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Kinder, Koks und Limonade

von Stina Jensen (Autor:in)
460 Seiten

Zusammenfassung

»Kein Wort zu Mama!« Als seine Frau überraschend in die Klinik muss, holt Investmentbanker Christoph seine Mutter ins Haus – irgendwer muss ja die drei Kinder hüten, während er arbeitet! Katrin darf bloß nichts davon wissen – immerhin ist deren Verhältnis zu Oma Rosi nicht gerade ... tja ... das allerbeste. Doch was macht man mit einer Mutter, die nicht nur das Haus neu dekoriert und die Kinder umerzieht, sondern auch noch mit dem Nachbarn flirtet? Überhaupt ist sie ganz anders als gewohnt. Als auf der Arbeit eine Stange Geld verschwindet und auch Oma Rosi sich immer seltsamer benimmt, kommt Christoph ins Grübeln … <p> </p> Ein Roman, so spritzig und leicht, wie ein Glas Hugo.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über die Autorin

STINA JENSEN

wurde in den wilden Siebzigern in Hessen geboren. Ihr Vater fuhr einen roten Manta, dabei wehten ihr auf der Kunstlederrückbank ABBA-Klänge um die Ohren. Mit Eintritt in die Grundschule kam die Autorin mit dem Hochdeutschen in Berührung – was ihre Leidenschaft für Fremdsprachen erklären könnte. Mit dem Schreiben hat sie 2008 begonnen. Kinder, Koks und Limonade war ihr erster Roman.

Vorwort

Bei einigen der im Roman genannten realen Örtlichkeiten hat sich die Autorin die schriftstellerische Freiheit genommen, sie den Bedürfnissen der Handlung anzupassen. Sollten Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen bestehen, so sind diese rein zufällig. Die Handlung ist frei erfunden.

1

ANFANG JUNI

Josefine lag auf ihrem Hochbett und betrachtete nachdenklich ihre verschlossene Zimmertür. Irgendwas war doch da draußen los. Oder warum hatte Mama, die eben vom Einkaufen zurückgekommen war, einfach Josefines Tür, die gleich bei der Haustür lag, zugemacht? Als hätte sie was zu verbergen!

Josefine kaute auf ihrem Pferdeschwanz. In ihrem Bauch kribbelte es, und außerdem war ihr auch ein bisschen schlecht. Vielleicht hatte Mama ihr Geburtstagsgeschenk besorgt?

Eben ging sie nach oben.

Leise richtete Josefine sich auf, kletterte von der Leiter ihres Hochbetts herunter, schlich zur Tür und horchte. Mama schleppte etwas die Treppe nach oben, eindeutig.

Vorsichtig, auf jede ihrer Bewegungen achtend, öffnete sie ihre Zimmertür einen Spaltbreit, schlüpfte hinaus und folgte Mama auf Strümpfen die Treppe hinauf. Oben angelangt, lugte sie um die Ecke und vernahm eindeutige Geräusche aus dem Elternschlafzimmer. Mama öffnete die Tür zum Kleiderschrank, und so wie es sich anhörte, verstaute sie etwas darin.

Josefine klopfte das Herz bis zum Hals, als sie zurück nach unten in ihr Zimmer schlich. Sie legte sich aufs Bett und schnappte sich das Buch mit dem kleinen Affen, in dem Papa abends mit ihr las.

Zu gerne wollte sie wissen, was Mama oben im Schrank verstaut hatte!

Erst am Nachmittag, als Mama Lotta fütterte und mit Sophie wegen der Schule redete, traute sie sich endlich ins Schlafzimmer ihrer Eltern. Vorsichtig zog sie die Schiebetür des Kleiderschranks zur Seite und spähte hinein. Doch außer Mamas und Papas Kleidungsstücken entdeckte sie nur den Schuhkarton, der immer dort stand. Hatte Mama etwa wieder nur Süßigkeiten vor ihnen versteckt und in den Karton gepackt? Vorsichtig wühlte sie zwischen den Packungen – aber außer Gummibärchen, Bonbons und Schokolade war nichts in der Schachtel zu sehen. Josefine ließ die Schultern sinken und zog ein Kaubonbon aus einem Tütchen. Das Papier steckte sie in ihre Hosentasche, das Bonbon in den Mund. Unschlüssig sah sie sich um, dann ging sie zu Mamas weißem Nachttischchen. Darauf lagen Zeitschriften und ein Buch, außerdem ein zerknäultes Papiertaschentuch. Die Schublade des Schränkchens hatte Josefine schon häufiger geöffnet. Mama hob darin einige der für sie gebastelten Kleinigkeiten auf, die Josefine sich gerne hin und wieder ansah. Langsam zog sie die Lade auf und spähte hinein. Holzfigürchen, Papiertierchen, ausgeschnittene Herzen lagen dort. Eine Packung Tempos, Nasenspray und ein Tablettenstreifen.

Josefine griff danach. Ein paar der winzigen Pillchen fehlten, aber nicht viele. MO DI MI DO FR SA SO stand über den einzelnen Tabletten. Josefine runzelte die Stirn. Was sollte das denn bedeuten? Ah! So stand es ja auch auf ihrem Stundenplan, zumindest bis FR. Grübelnd drehte sie den Streifen zwischen ihren Fingern. Heute war Samstag, und die Tablette für SA war noch darin. Die für FR fehlte. Und fünf andere Tage vorher auch. Ohne lange zu überlegen, drückte sie das Pillchen für SA heraus und hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger. Es war ganz glatt. Ups. Wenn Mama mitbekam, dass sie an ihrer Schublade gewesen war! Mit Medikamenten zu spielen war strengstens verboten! Aber was sollte sie jetzt bloß mit dem Ding anfangen? Eilig wickelte sie das Pillchen in das Bonbonpapier ein. Dann warf sie die Kugel in die hinterste Ecke der Schublade, schob sie mit beiden Händen zu und horchte. Mama schien noch immer mit Sophie beschäftigt. Ein Glück!

Schnell huschte Josefine aus dem Schlafzimmer und hopste die Treppe hinunter in ihr Zimmer zurück. Dort setzte sie sich an ihren Schreibtisch am Fenster, von dem aus sie den gesamten Kirchplatz überblicken konnte. Max aus ihrer Klasse fuhr eben auf einem Roller vorbei. Er winkte, als er sie entdeckte.

Josefine seufzte und stützte das Kinn in die Hände. Ach, wenn sie nur wüsste, was sie zum Geburtstag bekam!

2

ENDE AUGUST

Das gibt‘s nicht, dachte Katrin. Sie saß auf Dr. Göddens Untersuchungsstuhl und starrte auf den Ultraschall.

Ihr Arzt lächelte bedauernd. »Frau Bender, ich kann mir denken, dass das jetzt für Sie ein Schock ist. Aber, rein von der Statistik her, also, ich meine, es war klar, dass immer ein gewisses Restrisiko ...«

Sie konnte nur den Kopf schütteln. Wer die Pille wählte, dachte nicht an ein Restrisiko. Man entschied sich dafür, weil die Familienplanung abgeschlossen war! Ihr Blick klebte am Bildschirm. Ein kleines Herz pochte da. Katrin schluckte und blinzelte. Sie war wegen wochenlanger Schmierblutungen hier, die sie sich nicht hatte erklären können. Nicht wegen dem da. »Haben Sie eine Ahnung, was das für mich und meinen Mann bedeutet?«, fragte sie ihren Arzt. Der hob noch einmal bedauernd die Schultern. Nein, natürlich nicht, für ihn war sie ein Fall in der Statistik. »Können Sie mir sagen, wie ich das meinem Mann überhaupt beibringen soll?«, fragte sie fassungslos. Ihr war zum Schreien zumute. »In der wievielten Woche bin ich überhaupt? Und was ist mit diesen Schmierblutungen? Ich nehme die Pille, vielleicht hat die ja schon alles kaputt –?« Den Rest ließ sie offen.

Dr. Gödden schüttelte den Kopf. »Mit dem Baby ist alles in Ordnung. Der Ultraschall rechnet die Schwangerschaft auf zehn Wochen und vier Tage aus. Sie bluten wegen ihres Gebärmutterhalses, der momentan stark durchblutet ist – da ist ein bisschen Blut normal. Allerdings müssen wir das im Auge behalten. Ihr Gebärmutterhals ist verkürzt, das passiert häufiger nach mehreren Geburten, aber es gefährdet nicht die Schwangerschaft.«

Gefährdet nicht die Schwangerschaft. Sie wollte ja gar keine! Sie stand vom Stuhl auf und schlüpfte in ihre Sachen.

Als sie wieder vor Dr. Göddens Schreibtisch saß, sagte sie flehend: »Wir müssen das noch mal besprechen. Was man da tun kann, meine ich. Ich kann das Kind unmöglich bekommen! Ich gehe schon am Stock, und ... ich liebe meinen Beruf. Wenn ich noch ein Kind bekomme, kann ich meinen Job an den Nagel hängen. Mein Arbeitgeber ist tolerant, aber mit vier Kindern – das geht einfach nicht!« Sie schüttelte den Kopf. »Wirklich, völlig unmöglich!« Sie arbeitete beim HR als Sprecherin. Sie war doch voll eingespannt!

Ihr Arzt betrachtete sie nachdenklich, dann sagte er: »Reden Sie doch erst einmal mit Ihrem Mann. Vielleicht findet sich ja eine Lösung, und er reagiert gar nicht so, wie Sie vermuten. Denken Sie dran, es geht um ein Kind – Ihr Kind.« Er beugte sich ein Stück nach vorn. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass es mir leidtut. Eine Schwangerschaft trotz Pille habe ich nicht oft. Aber es kommt vor. Natürlich müssen Sie sich erst an den Gedanken gewöhnen. Aber ich traue Ihnen absolut zu, auch dieses Kind großzuziehen.«

Katrin glaubte, hysterisch zu werden. Als ob die anderen schon groß wären! Lotta war gerade mal dreizehn Monate alt! Und Sophie mitten in der Pubertät. Plötzlich stieg ein Lachen in ihr auf, und sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Vermutlich hatte sie einen Nervenzusammenbruch.

Dr. Gödden schien das genauso zu sehen. »Ich schreibe Sie jetzt erst mal eine Woche krank, und in der Zeit überlegen Sie und Ihr Mann genau, was Sie wollen. Einverstanden?«

Eine Viertelstunde später trat Katrin auf die Straße und hatte sich noch immer nicht im Griff. Wie ein verlorenes Kind stand sie auf dem Bürgersteig herum und fragte sich, wohin sie jetzt gehen sollte. Auf keinen Fall nach Hause. Dabei hatten ihre freien Tage so vielversprechend begonnen. Christoph war mit den Mädchen in eine Ferienanlage nach Belgien gefahren, damit sie mal so richtig zur Ruhe kam – sie war in letzter Zeit einfach ständig müde gewesen – und jetzt das! Zur Ruhe. Zu Hause würde sie es keine fünf Minuten aushalten, ohne durchzudrehen. Dabei hatte sie es sich gestern so richtig nett gemacht. Auf dem Sofa zu Abend gegessen. Katrin schüttelte den Kopf. Heringssalat hatte sie geholt. Ein Glas Gurken. Und zum Nachtisch eine halbe Tafel Schokolade. Wie deutlich hätte ihr Körper ihr eigentlich noch melden sollen, was los war? Und dann dieser feste Busen. Über den hatte sie sich einfach nur gefreut. Sie war nackt durchs Haus getanzt. Hatte das Gefühl genossen, zum ersten Mal seit Jahren in ihrem Haus alleine zu sein. Und auch alles andere, was sie sich vorgenommen hatte, erschien ihr jetzt völlig unwichtig. Shoppen? Was denn? Sie wollte nur Christoph! Und dann auch wieder nicht. Wie sollte sie ihm das beibringen? Unschlüssig stakste sie ein paar Meter, ließ sich auf einer Bank nieder und umarmte ihre Tasche. So saß sie und starrte ins Leere. Sie fühlte sich fast wie damals vor sechzehn Jahren, als sie mit Sophie schwanger geworden war. Unter der Dusche! Da hatten sie und Christoph sich gerade mal vier Wochen gekannt. Was hatte sie für eine Angst gehabt, dass er sie deswegen verlassen könnte. Er war doch gerade erst am Beginn seiner Karriere gewesen. Und sie hatte zu der Zeit bei einer Werbeagentur gearbeitet. Sie hatte sich so sehr auf die Zweisamkeit mit ihm gefreut, aber dann hatte das Schicksal etwas anderes vorgesehen. Wofür sie heute dankbar war. Genauso wie für ihre beiden anderen Mädels. Aber ein viertes Kind? Nein. Das war völlig undenkbar.

Christoph Bender saß gerade im Hallenbad der belgischen Ferienanlage und las in der Zeitung, neben sich die schlafende Lotta in der Babyschale, als Katrin anrief. Seine Frau klang nicht gut. Eigentlich so, als sei sie den Tränen nahe.

Das stritt sie allerdings ab. »Ich hab eine verstopfte Nase. Wollte nur mal hören, ob es euch gutgeht. Aber dem fröhlichen Schwimmbad-Geschrei nach zu urteilen, habt ihr viel Spaß?«

»Den haben wir. Soll ich dir Bilder schicken?«

»Nein, nein, die schau ich mir an, wenn ihr zurück seid. Ist das Essen gut?«

Sie klang seltsam, so abgehackt. »Ist wirklich nichts los?«, fragte er.

»Mach dir keine Sorgen. Ich erhole mich schon«, versicherte sie. Und dann die Frage: »Christoph – liebst du mich?«

Er sah sich um und legte die Hand über den Hörer. Gefühlsäußerungen in der Öffentlichkeit waren nicht sein Ding. »Natürlich liebe ich dich«, flüsterte er.

»Egal, was auch passiert?«

»Hör mal. Jetzt aber raus mit der Sprache.«

»Ich vermisse euch schrecklich!«

Christoph verdrehte die Augen. »Die Mädels haben viel Spaß, sie waren gestern den ganzen Tag draußen; gerade sind wir Schwimmen – es ist alles bestens. Und wenn du uns mal ein bisschen vermisst, freust du dich ja umso mehr, wenn du uns wieder hast. So lange ruhst du dich bitte aus oder machst, was dir Spaß macht!«

Als sie nicht antwortete, fragte er: »Katrin?«

»Ich ruh mich aus, versprochen. Grüß die Mädels ganz lieb von mir. Und viel Spaß im Schwimmbad! Kuss!«

Nachdem er aufgelegt hatte, starrte Christoph auf die schlafende Lotta. Bei seiner Frau blickte man manchmal wirklich nicht durch. Sie hatte sich doch so sehr auf diese freien Tage gefreut? Ihre Stimme hatte ihm gar nicht gefallen.

Die nächsten beiden Tage verbrachte Katrin vor dem Fernseher, schaute eine Staffel Friends nach der anderen und futterte abwechselnd Chips und Süßigkeiten auf dem Sofa. Neben ihr lag das Ultraschallbild. Immer wieder griff sie danach und betrachtete das kleine Fröschchen. Zum vierten Mal schon hielt sie ein solches Bild in Händen. Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte dieses Kind nicht. Und wie sollte sie Christoph das nur beibringen?

Lediglich zum Schlafen und für den Gang zur Toilette verließ sie ihren Platz auf dem Sofa, und einmal, als Herrmann Schreiber, ihr siebzigjähriger Nachbar, der sich auch um den Garten kümmerte, klingelte und fragte, ob alles in Ordnung sei. Er bekäme sie ja gar nicht zu Gesicht. Sie trank manchmal einen Kaffee mit ihm auf ihrem Balkon. Vermutlich hatte er erwartet, dass sie sich auch mal bei den Beeten blicken ließ, während der Rest der Familie weg war.

»Mir geht’s gut, mach dir keine Sorgen. Ich hab’s nur ein bisschen mit dem Kreislauf.«

Er lachte kopfschüttelnd. »Kaum ist die Bande aus dem Haus, kriegst du’s mit dem Kreislauf. Brauchst du irgendwas?«

»Ich habe alles.«

Er wandte sich zum Gehen. »Wann kommt Christoph wieder?«, fragte er noch.

»Heute Nachmittag«, antwortete sie. Gott sei Dank.

Und als sie zwei Stunden später hörte, wie ihr Mann draußen vorfuhr, konnte sie nicht anders, als ihm entgegen zu laufen. Noch im Hof fiel sie ihm um den Hals.

»Hui«, grinste er und küsste sie, »ich sollte öfters wegfahren.«

»Ich muss mit dir reden«, unterbrach sie ihn, während sie auch ihre Mädchen umarmte, die eben zum Hoftor reinkamen. »Am besten gleich.«

»Warum bist du denn noch im Schlafanzug?«, fragte Sophie, als sie alle zusammen ins Haus gingen. »Bist du krank?« Auch Josefine musterte sie neugierig, während sie ihre Zimmertür öffnete und mit Schwung ihren Rucksack hineinwarf.

Katrin versuchte sich an einem Lächeln. »Ich mach eben auch mal einen Schlafanzugtag.«

»Darf ich gleich noch ein bisschen raus?«, fragte Josefine und hopste vor Katrin auf und ab.

»Klar«, sagte Christoph und trug Lotta nach oben. Katrin folgte ihm. Ihre Kleine stürzte sich im Wohnzimmer auf ihre Spielzeugkiste und räumte sie aus.

Katrin winkte Christoph zu sich aufs Sofa und lehnte sich an ihn.

»Na?«, fragte er. »Hat die ganze Ruhe gar nichts gebracht?«

Katrin atmete tief durch. Ihr Herz klopfte wie wild. »Ich war beim Arzt.«

Er betrachtete sie interessiert. »Und? Hast du Eisenmangel?«

»Nein, beim Frauenarzt. Du weißt doch, dass ich in letzter Zeit so merkwürdige Blutungen hatte. Immer mal mehr, mal weniger.«

»Ja.«

»Er hat mich ... untersucht ...«

Christoph hörte aufmerksam zu.

»Tja, und da hat er festgestellt ...« Wieder atmete sie tief durch und blickte ihn aus tränenverschleierten Augen an.

Krebs, durchfuhr es ihn plötzlich, und sein Herz sank. Deshalb hatte sie ihn gefragt, ob er sie liebte, egal was passierte. Als Katrin vom Ultraschall und einem weißen Punkt berichtete, schlug er kopfschüttelnd die Hände vors Gesicht; sie sollte seine aufkommenden Tränen nicht sehen. Was stand ihnen alles bevor?

»Ist das nicht schrecklich, Christoph?«

Er nickte, ohne sie anzusehen.

»Was machen wir denn jetzt nur?«

Ratlos schüttelte er den Kopf und starrte auf das Teppichmuster zu seinen Füßen, bis es verschwamm. Chemotherapie. Bestrahlung. Die Worte schwirrten in seinem Kopf. Seine Frau war doch noch so jung! Er schluckte und versuchte, sich zusammenzureißen. »Katrin – egal was passiert, ich bin an deiner Seite«, versicherte er, gegen die Tränen ankämpfend. »Wir schaffen das schon.«

Sie nickte und griff nach seinen Händen.

Er suchte nach Worten: »Was meint denn der Arzt, in welchem Stadium ... also ich meine ... welche Größe –?« Er konnte kaum klar denken.

»Etwa vier Zentimeter.«

»Oh Gott. Das ist groß«, flüsterte er niedergeschlagen.

»Dr. Gödden meinte, ein Restrisiko gäbe es immer bei der Pille. Das weiß man ja auch – aber man denkt halt nicht, dass es einen selbst treffen könnte.«

Christoph konnte es nicht fassen. Lotta sah auf, als er vom Sofa aufstand und anfing, im Wohnzimmer auf und ab zu laufen. »Ich glaub‘s ja wohl nicht, davon hab ich noch nie was gehört! Dann hätten wir doch auch so verhüten können, mit Kondomen! Risiko!«

Als Katrin zu weinen begann, setzte er sich wieder zu ihr und legte den Arm um sie. »Sorry Schatz, mich haut das völlig um. Wie geht es dir? Hast du außer den Blutungen Beschwerden? Was sind denn jetzt die nächsten Schritte, und ... wie kann man es stoppen?«

»Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Er hat mir geraten, erst mal mit dir zu reden.« Sie schluckte. »Du möchtest also, dass ich es wegmachen lasse?«, flüsterte sie.

Christoph tippte sich an die Stirn. »Auf jeden Fall! Und zwar so schnell wie möglich!«

Katrin weinte. Mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet – auch wenn sie das Baby selbst nicht wollte. »Ich werd mich drum kümmern«, flüsterte sie. »Bei diesem Stadium muss es schnell gehen.«

»Muss es? Machen die vorher keine Biopsie? Vielleicht ist es ja gar nicht ...«

Katrins Kinnlade fiel. »Bei einem Abort? Da macht man vorher keine Biopsie. Da geht man hin, und es wird rausgeholt.«

Christoph starrte wieder auf den Teppich – so langsam kapierte er gar nichts mehr. Abort? Was sollte das denn? Plötzlich traf ihn die Erkenntnis: »Du bist schwanger?«, rief er.

»Was denn sonst?«

Er warf sich die Hände auf den Mund. »Oh mein Gott! Gott sei Dank! Und ich dachte …«, er suchte nach Worten, »… du bist krank!«

Sie sah ihn mit großen Augen an. »Krank? Nein. Schwanger. Und das ... findest du nicht schlimm? Ich soll es nicht wegmachen?«

Er zog sie an sich und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Wegmachen? Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Wir haben wunderbare Kinder. Stell dir vor, wir hätten eins von ihnen weggemacht.«

Katrin schluckte. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffen werde«, flüsterte sie. »Es ist doch alles gut, so wie es ist.« Sie wollte ihm wirklich nicht seine spontane Freude nehmen, aber so weit, wie die Schwangerschaft war, konnte sie dieses Gespräch nicht aufschieben.

Christoph schüttelte den Kopf. »Du würdest es wirklich abtreiben? Vier Zentimeter mit unserer DNA? Ein Baby, Katrin. Es hat sich ... in unser Leben geschlichen. Trotz Pille. Und wir setzen dem einfach ein Ende?«

Sie sah an seinem Gesichtsausdruck, wie abwegig er den Gedanken an einen Abbruch fand, und fühlte sich auf einmal so mit Liebe für ihn erfüllt, wie damals, vor sechzehn Jahren, als er sie ähnlich entgeistert angesehen hatte, als sie ihn fragte, ob sie das Baby abtreiben sollte. Er hatte recht. Es war völlig undenkbar.

»Was wohl Oma Rosi dazu sagen wird?«, flüsterte sie und musste plötzlich kichern. »Wenn ich an die anderen Male denke, als du ihr erzählt hast, dass sie Großmutter wird ...«

Christoph schnaubte. »Was meine Mutter dazu sagt, interessiert mich am allerwenigsten. Sie wird sich genauso wenig um dieses Kind kümmern wie um die anderen drei.«

Rosalinde hatte sich nie für die Mädchen interessiert, was eigentlich erstaunlich war. Sie lebte allein am Bodensee und hatte jede Menge Zeit. Aber selbst um ihren eigenen Sohn hatte sie sich wenig geschert. Als er siebzehn war, starb sein Vater, und Rosalinde gab Christoph zu verstehen, dass es jetzt an der Zeit wäre, auf eigenen Füßen zu stehen. Vielleicht hatte er sich deshalb schon früh eine eigene Familie gewünscht.

Katrin nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihn. Es würde alles gut werden. Sie schafften das. Ihre Liebe war stark genug. Es fand sich bestimmt eine Lösung für alles.

»Ist gut«, hauchte sie und blinzelte die Tränen fort. »Na dann: herzlichen Glückwunsch zum vierten Baby, Papa.«

Als Christoph sie fest in die Arme nahm und küsste, hielt Katrin plötzlich inne. Was wurde denn da plötzlich so warm zwischen ihren Beinen? So als ob …

3

DONNERSTAG, 17. SEPTEMBER

Papa!«

Christoph schrak hoch. Sophie stand vor seinem Bett und starrte ihn böse an. »Du hast uns nicht geweckt, Papa! Hast du eine Ahnung, wie viel Uhr es ist?«

Von Ferne hörte er ein Schreien. Oh Gott, Lotta, dachte er. Wie lange schrie die Kleine schon?

»Es ist zehn nach acht!«, beschwerte Sophie sich weiter. »Ich bin von Lottas Geschrei aufgewacht, und du hörst gar nix! Ich schreib in der zweiten Stunde Mathe, das schaff ich unmöglich rechtzeitig! Josefine schläft auch noch, und hier oben sieht es aus – wie soll ich denn hier frühstücken??«

Christoph sprang aus den Federn. »Dann räum doch mal ein bisschen auf, du bist doch kein Baby mehr! Warum ist denn der verdammte Wecker nicht angegangen, gestern ging er doch noch!« Ärgerlich nahm er das Gerät und starrte auf das Display. Der Alarm war aus. Vermutlich hatte er ihn einfach nicht eingeschaltet. Er war mit einem Einkaufszettel für die Kinderfrau beschäftigt gewesen – der lag genau neben dem Wecker. »Jetzt muss ich erst mal Lotta holen!«, rief er und eilte die Treppe zum Dachgeschoss hinauf.

Die Kleine stand mit verrotzter Nase in ihrem Bettchen, das blonde Haar klebte feucht an ihrer Stirn. Mit beiden Händen klammerte sie sich an die Gitterstäbe und warf den Kopf zurück. Christoph löste ihre Finger und nahm sie auf den Arm. Lotta schrie nach Leibeskräften.

»Ja, ich weiß, du willst die Mama«, flüsterte er.

Seine Tochter schmierte den Rotz an seiner Schulter ab und schniefte.

Während er nach ihrem Stoffhund griff, rief er nach unten: »Sag mal, Sophie, warum ist denn Frau Jeckel noch nicht da?« Er hatte die Kinderfrau doch bestellt. Die letzten drei Wochen hatte er sich freigenommen, immer in der Hoffnung, dass Katrin bald wieder aus der Klinik nach Hause kam, in die er sie gefahren hatte, nachdem sie so stark geblutet hatte, dass sie schon dachten, sie hätte einen Abgang. Dem war dann doch nicht so gewesen. Und seit gestern hatten sie es amtlich: fünf Monate absolute Bettruhe. Der Muttermund hielt sonst nicht.

»Woher soll denn ich das wissen? Du hast sie doch bestellt!«, unterbrach Sophies Ruf jäh seine Gedanken.

Christoph eilte mit Lotta die Treppe hinunter. Er war sich sicher, dass er mit Frau Jeckel verabredet hatte, sie solle ab heute täglich um halb acht kommen, außer am Wochenende. Er musste endlich wieder zur Arbeit – im Büro spielten nicht nur die Finanzmärkte verrückt.

»Kannst du bitte Josefine wecken, Sophie?«, rief er seiner Ältesten zu. »Ich muss mal telefonieren!«

Während sich Sophie murrend auf den Weg machte, griff Christoph zum Telefon und suchte im Telefonspeicher nach Frau Jeckels Nummer.

Sie meldete sich nach dem ersten Klingeln. »Gut, dass Sie anrufen«, sagte sie. »Ich hab’s mit dem Ischias. Ich kann nicht kommen.«

Christoph war sprachlos. Und sie sagte nicht einmal ab? Diese Frau war sowieso unmöglich; er wusste gar nicht, warum Katrin sie eigentlich beschäftigte. »Was denken Sie denn, ab wann Sie wieder –?«, fragte er.

»Oh, das kann dauern«, sagte Frau Jeckel.

Christoph knallte den Hörer auf. Lotta auf seinem Arm schmuste mit ihrem Stoffhund, sie hatte zu weinen aufgehört. Den Rotz war sie zwischenzeitlich an seinem Schlafanzug losgeworden. Nachdenklich betrachtete er die Schneckenspur auf seinem Ärmel. Er konnte es noch bei Frau Szalaty, der Putzfrau, versuchen, die hatte er sowieso anrufen wollen. Und sie mochte Kinder. Seufzend drückte er auf die eingespeicherte Nummer.

Josefine kam nach oben, ignorierte das Telefon an seinem Ohr und rief: »Ich hab nix mehr anzuziehen!« Schmollend setzte sie sich in Unterhosen an den Tisch, die braunen Haare flossen über ihre Schultern und Arme. Erwartungsvoll sah sie ihn an und machte eine Handbewegung, die zu sagen schien: »Wird’s bald?!«

Christoph schüttelte den Kopf und zeigte ihr mit dem Telefonhörer einen Vogel. »Zieh das von gestern an«, raunte er.

»Nö«, sagte sie, »und außerdem hab ich Hunger.«

»Mach dir was!«, zischte er. »Flakes, Nutellatoast, alles, was du sonst nicht darfst. Aber mach!«

Sie zog einen Flunsch und tappte zum Schrank. Von unten hörte er Sophie rufen. »Ich fahr jetzt los! Hab mir Geld von dir genommen und kauf mir unterwegs schnell Frühstück, okay? Tschühüß!«

Mit dem Hörer am Ohr sah er zu ihr hinunter und winkte, bis sie aus der Tür war.

Als Frau Szalaty endlich abnahm, klang sie, als ob sie völlig aus der Puste wäre. »Entschuldigung, war ich schon aus der Tür, als ich habe gehört Telefon. Was gibt‘s?«

»Ich habe einen Notfall. Meine Frau ist doch im Krankenhaus, und daher wollte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht ... ich meine ... könnten Sie sich vorstellen, in den nächsten vierzehn Tagen auf Lotta aufzupassen? Unsere Kinderfrau ist abgesprungen.«

»Abgesprungen? Gottes Willen. Wo?«

»Nein, also nicht so. Sie hat’s mit dem Rücken. Und jetzt habe ich niemanden, und da dachte ich an Sie. Sie mögen doch die Kinder.«

»Ja, mag ich schon. Aber habe ich richtige Stelle. Das bei Ihnen mache ich dazu. Kann ich gar nicht wegbleiben so lange von meine Job.«

Christoph ließ die Schultern hängen. Sie war seine letzte Hoffnung gewesen. Dass Katrin sich aber auch nie um einen Krippenplatz gekümmert hatte! Sie meinte, es hätte sowieso keinen Sinn, sich dafür zu bewerben – die Wartelisten waren so lang wie die Liste der DAX-notierten Unternehmen im Handelsblatt. Deswegen bei der Stadtverwaltung anzurufen, konnte er sich sparen. Frustriert legte er das Telefon beiseite und sah auf die Uhr. Damit blieben nur noch die Schwiegereltern. Vielleicht hatten Anneliese und Max ja Zeit. Sie sprangen schon mal ab und zu ein, wenn Frau Jeckel nicht konnte. Er musste schnellstens ins Büro, um zehn Uhr hatten sie das erste Krisenmeeting und er war noch im Schlafanzug. Lotta deutete auf Josefine, die sich eben ein Schälchen Flakes mit Milch füllte. Christoph riss ihr die Milchtüte aus der Hand, bevor es eine Überschwemmung gab. »Das wird auch gegessen, Frollein!«

Sie blickte ihn böse an. »Mama ist morgens viel netter «, sagte sie.

Christoph ignorierte seine mittlere Tochter und setzte Lotta ins Stühlchen. Dann kippte er ihr eine Ladung Flakes auf den Tisch und griff wieder zum Telefon, während seine Tochter sich mit beiden Händen Frosties in den Mund schob.

»Es geht aber nur heute«, sagte Anneliese, nachdem er ihr die Situation geschildert hatte. »Max und ich haben morgen schon was vor. Freitag ist unser Putztag. Und wir kaufen ein. Und nächste Woche ist es auch schlecht. Du weißt ja, dass Daniel uns die Zwillinge bringt.« Daniel war Katrins Bruder, seine Frau studierte noch.

»Okay, und wie lange könntet ihr heute?«, fragte er.

»Bis um sechs. Donnerstagabends habe ich Gymnastik.«

Christoph verdrehte die Augen. Gymnastik! Was gab es Wichtigeres? Ihm musste dringend etwas einfallen, soviel stand fest. Er sah an sich hinab und betrachtete seinen Schlafanzug. Dann blickte er auf Lotta, deren Vorderseite mit Flakeskrümeln übersät war. Zu Anneliese sagte er: »Wäre super, wenn ihr sofort kommen könntet.«

»Machen wir, bis gleich«, erwiderte sie und legte auf.

Christoph machte Lottas Fläschchen fertig, nahm die Kleine aus dem Stuhl und setzte sich mit ihr an den Tisch. Zu Josefine, die gerade die dritte Schale Flakes in sich hineinmampfte, sagte er: »Musst du nicht mal langsam los?«

Sie sah auf die Wanduhr. Dann hob sie die Schultern. »Wenn ihr mich so spät weckt.«

Christoph seufzte. Dieses eigenwillige Ding machte, was es wollte. Andere würden zu zittern anfangen, dass die Lehrerin schimpfen könnte, aber Josefine strotzte vor Selbstbewusstsein. Wenigstens kam ihr das jetzt zugute – andere Kinder steckten es nicht so leicht weg, wenn die Mutter längere Zeit fehlte.

Nachdem Lotta fertig getrunken hatte, stellte er sie in ihr Ställchen, schickte Josefine ins Bad und trabte die Treppe hinunter, um ihre Klamotten zu holen. Verblüfft blickte er in den Kleiderschrank im Kinderzimmer. In den Regalen langen massenhaft Klamotten.

»Josefine!«, rief er.

Die Tür zum Bad ging auf: »Was?!«

»Dein Kleiderschrank ist voll! Und du hast behauptet, du hättest nichts anzuziehen!«

»Das zieh ich alles nicht mehr an! Das ist Babykram!«

Ungeduldig blickte Christoph in die Ecke neben Josefines Kleiderschrank, in der ein Sack für Dreckwäsche stand. Er quoll über. Wie viele Klamotten hatte das Kind eigentlich? Ungehalten kramte er eine Jeans und einen leichten Pullover für sie heraus, ebenso ein paar brauchbare Strumpfhosen. Schnell eilte er wieder nach oben.

»Das zieh ich auch nicht an, das ist von gestern!«, sagte Josefine.

Er nahm sie bei den Schultern und unterdrückte den Impuls, sie zu schütteln. Dann beugte er sich zu ihr hinunter. »Du ziehst das jetzt an«, zischte er, »verstanden?«

Sie nickte stumm. Tränen der Wut blitzten in ihren Augen.

Als er aus dem Bad kam, war es Viertel vor neun und er hatte nur noch wenige Minuten Zeit. Josefine war inzwischen gegangen, ohne Tschüss zu sagen. Sollte sie doch beleidigt sein! Glücklicherweise konnte er mit dem Wagen zur S-Bahn-Station fahren, das sparte ihm ein paar Minuten. Wenn Katrin das Auto hatte, nahm er den Bus. Schließlich fiel ihm der Einkaufszettel auf seinem Nachttisch wieder ein. Er kramte Geld aus seinem Portemonnaie und legte den Zettel zusammen mit fünfzig Euro auf den Küchentisch. Dann nahm er einen weiteren Zettel, schrieb bitte Wäsche waschen darauf und legte ihn dazu. Während er in seine Jacke schlüpfte, schlürfte er die restlichen Tropfen Milch aus Josefines Müslischale. Für einen Kaffee reichte die Zeit nicht mehr. Mit dem Fuß schob er die Flakeskrümel auf dem Boden hin und her und trommelte mit den Fingern auf den Milchkarton. Lotta schaute von ihrem Tierbüchlein auf und rief: »Wauwau!«. Christoph winkte.

Als der Wagen der Schwiegereltern vorfuhr, lief er nach draußen, zog die Frankfurter Allgemeine aus dem Zeitungsrohr und begrüßte Anneliese und Max, setzte sich ins Auto und fuhr los.

Eine halbe Stunde später eilte er am Japantower vorbei, überquerte die große Gallusstraße und schob sich durch die Drehtür ins Gebäude des Bankhauses von Stamms. Er war Gruppenleiter des Geld- und Aktienhandels, sein Job gefiel ihm. Er hatte meist den richtigen Riecher, was gute Anlagen betraf, und seine Kollegen schätzten ihn. Was nichts an der Tatsache änderte, dass sie alle – er eingeschlossen – um ihre Jobs bangten. Die Zeitungen waren wieder mal voll davon, dass es in der Investmentbranche kriselte.

Alle aus seiner Abteilung waren schon um den Konferenztisch versammelt; manche tuschelten, andere scrollten auf ihren Smartphones, als Bereichsleiter Tauber eintrat. Er nickte kurz in die Runde – zwanzig Leute, die möglicherweise bald ihren Job loswurden. Allerdings hatten die Wenigsten drei Kinder und eine Frau, die gerade mit dem vierten Kind schwanger war und mit seinem Laptop im Krankenhaus lag. Er hatte es ihr überlassen, damit sie Filme schauen konnte. Alle anderen Sitzungsteilnehmer hatten ihren aufgeklappt vor sich stehen. Man musste beschäftigt tun, besonders in Zeiten wie diesen.

Christoph sah aus dem Fenster, hinüber zur Frankfurter Sparkasse, und lauschte Taubers Ausführungen. Seine Gedanken schweiften zu Katrin, die ihm vertraute und auf ihn baute. »Mein Fels in der Brandung«, sagte sie oft zu ihm, wenn sie selbst ausgebrannt war von der Büffelei mit Sophie oder Lottas nächtlichen Schreiattacken. Momentan fühlte er sich allerdings nicht wie ein Fels. Eher wie Wackelpudding. Er hatte keine Ahnung, wen er für die Kinderbetreuung aus dem Hut zaubern sollte. Andererseits – möglicherweise brauchte er bald keine mehr. Vielleicht würde er ja demnächst ganz zu Hause sein.

Christoph wandte sich vom Fenster ab und zwang sich, seine Aufmerksamkeit Tauber zuzuwenden. Dieser schloss mit den Worten, die Handelsabteilung hätte nichts zu befürchten. Natürlich habe man Verluste eingefahren, aber die gab es auch in guten Zeiten. »Kein Grund zur Panik«, sagte er, »die Presse übertreibt.«

»Hat schon mal jemand von einer Investmentbank ohne Handelsabteilung gehört?«, scherzte Gerrit Müller, den Christoph verabscheute.

Nur wenige lachten, einer davon war Tauber. Doch auf Christoph wirkte er alles andere als gelassen. Er strich sich allzu häufig über die Glatze, wenn einer etwas fragte, und verbrachte die übrige Zeit damit, sich seinen Kinnbart zu kraulen.

Zurück in seinem Büro schloss Christoph die Tür hinter sich und sah aus dem Flurfenster. Er hatte die Jalousie heruntergelassen, da er es nicht mochte, auf dem Präsentierteller zu sitzen – aber durch die Ritzen konnte er hinausschauen. Von seinem Platz aus überblickte er die Aufzüge. Eben eilte Jochen Klein vorbei und drückte auf einen der Aufzugknöpfe. Christoph hob den Kopf. Der Kollege sah fertig aus, sein Blick flog direkt zu Christoph. Dieser sah schnell auf den Bildschirm, obwohl Klein ihn sicher gar nicht sehen konnte. Als er wieder aufsah, war Klein in einem der Aufzüge verschwunden.

Ein kurzes Klopfen unterbrach seine Gedanken. Gerrit Müller steckte den Kopf zur Tür herein. »Na, alles klar?«, erkundigte er sich betont kumpelhaft und trat grinsend ein.

Christoph runzelte die Stirn. Der Typ war ihm schon immer zuwider gewesen. Nicht besonders groß, schob er einen beachtlichen Bauch vor sich her. Nacken und Rücken gingen nahtlos ineinander über, die Hände waren ständig feucht. Mit seinen tiefliegenden Augen und dem rotblonden kurzen Haar erinnerte er an ein Schweinchen. Ein Eindruck, den die rote Gesichtsfarbe noch verstärkte. Zwar war er erst knapp über dreißig, litt aber dermaßen unter Bluthochdruck, dass ihm ständig der Schweiß auf der Stirn stand. Scheinheilig stellte Müller sich mit dem Rücken zur Tür. »Was meinst du?«, fragte er, »werden Köpfe rollen?«

Christoph hob die Schultern. »Falls du glaubst, Internas von mir erfahren zu können – ich hab keine.«

Gerrit lachte glucksend. »Das glaub ich dir keine Sekunde.« Zufrieden klopfte er sich auf den dicken Bauch. »Mir kann jedenfalls nichts passieren. Auf einen wie mich werden die nicht verzichten.« Dann trat er näher, legte seine dicken Finger auf Christophs Schreibtisch und beugte sich konspirativ nach vorn: »Im Gegensatz zu Jochen. Der hat gewaltiges Muffensausen.« Beifall heischend sah er Christoph an; dieser blickte jedoch mit unbeteiligter Miene zurück. Musste man verstehen, was dieser Kerl da faselte?

Gerrit fuhr fort: »Ehrlich jetzt, von dem, was er hatte, ist nichts mehr übrig.«

»So?«

Müller tat mitfühlend und lehnte sich noch weiter nach vorn. »Ich rede von seinen Privatgeschäften. Der hat in der Vergangenheit zu viel in Griechenland und Zypern investiert. Da hatte er wohl die falsche Strategie.«

Endlich nahm er die dicke Hand von Christophs Schreibtisch; sie hinterließ einen feuchten Abdruck. Achselzuckend begab Gerrit sich zurück zur Tür. Kurz bevor er die Klinke ergriff, drehte er sich noch einmal um. »Ich hab noch was gehört, Christoph, aber das muss unter uns bleiben. Ich meine, du weißt ja, wir machen hier alle so unsere Erfahrungen auf der einen oder anderen Afterworkparty. Aber der Jochen, der scheint den Absprung nicht rechtzeitig geschafft zu haben.«

Christoph glotzte ihn irritiert an. Der Mann sprach in Rätseln. Er war noch nie auf einer Afterworkparty gewesen. »Was meinst du?«, fragte er.

»Mensch Christoph, wo lebst du denn? Fun, Party, Feiern! Ein bisschen Koks und Ecstasy gehört dazu – für einige jedenfalls, du würdest dich wundern! Aber du musst es ja nicht glauben. Man sieht sich!«

Dann war er endlich draußen.

Christoph fuhr kopfschüttelnd den Computer hoch. Gerrit hatte eine Profilneurose; ständig kreuzte er auf, schwärmte von sich selbst und stellte sich in den Mittelpunkt. Christoph öffnete den Browser und ging auf die Seite der Frankfurter Neuen Presse. Er hatte wirklich andere Sorgen als Afterworkpartys. Grübelnd formulierte er den Text für eine Anzeige.

Aus Krankheitsgründen suchen wir kurzfristig für unsere drei Mädchen (15, 7 und 1) eine liebevolle Betreuung an 5 Tagen in der Woche für jeweils 10 Stunden. NR bevorzugt.

Stirnrunzelnd betrachtete er das Geschriebene und dachte: Da meldet sich kein Mensch. Wer würde freiwillig einen 50-Stunden-Job schieben? Und mal angenommen, er würde nur 6 Euro pro Stunde zahlen – so viel hatte Frau Jeckel bekommen – dann kostete ihn das 1.200 Euro im Monat. Niemand würde für dieses Gehalt Vollzeit arbeiten. Er konnte sicher auch die Krankenkasse fragen, ob die einen Teil übernahmen. Sicher hatte man Anspruch auf Hilfe? Aber jemand ganz Fremdes im Haus zu haben – der Gedanke behagte ihm einfach ganz und gar nicht.

Er trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch. Wenn Lotta nicht wäre! Für die anderen beiden hatte er ja eine Betreuung über die Schule, aber für Lotta – niemanden. Nachdenklich blickte er aus dem Fenster und verfolgte in der Ferne die Bahn eines Flugzeugs.

Kannte er denn keine alleinstehende Frau mittleren Alters, die sich langweilte? Gedanklich ging er die Nachbarschaft durch, aber da gab es niemanden. Mütter aus Kindergarten und Schule kamen auch nicht in Frage; die waren alle froh, vormittags für ein paar Stunden ihre Ruhe zu haben.

Zwangsläufig fiel ihm seine eigene Mutter ein – doch diesen Gedanken schob er gleich wieder beiseite. Katrin würde ausflippen, wenn Oma Rosi ins Haus käme. Sie hatten sich noch nie verstanden – Katrin und Rosalinde waren so gegensätzlich wie eine Promenadenmischung und ein Dobermann. Noch dazu war seine Mutter gegen die Heirat gewesen, und seither bekam Katrin einen roten Kopf, wenn sie Rosalinde nur zu Gesicht bekam. Und auch er selbst hatte seine Probleme mit ihr. Sie war nie die Mutter gewesen, die man sich wünschte. Hauptsache, Kinder machten keine Arbeit und keinen Krach. Meist war es ihr wichtiger gewesen, seine Fingernägel nach schwarzen Rändern abzusuchen, als ihn in den Arm zu nehmen. Wie oft hatte er sich ein Geschwister gewünscht, um sich nicht mehr so allein zu fühlen, und nachdem sein Vater gestorben war, schien sie jegliches Interesse an ihm verloren zu haben. Da zog er zu seinem Freund Achim. Dessen Eltern waren froh, dass noch ein wenig Leben in die Bude kam, da Achims ältere Geschwister eigene Wohnungen hatten. Christophs Mutter hatte Achims Eltern monatlich fünfhundert Mark bezahlt und ihm fünfundzwanzigtausend in einem Umschlag in die Hand gedrückt. Dies sei sein Erbe, das er für sein Studium »oder sonst was« verwenden könne. Kurz danach hatte sie das Haus verkauft und einen Bungalow am Bodensee erworben. Womit sie ihre Tage verbrachte, wusste er nicht, außer dass sie gelegentlich Golf spielte. Christoph seufzte. Eigentlich kannte er sie kaum. Und dass sie so wenig um seinen Vater getrauert hatte, verstand er überhaupt nicht. Christoph sah sie förmlich vor sich: mit versteinerter Miene am Grab, ihr Blick abwesend in die Ferne gerichtet, der dünne Mund zu einem Strich zusammengepresst, die Statur kerzengerade. Für ihr Alter sah sie noch passabel aus, war gepflegt und schlank, trug am liebsten Twinsets in gedeckten Farben. Eine kleine Veränderung in ihrem trüben Alltag würde ihr sicherlich ganz guttun. Vielleicht war es einen Versuch wert? Zögernd griff er zum Telefon und wählte ihre Nummer. Es klingelte eine ganze Weile ins Leere.

»Bender«, meldete sie sich schließlich. Sie klang verschlafen.

»Hallo Mutter, ich bin‘s, Christoph.«

»Christoph?« In ihrer Stimme lag Überraschung.

»Wie geht es dir?«, fragte er. Man konnte ja nicht einfach so mit der Tür ins Haus fallen.

»Ist was passiert?«

»Nein. Oder ... mehr oder weniger«, stotterte er. »Ich … habe ein Problem, und ich dachte, du könntest mir vielleicht helfen. Es geht um Katrin.«

Er spürte förmlich, wie sie sich versteifte, und hätte am liebsten sofort wieder aufgelegt. »Pass auf«, fuhr er trotzdem fort, »es ist Folgendes: Katrin liegt im Krankenhaus, und zwar für länger. Ich hatte eine Kinderfrau – die ist aber kurzfristig abgesprungen. Heute sind Max und Anneliese da – ab morgen hab ich niemanden mehr. Bis jetzt jedenfalls noch nicht. Ich hab jetzt schon drei Wochen Urlaub genommen, und daher wollte ich dich fragen, ob du vielleicht mal einspringen könntest. Nur so als Zwischenlösung, bis ich jemanden für die Kinder gefunden habe. Bitte Mutter.«

Sie schwieg lange.

»Bist du noch dran?«, fragte er schließlich.

»Was hat sie denn?«

Er seufzte. Wenn er ihr das jetzt erklärte, konnte er es gleich vergessen. »Mutter, das mag sich jetzt komisch für dich anhören, und ich kann auch nur sagen, dass es absolut nicht geplant war, aber Katrin ist wieder schwanger und muss liegen, damit dem Baby nichts passiert. Und zwar für unbestimmte Zeit. Wenn wir Pech haben, bis zum Ende der Schwangerschaft.«

»Im wievielten Monat ist sie denn?»

»Im vierten, also noch ganz früh.«

»Wenn ihr kein Kind mehr wollt, warum kommt sie dann nicht heim?«

Christoph schloss die Augen. »Mutter – das geht doch nicht. Weißt du, ich würde dich nicht fragen, wenn ich eine andere Lösung wüsste.«

Ihr Schweigen schien eine Ewigkeit anzudauern.

»Du kannst auch nein sagen, dann haben wir es hinter uns«, sagte Christoph.

»Ich sage ja gar nicht nein. Aber du wirst mir wohl zugestehen, dass ich ein paar Minuten darüber nachdenken muss. Es ist keine Kleinigkeit, um die du mich hier bittest.«

Christoph atmete vernehmlich aus.

Plötzlich sagte sie: »Also gut, ich komme.«

»Wirklich?«

»Ja. Vierzehn Tage. Bis dahin muss es eine andere Lösung geben. Hat nicht jedes Kind Anspruch auf einen Krippenplatz?«

Christoph schnaubte und starrte auf seinen Bildschirm. Eine E-Mail von von Stamms. Meeting ASAP in seinem Büro.

»Man kann keinen Anspruch auf Krippenplätze erheben, die es nicht gibt. Aber so lange wird es sicher nicht dauern, bis ich einen Ersatz gefunden habe«, sagte er. »Wann kannst du kommen?«

»Ich muss hier erst ein paar Dinge organisieren. Heute kann ich noch nicht weg. Wenn ich morgen früh losfahre, bin ich um die Mittagszeit bei euch.«

Christoph atmete auf, und es gelang ihm, sich ehrlich erfreut bei ihr zu bedanken, bevor er sich verabschiedete. Perplex starrte er auf den Tisch. Er konnte kaum fassen, dass er seine Mutter um diesen Gefallen gebeten hatte. Und sie hatte ja gesagt! Immerhin gab ihm ihr Kommen ein paar Tage Luft. Katrin musste ja gar nichts davon wissen.

Schnell änderte er die Anzeige.

Aus Krankheitsgründen suchen wir kurzfristig für unsere drei Mädchen (14, 7 und 1) eine liebevolle Betreuung an 1 bis 2 Tagen pro Woche für jeweils 10 Stunden. Größere Kinder erst nachmittags anwesend. NR bevorzugt. Anrufbeantworter.

Bis seine Mutter wieder abfuhr, sollte sich dieses Problem gelöst haben. Er würde einfach mehrere Damen einstellen. Mit einem Knopfdruck schickte er die Anzeige ab, dann ging er in Richtung Fahrstuhl.

Währenddessen stand Christophs Kollege Jochen Klein im Kassenraum der Frankfurter Volksbank und zog mit bebenden Fingern die EC-Karte aus seinem Portemonnaie. Er schob sie in den Schlitz des Geldautomaten und wartete darauf, die Geheimnummer einzugeben. Hinter ihm stand ein Mann mit Hund und lächelte ihm freundlich zu. Jochen rückte noch näher an den Automaten heran und verstaute das Bündel Scheine zusammen mit der Karte in seiner Brieftasche. Dann verließ er schnellen Schrittes die Bank. Nach einem hastigen Blick überquerte er die Hauptverkehrsstraße und betrat nach wenigen Metern das Gebäude der Deutschen Börse. Abwartend stellte er sich in die Halle, bis er die Person erspähte, die er suchte. Nach einem kurzen Blickkontakt suchte er die Herrentoilette auf und begab sich in die mittlere Kabine. Als ein Papierbriefchen unter der Tür durchgeschoben wurde, nahm er es entgegen und reichte im Gegenzug 700 Euro.

Wenige Minuten später verließ er das Gebäude. Er fühlte sich deutlich besser.

Dass eine Person auf dem Börsenplatz saß und ihr Gesicht hinter einer Zeitung verbarg, bemerkte er nicht.

Nachdem Rosalinde Bender den Hörer aufgelegt hatte, blieb sie noch einen Moment regungslos in ihrem Flur stehen. Nachdenklich strich sie über das Holzfurnier des Flurschränkchens und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel an der Wand. Sich selbst zunickend, straffte sie die Schultern, ehe sie durch die Diele in ihr Wohnzimmer hinüberging. Sie liebte diesen Blick in ihre Zimmer hinein. Die Ordnung und Sauberkeit der Räumlichkeiten waren ein Genuss fürs Auge. Die Sonne schien auf das dunkle Holz ihres Esstischs, und ein paar wenige Staubkörnchen tanzten im Licht der Sonnenstrahlen über die Tischplatte. Freitags war ihr Putztag, das hatte sie bei ihrer Zusage an Christoph vollkommen übersehen. Es war ihr eigentlich zuwider, das Haus so Hals über Kopf zu verlassen. Grundsätzlich bereitete sie ihre Reisen gründlich vor, damit im Eifer nichts vergessen ging. Nachdenklich schritt sie zur Balkontür, trat hinaus auf die Terrasse mit den Blumenkübeln, die in Reih und Glied auf den Terracottafliesen standen. Zwei Wochen mochte sie wohl hinter sich bringen. Zwar wehrte sich etwas in ihr gegen diese Vorstellung, aber Christoph hatte sich seit etlichen Jahren nicht mehr mit einer Bitte an sie gewandt. Sie kam um diesen Gefallen wohl nicht herum. Wieder lief sie in den Flur zurück und holte Zettel und Stift aus ihrem Schränkchen, um sich alle Personen zu notieren, die sie über ihren kurzfristigen Urlaub informieren sollte. Viele waren es nicht. Ihre Nachbarin vielleicht, aber eigentlich sah sie die viel zu selten. Post bekam sie auch nur alle Jubeljahre. Werbung und kostenlose Zeitungen verbot ein Schild. Und was war mit ihrem Bekannten, Konrad Mattes? Eigentlich war sie ihm keinen Anruf schuldig, im Gegenteil: Er hatte sich noch nie bei ihr abgemeldet, und er verreiste des Öfteren. Ihm ging es ohnehin nur um die gelegentlichen Besuche auf dem Golfplatz, ansonsten konnte er gut ohne sie auskommen. Dennoch gab sie sich einen Ruck und rief ihn an. Er durfte ruhig wissen, dass ihr Sohn sie für vierzehn Tage zu sich eingeladen hatte. Immerhin hatte er sich schon oft darüber gewundert, dass sie so wenig Kontakt zu ihrer Familie pflegte. Geradezu neidisch hatte er gelauscht, wenn sie von ihren drei Enkelinnen erzählte – und viel war es nun wirklich nicht gewesen, was es zu berichten gab. In Wahrheit hatte sie nämlich regelrecht Angst vor diesen Zusammentreffen – und das lag nur zu einem geringen Teil an Katrin. Doch darüber konnte sie nun wirklich mit keiner Menschenseele sprechen. Nicht einmal mit sich selbst.

Nachdem sie aufgelegt hatte, ging sie ins Schlafzimmer und setzte sich auf die geblümte Tagesdecke. In Gedanken versunken fuhr sie mit dem Zeigefinger das Blumenmuster nach. Sie musste sich überlegen, wie sie den Kindern begegnen sollte, sie hatte ja seit Ewigkeiten nichts mit ihnen zu tun gehabt! Bei den seltenen Besuchen in Frankfurt hatte sich kaum einmal die Gelegenheit ergeben, sich näher mit ihnen zu befassen. Ihre Schwiegertochter beobachtete Rosalinde immer mit Argusaugen. Und dann ihre Schwiegerleute. Katrins Eltern waren einfach gestrickt. Sie hoffte, dass sie in den kommenden Tagen nicht allzu oft mit ihnen zusammentreffen würde. Sie hatte ihnen schlichtweg nichts zu sagen. Während sie unschlüssig zu ihrem Kleiderschrank blickte, versuchte sie, sich in Erinnerung zu rufen, wie alt die Kinder inzwischen sein mochten. Lotta war vor etwa einem Jahr zur Welt gekommen. Oder doch schon im Juli? Sicher zeichnete es eine Großmutter nicht gerade aus, wenn sie das Alter ihrer Enkelkinder nicht kannte. Aber sie wollte dieser Rolle ohnehin nie gerecht werden! Langsam erhob sie sich vom Bett, strich es wieder glatt und ging zum Kleiderschrank, in dem sie ihre beiden Koffer aufbewahrte. Den Reisekoffer hatte sie schon eine Weile nicht benutzt. Darin lag eine Liste der Dinge, die sie für einen Urlaub einzupacken pflegte. Auch den anderen Koffer holte sie aus dem Schrank und öffnete ihn. Sie starrte hinein und überlegte. Schließlich nahm sie mehr, als sie eigentlich benötigte, verschloss ihn wieder und stellte ihn zurück in den Schrank.

Nachdem sie fertig gepackt hatte, entschloss sie sich für einen Spaziergang in die Ortschaft, um ihr Bahnticket zu kaufen. Christoph hätte es auch für sie buchen können. Er hatte sie jedoch nicht danach gefragt.

Es war schon halb sieben, als Christoph die Bank verließ. Die Begeisterung über sein Zuspätkommen hatte sich bei seinen Schwiegereltern bei seinem Anruf vor einer Stunde in Grenzen gehalten, aber sie würden sich auch wieder beruhigen. Er hatte etliche Sitzungen hinter sich, Monatsberichte gelesen, mit von Stamms über die Möglichkeiten von Kosteneinsparungen diskutiert und einem externen Berater Rede und Antwort gestanden, was die Abteilungsstruktur betraf. In der S-Bahn wählte er Katrins Nummer. Sie nahm sofort ab.

»Ich denke ununterbrochen darüber nach, wie du die nächsten fünf Monate managen sollst«, sagte seine Frau nach einer kurzen Begrüßung. »Ich meine, du findest nicht mal Zeit, mit mir zu telefonieren – und das soll überhaupt kein Vorwurf sein! –, aber wie willst du das denn alles zu Hause auf die Reihe kriegen? Frau Jeckel kann ja nicht rund um die Uhr da sein. Gestern am Telefon jedenfalls ...«

»Warum mischst du dich eigentlich ständig in alles ein?«, fiel Christoph ihr ins Wort. »Traust du mir gar nichts zu? Ich muss mit der Situation klarkommen, ich werde es auch managen. Es hilft mir nicht, wenn du mir dann auch noch in den Ohren liegst!«

Katrin verschlug es die Sprache. Worüber regte er sich denn so auf? Sie starrte den Hörer an und überlegte, was sie ihm antworten sollte. Doch er redete schon weiter – ruhiger diesmal: »Sorry, Schatz, aber du musst mir einfach vertrauen. Ruh dich aus – ich kümmere mich um den Rest. Ich könnte nicht damit leben, wenn was mit dem Baby passiert, weil du dich überanstrengst, verstanden? Es kommen auch wieder bessere Zeiten.«

Katrin wagte nicht, ihm zu widersprechen, und kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals an. Sie sprachen noch über die Mädchen und dass Sophie sich lieber um die Schule kümmern solle, statt allzu häufig bei Katrin im Krankenhaus vorbeizukommen.

Christoph verschwieg ihr, dass Frau Jeckel abgesagt hatte und stattdessen ihre Eltern die Kinder hüteten. Das Gespräch wäre sonst mit Sicherheit auf die nächste provisorische Lösung gekommen: seine Mutter. Spätestens dann hätte Katrin geahnt, dass die Sache ganz und gar nicht so lief, wie er sich das vorstellte. Auch von der Krise im Bankhaus erwähnte er nichts, schon gar nicht von den drohenden Entlassungen. Er schob diesen Gedanken beiseite. Unmöglich konnte er sich um alle Dinge gleichzeitig kümmern. Natürlich hätte er sie bitten können, das momentane Debakel zu organisieren. Zeit dazu hatte sie, aber auch sie hätte niemanden aus dem Hut zaubern können. Sie würde sich vermutlich sofort nach Hause verlegen lassen – das wollte er unter keinen Umständen. Und so plante er die Dinge ohne ihr Wissen und ging davon aus, dass sich die Situation zu Hause ohnehin bald entspannen würde. Sobald seine Mutter wieder weg war und sich die Sache mit den zwei oder drei Kinderfrauen eingespielt hatte, konnte er sie immer noch informieren. In zwei bis drei Wochen sah die Welt schon ganz anders aus.

4

FREITAG, 18. SEPTEMBER

Am Freitagmorgen saß Rosi um 7:30 Uhr im Zug. Sie stieg dreimal um, traf am Mittag in Frankfurt ein und nahm ein Taxi nach Erlenbach.

Als sie um halb eins ankam, wurde sie schon von Christoph erwartet. Ihr Sohn gefiel ihr gar nicht. Seit wann hatte er Ringe unter den Augen? Und warum tat er so aufgesetzt fröhlich? Er hielt die kleine Lotta wie einen Schutzschild vor sich, dann drückte er ihr das Kind in den Arm. Ungelenk nahm sie das Kind entgegen. Lotta betrachtete sie neugierig. Rosi hatte die Kleine zuletzt als Säugling gesehen. Sie sah aus wie eine Miniaturausgabe ihrer großen Schwester Sophie, und damit Katrin wie aus dem Gesicht geschnitten. Blondgelockt, blauäugig.

Lotta sah quengelnd hinter Christoph her, der Rosis Koffer nach oben trug. Sie folgte ihm ins obere Stockwerk, wo er ihr Lotta wieder abnahm und ihr das Gästezimmer zeigte. Eigentlich war es Katrins Arbeitszimmer, mit Aktenordnern in den hohen weißen Regalen und einem alten Schreibtisch am Fenster. Es stand auch ein Schlafsofa darin, das Christoph hergerichtet hatte – oder Anneliese – sie wusste es nicht. Besonders gemütlich war es nicht, und einen Schrank für ihre Kleider gab es auch nicht, aber für vierzehn Tage sollte es gehen.

Anschließend setzten sie sich an den Esstisch in der Küche, die für Rosis Geschmack viel zu farbenfroh eingerichtet war. Die Wand hinter den weißen Küchenmöbeln dunkelrot, die am Esstisch hellgrün. Geschmacksverirrung. Zusätzlich hingen überall an den Wänden und Schränken Gemälde der Kinder. Und von der Decke baumelte eine Korblampe, die diffuses Licht spendete. Bei einem unauffälligen Blick ins Wohnzimmer stellte sie erleichtert fest, dass das Haus trotz aller Geschmacklosigkeiten wenigstens aufgeräumt war. Vielleicht sah Christoph deshalb so fertig aus.

»Wenn du was suchst«, sagte er eben, »dann mach einfach die Schränke auf. Oder ruf mich an.« Er deutete auf einen Familienplaner an der Wand: »Da findest du alle Termine. Am besten, du schaust dir den nachher mal genau an, damit nichts vergessen geht.«

Oha, dachte Rosi, als sie die vielen Einträge sah. Erwartete er von ihr, dass sie die alle abarbeitete? Wohl kaum. Sie würde sich ums Essen und die Beaufsichtigung der Kinder kümmern. Nicht mehr und nicht weniger.

»Vergiss bitte nicht, dass ich über keinerlei Routine in der Kinderbetreuung verfüge«, sagte sie zu ihrem Sohn. »Ich werde wohl genug damit zu tun haben, die Kinder in Schach zu halten.«

Christoph atmete tief durch. »So viele Termine sind es nun auch wieder nicht, aber die paar sind wirklich wichtig. Sophie muss zum Kieferorthopäden, und Josefine hat zweimal in der Woche Ballett. Alles andere kann ich versuchen abzusagen, in Ordnung?«

Hatte er denn nicht verstanden? Wieder schüttelte sie den Kopf: »Wirklich nicht. Ich habe dir meine Unterstützung zugesagt, ja, aber ich kann kein Mutterersatz für die Kinder sein. Und ich möchte es auch gar nicht. Deine Kinder werden sich wohl für einen gewissen Zeitraum damit abfinden können, nicht von vorne bis hinten bedient zu werden. Auch der Kieferorthopäde wird Verständnis haben, wenn aufgrund einer Krankheit der Mutter ein Termin abgesagt wird.«

Damit stand sie auf und rauschte ab ins Wohnzimmer. Christoph schaute ihr hinterher und fragte sich, wie er nur auf die bescheuerte Idee gekommen war, seine Mutter für diesen Job zu engagieren. Sie scheiterte ja schon an den allergeringsten Anforderungen.

Rosi betrachtete sich die Spielzeugkiste, die mitten auf dem Teppich stand, und das aufgeklappte Bügelbrett. Beides musste weg hier. Sie brauchte eine klare Linie.

Plötzlich stand Christoph neben ihr. »Ich muss jetzt los, Mutter. Wie sieht‘s denn mit Waschen aus? Anneliese hat gestern sechs Maschinen gewaschen und alles wieder in die Schränke verteilt. Aber du kannst dir vielleicht vorstellen, dass bei vier Personen jede Menge anfällt. Unsere Putzfrau kommt normalerweise an einem Tag pro Woche. Soll ich sie anrufen, dass sie öfter kommen und sich um die Wäsche kümmern soll?«

Rosi schüttelte den Kopf. »Nein, nein, wie gesagt, um alles, was im Haus anfällt, werde ich mich schon kümmern. Ich bin im Übrigen auch nicht der Typ, der sich stundenlang mit einer fremden Person aufhält.«

Die Frau sollte einer verstehen, dachte Christoph, aber egal, er musste dringend los. Bevor er ihr Lotta übergab, zeigte er ihr noch eine mit gelben Zetteln bespickte Magnetwand, die ebenfalls in der Küche hing.

Seine Mutter blickte ihn fragend an. »Was ist das?«

»Also.« Er deutete auf einen der Zettel. »Hier steht beispielsweise, wann Josefine und Sophie morgens aus dem Haus müssen und wann sie an welchem Tag wiederkommen. Außerdem habe ich aufgeschrieben, um wie viel Uhr Lotta ihre Mahlzeiten bekommt und wann sie schläft. Und dann gibt es noch Zettel für den Notfall, darauf stehen die Nummern der Ärzte, der Schulen, der Schülerbetreuung und von Josefines Freunden. Das ist alles nur als Orientierung für dich gedacht. Außerdem solltest du Josefines Hausaufgaben kontrollieren, und wenn du Sophie Vokabeln abfragen könntest ...?«

Rosi musste sich erst mal setzen. So viele Aufgaben. Und der Tag war noch nicht mal zur Hälfte um. Genau genommen hatte er noch gar nicht richtig begonnen – und schon sehnte sie sich nach einer Pause, wenn nicht gar nach ihrem Bett.

Christoph übergab ihr nun endgültig das Kind, und Lotta begann sofort, wieder zu quengeln. Christoph drückte der Kleinen einen Kuss auf die Wange, rief seiner Mutter ein »Bald ist ja schon Wochenende« zu und beeilte sich, aus dem Haus zu kommen.

Rosi saß noch einen Moment unschlüssig mit Lotta herum und sah auf die lächerliche Magnetwand. Wie sollte man sich denn darauf zurechtfinden? Oben standen die Namen der Kinder. Darunter herrschte ein heilloses Durcheinander an Uhrzeiten und Begriffen. Das Ganze ergab doch gar keinen Sinn. Kurzentschlossen setzte sie Lotta ab, die sofort zum Treppengitter lief und daran rüttelte, und entfernte alle überflüssigen gelben Zettel. Ausflug Josefine – sie machte garantiert keinen Ausflug mit dem Mädchen! Ebenso wenig plante sie, in der Schule anzurufen oder bei einer Betreuung. Wenn es etwas gab, dann würden diese Institutionen wohl eher sie anrufen. Auch Lottas Mahlzeiten ließen sich ohne diese Zettelwirtschaft organisieren; wenn das Kind Hunger hatte, würde es sich schon bemerkbar machen. Genauso, wenn es müde war.

Da die Zettel aneinander festklebten, knäulte sie alle zusammen und warf sie in den Müll. Zufrieden betrachtete sie die Wand: Endlich war sie überschaubar. Als Nächstes nahm sie Lotta bei der Hand und ging mit ihr ins Wohnzimmer. Dort klappte sie das Bügelbrett ein, sammelte mit der Kleinen das herumliegende Spielzeug auf und trug die Kiste ächzend ins Babyzimmer unter dem Dach. Spielzeug im Wohnbereich hatte es bei ihr nie gegeben.

Danach machte sie einen Spaziergang mit Lotta, obschon sie zugeben musste, dass allein das Ankleiden und Anschnallen des Kindes ein Kraftakt war. An das erste Windelwechseln mochte sie gar nicht denken. Es war fast vier Jahrzehnte her, dass sie ein Kind gewickelt hatte.

Unterwegs verschaffte sich Rosi einen Überblick über die Umgebung. Sie musste einräumen, dass Erlenbach ein hübsches Dörfchen war. Die von Fachwerkhäusern und hohen Bäumen gesäumten Straßen gaben ein idyllisches Bild ab. Heute schien die Sonne besonders warm, trotzdem begannen die Blätter, sich zu verfärben. Rosi liebte diese Jahreszeit ganz besonders. Nach einer kurzen Wegstrecke gelangte sie an einen hübschen Bach, an dem sie ein wenig entlangspazieren wollte. Das Wasser plätscherte, die Luft roch frisch und erdig nach Herbst. Einige Radfahrer und auch Spaziergänger waren unterwegs; die meisten grüßten sie höflich und warfen einen Blick auf Lotta, die inzwischen eingeschlafen war.

Nachdem sie fast eine Stunde am Bach entlanggelaufen war, der sich über die Felder in Richtung Frankfurt schlängelte, hatte sie sich überraschend weit vom Dorf entfernt, und sie beschloss, umzukehren. Fürs Erste hatte sie genug gesehen, außerdem schmerzten ihre Füße.

Doch kaum, dass sie den Kinderwagen gewendet hatte, begann Lotta, sich zu räkeln. Verlangend reckte sie Rosi die Ärmchen entgegen und stieß schrille Schreie aus. Rosi beschleunigte ihre Schritte und sagte: »Nein, Lotta, jetzt kannst du noch nicht raus.« Doch Lotta war anderer Meinung. Nie hätte Rosi gedacht, dass ein kleines Mädchen derartig laut und ausdauernd schreien konnte. Der Weg zog sich endlos hin. Damit Lotta endlich Ruhe gab, nahm Rosi sie schließlich aus dem Wagen und setzte sie sich auf den Arm. Nun musste sie mit einer Hand weiterschieben. Zwar setzte sie die Kleine immer wieder mal im Wagen ab, wenn sie die Kräfte verließen, doch Lotta hatte einen eisernen Willen, der selbst den von Rosi brach. Schweißgebadet kam sie zu Hause an. Dass Lotta Hunger hatte, konnte sie sich mittlerweile denken.

Schnell brachte sie die Kleine ins Haus und zwängte sie in ihr Stühlchen; dann erhitzte sie das Gläschen, das Christoph ihr gezeigt hatte. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie lange es in die Mikrowelle gehörte. Nach einem Blick in den Mülleimer, in dem sie die miteinander verklebten gelben Zettel erblickte, entschloss sie sich, es einfach auszuprobieren. Von Mikrowellen hatte sie zwar keine Ahnung – zu ihrer Zeit hatte man die Dinger im Wasserbad erhitzt –, aber so schwierig konnte es ja nicht sein. Sie stellte drei Minuten ein, bis dahin war es hoffentlich warm genug. Rosi blickte durch die Scheibe auf das Gläschen und versuchte, Lottas Schreien zu ignorieren. Als der Inhalt des Gläschens nach anderthalb Minuten brodelte, schaltete sie hastig das Gerät aus, nur um festzustellen, dass das Glas viel zu heiß war. Sie konnte es nicht einmal anfassen. Verdammt. Lotta schrie herzzerreißend weiter und zeigte auf ihr Essen. Rosi stöhnte.

Nachdem sie es endlich geschafft hatte, den Inhalt in einen Teller zu schaufeln, versuchte sie, den Gemüsebrei durch Rühren abzukühlen. Nebenbei nahm sie das schreiende Mädchen aus dem Stuhl auf ihren Schoß. Sofort versuchte Lotta, mit beiden Händen in die Masse zu greifen. Es war nicht zu fassen, welche Kräfte sie dabei entwickelte und in welcher Lautstärke sie Rosi ins Ohr brüllte. Hatte sie mit Christoph jemals so etwas erlebt? Nicht, dass sie wüsste.

Endlich war der Brei essbar, und Lotta schlang gierig ein Löffelchen nach dem anderen in sich hinein. Zwischendurch trank sie wie eine Verdurstende an ihrem Fläschchen. Sie aß alles bis auf den letzten Löffel auf. Ein kleiner Rülpser, und sie war endlich zufrieden. Rosi atmete durch. Bald kamen Josefine und Sophie nach Hause. Mal sehen, was sich dann abspielte. Am liebsten hätte sie sich in den Zug gesetzt und die Rückfahrt angetreten.

Stattdessen stieg ihr aus Lottas Windel ein eindeutiger Geruch in die Nase.

Kaum saß sie wieder am Tisch, klingelte es an der Tür. Das musste Josefine sein. Rosi brachte kaum die Kraft auf, zum Türöffner zu gehen. Nicht nur, dass sie nicht mehr gewusst hatte, wie herum eine Windel angelegt wurde. Sie hatte auch weit und breit keinen Waschlappen gefunden, um Lotta sauber zu machen. In ihrer Verzweiflung hatte sie Christoph angerufen, der ihr erklärte, das mit den Feuchttüchern stünde doch klipp und klar auf einem der Zettel an der Magnetwand: »In der Wickelkommode oben links.« Und dann hatte sie einen riesigen Berg dieser Tücher produziert, die nun stinkend in diesem Eimer lagen.

Als es noch einmal klingelte, raffte sie sich endlich auf und öffnete die Tür.

»Hallo Oma Rosi!«, grüßte Josefine von unten und legte ihren Ranzen ab. »Ist der Papa weg?«

»Natürlich. Er ist auf der Arbeit.«

Rosi betrachtete Josefine, die flink die Treppe heraufkam und sich grinsend vor sie stellte. Das Kind sah Christoph so ähnlich. Das braune Haar, die dunklen Augen, die kleinen Grübchen.

»Ziehst du deine Schuhe nicht aus?«, fragte Rosi.

»Oh, doch.« Josefine hopste wieder nach unten und streifte die dünnen Turnschuhe ab.

»Hast du Hausaufgaben?«, fragte Rosi.

Josefine trug ihren Ranzen nach oben und sagte: »Nur noch ganz wenig. Ich hab schon fast alles in der Betreuung gemacht.«

»Was gab es da zu essen?«

»Spinat.«

Josefine setzte sich an den Tisch und packte ihre Schulsachen aus. Andere Großmütter hätten ihre Enkelkinder möglicherweise mit einer Umarmung begrüßt, dachte Rosi, als sie den Rücken ihrer Enkeltochter betrachtete. Sie trat hinter die Kleine, streckte ihre Hände aus, um sie an den Schultern zu berühren, da blieb ihr Blick auf Josefines Heft hängen. Ihr quollen fast die Augen über. Was für eine furchtbare Handschrift das Kind hatte!

»Was ist denn das?«, fragte sie und tippte auf den ersten Buchstaben des Wortes ›Sonnenschein‹.

Josefine sah sie erstaunt an. »Ein S natürlich.«

»Aber das ist doch ein Druckschrift-S.«

Josefine zuckte mit den Schultern. »Wir machen das so.«

Rosi konnte es nicht fassen. Lernten die Kinder allen Ernstes, Druckbuchstaben so miteinander zu verbinden, dass es wie Schreibschrift aussah? Was war denn mit den schön geschwungenen Buchstaben passiert, die Christoph noch gelernt hatte? Es war ein Verfall der Jugend, wenn man sie fragte. Alles musste leicht und bequem sein, nur nicht zu anstrengend. Sollten die jungen Leute so auf das Leben vorbereitet werden? Man bekam nichts geschenkt, auch keine saubere Handschrift! Da hieß es üben, üben, üben! »Das schreibst du aber noch mal«, sagte sie und tippte auf den Tisch. »So kann das nicht bleiben.«

Josefine starrte sie mit offenem Mund an. »Ich habe die schönste Schrift in meiner Klasse!«, sagte sie.

»Hast du das?«, fragte Rosi und verzog die Mundwinkel. »Das kann ich mir kaum vorstellen.«

»Oma Rosi, du hast keine Ahnung«, sagte Josefine, »wir leben nicht mehr im Mittelalter. Bei uns schreibt man so.«

Rosi kniff die Lippen zusammen. Wenn sie sich vorstellte, sie hätte jemals so mit ihrer Großmutter gesprochen. Unvorstellbar! Aber die war ja auch fast aus dem Mittelalter. Jedenfalls nach Josefines Zeitrechnung.

Und auch als Sophie eine halbe Stunde später aus der Schule kam, merkte sie, dass die Uhren heute anders tickten.

Josefine hatte gerade ihre Schulsachen zusammengeräumt, da hörte Rosi den Schlüssel im Schloss. Rasch warf sie einen Blick um die Ecke zur Haustür. Sophie hatte Stöpsel im Ohr und kaute Kaugummi. Kein »Hallo«, kein Nicken, nicht einmal ein Blick – sie lief schnurstracks zu ihrem Zimmer. Rosi hörte nur noch, wie die Tür zuschlug.

5

MONTAG, 21. SEPTEMBER

Dass Sophie alle paar Tage kam, um sie zu besuchen, machte die dauerhafte Trennung für Katrin erträglicher. Und sie kam ihrer großen Tochter wieder etwas näher. Letztens hatte Sophie ihr erzählt, dass sie sich für einen Jungen interessierte, der schon in die neunte Klasse ging. Lukas. Mehr hatte sie allerdings nicht aus ihr herausbekommen, und Katrin bohrte nicht nach. Wenn sie an früher dachte – da hätte sie ihrer Mutter noch nicht einmal diese Information gegeben. Hin und wieder fragte sie, wie es mit Frau Jeckel klappte, doch auch diesbezüglich hielt Sophie sich bedeckt, meinte nur: »Geht so.«

Und wenn Katrin fragte, ob es Ärger gäbe, meinte sie lapidar: »Nein, nein, es klappt schon alles.«

Eigentlich deuteten solche Antworten eher das Gegenteil an. Und Christoph meinte bei den täglichen Telefonaten, es könnte nicht besser laufen. Alle würden sie natürlich entsetzlich vermissen, vor allem Josefine, aber er würde fast jeden Abend mit ihr im Bett schmusen. Das wäre zumindest eine Art Ausgleich. Katrin war klar, dass alle sie schonten. Dass keiner sie mit ins Familiengeschehen einbezog, fühlte sich komisch an. Vielleicht lag es daran, dass Christoph mal über etwas anderes sprechen wollte als über Probleme. Sie kannte das ja zur Genüge von sich selbst: Wenn der Laden laufen sollte, musste man hin und wieder an seine Grenzen gehen oder sie überschreiten. Es brachte keinem etwas, wenn man sich hinsetzte und jammerte. Vielleicht befürchtete Christoph noch immer, dass sie einknickte, dasaß und heulte, weil sie mit allem haderte.

Sie dachte an Lotta. Allein ihr Geruch, die kleinen Hände, das niedliche Gesicht und die blonden Löckchen, in die sie so gerne ihre Nase grub, fehlten ihr schrecklich. Und Christophs starke Arme. Jedes Mal, wenn er kam, verschlang er sie mit Blicken. »Du bist die schönste Schwangere, die mir je untergekommen ist«, flüsterte er dann und schaute sie sehnsuchtsvoll an. Er fehlte ihr wie verrückt. Sie waren eigentlich noch nie länger getrennt gewesen. Und wenn, dann waren sie danach immer übereinander hergefallen, als hätten sie sich Monate nicht gesehen. Besonders in den Schwangerschaften fuhr Christoph auf ihren Körper ab; er liebte das Pralle an ihr. Und jetzt? Sie konnten noch nicht mal Händchen halten, ohne dass jemand dabei war, geschweige denn mehr. Der Arzt hatte ihr ohnehin jeden »Verkehr« verboten. Am Sonntag hatte Christoph seine Hand unter ihre Bettdecke geschoben und sie berührt, als die Kinder nicht hinsahen. Sie bekam jetzt noch wohlige Schauer, wenn sie daran dachte. »Du fehlst mir so«, hatte er ihr ins Ohr gehaucht und sie geküsst; ihr war ganz schwindlig davon geworden. Aber was konnten sie tun?

Mittlerweile war es recht wohnlich geworden in ihrem Zimmer. Als Christoph am Wochenende mit den Mädchen da war, hatten sie ihr Geschenke mitgebracht: Blumen von Sophie, zwei Gemälde von Josefine, die die ganze Familie zeigten, einen Bilderrahmen mit einem Foto von den Dreien und Naschereien. Die Bilder hatte sie an ihren Kleiderschrank geklebt, der direkt gegenüber ihrem Bett stand, und die Blumen nebst Bilderrahmen hatten auf einem der Beistelltischchen ihren Platz gefunden. Für Christoph schien es so selbstverständlich, dass sie das Baby bekamen, und langsam ergriff die Freude auch von Katrin Besitz. Zufrieden reckte sie sich, zog ihre Decke gerade und griff nach Christophs Laptop. Immerhin konnte sie hier eines tun: all die Filme und Serien ansehen, die sie schon immer gucken wollte. Wer wusste denn, wann sie dazu mit vier Kindern noch mal kommen würde?

Unterdessen sah Rosi nachdenklich auf die Uhr. Es war schon zwölf, und Josefine war immer noch nicht aus der Schule zurück. Das war merkwürdig. Laut Stundenplan hatte ihre Enkeltochter heute keine Schülerbetreuung und nur bis halb zwölf Schule. Sie erwartete sie pünktlich zum Mittagessen. Es konnte doch nicht sein, dass das Mädel schon jetzt aus der Reihe tanzte. Rosi legte sich gedanklich eine Strafpredigt für sie zurecht. Doch als sie um eins noch immer nicht da war, begann sie, sich Sorgen zu machen. Wo war sie nur? Mehrmals versuchte sie, Christoph zu erreichen, aber er ging nicht ran. Und mit Anrufbeantwortern war sie noch nie klargekommen. Um zwei Uhr machte sie sich mit dem Kinderwagen auf den Weg durchs Dorf, um Josefine zu suchen. Bevor sie aufbrach, streifte sie der Gedanke, die gelben Zettel aus der Mülltonne zu fischen. Möglicherweise war darunter die ein oder andere brauchbare Telefonnummer von Schulfreunden oder von dieser Schülerbetreuung. Doch da Christophs Nachbar, dessen Namen sie vergessen hatte, in seinem Garten herumwerkelte, entschied sie sich dagegen. Was sollte er denn von ihr denken, wenn sie den Kopf in die Mülltonne gesteckt hätte?

Sie grüßte ihn mit einem kurzen Kopfnicken und machte sich auf den Weg durchs Dorf. Wie zu erwarten traf sie keine Menschenseele auf der Straße an; die ortsansässige Bäckerei, die Metzgerei und das Restaurant waren über die Mittagszeit geschlossen. Rosi begann zu grübeln. Wo mochte das Kind nur sein? Hoffentlich war nichts passiert. Man las ja alles Mögliche in der Zeitung.

Auf dem Rückweg hegte sie die Hoffnung, dass Josefine inzwischen nach Hause gekommen sein könnte, und lief einen Schritt schneller. In der Eile hatte sie ganz vergessen, an der Haustür eine Nachricht für sie zu hinterlassen – an was man alles denken musste! Als sie den Kinderwagen in den Hof schob, erblickte sie Josefines Ranzen und Jacke vor der Haustür. Gott sei Dank.

»Josefine!«, rief sie.

»Sie ist bei mir«, hörte sie eine Stimme vom Zaun, der an den Hof grenzte. »Ich habe gesehen, wie sie nach Hause kam, und da ich vorher mitbekommen hatte, dass Sie weggegangen sind ...« Den Rest ließ der Herr offen. Er beeilte sich, Rosi über den Zaun hinweg die Hand zu reichen, die diese ungelenk ergriff.

»Herrmann Schreiber«, grüßte er lächelnd.

»Rosalinde Bender. Könnten sie meiner Enkeltochter bitte sagen, dass sie rüberkommen soll? Ich habe das Essen auf dem Tisch, und sie hat sicher Hunger.« Dass Josefine seit mehreren Stunden überfällig war und sie sich ernsthaft um sie gesorgt hatte, erwähnte sie mit keinem Wort.

Herrmann Schreiber rief nach Josefine, die mit seiner Katze spielte. Widerwillig ließ sie von dem Tier ab und schlüpfte durch das Tor im Zaun, der die Grundstücke voneinander trennte. Rosi folgte Josefine wortlos zur Haustür. Als sie sicher war, dass der Nachbar sie nicht mehr hören konnte, flüsterte sie aufgebracht: »Kannst du mir mal sagen, wo in Gottes Namen du so lange geblieben bist? Ich habe den halben Ort nach dir abgesucht und konnte dich nirgends finden!«

Josefine blickte sie vorwurfsvoll an. »Aber ich hatte doch heute einen Ausflug! Und du hast mir trotzdem meinen Ranzen mitgegeben und nichts zu trinken, und das Geld hatte ich auch nicht dabei!«

Rosi erinnerte sich dunkel an einen gelben Zettel, auf dem etwas von einem Ausflug gestanden hatte. Ein paar Sekunden sah sie Josefine prüfend an. »Dann habe ich wohl was verwechselt. Kann ja mal vorkommen. Am besten du isst erst mal was.«

Auch Sophie, die wenig später eintraf, setzte sich dazu. Inzwischen hatte sogar sie mitbekommen, dass ihre Großmutter im Haus war, genau genommen jedoch erst am ersten Abend, als sie nach oben gekommen war, um sich ein Brot zu machen. Da hatte sie Rosi angestarrt und genölt: »Ach. Du bist ja hier! Warum hast du denn nichts gesagt?« So weit kam es noch, dass sie den Kindern hinterherlief, um sich eine angemessene Begrüßung abzuholen! Rosi betrachtete ihre Enkeltochter aus den Augenwinkeln. Sie konnte einem Sorgen machen, jede Minute kontrollierte sie ihr Handy. Rosi war der Meinung, dass kein Mensch so ein Ding brauchte, schon gar keine fünfzehnjährige Schülerin. Sie ging ohne dieses Gerät nicht mal zur Toilette, schon gar nicht aus dem Haus. Dabei telefonierte sie noch nicht einmal damit. Dieses Getippe ohne Unterlass konnte einem dem letzten Nerv rauben. »Könntest du netterweise dieses Dingsbums während des Essens zur Seite legen?«, erkundigte sie sich gereizt.

Sophie legte wortlos das Handy neben ihren Teller und verdrehte die Augen.

»Sagt Mama auch immer!«, kommentierte Josefine kauend von der gegenüberliegenden Bank.

Sophie warf ihr einen mürrischen Blick zu und schwieg beharrlich weiter.

Rosi fragte sich, weshalb die jungen Leute von heute anscheinend nicht in der Lage waren, den Erwachsenen – und ganz besonders den Großeltern – ein wenig Respekt und Anstand entgegenzubringen. Durch Sophies Verhalten angestachelt, verlangte sie: »Es wäre schön, wenn man sich hin und wieder mit dir unterhalten könnte. Du sagst beim Essen kein einziges Wort. Ich finde, du könntest wirklich etwas respektvoller mir gegenüber sein.«

Sophie sah sie feindselig an. »Ach ja, wieso denn?«, erkundigte sie sich. »Warum soll ich so großen Respekt vor dir haben? Du hast dir einen reichen Macker gesucht, dir von ihm ein Kind machen lassen und dich ins gemachte Nest gesetzt! Keine Träne hast du seinem Vater nachgeweint, hat Papa gesagt! Ich meine, ich behandle dich doch höflich! Ist ja auch okay, dass du hier bist, aber ich hab halt keinen Bock, dauernd ödes Zeug zu quatschen – da halt ich lieber meine Klappe!« Mit den letzten Worten stand sie auf, knallte ihr Geschirr auf die Anrichte und verließ die Küche.

Josefine sah ihr hinterher und tippte sich an die Stirn. »Die spinnt«, stellte sie kauend fest.

Rosi saß wie vom Donner gerührt an ihrem Platz, die Gabel auf halbem Weg zum Mund. Wie konnte das Mädchen es wagen!? Reicher Macker? Waren das Christophs Worte? Hatte er seinen Vater so betitelt? Und sie hatte ihn sich ›geangelt‹? Das war also hier die Meinung von ihr! Mit brennenden Augen legte sie ihre Gabel nieder, gab Lotta den letzten Löffel ihres Mittagessens und erhob sich.

Josefine blickte sie fragend an: »Ist was, Oma Rosi? Du siehst müde aus.«

Rosi schüttelte den Kopf. »Zeit für Hausaufgaben«, sagte sie, und begann, den Tisch abzuräumen.

Während Josefine ihre Schulsachen auf dem Küchentisch ausbreitete, um ein Bild vom Ausflug zu malen, versuchte Rosi, Lotta im Bad eine frische Windel anzulegen. Die Kleine wand sich wie ein glitschiger Aal auf der Badewannenablage, dass Rosi angst und bange wurde. »Da! Da!«, rief Lotta, und warf ihren Oberkörper herum. Der Inhalt der geöffneten Windel verteilte sich dabei über ihre Beine. Rosi stöhnte, griff gleichzeitig nach einer Lage Feuchttücher und nach einer Haarbürste und drückte sie der Kleinen in die Hand. Sofort wollte Lotta diese ablecken. »Nein!«, zischte Rosi und entriss ihr die Bürste wieder. Lotta warf den Kopf zurück und startete ein ohrenbetäubendes Gebrüll; dabei deutete sie in Richtung der Bürste, die hinter Rosi verschwunden war.

»Jetzt ist es aber gut!«, schimpfte Rosi. Dann griff sie nach einem der Quietschtiere am Wannenrand und quiekte damit links und rechts von Lottas Ohren, um ihre Aufmerksamkeit von der Bürste abzulenken – was ihr auch kurzfristig gelang. Mit der anderen Hand wischte sie Lottas Beine ab, zog die Windel unter ihr hervor und faltete sie notdürftig zusammen. Der Geruch war elendig. Nur keine Zeit verlieren. Eilig säuberte sie die Kleine, während sie weiter ihren Gedanken nachhing. Was Sophie da gesagt hatte, war das Unverschämteste, was man ihr jemals an den Kopf geworfen hatte. Und das von der eigenen Enkelin, die ihren Großvater noch nicht einmal gekannt hatte. Sie musste diesen Vorfall so schnell wie möglich wieder vergessen. Erschöpft schloss sie Lottas frische Windel und zog ihr die Hose wieder an. Kurz darauf saß sie im Wohnzimmersessel. Lotta spielte mit Bechern und versuchte, sie ineinander zu stecken; sie war fürs Erste beschäftigt. Rosi musste dringend etwas tun. Sich von ihrer Wut ablenken. Aber womit? Ihr Blick fiel aufs Bücherregal. Seitdem sie hier war, war ihr der Zustand dieses Regals ein Dorn im Auge. Selten hatte sie ein so ungeordnetes Ding zu Gesicht bekommen. Rosi stand aus dem Sessel auf und verschaffte sich kopfschüttelnd einen Überblick: Liebesromane, Historisches, seichte Krimis. Wie furchtbar. Dahinter, in zweiter Reihe, fanden sich ein paar Klassiker: Thomas Mann, Max Frisch oder Herrmann Hesse – vermutlich allesamt Christophs Bücher. Und gleich darauf der nächste Schock: Auch Kartenspiele und Spielesammlungen stapelten sich im Regal. Gedankenverloren griff Rosi nach allem, was nicht hineingehörte und sortierte: Ramsch nach hinten, Qualität nach vorne. Sie räumte eine Stunde, ohne dass sie merkte, wie die Zeit verging – Lotta beteiligte sich, indem sie die unterste Regalreihe mit Koch- und Gartenbüchern ausräumte. Als Rosi fertig war, blieben nur die Spiele übrig, die sie sorgsam außerhalb Lottas Greifweite gestapelt hatte. Das konnten die Kinder in ihre Zimmer räumen, damit es hier aus dem Weg war. Sie hielt es ohnehin für überflüssig, mit Kindern zu spielen. Junge Menschen konnten nicht früh genug lernen, sich allein zu beschäftigen. Es bereitete sie am besten aufs Leben vor. So hatte sie es mit ihrem Sohn auch immer gehalten.

Währenddessen saß Christoph in einer späten Mittagspause an seinem Schreibtisch und hörte die Mailbox seines Handys ab. Zehn Nachrichten, eine gute Quote. Wie gut, dass die Sache mit der Kinderfrau kurz vor einer Lösung stand und er seine Mutter bald wieder heimschicken konnte. Obwohl Oma Rosi ihre Sache erstaunlich gut machte, das musste er zugeben. Meist verzog sie sich am Abend direkt ins Arbeitszimmer, und auch am Wochenende hatte sie das getan. Dabei hatte er nun wirklich nicht von ihr verlangt, sich wie ein Schatten zu verhalten.

Christoph klickte sich zur Mobilbox durch und zückte einen Stift. Der erste Anruf kam von einem Mann: »Hallo? Gibt noch Arbeit? Rufe an für Frau. Kann gut arbeiten. Mit Kinder is gut.« Dann die Nennung einer Handynummer.

Der zweite Anruf hörte sich vielversprechender an. Eine ältere Dame mit einer netten Stimme, die Kinder über alles liebte und nichts lieber täte, als seine drei Kinderchen zu betreuen. Er machte ein Sternchen zu seiner Notiz.

Der nächste Anruf war nicht zu verstehen, er hörte nur ein entnervtes Schnauben.

Die folgenden Anrufe schienen von einem Kind zu kommen, einer Anna, auf der Suche nach einem »Job«. Dann sprach eine Ausländerin, die sich eher widerwillig anhörte, sie rief an »wegen Arbeit«; darauf folgte eine Frau, die sich mit rauer Stimme erkundigte, ob sie auch ihre drei eigenen Kinder zur Betreuung mitbringen könnte. Christoph verdrehte die Augen.

Die nächsten drei Anrufe kamen wieder von der schnaubenden Person, aber den letzten Anruf konnte Christoph ebenfalls mit einem Sternchen versehen. Eine Frau Perl, der Stimme nach vielleicht Mitte vierzig, die sich erkundigte, ob die Stelle noch frei sei. Sie habe Erfahrung in der Kinderbetreuung.

Na, das klang doch vielversprechend.

Zuerst jedoch wählte er die Nummer der älteren Dame, einer Frau Merz.

»Das ist ja toll, dass Sie anrufen! Ich hatte es so gehofft!«, meldete sie sich enthusiastisch.

»Das ist schön«, sagte Christoph. »Wann könnten wir uns denn mal kennenlernen?«

»Jederzeit! Ich kann gleich heute, wenn Sie mögen.«

»Passt Ihnen 19 Uhr?« Das war in vier Stunden. Müsste zu schaffen sein.

»Ich werde da sein!«

Christoph nannte seine Adresse und wählte anschließend die Nummer des jungen Mädchens.

»Ich hab noch nie Kinder betreut«, antwortete sie auf seine Frage nach ihrer Erfahrung, »aber so schwer kann das ja nicht sein.«

Doch, kann es, dachte Christoph. »Es geht auch ein bisschen um Haushaltsführung, also zum Beispiel Kochen für das Baby und eventuell müssten Sie auch mal die eine oder andere Hausaufgabe der Mädchen kontrollieren. Trauen Sie sich das zu?« fragte er zweifelnd.

»Aber klar, kein Problem!«, kam die fröhliche Antwort.

Nach dem Alter fragte er lieber nicht, man konnte sich bei Telefonstimmen täuschen. Sie vereinbarten einen Termin für den nächsten Abend.

Anschließend versuchte er es nur noch bei der Dame, die bereits Erfahrung hatte – die anderen Anrufer schenkte er sich. Frau Perl hörte sich nett an, wenn sie auch eine ungewöhnlich tiefe Stimme hatte, aber dafür konnte ja niemand etwas. Sie würde ebenfalls am nächsten Abend vorbeikommen.

Christoph wendete sich endlich wieder seiner Arbeit zu und ging durch seine Bewertungslisten. Die Wogen hatten sich noch nicht geglättet, ganz im Gegenteil. Was zuerst nach einem Abklingen der Gerüchte ausgesehen hatte, ging jetzt doch wieder in konkrete Entlassungen bei den Großbanken über. Gedankenverloren kaute Christoph an seinem Stift und dachte über seine Kollegen nach. Zwar war er Gruppenleiter, aber da sie alle auf gleicher Ebene im Bankhaus angefangen hatten, fiel es ihm schwer, sich als ihr Vorgesetzter zu sehen. Doch dass er bei strategischen Entscheidungen mitwirken konnte, war ein großer Vorteil. Über die privaten Angelegenheiten sprach eigentlich keiner. Außer Gerrit Müller natürlich, der jedem bei jeder Gelegenheit erzählte, was für ein toller Hecht er war. Bei Jochen Klein hingegen schien die frühere Euphorie für den Geldmarkt in Verzweiflung umgeschlagen zu sein. Es war schon schlimm genug, dass er nach der Finanzkrise einen Großteil seines Geldes hatte abschreiben müssen. Dass er jetzt auch noch um seinen Job fürchten musste, schien ihm den Rest zu geben. Gerade vorhin hatte Christoph ihn wieder dabei beobachtet, wie er mit gesenktem Kopf den Flur entlangschlich, so als habe er etwas ausgefressen. Der Mann gab ihm Rätsel auf. Vor fünf Jahren war er ins Team gekommen und hatte anfangs ein wirklich gutes Händchen für die richtige Mischung eines Portfolios bewiesen. Dann waren ihm zwischendurch ein paar Patzer passiert, bei denen alle gedacht hatten, er flöge hochkant raus. Aber Klein hatte überzeugen können und von Tauber eine zweite Chance bekommen. Seitdem hatte er sich aber irgendwie verändert. Entweder war er total zugänglich und aufgeschlossen, geradezu überschwänglich – oder kaum ansprechbar. Christoph überlegte, ob Gerrit mit seiner Anschuldigung recht haben könnte. Da er selbst überhaupt keine Erfahrung hatte – abgesehen von dem ein oder anderen Joint zu Abizeiten –, konnte er es nicht beurteilen.

Mitten in seine Überlegungen hinein erinnerte ihn ein Signal seines Kalenders an den nächsten Termin. »Auf in die nächste Runde«, murmelte Christoph.

Als er am Abend nach Hause kam, fand er seine Mutter zeitunglesend am Küchentisch vor. Christoph schaute in die Töpfe auf dem Herd und fragte: »Na, wie hat alles geklappt?«

Rosi sah kaum von der Zeitung auf. »Josefine hatte einen Ausflug. Ich hatte sie eigentlich früher wieder zurückerwartet, darum habe ich es ein paar Mal auf deinem Handy probiert.«

»Ach du warst das. Du hast mir aber nichts draufgesprochen, oder?«, fragte Christoph. Er hatte gar nicht mehr in seine Anrufliste geschaut, dann hätte er es ja gesehen.

»Nein, es hat sich ja dann alles aufgeklärt.«

Er nickte. »Es wird übrigens gleich jemand kommen. Eine, die sich als Kinderfrau vorstellt.« Er lächelte. »Wenn sie gut ist, hast du’s bald überstanden.«

Rosi wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, und war erleichtert, als es klingelte. Während Christoph die Treppe nach unten eilte, blieb sie in der Küche vor ihrer Zeitung sitzen und zog gedankenverloren die Weste ihres Twinsets glatt. Sie hatte eigentlich kein Bedürfnis, der Dame zu begegnen. Am besten, sie zog sich in ihr Zimmer zurück. Sollte doch bitte Christoph den Rest des Tages mit seinen Kindern verbringen, so wie er es seit ihrer Ankunft und auch am Wochenende konsequent getan hatte. Augenscheinlich ging er ihr aus dem Weg, und da sie nun seit einigen Tagen zusammen unter einem Dach wohnten, war es recht offensichtlich, dass er kaum mehr als drei Worte für sie übrig hatte. Hauptsache, der Laden lief. Rosi empfand es als Kränkung. Auch wenn ihr an Ruhe und Rückzugsmöglichkeit gelegen war – aber bitte auf freiwilliger Basis! Immerhin hütete sie seine Kinder und sorgte für Ordnung. Dafür konnte man wohl auch ein wenig Anerkennung erwarten.

Sobald sie in ihrem Zimmer war, ließ sie sich auf dem Gästebett nieder und betrachtete zum x-ten Mal die geschmacklosen IKEA-Bilder von Margeritensträußen und Steinstapeln an der Wand. Dazu die überfüllten Aktenregale, die auch nicht gerade zur Gemütlichkeit beitrugen. Die Bettwäsche war nicht besser, Rosi hatte seit Ewigkeiten nicht mehr in Baumwolle geschlafen; es war ihr unangenehm auf der Haut. Wenigstens hatte sie einen Fernsehapparat, den Christoph ihr extra installiert hatte. Die Sendungen der Kinder waren unerträglich.

Entschlossen öffnete Christoph die Haustür und blickte einer kleingewachsenen Dame entgegen, die erstaunlich hohe Absätze trug. Christoph staunte. Solche Pfennigabsätze bekam man selten zu sehen, es sei denn, man guckte Germany’s Next Topmodel. Schwungvoll stolzierte Frau Merz über die Schwelle und reichte ihm strahlend ihre faltige Hand. »Wo sind denn die Kinderchen?«, erkundigte sie sich lächelnd.

Hoffentlich hat Sophie das nicht gehört, dachte Christoph alarmiert. »Die werde ich gleich rufen, Frau Merz, lassen Sie uns vorher nur noch einen Moment ungestört miteinander reden.«

Er half ihr aus dem Mantel und musterte die mit Goldpailletten bestickte Weste, die sie über einer weißen Rüschenbluse trug. Frau Merz war wie für eine Party gekleidet. Ihre Frisur war ein Kunstwerk aus Klemmen und toupiertem Haar – jedenfalls soweit er das beurteilen konnte. Die steile Treppe nach oben meisterte Frau Merz trotz ihrer hohen Schuhe problemlos. Sie hielt sich am Geländer fest und sah dabei aus wie ein Storch, der durchs Wasser watet. Oben angekommen klatschte sie in die Hände: »Sie haben es aber schön hier!« Klackernd lief sie in der Küche herum, bewunderte jedes noch so kleine kindliche Gemälde an der Wand und erklärte: »Dieses Haus ist ein Juwel!«

Christoph nickte verlegen. »Vielen Dank. Wollen wir uns vielleicht kurz zusammensetzen?«

Frau Merz setzte sich und holte eine Lesebrille sowie einen handschriftlichen Zettel aus ihrer Handtasche. »Mein Lebenslauf«, sagte sie. »Ich lese ihn kurz vor.«

»Okay«, sagte Christoph und verschränkte die Hände, »legen Sie los.«

Frau Merz hatte Verkäuferin gelernt und jahrzehntelang in ihrem Beruf gearbeitet, um sich ihren jetzigen Lebensstil zu ermöglichen. Seitdem sie Rentnerin war, spielten Kinder die größte Rolle in ihrem Leben. Lebhaft beschrieb sie die Sprösslinge, die sie im Laufe der letzten Jahre betreut hatte – allesamt aus dem Mehrfamilienhaus, in dem sie eine Eigentumswohnung besaß. Außerdem hatte sie zwei wunderbare Zwergpinscher, die sie täglich badete. Christoph hörte ihr mit wachsender Ungeduld zu. Hoffentlich kam sie bald zum Ende. Doch die Dame benötigte einige Minuten mehr als üblich. Christoph bemühte sich, Interesse für die Einzelschicksale der von ihr betreuten Kinder zu zeigen. Da war der kleine Emirhan, dessen Eltern vor einem Jahr mit ihm über die Türkei nach Deutschland geflüchtet waren. Frau Merz erläuterte haarklein, das sicherlich schlimme Schicksal dieser Familie – nur, deshalb saßen sie ja nicht hier zusammen. Als sie noch immer nicht enden wollte, setzte Christoph ihren Erzählungen ein Ende. »Josefine, komm doch mal rauf«, rief er die Treppe nach unten. »Frau Merz ist da!«

Als Josefine die Küche betrat, sprang Frau Merz von ihrem Platz auf und strich ihr über den Kopf: »Was bist du für ein schönes Mädchen! Diese Haare! Und dieses hübsche Gesicht!«

Josefine wand sich aus ihrem Griff und riss die Augen auf. »Papaaa!?«

Christoph schüttelte unauffällig den Kopf, und sie hopste wieder die Treppe hinunter.

»Was haben Sie sich denn als Lohn vorgestellt?«, wechselte er das Thema.

Frau Merz nahm wieder Platz. »Was ich verdiene, ist zweitrangig. Ich brauche kein Geld.« Verlegen strich sie über den Tisch. »Ich liebe Kinder über alles. Für mich wäre es schon das größte Geschenk, wenn ich mit ihren Dreien viel Zeit verbringen dürfte. Ich bin ja verwitwet, niemand erwartet mich zu Hause. Sie können mit meiner uneingeschränkten Unterstützung rechnen – auch am Wochenende!«

Noch bevor Christoph etwas entgegnen konnte, langte sie erneut in ihre Handtasche: »Sehen Sie!« rief sie und hielt mehrere Fotos in Händen.

Christoph betrachtete zwei Zwergpinscher im Mäntelchen; auf anderen Fotos waren Kinder abgebildet, die offenbar einen Geburtstag feierten. Der Boden war übersät mit Teelichtern, an den Wänden hingen Luftballons, es gab eine Riesentorte. Stolz hielt Frau Merz die Fotos in die Höhe. »Das ist bei mir Standard!«, erklärte sie strahlend. »Wenn einer meiner Schützlinge Geburtstag hat, richte ich ihm ein großartiges Fest aus. Und hier«, damit zeigte sie ihm ein weiteres Foto, »ist meine kleine Nachbarin zu sehen, die ich immer komplett einkleide.«

»Dafür ist meine Frau zuständig. Und für die Geburtstage auch«, sagte er.

»Nein, nein«, lachte Frau Merz, »das mache ich nur, wenn die Kinder zu mir kommen. Sie sollen natürlich hier ihren Geburtstag in der Familie feiern, das ist doch selbstverständlich.« Sie leckte sich über die Lippen und fuhr fort: »Allerdings richte ich gerne den Geburtstag Ihrer Kinder bei mir zu Hause aus, dann haben Sie hier überhaupt keine Mühe!«

Christoph stellte sich vor, wie absurd das war. Die Dame kochte fast über vor Großherzigkeit, er selbst aber bekam mit jeder Minute größere Beklemmungen. Mit ihrer gratis Kinderbetreuung schien sie sich einen Platz in seiner Familie sichern zu wollen. Zwar regte sich auch Mitgefühl in seinem Herzen – sie war ja durchaus eine nette alte Dame und für manch andere Familie wäre sie sicherlich so etwas wie ein Lottogewinn. Doch wenn man es realistisch betrachtete, dann war ein weiteres Kind mehr als zu viel – eine überengagierte Oma brauchten sie nicht noch dazu.

Als Sophie die Treppe heraufkam, sprudelte Frau Merzens Herz über. Dieser wunderschöne Name und ein Gesicht wie gemalt – war sie nicht eine erblühende Schönheit? Begeistert wandte sie sich Christoph zu, während Sophie hinter ihrem Rücken angewidert das Gesicht verzog und eine Handbewegung machte, die Kehle durchschneiden bedeutete.

Christoph nickte ihr zu und erhob sich. »Frau Merz«, sagte er feierlich, »ich danke Ihnen für Ihren netten Besuch. Ich melde mich spätestens in der nächsten Woche bei Ihnen.«

»Schade, dass ich die kleine Lotti nicht sehen konnte!«, flötete Frau Merz ihm noch zu, als sie, sich mit beiden Händen am Geländer festhaltend, die Treppe hinunterstakste.

»Ja, sie ist leider schon im Bett «, erklärte er schnell und half ihr in ihre Jacke. Kurz darauf war sie aus der Tür.

Zurück in der Küche setzte er sich an den Tisch und strich ihren Namen auf der Liste. Frau Merz kam auf keinen Fall in Frage. Mochte sie auch ein großes Herz haben, so wäre sie doch eine zusätzliche Belastung für die Familie. Spätestens, wenn Katrin mit dem Baby nach Hause kam. Er hoffte inständig, dass die nächsten beiden Kandidatinnen weniger abgedreht waren.

Rosi war in ihrem Zimmer eingenickt und hörte, wie die Haustür zuklappte. Träge erhob sie sich und trat hinaus in den Flur. In der Küche fand sie Christoph, der eine Liste mit Telefonnummern zu betrachten schien.

»Und«, fragte sie, »war die Dame die Richtige?«

Christoph schaute sie für ein paar Sekunden an und erwiderte: »Ich habe morgen noch zwei Termine, danach entscheide ich mich.« Dann wechselte er das Thema. »Wir wurden vorhin unterbrochen – war noch was?«

Rosi hob resigniert die Schultern, sie war müde. Die Sache mit Josefine brauchte sie ihm jetzt auch nicht mehr zu erzählen. »Ich glaube nicht, Christoph, ich gehe jetzt lieber ins Bett. Mit den Kindern, das ist alles ungewohnt für mich. Ach, um eines möchte ich dich noch bitten.« Sie suchte nach Worten. »Deine Zettelwand war unübersichtlich, und ich habe sie ordnen wollen. Dabei sind mir wohl einige der Zettel abhandengekommen, insbesondere die mit den Telefonnummern von Freunden und von der Schule. Ach, und auch die mit den Terminen ...«

Christoph warf einen erstaunten Blick auf die leere Magnetwand.

»… und da wollte ich dich bitten, ob du sie mir nicht zusammen auf ein einzelnes Blatt schreiben könntest. Am besten schreibst du auch die Dinge auf, die im Haushalt erledigt werden sollten.«

»Klar, mach ich gerne.«

Rosi lächelte ihm zu und verschwand im Bad.

Christoph sah kopfschüttelnd auf die Zettelwand. Das war typisch für seine Mutter. Alles, was ihr unwichtig erschien, landete im Müll oder in der hintersten Ecke des Kellers. So war sie auch früher mit seinen Sachen umgegangen. Seine Bälle oder Spiele und sogar seine Schulsachen hatte sie einfach weggeräumt oder weggeworfen, nur weil sie ihr im Weg standen oder ihren Blick für Ästhetik störten. Damit hatte sie ihm oft genug das Gefühl gegeben, dass ihr seine Interessen gleichgültig waren, ja, dass es ihr obendrein vollkommen egal war, wenn sie ihn damit kränkte. Christoph seufzte. Natürlich stellte er trotzdem die gewünschte Liste zusammen, suchte erneut die relevanten Telefonnummern heraus und übertrug aus dem Kalender die von Katrin notierten Termine. Sollte Rosi sie wahrnehmen oder nicht, ihre Sache. Nachdenklich griff er nach einem neuen Blatt Papier. Jetzt zu der Liste, um die sie ihn gebeten hatte. Womit sollte er anfangen? Es gab so vieles, an das man denken musste. Manchmal fragte er sich, wie Katrin das schaffte. Es gab so viel zu tun. Während er noch überlegte, geriet er richtig in Fahrt. Ihm fielen so viele Dinge ein, die immer wieder zu tun waren oder die Katrin aufregten, dass er die eigentliche Liste für seine Mutter darüber völlig vergaß. Er schrieb alles auf, was ihm einfiel. Es war eine Menge:

Alle wecken, Frühstück machen, Schulbrote schmieren und verteilen, Rollläden hochziehen, lüften, alle Betten machen, Tisch abräumen, verschimmelte Brotdosen einsammeln, Spülmaschine einräumen, Spülmaschine ausräumen, Wäsche waschen, Wäsche in den Trockner geben, alles zusammenlegen und auf die Schränke verteilen, Einkaufszettel schreiben, einkaufen, Einkäufe ausräumen, kochen, wieder aufräumen, spazieren gehen, auf dem Spielplatz rumstehen, Hausaufgaben kontrollieren, Vokabeln abfragen, für Arbeiten lernen, Kinder ans Duschen, an die Zahnspange, ans Aufräumen erinnern, Zahnpasta von der Wand kratzen, Hundescheiße aus Schuhen pulen, Barbies und Kassettenrekorder reparieren, Batterien besorgen, Räder aufpumpen, Bad putzen, Schleifspuren aus Toiletten entfernen, diverse Geschenke besorgen, Stifte spitzen, Radiergummis suchen, Hefte kaufen, Barbie spielen, Windeln wechseln, Kotze aufwischen, Kleider und Blusen bügeln, Boden saugen und aufwischen, Fenster putzen, Hof kehren, Garten umgraben, in die Apotheke fahren, Betten nachts frisch beziehen, Kinder nach Alptraum trösten, Rotznasen abwischen, Rasen mähen, Laub rechen, Sandkiste auffüllen, Keller aufräumen, Glühbirnen austauschen, Hustensaft verteilen, Reifen wechseln, Batterien unterm Sofa suchen, Getränke einkaufen, Abendbrot machen, Geschichten vorlesen, frischen Schlafanzug holen, Kinderlieder singen, Kinder trösten, verarzten, fünfmal den gleichen Witz anh …

Plötzlich rief Josefine. Seufzend stand er auf und flüsterte vom Treppenabsatz nach unten: »Was ist denn?«

»Papa, bitte komm mal!«, rief sie. Seufzend ging er die Treppe hinunter, trat an ihr Bett und sah sie fragend an.

»Kannst du noch mit mir schmusen?«, bat sie treuherzig. »Bitte, bitte!« In ihren Augen glitzerte es verdächtig. Dabei hatte sie sich die letzten Tage für eine Siebenjährige wacker geschlagen.

Christoph streifte sich die Schuhe ab und kletterte in ihr Hochbett. Er nahm sie in den Arm und flüsterte: »Na, dann spiele ich mal die Mama.«

Josefine schniefte. »Wann kommt die Mama wieder?«, flüsterte sie.

Er gab ihr einen Kuss aufs Haar und sagte: »Ich weiß es nicht, aber irgendwann ist sie wieder hier. Und dann schmust sie ganz viel mit dir.«

Josefine nickte und kuschelte sich fest an ihn. Und noch vor Ablauf der fünf Minuten waren beide eingeschlafen.

6

DIENSTAG, 22. SEPTEMBER

Als Rosi am nächsten Morgen um sechs aufstand, um alles für das Frühstück der Kinder vorzubereiten, fand sie auf dem Esstisch den Zettel mit den Telefonnummern und die Liste, die Christoph für sie erstellt hatte. Flüchtig betrachtete sie den Zettel mit den Kontakten, dann nahm sie die Liste unter die Lupe, um die sie ihn gebeten hatte. Zögernd las sie die ersten Zeilen. Was stand denn da in Gottes Namen alles drauf? Verwirrt strich sie mit einer Hand über ihre Weste und setzte sich dann auf die Küchenbank, las alles in Ruhe durch, dann noch einmal. Das war ja wohl der Gipfel von allem.

Fassungslos legte sie den Kopf in die Hände, und es geschah etwas, was ihr seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr passiert war: Ihr kamen die Tränen.

Christoph erwachte und hob den Kopf. Neben ihm schlief Katrin, aber das Bett, in dem sie lagen, erkannte er nicht. Im Dunkeln versuchte er, sich zu orientieren, aber erst nach einer Weile realisierte er, dass er neben Josefine in ihrem Hochbett lag. Na prima, dachte er, der Anzug konnte dann auch in die Reinigung – noch etwas für die Liste. Vorsichtig darauf bedacht, Josefine nicht zu wecken, befreite er sich von diversen Stofftieren, stieg von der Leiter und begab sich zuerst ins Bad neben Josefines Zimmer. Während er auf der Toilette saß, warf er einen Blick auf die Uhr. Kurz nach halb sieben. Wenigstens heute hatte seine innere Uhr funktioniert. Von oben hörte er noch kein Geräusch, bestimmt schlief seine Mutter noch. Er seufzte. Um ehrlich zu sein, machte sie ihre Sache erstaunlich gut. Es gab überraschend wenig Ärger oder Dinge, die nicht klappten. Offenbar kam sie mit den Kindern besser klar, als erwartet. Und dann musste er ihr natürlich zugestehen, dass sie über keinerlei Routine verfügte. Kein Wunder, dass sie früh ins Bett ging.

Langsam erhob er sich von der Toilette, spülte und reckte die steifen Knochen.

Auf dem Weg nach oben sah er Licht in der Küche. Leise öffnete er die Küchentür und blieb überrascht im Türrahmen stehen. Seine Mutter saß am Tisch und – ja, was? Sie weinte. Vernehmlich! Erschrocken zog er sich zurück in den Flur. Erst mal nachdenken. War sie übergeschnappt? Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals weinen gesehen zu haben. Sie war die Beherrschung in Person, und jetzt saß sie hier und schluchzte? Er rieb sich das Gesicht und lugte noch einmal um die Ecke. Sie rührte sich nicht, auch das Schluchzen hatte urplötzlich aufgehört. Unsicher räusperte er sich.

Seine Mutter hob den Kopf und blickte ihn aus verquollenen Augen an. Dann richtete sie sich auf und sagte stockend: »Das habe ich nicht verdient, Christoph. Diese Behandlung ...«, damit machte sie eine fahrige Handbewegung in Richtung Tisch und hob die Stimme »... habe ich nicht verdient!«

Christoph glotzte sie unsicher an. Was meinte sie denn? »Ähm, Mutter, ich weiß, dass das alles ziemlich viel für dich ist ... «, begann er, doch sie unterbrach ihn mit einem verächtlichen Schnauben. »Bist du noch ganz bei Trost?«, zischte sie. »Ziemlich viel, ja? Du kannst deine Spielchen lassen, mein Lieber, und zwar sofort! Ich lasse mich doch nicht von dir zum Narren halten, und von deiner Tochter erst recht nicht! Sie hat mir schon erzählt, was du von mir hältst! Sag mal, was bildest du dir eigentlich ein? Holst mich hier in dieses gottverdammte Nest, würdigst mich keines Blickes, kein Wort des Dankes für meine Arbeit kommt über deine Lippen, kein liebes Wort überhaupt! Und dann das!« Wieder wies sie in eine unbestimmte Richtung auf dem Tisch und erhob sich von der Bank.

Christoph fehlten die Worte. »Mutter«, begann er beschwichtigend und kam auf sie zu, »ich werde dir vieles abnehmen, versprochen. Ich kann mir vorstellen, dass du bei einigen Dingen überfordert bist, und ich kann dir nur eines sagen: Es muss nicht alles perfekt sein! Es kann auch mal was liegen bleiben, ich mache dir absolut keinen Druck ...«

Weiter kam er nicht. Rosi zwängte sich umständlich hinter dem Esstisch hervor und brüllte: »Jetzt reicht’s!«

Dann stürmte sie an ihm vorbei ins Gästezimmer, schrie noch: »Ich packe!«, und knallte mit einem lauten Schlag die Tür hinter sich zu.

Christoph wusste nicht, wie ihm geschah. Er konnte nur den Kopf schütteln über diesen Ausbruch. Ratlos trat er zur Kaffeemaschine und schaltete sie an. Er musste erst mal wieder zur Besinnung kommen. Gestern Abend war doch noch alles in Ordnung gewesen. Weshalb nun dieser Ausbruch? Nachdenklich griff er sich eine Tasse aus dem Schrank und ließ einen Kaffee einlaufen. Dann setzte er sich auf die Küchenbank. Nachdem er einen ersten Schluck genommen hatte, spielte er mit den herumliegenden Zetteln, die er gestern bekritzelt hatte. Die Liste für seine Mutter konnte er sich jetzt wohl sparen, obwohl er sie noch nicht mal angefangen hatte. Versonnen starrte er auf das Blatt Papier, das ihm in die Finger geraten war. Ach ja. Er war etwas abgedriftet gestern Abend und hatte allen möglichen Scheiß aufgeschrieben. Er lächelte. Es war schon eine Menge Kram, die so im Alltag auf Eltern zukam. Nicht auszudenken, wie es Alleinerziehenden gehen musste – die hatten ja gar keine Verschnaufpause mehr und mussten vermutlich ständig andere Leute um Hilfe bitten. Christoph dachte wieder an seine Mutter und fragte sich, ob es wohl die Spur einer Chance gab, sie umzustimmen. Plötzlich hörte er ein Geräusch und hob den Kopf. Sophie war immer die Erste am Frühstückstisch.

»Morgen«, murmelte sie.

»Morgen.«

»Schläft Oma Rosi noch?«

»Hmhm«, knurrte er zustimmend. Offenbar hatte sie von dem Geschrei nichts mitbekommen.

»Was hast’n da für Zettel?«, fragte sie und trat neben ihn. Nachdem sie einige Zeilen gelesen hatte, meinte sie spöttisch: »Soll das für Oma Rosi sein? Wie soll sie dir denn die Reifen wechseln?« Kopfschüttelnd ging sie zur Spüle und ließ frisches Wasser in den Wasserkocher laufen. Christoph starrte auf den Zettel in seiner Hand.

In diesem Moment ging die Tür des Gästezimmers auf und Rosi trat in den Flur. Sie trug ein fliederfarbenes Twinset, hatte ihren Mantel über dem Arm und ihren Rollenkoffer im Schlepptau. Christoph trat aus der Küche und betrachtete sie von oben bis unten; beide sagten kein Wort. In Christophs Kopf überschlugen sich die Gedanken – jetzt bloß nichts Falsches sagen! Wie konnte er ihr dieses Missverständnis erklären, ohne ihr zu nahe zu kommen? Er konnte sie ja nicht einfach in den Arm nehmen und sich entschuldigen, wie er es bei Katrin oder den Kindern täte. Unsicher kam er ihr einen Schritt entgegen, legte beide Hände wie zum Gebet zusammen und begann: »Mutter, ich ...«

Sie hob abwehrend die Hände. »Kein Wort!«, zischte sie und betrat die Küche, in der Sophie eben ihren Teebeutel übergoss und überrascht aufsah.

»Ich wollte Tschüss sagen.« Rosi fiel der Abschied schwerer als gedacht. Dennoch streckte sie ihrer Enkeltochter entschlossen die Hand entgegen.

Erstaunt starrte Sophie die dargebotene Hand an und meinte: »Wo gehst du denn hin? Ich dachte du bleibst länger? Papa hat doch noch gar keine Kinderfrau gefunden, oder Papa?« rief sie in Richtung Flur, wo sich Christoph noch immer kaum rühren konnte.

Müde kehrte er in die Küche zurück. »Nein, ich habe noch niemanden, aber, weißt du, Oma Rosi ist die ganze Sache hier etwas über den Kopf gewachsen, und ich ...« Kurzentschlossen wandte er sich seiner Mutter zu. »Mutter. Dieser Zettel, den du da auf dem Tisch gefunden hast ...«, er suchte nach Worten.

Rosi sah ihn mit reglosem Gesicht an. Sollte er sich nur vor seiner Tochter bei ihr entschuldigen. Aber sie würde sich auf keinen Fall umstimmen lassen, das hatte sie sich eben auf ihrem Zimmer geschworen. Auf keinen Fall! So ließ sie sich nicht ungestraft behandeln – schon gar nicht von ihrem eigenen Fleisch und Blut.

»Dieser Zettel, der war nicht für dich«, platzte er endlich heraus.

Herausfordernd hob sie den Kopf.

Christoph erklärte: »Mit mir sind gestern Abend die Gäule durchgegangen, ich hab eine Liste für dich schreiben wollen, und dann kam mir dieser ganze Kram da in den Kopf, über den Katrin manchmal jammert, was alles so zu tun ist in einem Haushalt mit Kindern. Und mir fiel ganz einfach jede Menge Zeugs ein, sodass ich wild drauflosgeschrieben hab.« Er schluckte. »Und dann hat Josefine nach mir gerufen, und ich hab alles stehen und liegen lassen, ohne die Liste für dich überhaupt anzufangen.« Er stoppte und ließ sich erschöpft auf einem Stuhl nieder.

Rosi stand unschlüssig herum. Sollte sie ihm diese Geschichte abnehmen? Zweifelnd betrachtete sie ihren Sohn, trat an den Esstisch und griff mit spitzen Fingern nach dem Papier. Wenn sie es sich recht überlegte, konnte er dieses Geschmiere ja unmöglich ernst gemeint haben. Erneut warf sie einen Blick auf die Liste und überflog sie. Hundescheiße aus Schuhen pulen, Reifen wechseln. Sie schluckte. Nach Christophs Worten erschien ihr das Ganze nun in einem völlig anderen Licht. Wieso nur hatte sie nicht bemerkt, dass es eine vollkommen unsinnige Liste war, ohne Adressaten? Kinder trösten, wie dämlich war sie eigentlich? Batterien unterm Sofa suchen. Und sie hatte sich von ihm veräppelt gefühlt! Rosi musste lächeln. Das Ganze war doch zu komisch. Noch einmal las sie sich den Zettel durch und wischte sich die Tränen von den Wangen. Und nachdem sich Christoph und Sophie von ihrem ersten Schrecken erholt und festgestellt hatten, dass es Tränen der Erleichterung waren, die Rosi über die Wangen liefen, fielen sie erleichtert mit ein.

An diesem Tag kam Christoph zu spät ins Büro. Er hatte nach der Sache mit der Liste Josefine geweckt, anschließend hatten sie alle gemeinsam gefrühstückt, so wie sonst immer, wenn Katrin da war. Dabei hatte er sie schmerzlich vermisst.

Immerhin hatte sich bei seiner Mutter – bis auf die gelegentlichen Aussetzer und ihre steife Art – in den wenigen Tagen, die sie bei ihnen war, eine bemerkenswerte Verwandlung vollzogen. Endlich ging sie mal ein bisschen aus sich heraus, war nicht mehr so zugeknöpft wie in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren.

Nachdem sie ihren Koffer wieder ins Arbeitszimmer gebracht hatte, wirkte sie beim gemeinsamen Frühstück geradezu vergnügt.

Christoph hoffte, dass die beiden Kinderfrauen, die sich heute vorstellten, zu ihnen passten – das käme seiner Mutter bestimmt entgegen. Für den Abend nahm er sich jedenfalls vor, sie ins Wohnzimmer zu bitten. Vielleicht hatte sie ja Lust, mit ihm fernzusehen oder zu lesen.

Als es an seiner Bürotür klopfte, schüttelte er die Gedanken an zu Hause ab und widmete sich seiner Arbeit. Zurzeit durfte er sich keine Fehler erlauben.

Diana Klein saß mit ihrer Schwiegermutter Eva vor einem Latte macchiato in einem Eiscafé auf der Freßgass und begutachtete ihre Einkäufe. Es war ein Tag nach ihrem Geschmack: Sie hatte tolle Schnäppchen machen können, die Sonne lachte vom Frankfurter Himmel, und ihre Schwiegermutter war ebenfalls bester Laune. Dianas Frauenarzt hatte gute Nachrichten verbreitet. Oder wenigstens keine schlechten – das war ja auch schon mal was. Nach einem Bilderbucheisprung und dem entsprechenden Einsatz Jochens (bei dieser Bemerkung von Diana ließen die Frauen ein glockenhelles Lachen ertönen) sah alles sehr vielversprechend aus. Genaues hatte er natürlich nicht sagen können – und schon gar nicht versprechen –, aber immerhin hatte ihr Arzt einen Grund zur Hoffnung angedeutet.

Diana nippte an ihrem Latte und zeigte Eva die beiden Strampelanzüge, die sie soeben zu einem sensationell günstigen Preis bei Petit Bateau erstanden hatte. Und – wer wusste, welcher Teufel sie geritten hatte – obendrein hatte sie sich ein dezent rosafarbenes Schwangerschaftsnachthemd gegönnt. Die beiden Frauen schwelgten in Vorfreude auf das Baby, und Diana fuhr sich immer wieder verstohlen über den Bauch. In zehn Tagen wusste sie mehr. Seit anderthalb Jahren versuchten sie und Jochen, ein Kind zu bekommen; viel zu lange. Selbst Eva stand in den Startlöchern für die Anschaffung einer Babygrundausstattung. Bei Pfüller waren sie im Laufe dieses Jahres schon unzählige Male gewesen, dort kannten sie inzwischen alle persönlich. Es war ihr mittlerweile fast peinlich, dort noch immer ohne Bäuchlein aufzukreuzen. Sie hoffte so sehr, dass sie auch dort bald die frohe Botschaft verkünden und vor allem endlich zuschlagen konnte!

Eva Klein beobachtete ihre Schwiegertochter aus den Augenwinkeln. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als ein Enkelkind. Jochen war ihr einziger Sohn, und seitdem ihr Mann vor drei Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war, bestand ihr einziger Lebensinhalt aus ihm und seiner Frau. Diana war eine traumhafte Schwiegertochter. Aus gutem Haus, gepflegt und blendend aussehend mit ihrem flotten aschblonden Pagenkopf. Heute trug sie eine hübsche weiße Bluse und dezente Ohrringe und verkörperte damit geradezu den Erfolg ihres Mannes. Diana hatte einen treffsicheren Geschmack, war gebildet, hatte sogar studiert – welches Fach, das war Eva entfallen, aber es spielte ja auch keine Rolle. Vermutlich dasselbe wie Jochen. Egal, jedenfalls war sie Akademikerin, auch wenn sie bedauerlicherweise nie in ihrem Beruf gearbeitet hatte. Jochen und Diana hatten sich an der Universität in Passau kennengelernt und direkt nach Studienabschluss geheiratet. Genau wie Jochen hatte Diana sich anschließend beworben. Doch während er eine adäquate Position bei einem renommierten Bankhaus fand, erhielt Diana auf ihre Bewerbungen nur Absagen. Einige der Unternehmen, darunter auch Banken, hatten wissen wollen, ob sie zunächst Interesse an einem Praktikum hätte – doch das lehnte Diana ab. Weshalb, das hatte Eva zwar nicht so ganz nachvollziehen können – aber gut, es war ihre Entscheidung. Diana argumentierte, ihr Studium nicht in kürzester Zeit absolviert zu haben, um als Praktikantin zu enden. Offenbar fanden die beiden jungen Leute es nicht weiter tragisch, denn während sie auf den passenden Job wartete, konnte Diana sich um Heim und Garten kümmern und sich nebenbei auf die vor ihr liegende Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereiten. Durch ein günstiges Baudarlehen ihrer Hausbank hatten sie die Gelegenheit genutzt, gleich zu Beginn ihrer Ehe ein Haus in Kronberg zu erwerben. Und dank eines großzügigen Zuschusses durch Dianas Eltern konnten sie auch Eigenkapital beisteuern. Das Haus war Jochens und Dianas ganzer Stolz, und ohne Frage gab es dort genug zu tun. Eva freute sich, dass es ihrer Schwiegertochter nichts ausmachte, zu Hause zu bleiben. Viele junge Frauen wollten das nicht, und wenn Nachwuchs kam, gaben sie das Baby schnellstmöglich an Fremde ab. Ihrem Enkelkind dagegen würde es gutgehen. Ach, sie freute sich auf die Zeit ausgiebiger Spaziergänge!

Eva schreckte hoch, als Diana mit einem Mal aufsprang und in die Menge winkte.

»Jochen!«, rief sie. Aus der Menge der Passanten löste sich ein schlaksiger dunkelhaariger Mann in Anzug und Krawatte und kam eilig auf sie zu.

Eva hätte ihn fast nicht erkannt. Er sah blass und dünn aus, was möglicherweise an dem grauen Anzug lag, der ihm jedoch bei genauerem Hinsehen vorzüglich stand. Jochen wirkte überrascht, sie beide hier anzutreffen. Er schien in Eile. Hastig gab er Diana einen Kuss, strich Eva über den Arm und blickte über die Schulter.

»Es tut mir schrecklich leid, ihr beiden, aber ich bin gerade zum Lunch verabredet, und es ist ein wichtiges Essen – also bis heute Abend, Schatz!« Er tätschelte Diana das Haar, reihte sich wieder in die Menge ein und winkte ihnen noch einmal zu.

Diana war enttäuscht, dass Jochen sich nicht nach ihrem Arztbesuch erkundigt hatte. Stirnrunzelnd sah sie ihm nach. Immerhin hatte sie ihn in den letzten Tagen mehrmals daran erinnert. Sein Interesse an dieser Thematik ließ ohnehin zu wünschen übrig – schon seit geraumer Zeit, wenn sie ehrlich war. Erneut dachte sie an den Arztbesuch vom Vormittag. Sie hatte nur herzlich lachen können, als ihr Frauenarzt sie aufforderte, so viel Verkehr wie möglich zu haben. Sie war ja schon froh, wenn Jochen es um den Eisprung herum schaffte, den sie nie so genau bestimmen konnte. Umso anstrengender war das Ganze – vor allem, wenn man einen Mann an seiner Seite hatte, der kein bisschen mitrechnete! Vor ein paar Wochen hatte sie Jochen gefragt, ob er sie nicht mehr attraktiv fände – aber nein, ganz im Gegenteil, hatte er ihr versichert. Er habe viel Stress und einfach den Kopf nicht frei dafür, war sein Argument. Diesen Monat hatte sie zum ersten Mal Sorge gehabt, ob er es überhaupt zustande brächte, mit ihr zu schlafen.

Diana schüttelte den Gedanken ab. Sie hoffte, dass es endlich geklappt hatte. Sonst mussten sie sich mit Plan B auseinandersetzen, und Plan B würde Jochen nicht gefallen, soviel stand fest. Diana trank ihren Latte aus, lächelte Eva zu, die gerade nach ihrem Portemonnaie griff, und winkte dem Kellner. Es war Zeit, nach Hause zu fahren. Sie wollte den Wohnzimmertisch mit den neuen Accessoires dekorieren, die sie gekauft hatte, und sich davor im Internet ein paar Ideen holen, wie sie das Wohnzimmer noch ein wenig behaglicher gestalten konnte. Immerhin ging es jetzt auf den Herbst zu.

Rosi verbrachte den Vormittag mit Lotta und mit Haushaltsdingen. Sie schaltete das Radio an, suchte nach einem Sender mit erträglicher Musik, landete bei Andrea Berg und wischte summend über die Möbel. Lotta tat es ihr nach, indem sie ein Abtrockentuch über die Möbel rieb und es einmal in Rosis Wischeimer versenkte. Rosi brachte auch das nicht aus der Fassung; sie nahm es aus dem Wasser und gab Lotta ein anderes Tuch. Sie fühlte sich wie befreit, auch wenn sie gar nicht genau benennen konnte, wovon. War es das Weinen gewesen? Sie hatte nicht nur wegen des Zettels geweint, nein, auch wegen der Sache, die Sophie ihr am Vortag vorgeworfen hatte. Natürlich stimmte kein Wort davon – aber allein, dass man so von ihr dachte!

Nachdenklich setzte Rosi sich an den Tisch und legte den Lappen ab. Einen reichen Macker hätte sie sich geangelt, hatte Sophie gesagt. Waren es am Ende Katrins Worte, die das Kind nachgeplappert hatte? Katrin, die ein Kind nach dem anderen bekam und keinen Schimmer davon hatte, wie es war, immer wieder zurückgewiesen zu werden, bis man sich innerlich abschottete. Besser gar keine Gefühle als schmerzhafte, das war zumindest ihre Erfahrung. Bisher war sie recht gut damit gefahren. Und dass sie nicht um Werner getrauert hatte … man trauerte ja auch nicht über den Verlust eines kaputten Kühlschranks.

Rosi stand wieder auf und schüttelte die unangenehmen Gedanken ab. Dann drehte sie das Radio noch eine Idee lauter und legte zu Roland Kaiser einen kleinen Tanzschritt ein. Ihre gute Laune war augenblicklich zurückgekehrt. Sie lächelte in sich hinein. Diese unsägliche Liste – und dann das erleichterte Lachen darüber, dass alles nur Einbildung gewesen war. Dass Christoph sie nicht so verachtete, wie sie für einen Moment angenommen hatte – hatte annehmen müssen!

Obwohl ihr die Arbeit heute besonders leicht von der Hand ging, war sie froh, als um zehn Katrins Putzfrau mit dem unaussprechlichen Namen eintraf, um Böden und Bäder zu schrubben. Sie war ausgesprochen höflich und erledigte alles im Laufschritt. Nach zweieinhalb Stunden, in denen sie noch bügelte und aufräumte, glänzten ihr die Schweißperlen auf der Stirn. Rosi bot ihr ein Glas Wasser an, das sie dankbar annahm, und wies auf einen Stuhl am Küchentisch. »Nehmen Sie doch für einen Moment Platz, Frau ...«

»Schallati«, ergänzte Frau Szalaty und lächelte nachsichtig.

Rosi setzte sich zu ihr. Es war nicht ihre Art, andere Leute auszuhorchen, aber es interessierte sie einfach, wie Katrin von ihrer Putzfrau gesehen wurde. Sicherlich hatte sie nicht die beste Meinung von ihrer Schwiegertochter, bei dem vielen Zeug, das hier herumlag.

»Sie kennen die Familie meines Sohnes schon lange, oder?«, erkundigte sie sich beiläufig.

»Joa, mach ich schon lange sauber hier.«

Rosi legte den Kopf schräg. »Hier ist ganz schön viel zu tun, vor allem aufzuräumen, nicht wahr?«, fragte sie mitfühlend.

Frau Szalaty hob die Schultern. »Normalerweise nicht ist der Fall. Die Kinder und die Frau Bender räumen immer auf, bevor ich komm, damit ich gleich putzen kann und bigeln. Aufräumen ich muss immer nur ganz Kleinigkeiten.«

»Aha«, entgegnete Rosi. »Sie kommen also gut mit meiner Schwiegertochter zurecht?«

»Aber natirlich, sehr nette Frau, die Frau Bender ist. Immer ist freundlich und immer lieb mit die Kinderchen und immer die lacht! Noch nie war unfreundlich zu mir, wenn mal was ist kaputt gegangen oder habe ich etwas vergessen oder so, hat gesagt, kann doch mal passieren, und musste ich noch nie bezahlen. Bei andere Stelle ist immer so: Wenn die die Sachen schepp hinstellen und fällt runter, muss ich die bezahlen. Bei die Frau Bender noch nie ist passiert.« Frau Szalaty schüttelte betrübt den Kopf. »Finde ich sehr schlimm, dass die ist in Krankenhaus, die Frau Bender. Ist schlimm für die Kinderchen, die Armen! Und hat mir die Herr Bender gesagt, ist die noch lange in Krankenhaus, ja?«

Rosi nickte gedankenversunken. »Ja, das kann sich wohl noch eine Weile hinziehen.«

Bevor Frau Szalaty noch eine weitere Frage nach dem Grund des Krankenhausaufenthalts stellen konnte, blickte Rosi demonstrativ auf die Uhr. »Ach herrje, ich muss ja noch einkaufen!«, rief sie, stand auf und stellte ihr Glas in die Spüle.

Frau Szalaty erhob sich ebenfalls. Sie räumte die Gläser in die Spülmaschine und ging noch einmal zur Toilette, bevor sie sich auf den Weg machte.

Rosi sah ihr hinterher. War es etwa nicht normal, dass eine Putzfrau für Ersatz sorgen musste, wenn ihr etwas herunterfiel? Hier tickten die Uhren offenbar anders.

Kurze Zeit später erledigte sie den Einkauf mit Lotta und hängte gleich noch einen Spaziergang an. Anschließend machte sie sich daran, das Mittagessen zuzubereiten.

Am Nachmittag, als Lotta ihren Mittagsschlaf hielt und Josefine auf der Straße spielte – Sophie saß mit einer Freundin in ihrem Zimmer –, ging Rosi in den Garten und begutachtete den Zustand des Rasens und der Beete. Die Sonne tauchte die Anpflanzungen in ein mildes, herbstliches Licht und ließ das Gras saftig grün leuchten. Es wuchs viel Moos zwischen den Halmen, was nicht gerade für eine gute Bodenbeschaffenheit sprach.

Plötzlich vernahm sie von Ferne ein Schnattern. Sie sah zum Himmel und entdeckte zwei Züge Wildgänse, die in ihrer typischen Keilformation den Ort überflogen. Rosi sah den Gänsen mit einem Lächeln nach und befasste sich dann wieder mit dem Garten. Er sollte winterfest gemacht werden. Christoph würde an den nächsten Wochenenden wohl kaum die Zeit dafür finden – er war ja permanent im Krankenhaus oder mit anderen Dingen beschäftigt. Da sie selbst gegen Gartenarbeit nichts einzuwenden hatte, konnte sie genauso gut hier ein wenig Hand anlegen. Entschlossen überquerte sie den Rasen und warf einen Blick in die Gartenhütte. An notwendigen Geräten mangelte es nicht; offenbar war Christoph unter normalen Umständen häufiger im Garten anzutreffen. Beherzt nahm sie einen Eimer, eine Harke und ein Stecheisen und machte sich an die Arbeit. Erfahrungsgemäß wurden Blumenbeete schon nach vierzehn Tagen ohne Jäten unansehnlich, doch durch die vielen Bodendecker, die sich ihre Bahnen gesucht hatten, hielt sich die Arbeit in Grenzen. Während sie jätete, dachte Rosi noch einmal über den morgendlichen Vorfall mit der Liste nach und schüttelte schmunzelnd den Kopf. Sie hatte doch tatsächlich die Contenance verloren! Allerdings musste sie zugeben, dass sie und Christoph sich fremd geworden waren; da konnte man schnell mal das ein oder andere in den falschen Hals bekommen. Im Grunde war es bedauerlich, dass sie sich so entfremdet hatten, und sie wusste eigentlich auch gar nicht genau, seit wann das so war. Möglicherweise hatte es an ihren Verstimmungen gelegen. Vielleicht hatte sie sich nicht immer so um ihn gekümmert, wie es als Mutter eigentlich ihre Pflicht gewesen wäre, aber es war nicht gegangen. Sie hatte ihre eigenen Probleme, mit denen sie fertig werden musste. Und auch wenn der Verlust, den sie erfahren hatte, heute nicht mehr schmerzte – dazu waren einfach zu viele Jahre vergangen –, so hatte sie doch nie wieder zu ihrem alten Ich zurückgefunden. Und als Christoph sie so früh zur Großmutter gemacht hatte – gerade wollte sie ihre Chance nutzen, mit der Vergangenheit abzuschließen –, da hatte sie es einfach nicht fertiggebracht. Ab da war der Kontakt zu Christoph nicht mehr über die üblichen Anrufe zu den Geburtstagen oder die Besuche an Feiertagen hinausgegangen. Ihre Enkelkinder waren ihr fremd geblieben, und ihrer Schwiegertochter war sie ein Dorn im Auge. Warum, wusste sie auch nicht. Natürlich war ihre Reaktion auf das erste Kind nicht in Katrins Sinne gewesen, dabei hatte sie lediglich ihre Meinung kundgetan. Es war doch wohl aus Sicht einer Mutter verständlich, den eigenen Sohn darauf hinzuweisen, dass man heutzutage nicht zwangsläufig heiraten musste, nur weil sich ein Kind ankündigte. Vieles ließ sich doch finanziell regeln! Christoph hatte diese Möglichkeit rundheraus abgelehnt. Auch gut, es war ja lediglich ein Hinweis gewesen, weiter nichts. Im Grunde hatte Katrin diese Geschichte als Grund verwendet, um ihr Christoph zu entfremden.

Rosi nahm einen Schluck Zitronenlimonade, die sie im Keller aus dem Kühlschrank genommen hatte, und leckte sich über die Lippen. Das herbe Getränk war erfrischend. Wenn sie ihrem Arzt glauben durfte, dann sorgte viel Flüssigkeit für eine straffere Haut und machte fit; daher trank sie auch zu Hause mindestens zwei Liter täglich. Natürlich nicht ausschließlich Limonade – obwohl sie dafür eine Schwäche hatte, besonders für Almdudler, aber diese Limo hier war auch nicht zu verachten. Apropos straffere Haut: Mit ihren zweiundsiebzig sah sie noch ganz passabel aus. Natürlich nicht so wie damals, als sie Helmut kennen gelernt hatte, 1954 in Heidelberg, bei einem Tanztee. Er war der erste Mann in ihrem Leben, vor Werner. Gedankenverloren bewegte Rosi sich von Unkraut zu Unkraut und zupfte mit geübten Handgriffen die kleinen Übeltäter aus dem Erdreich. Helmut hatte sie aufgefordert und für den Rest des Abends ausschließlich mit ihr getanzt. Rosi starrte auf die Bodendecker.

Er tanzte nur mit ihr und kaufte ihr am Ende des Nachmittags bei einem Straßenverkäufer eine rote Rose, dann brachte er sie nach Hause. Von da an trafen sie sich jeden Tag – heimlich natürlich. Ihre Eltern hätten ihr niemals erlaubt, sich mit einem jungen Mann zu treffen, dessen familiärer Hintergrund ihnen nicht bekannt war; doch Rosi konnte meist einen Vorwand finden. Da sie bei einem Verlag als Telefonistin in die Lehre ging, konnte sie nach Feierabend immer einige Minuten abzweigen, um ihn auf einer Parkbank oder in einem Café zu sehen. Oftmals fühlte sie sich unsicher, hatte Angst, irgendjemand könnte vorbeikommen, der sie kannte und ihren Eltern davon erzählte, doch ihre Sorge war unbegründet. Nach etwa einem Monat hatte er sie zum ersten Mal geküsst. Niemals würde sie diesen Kuss vergessen, der in ihr ein Feuerwerk entfachte – und von diesem Moment an war sie an ihn verloren.

Rosi schluckte und arbeitete zügig weiter.

Helmut und sie waren acht Wochen ein Paar, als sie mit dem Gedanken spielte, ihn ihren Eltern vorzustellen. Er kam aus gutem Haus, hatte eine solide Ausbildung in einem Warenhaus zum kaufmännischen Gehilfen absolviert und war dort übernommen worden und jetzt fest angestellt. Er verkörperte den idealen Schwiegersohn. Doch Helmut bat sie darum, noch zu warten, da er einen entscheidenden Schritt in seiner Laufbahn – die Beförderung zum Bürovorsteher – noch vor sich hatte. Lieber wollte er ihren Eltern gegenübertreten, wenn er diesen Titel in der Tasche hatte, um ihr auch wirklich etwas bieten zu können. So entschloss sich Rosi schweren Herzens, weiter zu warten und sich heimlich mit ihm zu treffen. Bis auf die Tanztees – bei diesen tanzten sie miteinander, ohne dass jemand Anstoß daran nehmen konnte. Einige ihrer Freundinnen waren bereits verlobt und drängten sie, größere Anstrengungen zu unternehmen, um Helmut zu überreden – doch es gelang ihr nicht. Sie war so verliebt in ihn, dass ihr erster und letzter Gedanke eines jeden Tages ihm galten; die etwas unüblichen Bedingungen ihrer Treffen taten dem keinen Abbruch. Manchmal kostete es sie all ihre Konzentration an der Telefonanlage, die richtigen Verbindungen zu stecken, weil sie immerzu an ihn, an seine Küsse und Zärtlichkeiten denken musste, die mit der Zeit fordernder wurden. Er überschritt jedoch niemals die Grenzen dessen, was sich gehörte.

Kurz vor Weihnachten des Jahres 1955, als sie Helmut seit fast einem Jahr kannte und sie sich Brief um Brief geschrieben hatten, um sich die Dinge zu sagen, die beiden kaum über die Lippen kamen, erschien Helmut von einem Tag auf den anderen nicht mehr an ihrem Treffpunkt. Sie kam wie üblich aus dem Gebäude der Heidelberger Presse, doch er wartete nicht wie gewohnt am Eingang der Unterführung, die zum Park führte. Möglicherweise war er krank, dachte sie; sicherlich würde er bald einen Brief schicken. Doch auch nachdem mehrere Tage verstrichen waren, erhielt sie kein Lebenszeichen von ihm. Zwar wusste sie, wo er wohnte, war aber noch nie bei ihm gewesen. Dennoch entschloss sie sich, ihm einen Besuch abzustatten. Sie wollte sichergehen, dass ihm nichts zugestoßen war und es eine plausible Erklärung für sein Fernbleiben gab. Er wohnte in einer der besseren Gegenden Heidelbergs. Das schmucke Haus war frisch gekalkt, und es brannte Licht. Rosi schellte. Sie würde nie vergessen, wie sie an diesem verschneiten Nachmittag vor seiner Tür stand und diese Blondine im blauen Kostüm öffnete. »Ja, bitte?«, fragte sie.

»Entschuldigen Sie, ich bin eine Bekannte von Helmut. Ich habe seit Tagen nichts von ihm gehört und wollte nachfragen, ob alles in Ordnung ist.«

Die junge Frau, die sich als seine Schwester vorstellte, lachte herzerfrischend. »Oh ja«, erzählte sie munter, »mit ihm ist alles in bester Ordnung. Er ist in den deutschen Alpen auf Hochzeitsreise.«

Wie sie reagiert hatte oder wie sie nach Hause gekommen war, daran hatte sie bis heute keine Erinnerung. Zu Hause angekommen, legte sie sich mit hohem Fieber ins Bett; sie bekam eine schwere Lungenentzündung, die ihre Eltern in große Sorge versetzten. Dass sie unentwegt weinte und anscheinend gar nicht gesund werden wollte, schrieb der Arzt dem hohen Fieber zu. Nachdem es ihr körperlich endlich besser ging, schien sie auch seelisch wieder einigermaßen hergestellt. Zum Tanztee ging sie jedoch nicht mehr, und auch an Männern hatte sie jegliches Interesse verloren. Von Helmut hörte sie nie wieder etwas – kein Wort der Erklärung, keine Entschuldigung. Nur seine Schwester hatte ihr verschmitzt einen Anhaltspunkt gegeben, als Rosi sich bereits zum Gehen wandte: »Sie mussten sich mit der Hochzeit beeilen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Fehlt Ihnen etwas?« Eine männliche Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken. Rosi musste eine ganze Weile auf die Bodendecker gestarrt haben, ihre Augen brannten. Von der Sonne geblendet, sah sie nach oben und begegnete dem besorgten Blick des Nachbarn, der sich über den Zaun beugte. Ärgerlich, dass sie sich diesen düsteren Gedanken überhaupt hingegeben hatte, schüttelte sie den Kopf. »Nein, nein, es ist alles in Ordnung, lassen Sie nur.«

Verstohlen warf sie einen Blick auf ihre Flasche Zitronenlimonade. Hoffentlich hatte er sie nicht dabei beobachtet, wie sie aus der Flasche getrunken hatte. Sie war ja fast leer! Aus der Flasche zu trinken war nicht gerade damenhaft, und sie hatte es auch nur getan, weil sie im Keller kein Glas zur Hand gehabt hatte.

»Möchten Sie einen Kaffee? Ich habe gerade einen aufgebrüht«, erkundigte sich Herrmann Schreiber.

Rosi rappelte sich mühsam auf und warf einen Blick auf die Uhr. Lotta war jede Minute fällig. »Ich muss nach der Kleinen sehen, tut mir leid«, murmelte sie.

Doch Herrmann Schreiber ließ sich nicht so leicht abschütteln. »Den Kaffee können wir genauso gut auf Ihrem Balkon trinken«, verkündete er und ging zurück zum Haus, um den Kaffee zu holen.

Ach du meine Güte, dachte Rosi und strich über ihre Jacke. Doch nach diesem Morgen konnte so schnell nichts ihre gute Laune verderben. Es kam selten genug vor, dass sie mit einem Herrn einen Kaffee trank. Leichtfüßig brachte sie die leere Flasche zurück in den Getränkekasten im Keller, wusch sich die Hände und öffnete einen Moment später Herrn Schreiber die Haustür. Im gleichen Moment krähte Lotta aus ihrem Zimmer im Dachgeschoss. Rosi erklärte im Hinaufgehen, sie müsse der Kleinen noch eben die Windel wechseln und eine Kleinigkeit zum Essen zubereiten, dann käme sie nach.

Währenddessen brachte Herrmann Schreiber den Kaffee nach oben und nahm auf dem Balkon Platz. Eine merkwürdige Person, diese Frau Bender. Merkwürdig, aber nicht uninteressant. Offenbar ein wenig wortkarg, nach den kurzen Kontakten der letzten Tage zu urteilen. Doch Rosi belehrte ihn eines Besseren. Als sie endlich mit Lotta am Tisch saß und er ihr Kaffee eingegossen hatte, erkundigte sie sich mit einer ausschweifenden Handbewegung über das Balkongeländer hinweg: »Und? Wie finden Sie den Blick von hier auf Ihr Grundstück? Es ist doch für Sie eine ganz andere Perspektive, als wenn Sie aus dem Fenster Ihres eigenen Hauses sehen?«

Herrmann guckte sie verdutzt an. »Also, nun«, begann er und hob ratlos die Schultern, »ich war ja schon etliche Male auf diesem Balkon. Aber ja, Sie haben recht, die Perspektive ist ganz anders.«

»Haben Sie denn Kontakt mit meinem Sohn, da Sie schon öfter hier saßen?«

»Aber ja!«, lachte Herrmann. »Allerdings weniger zu Ihrem Sohn als zu Ihrer Schwiegertochter. Katrin lädt mich häufig ein, wenn sie nachmittags einen Kaffee trinkt. Bei den drei Prinzessinnen hier geht es hin und wieder rund, sag ich Ihnen. Die eine will dieses, die nächste das, und die Dritte kriegt Zähne! Aber, wem sage ich das – Sie sind ja schon ein paar Tage hier.« Vergnügt fuhr er fort: »Die Katrin bringt so schnell nichts aus der Ruhe, meistens jedenfalls. Manchmal schallt auch mal Gebrüll zu mir herüber, aber ziemlich selten. Eher Gelächter.«

Rosi nickte. Ja, das konnte sie, ihre Schwiegertochter: Lachen. Geradezu krankhaft war das! Einmal hatte sie sie am Telefon darauf angesprochen, dass sie immerzu »gut« sagte, wenn Rosi fragte, wie es ginge. Da war Katrin pampig geworden und hatte sich erkundigt, ob sie vielleicht »schlecht« sagen sollte, wenn es gar nicht stimmte. Es ginge ihr nun einmal gut; sie führe genau das Leben, das sie sich immer gewünscht habe. Wie naiv sich das anhörte. Glück hatte sie gehabt, dass sie Christoph getroffen hatte – weiter nichts. Und mit Lachen kam man im Leben auch nicht immer weiter, das zeigte sich nun. Ihre Schwiegertochter lag im Krankenhaus; sie hatte Rosi noch kein einziges Mal angerufen und gefragt, wie es zu Hause ging. Immerzu die Unbeschwerte verließ sie sich jederzeit auf Christoph.

Herrmann Schreiber beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Nun schaute sie wieder so griesgrämig aus der Wäsche, wie er es schon häufiger beobachtet hatte, wenn sie mit Lotta das Haus verließ. Lediglich vorhin im Garten hatte ihr Blick etwas Weicheres gehabt.

»Sind Sie eigentlich hier aufgewachsen?«, riss sie ihn aus seinen Gedanken.

Er schüttelte den Kopf. »Ich komme aus dem Saarland. Meine Frau habe ich als junger Bursche bei einem Verwandtenbesuch auf der Dippemess in Frankfurt kennengelernt. Ich habe mir eine Arbeit bei einem der Quellenbetriebe in Bad Vilbel gesucht – und hier war ich. Und Sie?«

»Ich?«

»Ja, wo sind sie aufgewachsen? Wo leben Sie?«

Rosi schlug die Beine übereinander. »Ich komme aus Heidelberg. An den Bodensee bin ich erst gezogen, nachdem mein Mann nicht mehr da war.«

»Warum wollten Sie weg?«

»Es war schon immer mein Traum, am Bodensee zu leben. Ein Haus mit Seeblick.«

»Ihre Eltern sind tot, nehme ich an?«

»Schon lange. Sie haben mir das Haus vermacht, aber ich habe es früh verkauft. Damals hat man ja nicht viel dafür bekommen – heute wäre es ein Vermögen wert. Aber was weiß man schon als junger Mensch? Und mein Mann besaß schon ein Haus, also bin ich dort eingezogen, nachdem wir geheiratet hatten. Wozu hätte ich ein zweites gebraucht? Und ich hing nicht dran. Es war nicht schuldenfrei, da meine Eltern bei der Währungsreform 1948 ihr gesamtes Vermögen verloren hatten.«

Herrmann Schreiber machte ein betroffenes Gesicht. »Das ist schlimm.«

»Ja«, sagte Rosi, »deshalb sage ich noch heute: Trau niemals einer Bank!«

Er lachte. »Aber Ihr Sohn arbeitet bei einer.«

»Schlimm genug. Jedenfalls waren meine Eltern heilfroh, eine Immobilie ihr Eigen nennen zu können. Als die letzten Mieter draußen waren, bekam ich ein ganzes Stockwerk für mich. Darin habe ich gewohnt, bis ich Christophs Vater kennenlernte.« Sie lehnte sich nach vorn. »Für damalige Verhältnisse war ich schon fast eine alte Jungfer. Haben Sie auch Kinder?«

»Leider keine eigenen, aber meine Frau und ich haben ein Pflegekind angenommen. Der Kontakt ist immer noch eng, besonders, seit meine Frau verstorben ist.« Lächelnd fuhr er fort: »Umso mehr freue ich mich über meine nette Nachbarschaft, da herrscht wenigstens Leben in der Bude!«

Rosi warf wieder einen Blick in den Garten. »Mein Sohn ist ja nicht untätig, wie mir scheint. Der Garten ist gut in Schuss, nur der Rasen müsste vor dem Winter noch mal gedüngt und hier und da neu eingesät werden.«

»Der Garten ist wohl eher das Ressort Ihrer Schwiegertochter, so wie ich das sehe. Ihren Sohn bekommt man dort kaum zu Gesicht. Für das Wässern bin übrigens ich zuständig.« Er tippte sich auf die Brust. »Nachdem Katrin im ersten Jahr Tag und Nacht mit dem Gartenschlauch in der Hand auf dem Rasen stand, habe ich es ihr angeboten. Für mich ist es ja egal, wie lange ich dort herumstehe, ich hab ja Zeit.«

Rosi schwieg dazu und erhob sich, um Lotta vom Balkongeländer wegzuziehen. Nachdenklich blickte sie nach unten, als Sophie mit einer dunkelhäutigen Freundin den Balkon betrat.

»Gibt‘s irgendwas zu knabbern?«, fragte Sophie. »Wir wollen ein Picknick machen.«

»Ein Picknick? Wo denn?«

Sophie hob die Schultern. »Irgendwo. Am Bach vielleicht.«

»Holt euch was vom Kiosk«, schlug Rosi vor. »Ich habe nichts da.«

»Im Moment haben die Geschäfte doch alle zu«, sagte das dunkelhäutige Mädchen und wandte sich an Sophie. »Lass uns zu mir fahren, wir haben bestimmt was.«

Rosi sprach sie leutselig an: »Bist du ein Flüchtlingsmädchen? Du sprichst aber gut Deutsch.«

Sophie und ihre Freundin warfen sich einen Blick zu, und das Mädchen antwortete: »Nein, ich bin kein Flüchtlingsmädchen. Ich bin hier geboren. Meine Eltern kommen aus Indien.«

»Ah!«, staunte Rosi. »Und?«, fragte sie, »wie gefällt es dir hier bei uns in Deutschland?«

Herrmann Schreiber lachte schallend, und Rosi fuhr erstaunt zu ihm herum. Das Mädchen machte ein Gesicht, als habe es auf eine saure Zitrone gebissen, und Sophie verbarg kopfschüttelnd ihr Gesicht in den Händen. »Komm«, raunte sie ihrer Freundin zu, »gehen wir.«

Rosi wusste sich keinen Reim darauf. Kaum ging sie auf die jungen Leute zu, war es auch wieder verkehrt! Sie stand neben Lotta am Balkongeländer und beobachtete die beiden, wie sie ihre Räder aus dem Hoftor schoben, als das Mädchen sagte: »Du kannst einem wirklich leidtun.« Rosi erstarrte. Leidtun? Warum? Sie straffte die Schultern. Schon wieder so eine unverschämte Bemerkung dieser jungen Leute, die sie nicht verstand. Tief durchatmend versuchte sie, den Groll abzuschütteln. Weder von der Bemerkung einer kleinen Göre noch von Katrins guten Kontakten zur Nachbarschaft wollte sie sich den Tag vermiesen lassen. Schließlich fühlte sie sich so gelöst wie lange nicht mehr.

Sie wandte sich an Herrmann Schreiber: »Sagen Sie ... könnten Sie mir in den nächsten Tagen beim Einsäen des Rasens helfen? Die Fläche ist ziemlich groß, und man müsste noch vertikutieren. Das geht mir nicht so gut von der Hand. Eventuell müsste man auch noch hier und dort nachbessern, dazu bräuchte ich einige Säcke Erde aus dem Baumarkt.« Unsicher blickte sie ihn an. War sie zu weit gegangen?

Herrmann Schreiber lächelte verschmitzt. »Das war der längste Satz, den ich bisher von Ihnen gehört habe, Frau Bender! Mache ich gern, wirklich! Wann?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739340425
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
Unterhaltung Familienroman Lachen Kinder Spannung Familie Liebe Komödie Frauenroman Humor

Autor

  • Stina Jensen (Autor:in)

Stina Jensen wurde in den wilden Siebzigern in Hessen geboren. Ihr Vater fuhr einen roten Manta, dabei wehten ihr auf der Kunstlederrückbank ABBA-Klänge um die Ohren. Mit Eintritt in die Grundschule kam die Autorin mit dem Hochdeutschen in Berührung – was ihre Leidenschaft für Fremdsprachen erklären könnte. Mit dem Schreiben hat sie 2008 begonnen. Kinder, Koks und Limonade war ihr erster Roman.
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Titel: Kinder, Koks und Limonade