequemen Sessel und sehe mich um. Ein Mann nähert sich mir, schaut mich irritiert an, dann hebt er zögernd seine Hand.

Nein, das ist doch ...

„Du bist es“, sagt er und lächelt mich an. „Ich kann es kaum glauben, du bist es tatsächlich. Und immer noch so schön, was für eine Überraschung. Was für eine angenehme Überraschung.“ Er küsst meine Hand.

Ich hätte meine Hand zurückziehen sollen.

Diese Augen, dieser Mund, das Lächeln, dieselbe Stimme. Derselbe dunkelblonde Lockenkopf, aber jetzt mit feinen grauen Strähnen durchzogen. Er sieht besser aus denn je. „Hallo Boris“, sage ich leise. Meine Stimme zittert. „Ich fühle mich alles andere als gut aussehend mit meiner zerquetschten Nase.“

Er mustert mich. „Spielt überhaupt keine Rolle.“

Verdammt, er soll aufhören, mich anzustarren. „Was hat dich denn hierher verschlagen?“ Die einzige Frage, die mir spontan einfällt.

„Ich arbeite in der Klinik.“

„Oh. Als was denn?“

„Als Krankenpfleger. Die Firma, in der ich davor gearbeitet habe, musste Insolvenz anmelden. Danach habe ich mich für eine Umschulung entschieden. Von allen Möglichkeiten, die sich mir boten, wählte ich die Ausbildung, von der man mir abgeraten hat. Frag mich nicht, warum. Es ist einfach passiert.“

„Vielleicht, weil du schon Erfahrung in der Pflege hattest?“

Boris schaut zur Seite.

„Wie geht es …“

„Meine Frau lebt seit drei Jahren in einem Pflegeheim in St. Germain-ein-Lay. Ich habe es zu Hause einfach nicht mehr geschafft. Es war meine Entscheidung, sie dorthin zu bringen. Danach hat sie die Scheidung verlangt. Sie will mich nicht mehr sehen.“

„Das tut mir leid, Boris.“

Er sieht mich wieder an. „Es war auch eine Erleichterung.“ Er zeigt auf meine Nase. „Wer war das?“

„Ein Einbrecher, das heißt, es waren zwei. Einer von ihnen hat mich angegriffen.“

Er hebt die Augenbrauen. „Du wurdest zu Hause angegriffen? Am helllichten Tag? Komm her!“

Es ist seine Stimme, der besorgte Ausdruck in seinen Augen, sein Körperduft. Sein Geruch ist mir noch immer so vertraut. Meine lieblose Ehe.

Er breitet seine Arme aus.

Ich möchte dem Verlangen nicht nachgeben, von ihm berührt zu werden, aber es gelingt mir nicht. Ich spüre seine Arme um mich, seine Vertrautheit, seine Liebe – damals – und lasse mich fallen.

Kapitel 5

Karola lässt nicht locker. „Aber man setzt sich doch nicht einfach zu einem wildfremden Mann, jammert ihm die Ohren voll und lässt sich von ihm, mir nichts, dir nichts, in den Arm nehmen!“

Karola nörgelt ununterbrochen. Ich möchte ihr am liebsten mit einem großen Pflaster aus der Notaufnahme den Mund zukleben. Sie hört einfach nicht auf.

„Oder war er vielleicht kein Fremder? Was verschweigst du mir?“ Sie schaut mich eindringlich an.

Du solltest es mal mit Pilates versuchen, Karo, das entspannt und verbessert deine Körperhaltung. „Schau nicht so!“

„Das ist keine Antwort, Tessa!“

„Wenn du es genau wissen willst: Ich kenne ihn von früher, aus der Zeit vor Jules.“

„Und wie gut kanntest du ihn?“

Ich sehe zur Seite. Boris spricht mit jemandem. Gleichzeitig schaut er in meine Richtung. „Gut genug, um noch heute zu wissen, wer er ist. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Können wir das Verhör beenden?“

Karola legt ihre Hand auf meinen Arm. „Es war nicht meine Absicht, dich zu verhören. Entschuldige bitte. Wir sind alle so schockiert. Komm, ich bringe dich nach Hause. Jules wird gewiss schon auf dich warten.“

„Ich hatte solche Angst, dass sie Lianne was antun könnten.“

„Meiner Tochter ist nichts geschehen, Liebes. Mach dir also keine Gedanken darüber, was hätte passieren können.“

„Du hast recht.“

An der Eingangstür bleibe ich einen Moment stehen und drehe mich noch einmal um.

Boris unterhält sich immer noch. Er gibt mir mit einer Hand ein unauffälliges Auf-Wiedersehen-Zeichen.

Ich blicke schnell nach vorn. Mein Herz pocht.

Karola lässt mich während der Heimfahrt immer wieder erzählen, was geschehen ist. Ich vermute, dass sie damit etwas bezweckt. Vielleicht die Verarbeitung meiner schockierenden Erfahrung. Sie betrachtet den Übergriff zweifellos nur aus psychologischer Sicht. Hätte Karola ihr Psychologiestudium wieder aufgenommen als Lianne aus dem Gröbsten raus war, hätte ich jetzt vermutlich meine Ruhe. Ich werde sie demnächst zum wiederholten Mal zum Studium ermutigen. Jules’ Schwester hat keine finanziellen Sorgen und muss sich auch nicht mehr schuldig fühlen, weil sie dann weniger Zeit mit ihrer Tochter verbringen kann. Lianne wird aufatmen und mir dankbar sein. Und ich habe meine Ruhe.

„Lass uns bitte einen Moment damit aufhören“, bitte ich Karola. „Ich werde es der Polizei sicherlich auch noch ein paar Mal erzählen müssen.“

„Und Jules …“

„Sie haben kein Geld gefunden“, unterbreche ich sie. „Vorsicht! Die Ampel! Rot!“

Karola tritt voll auf die Bremse. „Das hätte ich fast übersehen. Entschuldigung.“ Sie öffnet das Handschuhfach. „Könntest du nachsehen, ob da hinten noch eine Schachtel Zigaretten liegt?“

„Ich dachte, du rauchst nicht mehr.“

„Gelegentlich.“

Ich taste die Ablage ab. „Keine Zigaretten. Der Einbruch und der Übergriff nehmen dich wohl ebenfalls stark mit.“

Die Ampel springt auf Grün. Karola gibt Gas. „Für dich ist es schlimmer. Arme Tessa. Schau dich nur an.“

Ich lächle gequält. „Meine Schönheit ist dahin!“

Karola prustet drauf los. „Und ich hatte uns schon für die nächste Staffel von Germanys next Topmodell angemeldet. Ich möchte auch mal einen zwanzigjährigen Mann flachlegen!“

„Karola!“

„Was denn? Mach den Mund zu, Süße. Es zieht!“

Karola lenkt den Wagen in unsere Straße und parkt vor der Auffahrt, die noch immer von Polizeifahrzeugen blockiert wird. Ich fühle mich, als hätte ich geraume Zeit unter einer Dunstwolke verbracht, was vermutlich an der Beruhigungsspritze liegt, die der Notarzt mir verabreicht hat.

„Ich sehe Jules’ Auto nirgendwo, Karo.“ Meine Hände zittern. „Wieso ist er nicht hier?“

Karola scheint ebenfalls irritiert. „Soll ich deine Mutter anrufen? Sie wird wissen wollen, was passiert ist.“

Ich versuche, die Wagentür zu öffnen.

„Warte bitte, ich helfe dir.“ Karola steigt aus, geht um den Wagen, öffnet die Tür und streckt mir ihre Hand entgegen, die ich dankbar nehme. „Mensch Tessa, du bist kreidebleich. Atme tief ein und aus … Verstehe. Ich werde deine Mutter nicht anrufen!“

„Das erledige ich selbst. Meine Mutter macht gerade Urlaub in Palma de Mallorca.“

„Und Amelie? Die wird doch wissen wollen, was los war? Sie ist deine beste Freundin. Soll ich wenigstens sie für dich anrufen?“ Karola schlägt ihren Arm um meine Schultern.

„Nein. Jules kommt bestimmt bald. Vielleicht ist er in einem Meeting oder noch unterwegs.“

„Soweit ich weiß, hat er heute keine Termine außerhalb. Und Amelie rufe ich heute Abend selbst an, wenn es hier ruhiger ist. Ich verkrafte den Stress im Moment nicht.“

Die Haustür wird geöffnet. Lianne umarmt mich herzlich. „Ist deine Nase gebrochen?“

„Nein, Süße.“

„Gott sei Dank. Dad kann Jules telefonisch nicht erreichen. Er hat ihm eine WhatsApp geschickt, dass er sofort nach Hause kommen soll. Papa will in die Firma fahren und nachsehen, ob etwas nicht stimmt. Tut es noch weh, Tessa? Du siehst sehr blass aus. Möchtest du etwas essen, etwas trinken?“

Karola schiebt ihre Tochter zur Seite. „Mach mal langsam, Schätzchen. Deine Tante ist erschöpft und erträgt jetzt keine Hektik. Sei bitte so lieb, geh bitte in die Küche und hol uns eine Flasche Wasser und Gläser!“ Dann sieht sie mich an. „Mich würde es nicht überraschen, wenn dein Mann sein Telefon wieder ausgeschaltet hat, um ungestört arbeiten zu können. Komm, wir gehen rein!“

„Mir ist noch nie aufgefallen, dass er sein Telefon ausschaltet, wenn er arbeitet“, sage ich irritiert.

„Du hast so vieles nicht bemerkt!“.

Ich bleibe abrupt stehen. „Was meinst du damit?“

Karola schiebt mich weiter. „Bescheuerte Bemerkung von mir, vergiss es. Du liegst schon richtig: Auch mich nimmt das Ganze sehr mit. Deshalb sage ich auch so komische Sachen.“

Zwischen den Zeilen

Paris, Forensische Abteilung der Strafanstalt La Santé, Zimmer 13.

Die Puppenmutter drückt den Puppenkopf fest an sich. „Wie war das damals, Alice? Erinnerst du dich noch daran?“, flüstere ich.

Der Puppenkopf nickt ...

Der Raum, in dem das Kind einst eingesperrt worden war, war klein, niedrig und ziemlich finster. Es gab nur eine einzige Lichtquelle, eine schmale Luke, dahinter eine schwach flackernde Birne. Die Bruchsteinwände waren mit Schaumstoff ausgekleidet und mit Jute überzogen. Sie erinnerten das Kind an einen mit Laub überwucherten Leinensack. Der Steinboden war nass und kalt, selbst das Bett und der Stuhl fühlten sich stets klamm an. Es roch nach verfaultem Laub, nach Tod und es war dunkel. Trotzdem verspürte das Kind keine Angst, denn es hatte eine Puppe, die es beschützte.

Damals, als das Kind sie fand, war es sich sicher, dass die Schwärze eines Tages vorübergehen würde und dass irgendwo in diesem finsteren Raum eine Tür war, vielleicht zwischen den Fugen der gepolsterten Quadrate, ein Wurmloch, das zu einem Zufluchtsort führte, an dem es wieder atmen konnte.

Das Kind tastete immer wieder blind umher, war sich sicher, dass es einen Ausgang gab. Es musste nur lange genug in die Ecke und in die Dunkelheit starren. Irgendwann würden sich die Fugen öffnen und dahinter eine Tür freigeben, die in einen winzigen Gang und zum Licht führte. Es hatte sie, so glaubte es, schon einmal gesehen. Doch sobald das Kind seine Erinnerungen daran aufrufen wollte, lösten sich die Bilder auf. Doch etwas anderes trat an ihre Stelle: Ein Atemhauch fegte vorbei – kalt, eisig. Es streckte einen Arm nach dem Schatten aus, manchmal auch ein Bein und verharrte in dieser Position, still wie eine Statue.

Dabei hatte es sein Spiegelbild vor seinem inneren Auge. Komisch sah es aus, als wäre es von einer Eismaschine schockgefroren worden; sein Mund aufgerissen, das Gesicht weiß. Seine Augen dunkel, sein Blick unheimlich, weil es hinter den Fugen etwas wahrnahm. Dort, wo die Wände sich bewegt hatten, glaubte es, dass der Himmel dunkler war und schwarze Wolken vorbeifegten, dort lag jetzt diese Puppe: das Gesicht klein, blass wie der Mond, mit dunklen Schatten unter den Augen, die zu fragen schienen: „Was machst du denn mitten in der Nacht auf dem kalten Fußboden?“

Etwas in den Augen der Puppe erregte die Aufmerksamkeit des Kindes; bernsteinfarbene Augen, deren Lider so zart waren, dass die Iris hindurchschimmerte. Das Kind setzte sich langsam in Bewegung und lief in die Richtung der Puppe. Ein kalter Luftzug wirbelte einige feine Staubkörner auf. Es wich zurück und rieb seine Augen, als könnte es damit das Bild vor sich löschen, aber es blieb: ein kleiner, gekrümmter Hals und Lippen, die über den Zähnen hochgezogen waren. Es sah noch einmal hin. Nein! Keine hochgezogenen Lippen, sondern eine grobe Kordel, fest um das Gesicht der Puppe gebunden. In dem Anblick lag eine Grausamkeit, die selbst einen Mond bedrohlich hätte schillern lassen. Es hob die Puppe auf, deren Batterie sich geleert hatte und deren Gekreische nun wie ein Echo ausklang. „Alice … Mein Na … st … A … ice.“

Das Kind entfernte die Kordel, säuberte mit seinem Arm das Gesicht der Puppe und fand Alice wunderschön. Sie trug nur Stofffetzen, rot durchtränkt, und war doch so schön, so traurig. Es hörte in Gedanken das Wimmern eines Kindes, dem die Puppe gehört hatte, seine Schreie, sein Schluchzen. Ein Hauch von Eisengeruch, den es selbst nur allzu gut kannte, drang in seine Nase. Der Geruch von Blut und der Gestank von Urin; die Gerüche seiner Kindheit.

Das Kind war weder geschockt noch beunruhigt und fragte sich, wo sein Platz in diesem löchrigen Szenario war. Irgendwo auf der Welt teilte gewiss ein anderes Kind sein Schicksal. Mit Alice in der einen Hand zeigte es mit der anderen der Wand seine unbändige Wut, streckte ihr seine geballte Faust entgegen.

Das Kind wusste, es würde eines Tages schlagen, furchtbar schlagen. Die Sorte von Schlägen, die sehr wehtaten. Die Art von Schlägen, die sich anfühlten, als seien sie endlos, die jede Hoffnung töteten, während der Körper am Leben blieb. Wie die Schläge seiner Mutter.

„Hallo“, sprach Alice in Gedanken zu ihm, „beruhige dich. Ich werde eine Lösung für dich finden. Du wirst mich in diesem Dreck beschützen und ich werde dich beschützen!“

Das schwarze Loch umkreiste das Kind, wurde zu einem Wirbelsturm. Dann verschmolz das Dunkel erneut mit der Wand … bis ich die Tür fand.

So war das, damals in dem dunklen Raum, bis das Kind die Tür fand ...

Es ist schon so lange her, aber so wird es wohl gewesen sein, Alice.

Kapitel 6

Amelie

Sie muss sich noch an den Gedanken gewöhnen, aber Amelie ist davon überzeugt, dass sie eine gute Entscheidung getroffen hat. Sie hat davor nie das Bedürfnis verspürt, Mutter zu werden und war immer davon überzeugt, dass sie das nicht wollte. Vielleicht hatte es etwas mit der biologischen Uhr zu tun, die unabhängig von dem, was Frauen wollen, gnadenlos weitertickt. Oder vielleicht war es ein Weg, mit ihrer trostlosen Kindheit abzurechnen. Egal, sie will ein Kind. Von ihm, von dem Mann, den sie seit Jahren kennt, der aber erst seit sechs Monaten die wichtigste Rolle in ihrem Leben spielt. Sie würde nie den Moment vergessen, in dem sie sich das erste Mal angesehen hatten, und beide erkannten, dass etwas Unumkehrbares geschah. Dieser Augenblick, diese Sekunden auf der Schwelle, der Moment zwischen Sympathie und Liebe, zwischen Winter auf den Wangen und Frühling im Herzen, schwärmt sie stets.

Es ist jetzt drei Wochen her, seit sie das letzte Mal die Pille eingenommen hat, und sie möchte, dass er es erfährt. Sie möchte ein neues Leben in ihr, das alte ausradieren. Ihre Beziehung ist eine einzige Heimlichkeit, sie will es fair halten. Sie erwartet seinen Protest, aber sie wird ihn davon überzeugen, dass ein gemeinsames Kind die Welt zu einem besseren Ort macht. Weil es sich so anfühlt.

Sie wird eine schöne und ausgeglichene werdende Mutter sein. Das bedeutet eine ausgewogene Ernährung, um sicherzustellen, dass sie nicht zu einer Art Michelin-Frauchen mutiert. Grauenvoller Gedanke.

Seit sie weiß, dass sie schwanger werden möchte, denkt sie mehr denn je an ihre Mutter. Sie ist überzeugt, dass ihre Mutter diese Entscheidung verstanden hätte, auch wenn sie es Amelie nie sagen wird. Nicht, weil sie im Würgegriff ihres Glaubens gefangen oder der Gnade von Amelies Vater ausgeliefert wäre. Ihre Mutter ist tot. Nach der Beerdigung hat sie das Grab nie wieder besucht. Sie findet sogar den Friedhof, auf dem ihre Mutter beerdigt wurde, abstoßend christlich. Bis heute glaubt sie, sie hätte den Tod ihrer Mutter verarbeitet. Ihre Gedanken sprechen eine andere Sprache.

Das Handy meldet den Eingang einer WhatsApp-Nachricht. Sie haben sich um halb drei in ihrem Motel verabredet. Möchte er sie früher treffen?

Sie liest die Nachricht dreimal, versteht jedoch nicht wirklich, was sie bedeutet.

Ich bin schon da. Bitte komm schnell zu mir. Ich habe eine schlechte Nachricht erhalten.

An einem Tag wie diesem kann keine schlechte Nachricht ihr Wohlbefinden übertreffen. Sie antwortet sofort. Ich komme sofort. Mit einer sehr guten Nachricht.

Sie hat die fruchtbaren Tage ihres Zyklus und ihren Eisprung berechnet. Heute kann sie schwanger werden.

Kapitel 7

Tessa

Die kriminaltechnische Untersuchung ist abgeschlossen, die Spurensicherung hat sich verabschiedet und ein wahres Chaos hinterlassen.

„Sie müssen noch Anzeige erstatten und Ihre Aussage zu Protokoll geben, Frau Simonet. Aber das hat Zeit, bis Sie sich von dem Schrecken erholt haben“, sagt der leitende Ermittler. „Könnten Sie morgen zum Polizeirevier kommen?“

„Ich habe doch schon alles ausgesagt“, erwidere ich ungeduldig.

„Wir brauchen noch eine offizielle Anzeige“, erklärt der Polizist. „Schließlich wurden unmittelbar nach dem Notruf polizeiliche Maßnahmen durchgeführt. Es gab einen Aufruf an alle Polizeifahrzeuge in Ihrer Nähe, den Einsatz eines Polizeihubschraubers und einen Aufruf an die Bevölkerung.“

„Entschuldigung. Natürlich komme ich morgen zur Dienststelle. Und vielen Dank.“

Im Moment kann ich mir nicht vorstellen, was ich noch aussagen sollte oder was sie mich fragen wollen. Meine Schwägerin, mein Schwager und meine Nichte machen sich zunehmend Sorgen, weil Jules noch nicht eingetroffen ist. Mir fällt auch auf, dass sich von Minute zu Minute zu meiner Sorge auch zunehmende Wut gesellt.

Ich kann förmlich Karolas Gedanken lesen: Typisch für Jules, die Nachricht, dass seine Frau am helllichten Tag Opfer eines Übergriffs wurde, nicht als Priorität anzusehen.

Ich lege mich auf das rote Sofa und schäme mich ein bisschen, als Lianne sich auf dem Teppichboden niederlässt. Ich schaffe es noch nicht einmal, mich aufzusetzen und bleibe einfach liegen. „Ich fühle mich ein wenig krank, Schatz.“

Karola wirkt beunruhigt, dabei ist sie nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Da Karola nervös wirkt, muss ich schlimm aussehen.

Sie steht auf. „Brauchst du was, Tessa? Aus der Apotheke oder so?“, fragt sie.

„Danke, ich habe alles, was ich benötige, im Haus. Ich brauche nur Ruhe, Karola. Verzeihung.“

„Kein Problem.“

Ich ziehe mir die Decke bis unter die Nase, um zu signalisieren, dass das Gespräch für mich beendet ist.

Karola bleibt im Türrahmen stehen, offensichtlich unschlüssig, ob sie mich allein lassen kann. Schließlich geht sie in die Küche.

Lianne steht auf und folgt ihrer Mutter.

Normalerweise liebe ich es, wenn Geräusche im Haus sind, aber heute bedeutet es mir nichts. Ich lasse mich von Kissen, Decken und Dunkelheit schlucken, finde aber keinen Schlaf.

Nach einer Weile stehe ich auf und leiste den beiden in der Küche Gesellschaft.

Lianne wollte ihren Vater in die Firma begleiten, aber Sebastien hat sich vehement geweigert. Jetzt sitzt sie nörgelnd am Küchentisch und behauptet, alle würden sie behandeln, als wäre sie noch ein Kind.

„Hör auf, ständig nach Aufmerksamkeit zu lechzen“, schnauzt Karola sie an. „Jetzt geht es um Tessa, die angegriffen und verletzt wurde, und die besorgt ist, weil wir Jules nirgendwo erreichen können.“

Ich beuge mich über den Tisch und ergreife Liannes Hand. „Schätzchen, du hast heute sehr überlegt gehandelt. Du hast nicht einen Moment gezögert, als du bemerkt hast, dass ich in Gefahr bin und hast sofort den Notruf gewählt. Das war gut! Richtig gut! Ich bin froh, dass du da bist und wir gemeinsam auf deinen Vater und Jules warten.“ Ich sehe, dass Karola ihre Mundwinkel zu einem schmalen Strich verzieht. „Karo, bitte jetzt keinen Tochter-Mutter-Stress. Lass uns ruhig bleiben!“, flehe ich sie an.

„Du hast recht“, sagt Karola.

Ich habe das Gefühl, dass nicht ich es bin, sondern eine andere Person, die in der Küche meiner Schwägerin dabei zusieht, wie sie Sandwiches mit Käse und Roastbeef belegt.

Lianne nimmt einen gehäuften Löffel aus dem Piccalilli-Glas und bedeckt damit den Käse.

Ich sehe es, ich höre es, ich weiß, was los ist und doch nehme ich es wie eine Außenstehende wahr. Ich verstehe nicht, was hier gerade geschieht. Ich sollte mich schämen, in dieser stressigen Situation an den Mann zu denken, den ich vor einigen Stunden zum ersten Mal nach mehr als zehn Jahren wiedergesehen hatte. Der Mann, mit dem ich den besten Sex aller Zeiten hatte und der mir unzählige Male in den Sinn kam, selbst wenn ich neben Jules in unserem Ehebett lag.

Ich sollte mich schämen für das was ich jetzt empfinde. Für die Begierde, die mich beherrscht, das Verlangen, wieder ungehemmten Sex mit ihm zu haben. Für den Gedanken, dass, sollte er in diesem Moment anrufen, ich ohne zu zögern aufstehen und zu ihm gehen würde.

Was ist nur in mich gefahren? Wir warten auf meinen Mann, und ich sollte mir wie die anderen Sorgen machen.

„Wo steckt Jules nur?“, fragt Karola zum wiederholten Mal. „Sebastien sagte, dass er Jules heute in der Firma auch nicht gesehen hat. Komisch. Es ist doch seltsam, dass er immer noch nicht da ist.“ Sie steht auf und geht zum Fenster. „Ich dachte, ich hätte ein Auto in der Einfahrt gehört. Sollten wir nicht die Krankenhäuser anrufen? Oder die Polizei? Vielleicht gab es einen Unfall?“

„Es gab keinen Unfall“, sage ich.

„Woher weißt du das?“

Ich nehme einen Schluck Kaffee. „Ekelhaft. Der ist ja kalt. Es spielt keine Rolle, woher ich das weiß. Nur so ein Gefühl.“

Karola schenkt mir einen neuen Kaffee ein. „Du weist mögliche schlechte Nachrichten immer von dir, indem du sie leugnest.“

Manchmal ist Karola mit ihrem psychologischen Geschwafel unerträglich.

„Ich glaube, Papa kommt zurück“, ruft Lianne und geht zur Haustür.

Ich habe eine schlimme Vorahnung.

Kapitel 8

Sebastien hat Jules in der Firma nicht angetroffen. Ein Mitarbeiter sagte, dass mein Mann gestern am späten Nachmittag in sein Auto gestiegen und nicht mehr ins Büro zurückgekommen sei.

Sebastien will sich offenbar nichts anmerken lassen, aber ich spüre, wie wütend er ist. Er steht auf und nimmt sein Handy aus der Jackentasche. „Ich rufe ihn noch einmal an.“ Er hört einen Moment zu, während er mit den Fingern auf der Rückenlehne seines Stuhls trommelt. „Wieder diese bescheuerte Voicemail! Was hier heute geschehen ist, ist für mein Bruderherz wohl nicht wichtig genug, um sofort nach Hause zu kommen!“

Lianne sieht ihren Vater mit großen Augen sichtlich entsetzt an. „Warum sagst du so etwas?“ „Du bist ein Monster!“

„In dieser Familie gibt es nur ein Monster“, schnauzt Sebastien.

Karola schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. „Jetzt komm mal runter! Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Reiß dich gefälligst zusammen!“

Ich blicke von einem zum andern. „Ich weiß nicht, was mit euch los ist, aber tragt das bitte in eurem eigenen Haus aus! Verschwindet, ich komme klar. Jules wird schon nach Hause kommen.“

Karola macht eine verzweifelte Geste. „Aber das ist doch nicht normal! Wenn du erfährst, dass deine Frau Opfer eines Überfalls wurde, dann fährst du doch so schnell wie möglich zu ihr. Ich glaube, dass da etwas passiert ist, etwas Ernstes.“ Sie sieht ihren Mann an. „Geh bitte nach Hause und nimm Lianne mit. Ich bleibe bei Tessa.“ Sie streicht über meinen Arm. „Es ist nicht gut, jetzt allein zu sein, glaub mir.“

„Ich will auch bleiben“, sagt Lianne.

Ich stehe auf. „Ich meine es ernst, lasst mich bitte allein – alle.“

Ob Jules gestern Abend zu der Frau gefahren ist, mit der er ein Verhältnis hat? War es das, was er gestern mit in Ordnung bringen gemeint hatte? Aber warum hat er dann gestern Abend nicht einfach gesagt, was er vorhatte? Warum dieses hinterfotzige Getue? Warum diese Erniedrigung?

Ich bedecke mein Gesicht mit den Händen. Nicht mal achtundvierzig Stunden ist es her, seit wir uns an diesem Tisch gegenübersaßen. Die Klimaanlage kühlte den Raum, draußen war es noch sehr warm. Doch ich hätte mich lieber im Garten aufgehalten, dort hätte ich die Kälte zwischen uns weniger stark empfunden. Ich habe mich gefragt, was sein Geständnis mit mir macht, konnte aber keine Antwort darauf finden. Diese Erkenntnis lähmt mich.

Die Aussprache zwischen uns, dass in unserer Beziehung etwas nicht stimmt, hätte schon viel früher stattfinden müssen, aber bis gestern Abend war ich dafür noch nicht bereit gewesen. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass ihn ein solches Gespräch überfordern würde. Er weicht neuerdings meinen direkten Blicken aus. Meine Unsicherheit hatte mich lauter sprechen lassen.

„Ich bin nicht taub“, sagte Jules. „Sprich also bitte leiser!“

Ich weiß nicht, warum es geschah, es war nicht geplant, aber zu guter Letzt stellte ich ihm die Frage, deren Antwort ich nicht wissen wollte. „Gibt es jemand anderen in deinem Leben?“

Jules zog seine Mundwinkel nach unten und sah mir mit einem kühlen Blick in die Augen.

„Ja, es gibt eine andere Frau, und ich glaube, dass du das längst bemerkt hast.“ Seine Worte schwirrten an meinen Ohren vorbei. Trotzdem verstand ich, was er sagte. Ich wollte ihn fragen, wer diese Frau ist, ob ich sie kenne, warum er seit zehn Jahren neben mir herlebt, warum er mich noch nicht verlassen hat? Welche Rolle ich in seinem Leben gespielt habe? Aber alle Fragen erstarben auf meinen Lippen, sobald ich meinen Mund öffnete.

„Wir haben uns zehn Jahre aneinandergeklammert, Tessa. Verstehst du nicht, wie falsch das war? Es wird Zeit für mich, mein Leben neu zu ordnen.“

Danach ging er in sein Büro und ich ins Gästezimmer.

Gestern Morgen klebte ein gelbes Post-it auf der Arbeitsplatte. Tut mir leid, ich hätte es dir mit mehr Taktgefühl sagen sollen.

Er hinterlässt immer dann Post-it-Notizen, wenn er etwas getan oder gesagt hat, wofür er sich entschuldigen muss. Wenn es mit der Liebe doch auch so einfach wär. Ein Post-it drauf und alles ist wieder in Ordnung. Aber sind Loyalität und Verlässlichkeit einmal über den Haufen geworfen, ist die Liebe angeschlagen. Sie wird von Argwohn abgelöst oder noch schlimmer, von Verachtung.

Ich bin müde und habe Kopfschmerzen. Vielleicht kommt er später doch noch nach Hause. Im Moment ist es mir egal. Ich schlafe wieder im Gästezimmer. Sollte ich Jules morgen sehen, werde ich ihm sagen, dass wir über eine Scheidung sprechen müssen. Das hätte ich schon längst tun sollen. Draußen ist es immer noch hell. Ob er irgendwo auf einer Terrasse sitzt und Spaß hat mit … Ja, mit wem?

Soll er ruhig!

Ich bin hundemüde, kann meine Augen kaum noch offen halten, will vierundzwanzig Stunden schlafen.

Sie schreien mich an, ziehen an meinen Armen. Schlagen mich.

Worüber sprechen sie?

Sie wollen Bargeld.

„Es ist kein Geld im Haus“, rufe ich. „Nur ein bisschen Bargeld in meiner Handtasche.“

Jemand packt mich, drückt mir die Kehle zu. Ich will schreien, aber kein Laut entweicht meiner Kehle.

Ich sterbe. Das war’s, sie bringen mich um.

Dann sind die Hände an meinem Hals plötzlich weg. Ich schreie, wache auf. Es ist totenstill im Haus.

Ich atme zu schnell, lausche in die Stille, mit der etwas ganz und gar nicht stimmt.

Kapitel 9

Amelie

Ihre Beziehung zu dem Mann, der vor Jean ihr Partner gewesen war, hatte für sie keine Bedeutung. Sie langweilte sich mit ihm und ertrug seine Berührungen kaum noch. Deshalb flirtete sie mit jedem Typen, der zur Verfügung stand. Sie ging aus, blieb über Nacht fort und scheute sich auch nicht, mit einem Knutschfleck am Hals nach Hause zu kommen. Ihr Freund sah es, seufzte, aber kein Wort kam über seine Lippen. Er machte ihr keine Vorwürfe, nahm ihr Verhalten in Kauf, litt im Stillen. Das brachte sie nur noch mehr in Rage.

Jean, eine ihrer Zufallsbekanntschaften, entpuppte sich bald als mehr als nur ein One-Night-Stand. Das Motel wurde immer öfter gebucht und als er sie fragte, ob sie mit ihm leben wolle, zögerte sie nicht einen Moment. Sie nahm ihre Sachen und zog bei ihm ein.

Sie hatte gerade ihr Studium der Kommunikationswissenschaften abgeschlossen und arbeitete als Junior-Kommunikationsberaterin bei der BNP Paribas-Bank. Ihr Leben war geprägt von Karriere und dem privaten Vergnügen. In Jean glaubte sie, den richtigen Partner gefunden zu haben. Dass er nach dem Abitur nicht angefangen hatte zu studieren, sondern sich mit einem Job am Empfang in einem Hotel zufriedengab, störte sie nicht. Er war intelligent und ihr ebenbürtig. Sie ignorierte die Sticheleien von Freunden, dass er zu wenig Ehrgeiz habe und mit seinem Gehalt nicht der ideale Ernährer werden könne. Sie fand diese Äußerungen zu banal, um einen Gedanken daran zu verschwenden.

Als ihr Vater hörte, dass sie wieder ohne Trauschein mit einem Mann zusammenleben würde, weigerte er sich nicht nur, Jean kennenzulernen, sondern ließ Amelie wissen, dass auch sie nicht mehr willkommen war. So konnte sie ihre Mutter nicht mehr sehen, bis ihr Bruder anrief, um ihr zu sagen, dass ihre Mutter im Sterben lag. Amelie kam gerade rechtzeitig, um sich zu verabschieden. Sie übernachtete mit Jean in einem Hotel, weil ihr Vater ihre Anwesenheit im Haus kaum tolerierte. Seit der Beerdigung ihrer Mutter ist sie nicht mehr in ihrem Heimatdorf gewesen.

Das Leben machte Spaß, bis Jean anfing, von Heirat und Kindern zu sprechen. Sie weigerte sich vehement gegen diese Art von Gesprächen, und er schwieg eine Weile darüber. Aber dann fing er wieder an. Zuerst subtil, aber dennoch durchschaubar. Später direkter und schließlich sehr konkret. Sie fing an, dem Sex mit ihm auszuweichen, und prüfte manchmal dreimal am Abend, ob sie die Pille genommen hatte. Und sie begann, sich für andere Männer zu interessieren, die mit ihr flirteten.

Der erste Mann, mit dem sie Jean betrog, war ein Kollege. Es geschah während einer Party eines anderen Kollegen in dessen Garten. Es ging schnell und passierte, bevor ihr klar wurde, was sie da tat. „Lass uns das öfter machen“, sagte er.

„Wäre es nicht besser, einen Schlussstrich zu ziehen und allein zu leben?“, fragte Tessa sie eines Tages. „Das ist doch für niemanden gut. Ich finde es auch Jean gegenüber nicht fair.“

„Es ist eine Frage des Timings, liebe Tessa“, erwiderte Amelie.

Jean begann ebenfalls auszugehen und kam manchmal nicht nach Hause. Das musste wohl so sein. Aber es schmerzte. Eines Abends gestand er ihr, dass ihm die Situation, in der sie sich befanden, krank machte. „Ich möchte mit dir zusammenleben, auch ohne Trauschein und ohne Kinder. Gib uns noch eine Chance“, flehte er sie an.

Das ist nun zehn Monate her. Während dieser Zeit konnte Amelie vor ihm die Tatsache verbergen, dass sie keineswegs mit allen Männern brach, mit denen sie etwas hatte. Jean denkt, dass sie immer noch damit beschäftigt ist, ihr wildes Leben aufzugeben, weshalb zwischen ihnen kein Raum für mehr als einen Kuss ist. Er sagt regelmäßig, dass er warten kann, bis sie den Punkt erreicht hat, an dem sie wieder Sex mit ihm haben will.

„Ich bin mit einem Platz im Backstage zufrieden“, sagte er ihr vor zwei Wochen und berührte dabei sehr vorsichtig ihre Hand.

Sie fragt sich, wie er reagieren wird, wenn sie ihm sagt, dass sie geht. Seine Augen werden den Ausdruck eines verwundeten Tieres haben, den sie in der Zeit, in der sie ihr freies Leben führte, so oft gesehen hat. Den Blick, den sie zutiefst verabscheut. Vielleicht wäre es anders, wenn er nicht alles akzeptieren würde. Vielleicht sollte er wütend sein, sie anschreien, das Geschirr zerschmettern. Seine Wut an den Möbeln auslassen. Oder an ihr.

Doch die Gefühle, die sie einst für ihn hegte, kommen nicht mehr zurück. Nie mehr. Sie hat sie für jemand anderen reserviert. No way out. Wenn sie ehrlich ist, muss sie zugeben, dass sie das Spiel nicht fair gespielt hat. Aber sie kann es nicht rückgängig machen. Das ist auch nicht nötig. Jetzt, da sie beschlossen hat, schwanger zu werden, wird sie eine monogame Frau sein. Die wilden Jahre sind vorbei. Endlich erwachsen.

Es ist an der Zeit.

Sein Wagen ist schon da. Sie steigt aus, ihr wird schwindlig. Sie hält sich an der Tür fest, schließt die Augen und atmet tief durch. Der Schwindel lässt nach.

Er steht bereits in der Tür. Seinem Gesicht ist alle Farbe entwichen. Wie ernst er aussieht, denkt sie und schlägt ihre Arme um seinen Hals, küsst ihn.

Er küsst sie nicht.

„Was ist los?“, fragt sie.

Er löst sich aus ihrer Umarmung. „Ich habe heute Morgen das Ergebnis der Computertomografie erhalten.“

„Welche Computertomografie?“

„Sie wurde vergangene Woche in der Universitätsklinik gemacht. Ich fühle mich schon seit geraumer Zeit unwohl. Das Ergebnis … Ich werde sterben.“

„Du darfst nicht sterben. Wir werden ein Kind bekommen. Du hörst richtig, ich will ein Kind, ein Kind von dir! Du musst gesund werden! Mittels einer Bestrahlung oder Chemotherapie, was auch immer. Ich werde mich um dich kümmern, Jules.“

„Ich will kein Kind!“

Kapitel 10

Amelie erkennt ihn nicht mehr. Ist das der Mann mit dem feurigen Blick? Ist das ihr Geliebter, der sie immer berühren muss, sobald sie zusammen sind? Ist das der leidenschaftliche Mann, der sich an sie klammert und ihren Namen ruft, wenn er kommt?

Er sitzt in sich zusammengesunken vor ihr und will nicht, dass sie ihn anfasst. Seine Hände zittern, seine Mundwinkel zucken, seine Schultern sind völlig verkrampft.

Er sieht sie nicht an, während er leise mit ihr spricht. Sie versteht nicht, was er genau sagt, und beugt sich ihm ein wenig entgegen.

„Metastasierender Lungenkrebs. Mein gesamtes Skelett ist befallen, von meinem Schädel bis zu den Fußknöcheln. Ich war vor einem Monat bei meinem Hausarzt. Danach ging es Schlag auf Schlag: Laboruntersuchungen, Röntgenaufnahme von der Lunge, Lungenspezialist, Bronchoskopie.“ Er schluckt heftig. „Das Ergebnis: ein bösartiger Lungentumor. Vor einer Woche wurde ein Knochenscan durchgeführt und heute Morgen kam die vernichtende Diagnose. Bald werde ich die Schmerzen nicht mehr bewältigen und mich an das Morphium halten müssen. Eine Chemotherapie ist höchstens eine lebensverlängernde Maßnahme, ich könnte damit ein wenig länger leben, aber die Frage ist, wie?“

„Aber eine Chemotherapie kann doch den Krebs besiegen. Bitte, sieh mich an, ich bin’s. Amelie, die Frau, mit der du alt werden möchtest. Das stimmt doch? Du möchtest doch ein gemeinsames Leben? Lass uns ein Baby machen, dann haben wir etwas, was von uns bleibt, etwas, wofür es sich lohnt, zu leben, das dir einen Grund gibt, zu kämpfen.“

Ich darf jetzt nicht schreien, denkt sie.

Er sieht sie an. „Es gibt nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt, Amelie, und schon gar nicht für ein Kind. Noch einmal, ich will kein Kind. Das wollte ich weder mit meiner ersten Frau, noch mit meiner zweiten, noch mit dir. Vergiss es! Belaste mich nicht mit deinen Illusionen. Wir haben keine Zukunft, verstehst du denn nicht, was ich dir gerade gesagt habe? Ich werde bald sterben, Amelie!“

Amelie streckt ihre Arme aus. „Lass mich dich einen Moment umarmen“, fleht sie. Sie sieht sein Zögern. Sie steht auf und setzt sich neben ihn aufs Bett.

Er weint. Sie hat ihn noch nie weinen sehen und möchte, dass er damit aufhört. Sie müssen nur irgendwo eine zweite Meinung einholen. Was hat schon das Ergebnis eines Kreiskrankenhauses für eine Bedeutung? Alles Idioten! Besser wäre es, schnell einen Termin in einer auf Krebsbehandlungen spezialisierten Klinik zu vereinbaren. Aber im Moment ist es besser, das nicht zu sagen. Erst später, wenn der erste Schock vorüber ist, bis sie beide wieder klar denken können. Jetzt geht es um Beruhigung und Unterstützung. Ihre Unterstützung. Er braucht sie. Sie muss jetzt stark sein, einen kühlen Kopf bewahren und ihn aus dem tiefen Loch holen, in dem er gerade steckt.

Er liegt neben ihr, seine Atmung wird wieder ruhiger, regelmäßiger. Amelie streckt ihre Hände aus, küsst seine Tränen fort. Ihr Mund sucht nach seinen Lippen.

Er wehrt sich nicht.

Wie oft haben sie schon Sex gehabt? Oft. Aber keineswegs oft genug.

Sie sprechen nicht, die Geräusche, die sie machen, sind Ausdruck ihrer Erregung. Erst als sie sich dem Höhepunkt nähern, verlieren sie jede Kontrolle.

Amelie wischt sich den Schweiß von ihrer Stirn. Dann fängt sie mit ihren Lippen die Tränen ein, die über die Wangen ihres Geliebten laufen. Sie leckt die salzigen Tröpfchen und merkt, dass sie das wieder erregt.

Der Hustenanfall, der ihn erfasst, ist heftig wie ein Orkan. Er schiebt sie zur Seite, setzt sich auf. Er hebt seine Arme und röchelt. Es ist ein entsetzliches Geräusch. Er drückt seine Hände gegen den Mund, steht auf und geht zur Toilette. Als er zurückkehrt, zieht er sich an. „Ich muss gehen.“

Sie hat Angst. „Warum? Ich möchte so gerne, dass du bleibst.“ Plötzlich sieht sie, wie schmal und kantig seine Schultern sind. Er hat stark abgenommen. Wie ist es möglich, dass ihr das vorher noch nie aufgefallen ist?

„Warum möchtest du nicht dagegen ankämpfen?“, fragt sie verzweifelt. Ihre Stimme bebt. „Du bist eine Kämpfernatur, ich kenne dich nicht anders. Du wirst dich doch nicht unterkriegen lassen?“

Er setzt sich auf die Bettkante. „Es gibt keinen Kampf mehr. Die Schlacht ist zu Ende. Game over. Ich will nicht als ausgemergelter Schatten meiner selbst enden.“

„Was meinst du damit? Lass uns reden, bitte!“ Amelie versucht, ihn festzuhalten, aber er entzieht sich ihr.

„Für Tessa ist gesorgt“, sagt er und dreht ihr den Rücken zu. „Aber ... Hör mir zu. Ich habe jede Menge Bargeld im Haus, über dreihunderttausend. Du musst es dir holen, falls mir etwas passiert, und dann schnell, aber sprich mit niemandem darüber. Vor allem nicht mit Tessa, sie weiß nicht, dass es da ist.“

„Wovon redest du? Welches Geld? Wo im Haus?“

„Unter der Kellertreppe.“ Er steht schon an der Tür, zwinkert ihr zu. „Nicht, dass jemand es vor dir findet.“ Aber bitte erst nach meinem Tod! „Bis morgen, Amelie.“

In Windeseile steht sie auf. Zu spät. Er ist fort.

Zwischen den Zeilen

Zimmer 13

Alice sitzt auf dem Bett. Sie sieht mich an. Eines ihrer Augen flackert, bewegt sich, tanzt ein kleines Stück weit zur Seite und kommt wieder zur Ruhe.

Sie starrt mich an, mein Herz beginnt wie wild zu rasen. Sie flüstert, dass da draußen etwas sei und auf mich warte. Sagt, dass sie mich beschützen werde.

Mich! Nicht das Kind von damals, dem ich es verdanke, mein Leben in Zimmer 13 verbringen zu müssen.

Lautlos stemme ich mich vom Bett hoch und schleiche in die hinterste Ecke des Zimmers – so weit weg von der Tür, wie ich nur kann. Zitternd vor Angst presse ich den Rücken in das Dreieck zwischen den Wänden. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Durch das Fenster hinter mir wirft die Gartenbeleuchtung Baumschatten auf den Boden, die sich durch mein Zimmer bewegen wie schabende Finger. Ich lasse den Blick wie einst durch den Raum wandern – über die Wände, das Bett, den Kleiderschrank.

Es ist still da draußen. Ich sehe Alice an. In ihren bernsteinfarbenen Glasaugen spiegelt sich ein Lichtstreifen, der unter dem Türspalt in mein Zimmer dringt. Sie wird mir niemals erzählen, was sie schon weiß. Sie kennt meine Angst. Ich bewege mich kaum – doch genug, um den Lichtfleck in Alice’ Auge zu verschieben. Ich kann jetzt etwas atmen hören. Ich möchte weinen, aber das darf ich nicht. Vorsichtig und geräuschlos schiebe ich meine zitternde Hand unter Alice’ Bluse, fahre mit den Fingerspitzen über den Brustkorb der Puppe und öffne den Reißverschluss. Ich taste nach dem Gegenstand, den ich brauche. Als ich das Taschenmesser herausziehe, geht es mir schon besser.

Ich streichle Alice und presse meine Nasenspitze an ihr rechtes Ohr. „Nur dir kann ich trauen“, flüstere ich.

Die Tür wird geöffnet.

„Es ist so weit“, flüstert Alice.

Kapitel 11

Tessa

Es muss bereits kurz nach elf sein, als ich die eigentümlichen Geräusche bewusst wahrnehme.

Sind diese Typen etwa zurückgekommen oder träume ich? Ich sitze kerzengerade im Bett und halte verwundert den Atem an, denn ich habe plötzlich den sicheren Eindruck, dass es schon seit einigen Tagen so abläuft. Ich höre Geräusche, Schritte im Flur oder auf der Terrasse, aber dann passiert nichts weiter.

Seit ungefähr einer Woche oder vielleicht vierzehn Tagen hat sich die Sache mit den Geräuschen ungewöhnlich gehäuft. Tage, an denen die Einbrecher mich vermutlich beobachtet haben.

Ich sehe mich um und weiß, dass ich nicht träume. Etwas geht vor sich. Irgendwo im Haus. Unten?

Ich springe aus dem Bett und werfe meinen Bademantel über. Bevor ich hinuntergehe, schaue ich kurz ins Schlafzimmer. Das Bett ist leer. Jules ist noch immer nicht da.

Unten öffne ich die Haustür. Der Bewegungsmelder geht automatisch an und taucht den Vorgarten in ein helles Licht.

Ich blicke die stille Straße entlang. Nichts, niemand ist zu sehen. Nur vom feinen Nieselregen dunkel schimmernder Asphalt. Ich schließe die Tür, lehne mich von innen dagegen, atme tief ein.

Vielleicht sollte ich mir ein Glas Wein genehmigen, entscheide mich aber dagegen. Ich muss einen klaren Kopf behalten.

Ich lege mich wieder hin und schlafe in meinem Bademantel sofort ein, träume von Jules’ Unverfrorenheit, von einer schmerzhaft kalten Nacht, in der sein Geruch mir gleichermaßen fremdartig und vertraut gewesen war und der tiefe Wurzeln in mein Herzen geschlagen hat.

Geräusche, die ich nicht einordnen kann.

Ich wache auf, lausche. Draußen knirscht es. Ob Jules über den Gartenpfad läuft? Ich taste nach meinem Handy und schleiche mich ans Fenster, erschrecke, als die Standuhr schlägt. Ich zähle zwölf Schläge, warte darauf, dass nichts passieren wird.

Ich höre Schritte. Jemand kommt den Kiesweg zum Haus herauf. Ich spüre ein Kribbeln auf der Haut.

Jetzt mach dich bloß nicht verrückt!

Die Schritte kommen näher. In der Einfahrt steht ein Polizeifahrzeug.

Mein Atem stockt.

Im nächsten Moment ertönt die Türklingel. Das muss ein Missverständnis sein, die Beamten haben sich in der Hausnummer geirrt.

Wie paralysiert stehe ich wenig später vor meiner Haustür. Jemand ist auf der anderen Seite.

Als die Klingel wieder schrillt, jetzt eindringlicher, löst sich der Bann.

„Verschwindet und belästigt jemand anderen“, sage ich. Meine Stimme ist kaum hörbar. Ich zögere. Jetzt spähe ich durch den Türspion und erblicke eine Polizistin und einen Polizisten mit ernsten Gesichtern. Ich öffne die Haustür.

Die Frau kommt einen Schritt auf mich zu. „Sind Sie Frau Mallont?“ Sie starrt auf meine Nase.

Ich schüttle den Kopf. „Tessa Simonet. Ich bin mit Jules Mallont verheiratet.“

Ein Nicken. „Frau Simonet, können wir kurz hereinkommen?“

„Warum?“

„Es ist etwas mit Ihrem Mann geschehen. Ich halte es für besser, wenn wir das im Haus besprechen. Mein Name ist Tilda Bruns und das ist mein Kollege Tim Langer.“

Ich gehe einen Schritt zur Seite und mache eine einladende Geste. Das Zittern in meinen Beinen hat nachgelassen, auch mein Herz macht keine idiotischen Sprünge mehr. Ich bin jetzt von einer Kälte, die mich selbst erschreckt. Und das verstehe ich nicht.

Die Polizistin, die kurz darauf das Wort ergreift, sitzt auf meiner roten Ledercouch. Ihr Kollege lässt sich in den violetten Sessel fallen.

Ich sinke in mein Limonengrün. „Was ist passiert?“

Die Polizistin sieht mich aufmerksam an. „Wir bringen schlechte Nachrichten, Frau Simonet. Vor zwei Stunden ist jemand unweit des Bahnhofs Gare du nord vor den Zug gesprungen. Alles deutet darauf hin, dass es sich um Ihren Mann handelt. Sein Auto war auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof abgestellt. Seine Brieftasche, die wir sichergestellt haben, enthielt seinen Personalausweis.“

Ich starre die Polizistin an. „Zug? Auto? Brieftasche? Nein, das ist unmöglich. Hier muss eine Verwechslung vorliegen. Wurde er denn schon identifiziert?“ Ich will etwas anderes sagen – der Freund und Helfer sollte mitten in der Nacht keine Leute quälen.

„Wie gesagt, alles deutet darauf hin, dass es sich um Ihren Mann handelt, Frau Simonet. Aber er muss noch identifiziert werden. Ich bedaure, Ihnen das mitteilen zu müssen. Mein aufrichtiges Beileid. Es muss ein großer Schock für Sie sein. Sind Sie allein im Haus?“

„Ja.“

„Können wir jemanden für Sie anrufen? Familie? Kinder?“

„Wir haben keine Kinder. Mein Mann hat einen Bruder. Rufen Sie ihn bitte an. Oder eher seine Frau, meine Schwägerin. Ihr Name ist Karola Mallont.“

Ich nehme mein Handy aus dem Bademantel und blättere durch meine Kontakte. „Hier ist sie, Karola Mallont.“

Tilda Bruns nimmt mein Handy und gibt es ihrem Kollegen. Er steht auf und geht in den Flur.

„Es tut mir sehr leid“, wiederholt Tim Langer.

„Hat das Ganze etwas mit dem Überfall von heute Nachmittag zu tun?“, will ich wissen.

„Was für ein Überfall?“, fragt Tilda Bruns.

„Ich wurde heute im Haus überfallen und zusammengeschlagen.“ Ich zeige auf meine Nase. „Mein Mann wurde von seinem Bruder per WhatsApp informiert, aber Jules ist nicht nach Hause gekommen.“ Meine Stimme zittert.

„Hatten Sie telefonischen Kontakt mit Ihrem Mann, Frau Simonet?“

Ich ziehe den Gürtel meines Bademantels ein wenig enger um meine Taille. „Ich werde überfallen und Jules ruft mich nicht mal an.“

„Fanden Sie das nicht seltsam?“

Ich zucke die Schultern. Es lief nicht mehr so gut zwischen uns, versuche ich zu sagen, aber ich schaffe es nicht, die Worte auszusprechen.

Jetzt zittre ich am ganzen Körper, meine Zähne klappern, ich verliere die Kontrolle über meine Muskeln, suche Halt, will mich an etwas klammern, damit ich nicht aus dem Sessel rutsche. Danach bin ich zu keinem klaren Gedanken mehr fähig.

Kapitel 12

Jemand ruft meinen Nachnamen. Es ist die Stimme einer Frau, irgendwo in der Ferne. Jetzt scheint die Stimme näher zu kommen.

Ich öffne die Augen.

„Das ist schon viel besser“, sagt die Stimme.

Es ist Tilda Bruns, die mir in dieser tristen Nacht gesagt hat, dass Jules tot ist. Vor einen Zug gesprungen, zerfetzt. Aber entspricht das der Wahrheit? Ging es nicht um jemand anderen?

„Bleib eine Weile liegen“, rät die Polizistin mir.

Anscheinend glaubt sie, es sei an der Zeit, mich zu duzen.

Ihr Schwager und ihre Schwägerin sind unterwegs.“

Aha, sie hat ihren Fauxpas bemerkt. Gut. Ich will aufstehen, Schwindel überfällt mich. „Kann jemand meine Freundin Amelie anrufen? Ich will, dass sie kommt und hier schläft.“ Die Worte kommen zwar aus meinem Mund, aber ich habe das Gefühl, dass mein Gehirn sie nicht erfunden hat.

„Selbstverständlich. Ich werde es meinem Kollegen sagen.“ Die Polizistin geht zum Korridor.

Ich schließe die Augen.

Das ist ein Albtraum, der mich als Geisel gefangen hält. Nur keine Panik, ruhig weiterschlafen. Ein Traum ist nicht real, man muss sich das nicht zu sehr zu Herzen nehmen. Das sagte meine Mutter immer, wenn mich ein Traum beunruhigt hat. Manchmal durfte ich dann eine Weile zwischen meinen Eltern im Bett liegen und meine Mutter brachte mich später wieder in mein Zimmer.

Ich werde meine Mutter darüber informieren müssen, was heute Nachmittag passiert ist. Wie wird sie reagieren? Dies ist kein Traum; es ist besser für mich, mir das einzugestehen. Es ist ein Albtraum, der Realität wurde.

Meine Augen sind nicht mehr geschlossen. Das Sprechen fällt mir schwer. Aufzustehen wäre jetzt fatal, weil meine Knie butterweich sind. Sebastien und Karola sind unterwegs. Amelie kommt ebenfalls. Tim Langer hat alle erreicht.

„Vielleicht haben sich die Polizisten ja getäuscht.“ Mein Flüstern ist den beiden Beamten entgangen. Ich blicke an ihnen vorbei durch das Fenster in die Nacht. Irgendwo da draußen haben sie die Körperteile einer Person zusammengetragen, sie fotografiert, nummeriert, untersucht. Das ist nicht mein Mann! Vielleicht suchen sie noch nach weiteren Körperteilen und werden mir dann sagen, dass sie sich geirrt haben, dass sie im falschen Haus sind und die falsche Ehefrau vor sich haben.

„War von ihm denn überhaupt noch etwas übrig?“, erkundige ich mich, ohne die Polizisten dabei anzusehen.

„Denken Sie nicht darüber nach“, antwortet Tilda Bruns.

„Ist er gesprungen? Oder hat ihn jemand gestoßen?“

„Der Lokführer sagte, er habe jemanden auf den Schienen laufen sehen und sofort klare Warnsignale gegeben, aber der Mann hätte sich einfach weiter dem Zug genähert. Eine zweite Person hat der Lokführer nicht gesehen. Er wurde demzufolge nicht gestoßen. Weshalb glauben Sie, dass ihn jemand gestoßen haben könnte?“ Jetzt sind die Augen der Polizistin wachsam, als ob sie ein Verbrechen wittere.

„Ich glaube es nicht, ich ziehe es nur in Erwägung. Ich weiß nicht, warum jemand so etwas tun sollte. Nein, er wurde nicht geschubst. Ach, ich verstehe gar nichts mehr!“ Ich starre wieder in die Dunkelheit. „Was haben Sie nur für einen beschissenen Job, Frau Bruns. Das wäre nichts für mich.“

Die Polizisten sehen mich seltsam an.

„Ist Ihnen denn gar nichts an Ihrem Mann aufgefallen? Hat er Ihnen vielleicht eine WhatsApp gesendet oder eine andere Nachricht auf Ihrem Handy hinterlassen?“

Ich strecke die Hand nach ihrem Kollegen aus, der mir sofort mein Handy gibt und scrolle über den Screen. „Nein, keine Nachricht, keine WhatsApp.“

„Also kam sein Suizid für Sie völlig unerwartet?“

Ich antworte nicht, sondern konzentriere mich auf die neuen Geräusche. Ich höre Autotüren zuschlagen.

„Bleiben Sie bitte sitzen, Frau Simonet. Ich werde die Tür öffnen“, sagt Tim Langer.

Warum müssen so junge unerfahrene Männer derart grauenvolle Nachrichten überbringen? Wie alt mochte er sein? Dreiundzwanzig? Vierundzwanzig? Scheiße!

Zweiter Brief

Liebste Tessa,

ich meine, dass es vielleicht besser wäre, dich zu bewundern, als dich zu berühren. Gibt es etwas Besseres als Verlangen? Ich habe dieses Wort im Duden nachgeschlagen und meine Interpretationen aufgeschrieben. Jetzt lese ich meine Notizen immer wieder. Zum einen ist Verlangen ein stark ausgeprägter Wunsch, ein starkes inneres Bedürfnis, ein lebhaftes Verlangen nach etwas Sinnlichem, Spirituellem, ein Seufzen, ein Streben. Zum anderen ist Verlangen ein Begehren, das befriedigt werden will.

Ich begehre dich, du bist meine Leidenschaft, ich möchte für immer dein sein. Mein Verlangen erwartet dein Begehren, mein Durst nach dir möchte gestillt werden. Ich werde dir jeden Wunsch erfüllen, jeden. Ich will alles tun, was du verlangst, du kannst dir sogar wünschen, was noch nie jemand gewagt hat auszusprechen. Ich komme fast um vor Erregung, wenn ich an deinen Körper denke. Aber jetzt ist Vorsicht geboten, weil du fassungslos und verletzlich bist. Du musst den Schock erst einmal verarbeiten und brauchst Hilfe dabei. Meine Hilfe aber, eine allzu beschwörende, ausgestreckte Hand, könnte dich abschrecken. Wende dich nicht von mir ab, du bist es, die mir entgegenkommen sollte. Und ich dir.

Du bist schrecklich schön in deiner Verletzlichkeit. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich deinen zarten Körper, deine schmalen Hüften, deine schönen Füße. Ich habe noch nie eine Frau mit so schönen Füßen gesehen. Füße zum Küssen, Füße, die ich sanft massiere und mit meiner Zunge berühren möchte.

Manchmal träume ich, dass du mich abweist. Dann liege ich auf meinen Knien vor dir und flehe um deine Liebe. Weniger schlimm wäre, wenn du darüber lachen würdest. Das Schlimmste wäre jedoch, wenn du mich mit diesen schönen Füßen treten und mich fortschicken würdest. Nach so einem Traum habe ich einen schlechten Tag, kann mich kaum konzentrieren und sehne mich mehr denn je nach dir. Dann liege ich mit Alice in meinem Bett und drücke meine Puppe fest an mich. Sie tröstet mich und starrt mich mit ihren toten, großen Puppenaugen an. Ich beschütze sie, wie ich dich beschützen werde.

Du darfst mich nicht zurückweisen. Ich streichle deine schönen Füße. Vergiss das nicht!

Kapitel 13

Amelie

Als sie und Jules sich das letzte Mal getroffen haben, hat sie in keiner Weise gespürt, dass er den Freitod in Erwägung ziehen würde. Er machte einen verzweifelten Eindruck, also beabsichtigte sie, ihn bald wiederzusehen und ihn aufzumuntern, ihm Mut zu machen, ihn zu stärken. Sie fand seine Aussagen jämmerlich und niederdrückend, aber sie hatte keine Vorahnung zugelassen. Das wird ihr erst jetzt klar, nachdem der Polizeibeamte sie angerufen hat.

„Jules Mallont hat Selbstmord begangen?“

Amelie sitzt auf dem Rand ihres Bettes und glaubt, dass sich jemand einen üblen Scherz mit ihr erlaubt. Ob Jean dahintersteckt? Er hatte gestern wütend das Haus verlassen, als sie sich weigerte, ihm zu sagen, wo sie gewesen war. Er wird unten auf der Couch schlafen.

„Ihre Freundin möchte, dass Sie zu ihr kommen. Wäre das möglich?“

Amelie schluckt. Ihre Welt sieht jetzt anders aus als zuvor. Der Himmel ist schwärzer, ihre Stimmung getrübt. Sie kann nicht sprechen. Ihre Stimme versagt.

„Sind Sie noch da?“

„Ich komme sofort.“

Jean ist nicht im Gästezimmer, er liegt auch nicht unten auf der Couch. Beabsichtigt er, sie zu bestrafen, weil sie nicht nachgeben wollte? Soll er doch!

Amelie würde es vorziehen, wieder ins Bett zu gehen und sich einzureden, dass sich nichts ereignet hat. Kein Polizist, kein Anruf. Sie möchte die vergangenen Minuten verdrängen, ihnen Platz machen für schöne Gedanken und keine neuen Hiobsbotschaften zulassen. Sie will zu allem und jedem, der versucht, ihr Leben zu ändern, Stopp sagen.

Das darf nicht wahr sein. Es ist auch nicht wahr. Das war kein Polizist. Ihre Vermutung wird sich bestätigen: Irgendwer hat sich einen üblen Scherz erlaubt. Sie wird nicht zu Tessa fahren, wozu auch? Nein, sie wird hingehen, nur um festzustellen, dass alles in Ordnung ist.

Sie wird sich das Haus ansehen und feststellen, dass alles dunkel ist, dass Tessa und Jules friedlich im ersten Stock schlafen. Die Fassade ist noch immer in zartem Gelb getüncht, die weißen Markisen durch grüne Markisen ersetzt, die Auffahrt aus grauem und weißem Kies und die Beete voller rosa und blauer Hortensien. Alles ist wie immer.

So wird sie es angehen. Das gute Gefühl schwillt in ihrer Brust an, bis sie es nicht mehr aushält. Sie kann hier nicht länger sitzen und grübeln. Sie muss es wissen. Wenn sie feststellt, dass das Haus von Tessa und Jules nicht erhellt ist, wird sie umkehren und wieder nach Hause fahren. Guter Plan.

In der Einfahrt steht ein Polizeifahrzeug, dahinter ein schwarzer Mercedes. Im ganzen Haus brennt das Licht. Sie parkt ihren Wagen hinter dem Mercedes und steigt aus.

Sie steht vor dem Zaun und blinzelt, um sich ihr erdachtes Bild ins Gedächtnis zu rufen. Doch die kalte Realität verdrängt die warme, einladende Atmosphäre der Vergangenheit. Sie steht da und fragt sich, was um alles in der Welt sie hier zu suchen hat, und warum sie sich das antut. Hat sie das flüchtige Gefühl einer Vorahnung selbst hervorgerufen? Oder war es dieser Polizist gewesen?

Es ist eine schwüle Nacht, trotzdem fröstelt sie. Ihre Zehen und Finger verkrampfen. Ihr Atem stockt. Sie muss wieder in den Wagen steigen und wegfahren. Sie muss Jules sagen, dass sie niemandem ihr Verhältnis gestanden hat. Es wäre nicht klug, denkt sie immer noch. Sie weiß sehr wohl, dass sie hier nichts zu suchen hat, und doch ist sie hier. Wieder fühlt sie sich, als müsse sie platzen. Ihr Magen rebelliert. Sie schließt einen Moment die Augen, zählt ihre Atemzüge. Die Übelkeit verschwindet. Nur ein leichter Brechreiz bleibt zurück.

Wenn sie gleich durch die Haustür den Flur betritt, wird jemand ihr entgegenkommen und ihr sagen, dass der Polizist sich geirrt hat, dass es nicht Jules ist. Das darf nicht sein.

Zwischen den Zeilen

Zimmer 13

Es ist kurz vor Mitternacht. Etwas Böses lauert im Schein des schwachen Mondlichts. Ich habe es gesehen, Alice auch. Ein Monster hat schon einmal mit mir um sein Leben in einer mörderischen Nacht gekämpft. Aber mit dem kleinen Taschenmesser konnte ich nicht viel anrichten. Nur wenige Blutstropfen kamen aus dem Arm des Pflegers. Danach haben sie mich eine gewisse Zeit festgebunden, bis ich mich beruhigt hatte. Ich muss meine Flucht zukünftig besser vorbereiten.

In Gedanken erstarre ich beim Anblick des Bösen. Das Entsetzen erstickt meinen Laut im Ansatz. Auch Alice versucht zu schreien, aber ihr Puppenherz hat aufgehört zu schlagen. Die Batterie ist schon wieder leer. So sind wir beide einfach nur still.

„Die Außenwelt hat mich wieder besucht und mir von den seltsamen Dingen erzählt, die da draußen passieren, Alice.“

„Wer ist die Außenwelt?“

„Ich kann mich nicht an den Namen erinnern, Alice.“

Klapp, klapp.

„Niemand kann das Böse aufhalten“, flüstert mir Alice ins Ohr. „Hauptsache uns beiden geht es gut!“

„Erinnerst du dich, Alice, als uns das Grauen uns mit einem Auge angesehen hat? Da waren wir beide wie gelähmt.“

Seit Alice und ich uns gefunden haben, beschützen wir uns gegenseitig. Die meiste Zeit ist Alice eine sanftmütige Seele. Und wenn sie nicht sanftmütig ist, lässt sie es nicht an mir, sondern meistens an anderen aus, wie heute Nacht.

„Dem Grauen fehlt sein linker Unterarm. Den hat jemand mit dem Tranchiermesser abgeschnitten. Ganz ruhig, draußen in der Kälte, hat das Etwas gestanden und ein großes Gemüseschneidebrett benutzt, um den Arm daraufzulegen.“

„Es wollte dem Grauen doch nur beweisen, wie ernst, wie furchtbar ernst es ihm damit war, dass es sich benehmen sollte. Doch dann kam der Zug und ...“

„So wird es wohl gewesen sein. Wir vergessen das Ganze einfach mal, Alice.“

Klapp. Klapp.

Mit meiner aufgehübschten Puppe, mit meiner Alice auf meinem Schoß, geht es mir gut.

Kapitel 14

Tessa

Karola und Amelie weinen. Ich möchte mich ihrer Trauer anschließen, aber meine Augen bleiben trocken. Keine Tränen. Ich verstehe es nicht.

„Tessa steht unter Schock.“ Karolas Stimme zittert.

„Es ist auch nicht zu begreifen“, findet Amelie.

Was reden sie denn da?

Die Männer sitzen am Tisch und besprechen sich offenbar. Sebastien stellt in einem gedämpften Ton Fragen. Sein Gesicht ist angespannt, seine Mundwinkel zucken. Ich glaube, dass er ziemlich wütend ist.

„Es kann auch jemand anderes sein“, wiederhole ich.

Karola und Amelie schweigen.

Warum reagieren sie nicht? Warum sind sie überhaupt hier, wenn sie nichts zu sagen haben?

„Wenigstens hat Tessas Mutter wieder einen guten Grund für einen Ausflug“, murmelt Amelie.

„Sei still, Amelie“, ermahnt Karola sie.

Die Polizisten blicken in Karolas Richtung. Sebastien macht eine beruhigende Geste.

Glauben diese Männer, dass ich wegen der letzten Ereignisse außer Kontrolle gerate?

Was würden sie wohl sagen, wenn ich ihnen erzähle, dass meine Mutter sich sonderlich benimmt. Amelie hat es gerade schon angedeutet.

Meine Mutter hat eine befremdliche Angewohnheit. Sie nimmt zu ihrer Unterhaltung an Beerdigungen teil, erfreut sich am Leid anderer und ist mit den meisten Gedenkstätten bestens vertraut. Sie liest täglich die Traueranzeigen in der Le Figaro und macht sich Notizen, wann und wo die Verstorbenen beerdigt oder eingeäschert werden. Sie schätzt es sehr, wenn die Verstorbenen in einem Sarg beigesetzt werden. Sie beobachtet die Trauergäste, möchte in ihre Gesichter blicken. Ganz besonders liebt sie den Zeitpunkt, wenn der mit Blumen bedeckte Sarg, der auf den Schultern von sechs Männern ruht, zu Grabe getragen wird. Diesen Augenblick kostet sie voll aus. Da ist die Trauer berauschend, behauptet sie.

Wie würden die beiden jungen Streifenpolizisten reagieren, wenn ich ihnen das erzählen würde? Würden sie denken, dass meine Mutter ein durchgeknallter Freak ist? Dass sie bereits Tage vor einer Bestattung vor lauter Aufregung völlig aus dem Häuschen ist, weil sie weiß, dass sie unter den Trauergästen sitzen wird und nicht irgendwo in der Anonymität weilt? Dass sie verrückt wird, wenn sie nicht rechtzeitig zu irgendeiner Beerdigung aus dem Urlaub zurück ist?

Am liebsten würde ich meiner Mutter sagen, dass ich ihren Körper der Wissenschaft zur Verfügung stellen werde. Damit würde ich sie treffen. Das wäre die verpasste Gelegenheit, an ihrer letzten Beerdigung teilzunehmen. Doch leider geht das nicht, da sie diesen Wunsch in ihrer Patientenverfügung festhalten müsste. Außerdem wäre es ein sinnloses Unterfangen. Meine Mutter würde selbst in der Hölle, oder wo auch immer, einer Beerdigung beiwohnen. Ich muss wohl laut gedacht haben …

Kapitel 15

Sebastien und Karola werden die Polizisten in die Rechtsmedizin begleiten, um den Toten zu identifizieren. Sie sehen mich mit gerunzelten Brauen an und versprechen mir, sofort wiederzukommen.

Im Haus ist es kühl. Der Nachtspeicher funktioniert tadellos und drosselt die Wärme. Amelie und ich rücken auf der roten Ledercouch ein wenig näher zusammen.

„Wenn du schlafen möchtest, Amelie, ist das für mich in Ordnung.“ Ich nehme ihre Hand. „Ich sehe doch, wie müde du bist. Hatte Jean denn nichts dagegen, dass du bei mir bist?“

Amelie drückt mich fest an sich. „Er war noch nicht zu Hause.“

„Wie, noch nicht zu Hause? Wo war er dann?“

„Keine Ahnung. Wir hatten einen Streit.“

„Einen ernst zu nehmender Streit?“ Ich streichle ihren Arm.

Meine Freundin sieht mich mit feuchten Augen an und nickt. „Ich bin gestern sehr spät nach Hause gekommen und Jean wollte wissen, wo ich gewesen bin. Ich wollte es ihm nicht sagen.“

Ich ziehe meine Hand zurück und schiebe ihren Arm von mir. „Das habe ich schon einmal gehört. Du bist doch nicht wieder mit anderen Männern zugange? Allmächtiger! Amelie, hört das denn nie auf? Warum?“

„Sag du es mir!“ Amelie hält einen Moment inne. „Hormonelles Missverhältnis? Vielleicht stecke ich in einer Midlife-Crisis? Was weiß ich! Lass uns jetzt bitte nicht über meine Probleme reden, Schätzchen. Jean taucht schon auf, wenn er sich wieder beruhigt hat. Zwischen uns hat sich in den letzten Monaten zu viel aufgestaut, was sich irgendwann in einem Mordskrach entladen musste. Das war bedauerlicherweise gestern. Ganz groß. Das volle Programm. Das wird schon wieder. Was du gerade ertragen musst, ist viel, viel schlimmer.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739427911
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (September)
Schlagworte
Mord Freunde Psychothriller Grauen Thriller Liebeswahn Insassse Lüge Psychiatrie Krimi Noir

Autor

  • Astrid Korten (Autor:in)

Das Spezialgebiet der Autorin sind Suspense-Thriller, Psychothriller und Romane. Sie schreibt außerdem Biografien, Kurzgeschichten, Dreh- und Kinderbücher. Ihre Thriller erreichten alle die Top-Ten-Bestsellerlisten vieler Ebook-Plattformen. Die Autorin wurde in USA mehrfach ausgezeichnet.
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Titel: Puppenmutter