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Der Tote und das Gänseblümchen

von Brigitte Kaindl (Autor:in) Brenda Leb (Autor:in)
340 Seiten

Zusammenfassung

Die 25-jährige Musikerin Dora blickt auf schmerzhafte Zeiten zurück. Jahre zuvor erlitt ihr Lebensgefährte Dieter auf offener Bühne einen Herzstillstand. Aber sie findet neuen Lebensmut und kann endlich wieder vor Publikum singen. Dora freut sich nach einem erfüllten Tag auf die Heimkehr zu ihrem Mann. Markus soll sie wie immer chauffieren, doch auf dieser Fahrt wird sie entführt und in einer einsamen Hütte am Waldrand festgehalten. Gemeinsam mit Markus. Dora hat den jungen Mann eigentlich immer gemocht, doch nun weiß sie nicht, ob sie ihm vertrauen kann. Irgendetwas scheint er zu verbergen ... Dieser Roman setzt sich mit Alkoholmissbrauch und Gewalt in der Familie auseinander. Erzählt wird eine bittersüße Geschichte über Freundschaft, Vertrauen und Liebe sowie die heilende Kraft der Musik.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Buch

Ein Toter unter einer Brücke und eine Entführung mit Lösegeldforderung decken eine arglistige Hinterhältigkeit auf. Dieses Drama erzählt von der Suche nach Geborgenheit, bedingungsloser Aufopferung und herber Enttäuschung. Ein Roman, der sich kritisch mit dem Thema Alkoholmissbrauch und Gewalt in der Familie auseinandersetzt. Aber auch eine bittersüße Geschichte über Freundschaft, Vertrauen und Liebe.

Inhalt: Die 25-jährige Dora Bellis ist mit ihrer Band „Hells Angels“ erfolgreich auf Tournee. Nachdem Dieter, ihr Lebensgefährte und Gitarrist der Gruppe auf offener Bühne einen Herzstillstand erleidet, warten leidvolle Jahre auf die vermögende, aber unglückliche Frau. Als sie Jahre später wieder nach vorne zu blicken versucht, schlägt das Schicksal abermals mit voller Härte zu: Sie wird entführt und mit ihrem Chauffeur an einem einsamen Ort festgehalten. Hier offenbart sich eine schmerzhafte Wahrheit, die Doras Weltbild in den Grundfesten erschüttert. Wird sie je wieder in ihr gewohntes Leben zurückkehren können? Und wem kann sie überhaupt noch trauen?

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Doch ein elementarer Teil dieser Geschichte ist nach einer wahren Begebenheit.

Autorin

Brigitte Kaindl wurde 1960 in Wien geboren. Die Autorin und Musikerin ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern.

Ihre bisherigen Bücher:

  • „Mein Weg aus dem Fegefeuer“, Untertitel: „Missbrauch, Leid in der Dunkelheit“, (2018 unter dem Pseudonym „Brenda Leb“) Autobiografie

  • „Das Echo des Herzens“ (2019), Roman

  • „Das Echo des Rosenmordes“ (2020), Roman

  • „Das Echo von Gottlieb“ (2020), Roman

  • „Christians Geheimnis“ Sammelband, 3 Romane der Echo-Trilogie

  • „Mann, oh Mann!“ (2020), Humorvolle Unterhaltungsliteratur

  • „Der Tod der Braut“ (2021), Roman

  • „In einem Meer voll Tränen“ (2021), Roman

  • „Der Mörder und die Wildrose“ (2022), Roman

  • „Der Tod des Bräutigams“ (2023), Roman

  • „Die zwei Wölfe“ (2024 unter dem Pseudonym „Brenda Leb“) Autobiografie

Impressum

© urheberrechtlich geschütztes Material

Text von Brigitte Kaindl © Copyright by Brigitte Kaindl

www.brigittekaindl.at

Alle Rechte vorbehalten

Autor: Brigitte Kaindl

Umschlaggestaltung, Illustration: Brigitte Kaindl





Prolog

Mai 2018

Der alte Mann ging mit schweren Schritten an einer Mülltonne vorbei. In seiner Hand hielt er eine fast vollständig geleerte Flasche.

Er schlurfte zu seinem Schlafplatz unter der Brückenunterführung und machte einen letzten, tiefen Schluck. Danach warf er die unnütz gewordene Bouteille achtlos in die Tonne.

Exakt getroffen hatte er nicht.

Auch egal!

Scheppernd fiel die Glasflasche auf den Asphalt und zerbrach in tausend Scherben.

Er hörte gar nicht hin. Er war müde. Und völlig zugedröhnt.

Plötzlich stutzte er.

Das hier ist mein Schlafplatz!, ärgerte er sich. Hier schlief er bereits seit einigen Wochen. Was machte dieser Kerl hier? Wie ein schwerer Sack lag er genau vor der Radfahrrampe, unter der er seine Matratze vorsorglich ausgebreitet hatte.

Seine Matratze! Sein Schatz!

Es war überhaupt nicht einfach gewesen, dieses schwere, alte Ding von diesem Bahndamm, wo man sie achtlos entsorgt hatte, hierher zu schleppen. Und doch war es die Mühe wert gewesen. Seit Wochen schlief er zum ersten Mal wieder auf weichem Untergrund. Ein unbeschreiblicher Luxus.

Für ihn.

Der, der das alte Ikea-Ding einfach aus dem Auto gekippt hatte, lag nun wohl noch weicher und ohne Hausstaubmilbenkot.

Der alte Mann konnte sich solche Gedanken aber nicht mehr leisten. Er war froh gewesen, dass er die unhandliche Schlafunterlage gefunden und hierher ziehen hatte können. Und er war erleichtert, dass sie ihm bisher noch niemand entfernt hatte. Immerhin lag sein Schlafquartier auf sogenanntem öffentlichen Raum.

Kostenlos. Gut durchlüftet. Und geschützt vor Niederschlägen durch die Fahrradrampe. Das war fast Luxus, wie er aus Erfahrung wusste.

Allerdings auch frei zugängig.

Und natürlich ohne Badezimmer. Doch wild wucherndes, dichtes Gebüsch war auf der Donauinsel für körperliche Entsorgungen zur Genüge vorhanden.

Man durfte sich bloß nicht dabei erwischen lassen. Spaziergänger und Hundebesitzer hatten es nämlich nicht so gerne, wenn ihr genussvolles Flanieren durch penetrante Aromen getrübt wurde.

Aber das war auch schon das einzige Problem und von daher empfand er seine Bleibe tatsächlich fast schon als Luxusappartement.

In der warmen Jahreszeit. Im Winter würde es wohl auch hier ziemlich frostig werden.

Doch er hatte gelernt, nicht mehr zu weit in die Zukunft zu denken und plante daher auch nicht mehr. Er wusste ja gar nicht, ob er überhaupt eine hatte.

Eine Zukunft.

Er lebte im Hier und Jetzt. Und jetzt genau war er müde und nun lag dieser fremde Kerl unter der Wiener Reichsbrücke. Panisch blickte er unter die Rampe, ob seine Matratze noch da war.

Gottlob!

Sie war noch auf ihrem Platz. Er hatte im ersten Augenblick schon befürchtet, dieser Penner hätte sie ihm geklaut.

Gut, das war jetzt fast ein wenig paranoid, wurde ihm trotz seiner schweren Alkoholisierung klar. Immerhin hatte er sie doch gar nicht dabei und in seine Hosentasche passte das Riesending auch nicht.

Angewidert kam der alte Mann dem störenden Gesellen näher. Er lag mit dem Gesicht am Boden und machte keinen Mucks.

Hat wohl noch mehr gesoffen als ich, wenn er sogar mitten am Weg eingeschlafen ist!, dachte der alte Mann.

Okay! Sollte ihm recht sein. Doch nicht hier!

Er wollte jetzt in Ruhe seinen Schwips ausschlafen. Mürrisch stieß er daher mit seinem Fuß auf den Schuh des Regungslosen, um ihn aufzuwecken.

„Hey, Alter! Hau ab und schlaf deinen Rausch woanders aus. Das hier ist mein Appartement.“

Doch der Kerl rührte sich nicht.

Der alte Mann trat daher stärker gegen die Schuhsohle dieses Penners.

Wieder nichts.

Dann ging er zum Oberkörper des Schlafenden und fuhr zurück. Augenblicklich verflüchtigte sich sein Rausch ein wenig.

Lebendig wirkte der Kerl nicht mehr. Er lag in einer Blutlache und sein Kopf war eine große, blutverschmierte Kugel, aus der nach wie vor Blut sickerte.

„Scheiße!“, entfuhr dem alten Mann.

Er wusste, dass er heute Nacht wohl nicht viel Ruhe haben würde.

Straßenmusik

Mai 2018

„How can you tell me, you are lonely”, sang die zierliche Straßensängerin und begleitete sich auf ihrer Gitarre.

‘Streets of London’ ging immer! Auch in einer Fußgängerzone in der Wiener Innenstadt zielte dieser Song direkt in die Herzen der Zuhörer.

Dora Bellis stand an diesem sonnigen Maitag auf der Kärntnerstraße und es wimmelte von hektisch eilenden Geschäftsleuten, Familien mit Kindern sowie posierenden und fotografierenden Touristen. Sie liebte es, dieses Treiben beobachten zu können und selbst nicht mehr Teil dieser Hektik zu sein.

Der geöffnete Gitarrenkoffer lag vor ihr und ihr unvergleichliches Timbre verströmte eine Melancholie, die viele Leute am Weiterhasten hinderte und vor ihr verharren ließ.

Es klimperte im Gitarrenkoffer.

Als der letzte Akkord verklang, applaudierten die Zuhörer. Männer, Frauen und Kinder klatschten ihr zu und sie verneigte sich vor der versammelten Menschenmenge. Es war ein ergreifendes Gefühl, vor Publikum singen und Menschen durch Musik berühren zu können.

Wieder.

„Sie singen richtig gut!“, sagte eine ältere Dame im feinen Kostüm, nachdem sie der jungen Sängerin einen Schein in den Gitarrenkoffer gelegt hatte. „Sie werden es einmal weit bringen, das sage ich Ihnen!“

„Danke!“, lächelte ihr Dora zu und entgegnete nichts.

Sie dachte daran, wie weit sie es tatsächlich bereits gebracht hatte.

‘Hells Angels’ war der Name der Rockgruppe, deren Leadsängerin sie einst gewesen war. Vor gar nicht so langer Zeit. Und doch lag das so weit zurück, dass es sich anfühlte, als wäre es in einem anderen Leben gewesen.

War es auch!

Damals trug sie ihr Haar knallrot und zwei Zentimeter kurz. Die zum Rockeroutfit passende Lederkluft hing inzwischen nur noch als Erinnerung in Doras Schrank. Ihre Augen hatte sie auf der Bühne mit dickem Eyeliner umrandet und die Lippen mit dunkelviolettem Lippenstift bemalt. Niemand würde Dora, die Straßensängerin, die hier in der Fußgängerzone sang, mit dieser Hardrockerin von damals in Verbindung bringen!

Eine Ähnlichkeit war nicht einmal zu erahnen!

Selbst diejenigen, die damals ihre Konzerte besucht hatten, hätten Dora nicht wiedererkannt.

Also: Heute nicht erkannt. So, wie sie soeben eine schnulzige Ballade gesungen hatte.

Diese Frau war eine andere gewesen.

Diese Zeit war vorbei.

Endgültig.

Heute trug Dora ihr brünettes Haar lang und es fiel wie ein Wasserfall über ihre Schultern. Kaum geschminkt, in Jeans und kariertem Holzfällerhemd sah sie aus wie eine Countrysängerin, oder einfach nur das Mädchen von nebenan.

An die Rockröhre, die sie einst gewesen war, erinnerte nicht einmal mehr ihre Stimme. Früher druckvoll, laut und durch regelmäßigen Nikotingenuss leicht krächzend, klang ihre Stimme, seit sie nicht mehr rauchte, samtiger und fast weich.

Durchaus passend zu den Liedern, die sie inzwischen sang. Wahrscheinlich hätte auch niemand der früheren Fans ihre heutige Stimme erkannt.

Ja, sie hatte sich verändert.

Sie hatte sich ja förmlich verändern und anpassen müssen. An ihr Schicksal, das so gnadenlos zugeschlagen hatte, und gleichzeitig doch so gnädig gewesen war.

Es hätte nämlich schlimmer kommen können.

Viel schlimmer!

Sie war demnach zufrieden und blickte hoffnungsvoll nach vorne.

Es hatte eben alles seine Zeit und ihre war jetzt die der treusorgenden und pflegenden Ehefrau, die bloß noch ab und zu und zu ihrem persönlichen Vergnügen als Straßenmusikerin auftrat.

Die Entwicklung, die sie in den vergangenen Jahren durchgemacht hatte, erkannte man nicht nur an ihrem Äußeren. Sie zog auch den Wechsel des Musikgenres, ihres Lebensstils, ja, sogar des Klanges ihrer Stimme mit sich.

Es war ruhig geworden in ihrem Leben. Und das strahlte Dora mit ihrer gesamten Persönlichkeit aus, während sie, in sich ruhend, den Applaus entgegennahm.

Ruhig.

Ein ruhiges Leben. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, wenn sie an das Jahr 2015 dachte.

München

April 2015

„Zugabe! Zugabe!“

Das Publikum schrie. Klatschte. Stampfte. Das Getöse wurde immer lauter. Dora und die Bandmitglieder, die verschwitzt backstage standen, sahen einander an.

Ludmilla, die gute Seele und gleichzeitig Doras Freundin, reichte dem Schlagzeuger, dem Bassisten und Dieter, dem Leadgitarristen, ein Handtuch. Doras Gesicht tupfte die zierliche Blondine selbst ab, damit ihre Schminke nicht verschmiert wurde.

Jeder wusste, dass sie noch einmal raus gingen.

Rausgehen mussten!

So eine Begeisterung war eine Aufforderung, die man nicht ignorieren konnte. Sie hatten bereits zwei Zugaben gegeben und das Publikum hatte noch nicht genug.

„Geht noch eine?“ fragte Dora und blickte in erster Linie Dieter an.

Er gefiel ihr heute gar nicht.

Und das, obwohl er ihr normalerweise gut gefiel.

Sehr gut sogar!

Sie und Dieter waren seit drei Jahren ein Paar und eine derart lange Beziehung zu führen, wollte in dieser Branche etwas heißen.

Dieter war Doras erste, wirklich große Liebe.

Es war für sie wie ein Blitzschlag gewesen, als er in die Band und in ihr Leben gestürmt war.

Diese verdammte Liebe auf den ersten Blick, hatte sie sich des Öfteren geärgert. Sie war ihm nämlich mit Haut und Haaren verfallen.

Was deshalb schmerzlich war, weil sie es mit ihm nicht immer leicht gehabt hatte.

Und bei jeder Krise hatte sie deutlich gespürt, dass der, der mehr liebte, der war, der auch mehr litt.

Bingo! Das bin ja dann ich!, war ihr immer klargewesen.

Sie war diejenige, die mehr geliebt und dadurch nicht mehr, sondern eigentlich fast immer gelitten hatte.

Während Dieter hemmungslos und freimütig immer getan hatte, wonach ihm gerade der Sinn gestanden hatte, hätte sie sich diese verdammte Liebe am liebsten aus dem Herzen reißen wollen.

Ohne Erfolg.

„Eine Leidenschaft ist nur eine Leidenschaft, wenn sie auch Leiden schafft, hat mir mein Mütterchen schon immer gesagt!“, hatte sie Ludmilla in ihrer so typisch lockeren Art stets zu trösten versucht.

„Ich weiß nicht, ob ich so viel Leidenschaft dann überhaupt möchte!“, hatte Dora dieser Ansicht jedoch nie viel abgewinnen können.

„Aber dafür spürst du, dass du lebst und Dieter tobt sich doch nur aus. Er ist halt ein Mann! Aber er liebt dich im Grunde seines Herzens und kommt immer zu dir zurück.“

„Würdest du das auch so sehen, wenn es dein fester Freund genauso täte?“

„Ich habe aus diesem Grund doch keinen festen Freund“, hatte Ludmilla geantwortet und ihre hüftlangen blonden Haare nach hinten geworfen und sie mit ihren grünen Augen angestrahlt.

„Aber wünscht du dir nicht auch einen ...?“

„Nein!“, hatte Ludmilla sie mit der ihr eigenen Freizügigkeit unterbrochen und mit ihrem so unverkennbaren, russischen Akzent ihre Lebenseinstellung gepriesen. „Ich will das Leben genießen und solange ich jung bin, möchte ich Spaß haben und mich nicht kränken wegen eines Mannes. Mach es doch auch so! Du bist so eine hübsche Frau. Alle Männer kriegen Stielaugen, wenn sie dich sehen. Merkst du das denn gar nicht? Anstatt dich zu kränken, solltest du es genauso machen, wie Dieter!“

„Aber das kann ich nicht. Und ich will es auch gar nicht können!“, hatte Dora geantwortet und damit Ludmilla wieder die Möglichkeit gegeben, sie als Spießerin zu sehen.

„Bist du dir wirklich sicher, dass du eine Rockerin bist? Mir kommst du eher wie eine alte Oma vor!“, hatte sie Ludmilla stets geneckt.

Dora wusste, dass sie anders war als ihre Bandkollegen. Aber diesem betont freizügigen Leben konnte sie einfach nichts abgewinnen.

Vielleicht wenn sie, wie die Musiker ihrer Band, ebenfalls allerhand bewusstseinsbeeinträchtigende Substanzen inhalieren würde?

Also, wie sie es früher eigentlich auch getan hatte. Als sie noch alles Hochprozentige geschluckt hatte, das ihr in die Finger gekommen war. Damals war auch sie locker gewesen.

Aber deshalb werde ich jetzt ganz sicher nicht mehr mit dem Saufen beginnen, dachte sie und wusste, dass sie die Sticheleien ihrer Kollegen und das süffisante Kopfschütteln Ludmillas würde einfach aushalten müssen. Genauso wie Dieters freizügige Auslegung von Treue.

Sie musste es deshalb aushalten, weil die Bandmitglieder, ihre Musikerkollegen und Ludmilla ihre Familie waren.

Die Einzige, die sie hatte.

Punkt. Aus.

Und daher hatte sie auch Dieter stets verziehen.

Alles!

Und da hatte es einiges gegeben!

So viele Groupies hatte sie aus seiner Garderobe kommen sehen. Doch wenn er sie mit seinen tiefgründigen braunen Augen angelächelt und in seine Arme gezogen hatte, war sie einfach nur glücklich gewesen: Weil er die Nacht mit ihr verbracht hatte.

Und das hatte er immer. Die Nächte gehörten ihr.

Sie war sein Hafen gewesen. Und er ihrer.

Dieter war eine faszinierende und aufregende Erscheinung. Sie verschlang ihn noch immer mit ihren Augen. Wenn er mit seinem lässigen Gang auf sie zukam, spürte sie hunderte Schmetterlinge in ihrem Bauch flattern. Heute genauso wie am ersten Tag. Das war einfach so.

Heute allerdings war seine Lässigkeit einer stumpfen Schwerfälligkeit gewichen. Die sechs Stufen zur Bühne war er nicht, wie sonst, gelaufen, sondern hatte nach jeder zweiten Stufe pausiert und sich am Geländer angeklammert.

„Ist alles in Ordnung?“, hatte sie ihn alarmiert gefragt.

„Alles cool“, war seine Antwort gewesen, doch Dora hatte den Schweiß auf seiner Stirn erkannt. Und auch seinen schweren Atem.

Er war erschöpft und völlig geschwächt.

So wie sie alle eigentlich. Niemand war mehr so frisch und energiegeladen wie zu Beginn der Tournee.

Doch Dieter war es mehr!

Wesentlich mehr! Und vor allem: Anders! Er wirkte krank, nicht bloß entkräftet.

Dora hatte jedoch keine Zeit mehr gehabt, sich um seinen Zustand Sorgen zu machen, denn die Bühnenarbeiter hatten bereits den Vorhang zur Seite geschoben und die Band war im gleichen Augenblick unter lautem Aufjaulen des Publikums auf die Bretter gestoben.

Das war vor zwei Stunden gewesen.

Nun war das Konzert zu Ende.

Zwei Zugaben waren gespielt und das Publikum brüllte nach der dritten.

Dieter schien mit sich zu kämpfen. Er wusste, dass es an ihm hing, ob sie noch einmal rausgingen.

Eine Gruppe ist immer so stark wie sein schwächstes Glied, wusste er. An jenem Tag war er es. Und das behagte ihm nicht.

„Wir müssen nicht!“, sagte zudem Dora und wollte ihm die Entscheidung abnehmen.

Ein Weichei war er aber noch nie gewesen! Und er war es auch jetzt nicht! In seinem Gesicht blitzte wilder Kampfgeist auf.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, warf Ludmilla das Handtuch zu und lief auf die Bühne. Als Erster. Damit ihn niemand aufhalten konnte.

Kaum auf der Bühne, riss er die Arme hoch, zeigte dem Publikum das Victory-Zeichen und griff nach seiner Gitarre.

Die anderen Bandmitglieder kamen ihm hinterhergelaufen.

Der Schlagzeuger nahm inmitten seiner Drums und Hi-Hats Platz, der Bassist und auch Dora schlangen sich ihre Gitarren um.

Dora lief zum Mikrofonständer und fragte das Publikum: „Ihr wollt noch mehr?“

„Ja!“, begann die Menge zu rufen.

Der Jubel wurde um einige Dezibel lauter. Dora blickte zum Schlagzeuger und nickte. Er legte los.

‘Highway to hell’ coverten sie meistens bei ihrer dritten Zugabe, so auch dieses Mal.

Dora brachte mit ihrem Gesang und ihrer Bühnenshow die Menge zum Toben. Die Masse grölte den Refrain mit und die Scheinwerfer flitzten über die Köpfe und Hände der Menschenherde, die zu Doras Füßen ebenso rockte wie sie und ihre Bandkollegen auf der Bühne.

Wieder ausverkauft!

Was für ein berauschendes Gefühl!

Beeindruckt und wissend, dass es der letzte Abend der Tournee war, sog sie dieses unglaubliche Gefühl in sich auf, vor so vielen Menschen spielen und eine derartige Begeisterung teilen zu können.

In Doras Adern sprudelte das pure Adrenalin. Sie ging zwei Schritte zurück und ließ den Leadgitarristen nach vorne.

Dieter trat vor und spielte sein Solo.

Das weibliche Publikum schrie auf, als er an den Bühnenrand trat. Sein schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn, seine schlanken Finger flogen flink über die Saiten. Er spielte mit freiem Oberkörper und Dora nahm seine Schwäche in diesem Moment fast nicht mehr wahr.

Fehlerlos spielte er seinen anspruchsvollen Part und seine vermehrte Schweißproduktion konnte genauso gut von den Scheinwerfern stammen.

Jedem auf der Bühne rann das Wasser in Strömen in den Kragen, den gesamten Körper runter, bis in die Schuhe.

Auch Dora. Sie verlor bei jedem Auftritt einige Pfund an Körpergewicht.

Sie stand schräg hinter Dieter und beobachtete das Muskelspiel seiner Bizepse, war, wie seine kreischenden weiblichen Fans, fasziniert von seiner männlichen Ausstrahlung.

Bei seinem letzten Akkord merkte Dora, wie seine Hand zu zittern begann.

Er wankte einen Schritt zurück und das Plektron fiel ihm aus der Hand. Dem Publikum fiel es allerdings nicht auf, weil Dora sofort nach vorne gesprungen war.

Sie stellte sich vor Dieter, riss den Mikrofonständer an sich und während sie weitersang, lief sie auf die andere Seite der Bühne, sodass ihr die Scheinwerfer folgten.

Die Ecke, in die Dieter zurückgewankt und soeben einen Schwächeanfall erlitten hatte, war somit unbeleuchtet.

Dora hatte, trotz seiner perfekten Darbietung bereits während seines Solos gespürt, dass er nicht so energievoll spielte, wie sonst. Sie kannte ihn nach so vielen Jahren wie ihre Westentasche und war erleichtert, dass der heutige Auftritt der letzte der großen Deutschlandtour war.

So konnte es mit Dieter doch nicht weitergehen!

Er brauchte dringend ärztliche Hilfe. Sie würde bereits am ersten Tag daheim einen Termin bei ihrem Internisten für Dieter vereinbaren. Wahrscheinlich waren die vergangenen Wochen zu viel für ihn gewesen.

Diese Tournee war in der Tat eine außerordentlich aufreibende Zeit gewesen.

Erschöpfend, stressig, aber auch sehr erfolgreich.

Ja! Dieses mehrwöchige Gastspiel war ein voller Triumpf gewesen.

Der Erfolg forderte allerdings seinen Tribut.

Für jeden von ihnen.

Alle zwei bis drei Tage in einer anderen großen Stadt aufzutreten, war Schwerstarbeit.

In allen großen Städten waren sie ausverkauft gewesen und das Publikum hatte demnach vollen, körperlichen Einsatz verdient. Jeder in der Band gab daher sein Bestes und Letztes.

Da gab es kein Kränkeln oder mal einen schlechten Tag haben. Wer sich nicht wohl fühlte, wurde vom mitreisenden Arzt fitgespritzt.

The show must go on!

Und sie haben durchgezogen: Berlin, Hamburg, Stuttgart, Hannover, Mannheim, Köln, Frankfurt. Dora hatte irgendwann den Überblick verloren, wo sie überall aufgetreten waren und wie viele Städte sie bespielt hatten.

Dafür war aber auch der Tour-Manager zuständig. Solange er die Übersicht behielt, war alles gut.

Und es war alles gut.

Die Organisation hatte hervorragend geklappt. Die Hotelbetten und Bühnen waren perfekt gewesen und glichen sich in jeder Stadt.

Stadtbesichtigungen machen oder einkaufen gehen? Dafür fehlte die Zeit! Zum Bummeln, Relaxen oder Abschalten waren sie seit Monaten nicht mehr gekommen.

Und das zehrte an jedem von ihnen.

Der heutige Gig in München war der letzte und sowohl die Bandmitglieder als auch Dora hatten das Ende der Tournee inzwischen herbeigesehnt.

Dora war ausgebrannt. Völlig leer.

Nicht nur Dieter.

Doch um ihn hatte sie sich seit den letzten beiden Konzerten zusätzlich auch noch Sorgen machen müssen. Er hatte merkbar an Energie verloren und eigentlich schon seit längerem immer wieder an Kurzatmigkeit gelitten.

Entgegen seiner Art hatte er sich nach den letzten beiden Konzerten, anstatt danach zu feiern, sofort niedergelegt.

Sie hatte die Alarmsignale besorgt wahrgenommen, auch wenn Dieter seinen Zustand versucht hatte, kleinzureden. Er wollte über seine Schwäche nicht sprechen und hatte sich sogar geweigert, den mitreisenden Arzt aufzusuchen.

Gut, das werde ich ab morgen selbst in die Hand nehmen, wusste Dora.

Dieters: „Alles cool!“, konnte sie nicht länger zur Kenntnis nehmen. Seine Schwäche musste abgeklärt werden.

Obwohl sie ihn teilweise sogar verstand. Während der Tournee war es tatsächlich kaum möglich, aus Krankheitsgründen auszusteigen.

Aufgeben gab es einfach nicht.

Selbst mit dem Kopf unter dem Arm hätte der Tour-Manager von Dieter verlangt, dass er noch spielte.

Er war ein toller Gitarrist und es wäre unmöglich gewesen, einen Ersatz aufzutreiben, der nicht nur Dieters Können besaß, sondern auch noch von jetzt auf gleich bereitstand.

Außerdem war Dieter ehrgeizig und immer mit Herz und Seele bei der Sache.

So wie vorhin.

Das Solo, das er gespielt hatte, war beeindruckend gewesen.

Bis ihm eben das Plektron aus der Hand gefallen war.

Beim Schlussapplaus war er nicht mehr auf der Bühne.

Dora hatte aus dem Augenwinkel mitbekommen, dass aufmerksame Bühnenarbeiter Dieter hektisch nach hinten in den Backstage-Bereich gebracht hatten.

Sie war erleichtert, dass er versorgt wurde, gleichzeitig aber auch besorgt.

Gemerkt hatte ihr Publikum davon nichts.

Dafür war sie zu sehr Profi.

Auf der Bühne wirkte es, als wäre alles in Ordnung. Sie sang energievoll zu Ende und bedankte sich überschwänglich beim Publikum.

„Ich danke euch, liebe Münchner! Ihr wart ein großartiges Publikum!“, rief sie zum Abschied und legte bei der abschließenden Verneigung ihre Hand auf ihr Herz.

Um eine Minute später backstage festzustellen, dass das von Dieter ausgesetzt hatte.

Als sie von der Bühne kam, lag Dieter, umringt von Ärzten und medizinischem Personal, im Vorraum und wurde wiederbelebt.

Ihr blieb vor Schreck ebenfalls fast das Herz stehen.

Was danach folgte, war so schrecklich, dass sie sich im Detail gar nicht mehr erinnern konnte. Den Abtransport ins Krankenhaus beispielsweise hatte sie völlig ausgeblendet.

Sie stand zu sehr unter Schock.

Lediglich das Jahr danach war wieder in ihrer Erinnerung vorhanden, wenn auch verschwommen.

Untersuchungen.

Krankenhausaufenthalte.

Befundbesprechungen. Ein Ergebnis war schlimmer als das nächste gewesen, bis es endlich Klarheit gegeben hatte.

Dieter würde sterben, wenn er kein passendes Spenderherz bekäme.

Danach hatte das lange, zermürbende Warten begonnen, während Dieter immer schwächer geworden war. Von seinem muskulösen Körper und seinem strahlenden Lächeln war nur mehr ein hohlwangiger, ausgemergelter Mann übriggeblieben, der lediglich mit einer Sauerstoffbrille atmen konnte.

„Willst du mich heiraten?“, hatte Dieter eines Tages gefragt, dem dieses Wort früher nie über die Lippen gekommen wäre.

Im Spital war mit zwei Krankenschwestern als Trauzeugen geheiratet worden. Mit Kamillentee in Sektgläsern war auf das junge Glück, von dem niemand gewusst hatte, ob es ein langes werden würde, angestoßen worden.

Dora hatte ihren Namen behalten, doch mehr war von Dora Bellis nicht geblieben.

Nur ein Name.

Die Rocksängerin gab es nicht mehr. Doch das war für sie verkraftbar.

Aber auch die Musikerin gab es nicht mehr. Und das war unerträglich schmerzhaft.

Die Eidechse 1998-2002

Musik war schon als Kind alles für Dora gewesen.

Ihr Anker und ihre Heimat, denn in ihrem Elternhaus bekam sie nichts davon.

Doras Vater war ein alkoholkranker Despot, der leider nicht, wie die meisten Herren dieser durstigen Spezies, in Gasthäusern herumhing.

Wie froh wäre Dora darüber gewesen, wenn er erst spät in der Nacht heimgekommen wäre. Sie hätte dann bereits geschlafen und vielleicht nicht so viel von seinem Gepolter und seinen Aggressionen mitbekommen.

Doch nein, ihr Herr Papa schüttete daheim regelmäßig so viel in sich hinein, bis er kaum noch gehen konnte. Danach prügelte er jeden nieder, der sich ihm in den Weg stellte.

Situationsbezogen waren das seine kleine Tochter und Gerda, seine Ehefrau. Doras Mutter bekam aber auch dann mit ihrem Gemahl Stress, wenn das vorhandene Schnapslager nicht gut genug gefüllt war.

Oder aber, wenn er den Nachschub nicht gleich fand.

Oder aber, ihn zwar fand, beim Zugreifen mit den zitternden Fingern aber sein Gesöff fallen ließ.

Oder aber im Suff über seine eigenen Beine stolperte. Oder aber ... oder aber ...

Es gab unzählige ‘Oder aber’ und selbstverständlich waren immer alle anderen schuld. An allem!

Also die, die sich im Haushalt mit ihm befanden. Und rechtmachen konnte man dem Herrn Papa nie etwas. Nie!

Obwohl sich sowohl Dora als auch ihre Mutter sehr bemüht hatten. Dora war schon als kleines Mädchen darauf trainiert, wie ein kleines, leises Mäuschen in der Wohnung herumzuhuschen.

Nur nicht dem Vater in die Nähe kommen!

Still sein!

Doras zierliche, kleine Mutter hatte indes Flaschen in rauen Mengen herangeschleppt. Vaters ansteigender Konsum machte es allerdings nicht leicht, das Lager stets ausreichend gefüllt zu halten.

Gerda Bellis war eine still duldende, schwache Frau.

Sie wurde mit den Jahren immer durchsichtiger und unauffälliger. Irgendwann lief sie bloß noch wie ein ausgemergeltes Gespenst herum und versuchte ihren Gemahl nicht zu reizen. Eine andere Lebensaufgabe gab es in ihrem Leben nicht mehr.

Verhalte dich still.

Halte deine Tochter ruhig! Vielleicht fallen die Prügel dann nicht so heftig aus.

Dora hingegen hatte irgendwann in ihrer kindlichen Kreativität eine Strategie entwickelt, um zumindest hin und wieder den fliegenden Fäusten ihres torkelnden Vaters zu entkommen.

Sie hüpfte einfach zur Seite, wenn er nach ihr dreschen wollte. Das clevere Mädchen hatte bald erkannt, dass es um seinen Gleichgewichtssinn nicht gut bestellt war, wenn er einen bestimmten Pegel hatte.

Und der war ja schon ziemlich bald erreicht!

Wenn er demnach zum Schlag ausholte, durch Doras eleganten Seitwärtssprung allerdings ins Leere schlug, brachte ihn das aus seiner Umlaufbahn, weil die bremsende Wirkung des Gesichtes fehlte.

Reines Glück war, wenn er sich nach so einem Blindschlag noch an einem Türrahmen oder Tisch festkrallen konnte.

Doch einmal war ihm dieses Glück nicht hold gewesen.

An jenem Tag knallte er ungebremst mit dem Gesicht auf den Boden. Er landete zwar am flauschigen Teppich und die zusätzliche Schwellung und Rötung in seinem Gesicht fiel kaum auf, denn seine Nase war schon zuvor rot und vom Saufen aufgeschwollen gewesen. Dora hatte es demnach auch nicht sonderlich leidgetan.

Eigentlich gar nicht!

Im Gegenteil! Als er auf sein rotgeflecktes Gesicht und die knollige Säufernase gekracht und regungslos wie ein Kuhfladen am Boden liegen geblieben war, hätte sie beinahe losgebrüllt. Der Papa hatte einfach zu lächerlich ausgesehen.

Und es geschah ihm außerdem auch recht! Sie hatte damals absolut kein schlechtes Gewissen gehabt.

In ihr hatte sich stattdessen ein anderes, ausgesprochen erhebendes Gefühl breitgemacht: Genugtuung!

Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich in jenem Moment ein wenig mächtig gefühlt. Dass sie diesem Tyrannen mit ihren acht Jahren Paroli bieten hatte können, linderte ihre kindliche Hilflosigkeit ein wenig.

Doch ihr Lachen hatte sie trotzdem erfolgreich unterdrückt. Ein offensichtlicher Jubel wäre ihrer Gesundheit nicht zuträglich gewesen. Das hatte sie gewusst. Außerdem: So mutig und unerschrocken war sie beileibe nicht!

Stattdessen war sie in ihr Zimmer gelaufen und hatte die Tür zugesperrt.

Danach hatte es allerdings ihre Mutter mit ihm zu tun bekommen und das hatte ihr dann schon leidgetan.

Sehr sogar.

Aber warum hatte sie sich nicht auch gewehrt? Mutter brauchte sich doch bloß ebenfalls auf die Hinterbeine zu stellen!

Was die kleine Tochter zuwege brachte, musste die erwachsene Mutter doch auch schaffen! Sie hätte sich aufgrund ihrer Körpergröße und Erwachsenenkraft sogar noch viel leichter wehren können, war Dora überzeugt gewesen.

Vater hatte doch bereits eine so weichgesoffene Birne und war allein kaum noch lebensfähig. Dora konnte daher einfach nicht verstehen, dass ein dermaßen minderbemittelter Mensch sein gesamtes Umfeld tyrannisieren konnte.

Ja, so traurig es war, aber derart geringschätzig waren Doras Gedanken schon als 8-Jährige gewesen, wenn sie an ihren Vater gedacht hatte.

Dabei war das kleine Mädchen keinesfalls bösartig. Sie war lediglich klug und ihr Geistesgut war einzig und allein das Resultat ihrer Erfahrungen.

Vater war für sie keine Respektsperson.

Nie gewesen!

Seit sie denken konnte, hatte er getrunken. Er hatte schon als Jugendlicher begonnen und nie aufgehört.

Für Dora war das Wort ‘Vater’, gleichbedeutend mit ‘Jemand-vor-dem-man-Angst-haben-muss’.

Dass es liebevolle Väter gab, hatte sie gar nicht gewusst! Bis sie die ersten kennengelernt hatte.

In der Schule.

Bei ihren Mitschülerinnen. Sie war überrascht und verwundert, wie liebenswürdig und fürsorglich Väter sein konnten.

Also, die anderen!

Diese Beobachtung machte sie nachdenklich und immer kritischer hinterfragte sie Mutters Duldsamkeit.

Dadurch machte sie den Vater doch erst stark! Was bliebe ihr erspart, wenn Mutter sich nicht alles gefallen ließe!

Was bliebe Mutter selbst erspart, wenn sie endlich handeln würde! Immerhin konnte Vater nur durch Mutters Stillschweigen und Dulden weitersaufen und weiterprügeln!

Doch, wenn sie nicht mehr mitspielte?

Für Dora war klar, dass es nur eine Konsequenz gab: Weg von ihm!

Mutter musste ihn verlassen!

Das war klar!

Also: Dora war das klar!

Ja, ihr Vater würde mit Sicherheit unter die Räder kommen.

Doras Mitleid hätte sich aber diesbezüglich sehr in Grenzen gehalten. Sie erkannte in ihrer kindlichen, von schlechten Erfahrungen geformten Sichtweise, dass er es doch gar nicht wert war, dass man sich um ihn sorgte.

In der Schule half sie jedem Mitschüler und jeder Kollegin. Bei ihrem Vater hatte sie diesen Mutter-Teresa-Gedanken nicht.

Er hatte doch in seinem ganzen Leben nichts bewerkstelligt oder getan, das ihn als wertvolles oder auch nur einigermaßen nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft auszeichnen würde.

Nach einer gerade noch geschafften Installateur-Lehre hatte er als Klempner gearbeitet. Seine Kollegen begannen ihn aufgrund seiner Trinkerei und damit verbundenen Streitsucht bald zu meiden, wodurch er noch mehr soff.

Private Freunde hatte er irgendwann auch keine mehr. Deshalb becherte er auch daheim und nicht mehr im Gasthaus. Nachdem er eines Tages nach einer Wirtshausrauferei mit einem ausgeschlagenen Vorderzahn heimgewankt war, hatte er die Gesellschaft anderer Männer gemieden.

Zu stark!

Gottlob gab es Schwächere in seinem Leben.

Und so lange Doras Mutter ihr Gesicht erwartungsvoll vor seine Faust hielt, oder Dora doch nicht rasch genug zur Seite hüpfen konnte, würde er auch weiter hinschlagen.

Und das tat er auch!

Warum Doras Mutter sich das alles aber so widerspruchslos gefallen ließ, hatte Dora einfach nie verstehen können.

Mutter konnte doch gerade gehen! Im Gegensatz zu Vater.

Sie konnte auch denken! Im Gegensatz zu ihm.

Warum tat sie es dann nicht?

Warum dachte sie nicht nach und ging einfach weg von ihm?

Verantwortungsgefühl? Anerzogene oder erworbene Duldsamkeit? Angst? Oder auch nur das Gefühl, dass man den Gemahl nicht im Stich ließ?

Was ihre Mutter in ihrer Märtyrerrolle verharren ließ, konnte Dora demnach als Kind überhaupt nicht verstehen.

Was das kleine Mädchen aber einfach noch nicht wissen konnte: Für Veränderung brauchte es Mut und ihrer Mutter fehlte dieses Quäntchen Courage, das sie gebraucht hätte, um ihr Leben zu ändern.

Im gewohnten Elend zu bleiben fiel ihr leichter, als ihre Not zu beenden.

Also blieb sie.

Duldsam, still und empfindungslos.

Dora hörte ihre Mutter nicht einmal mehr schreien, wenn sie geschlagen wurde. Offenbar hatte sie einen unsichtbaren, undurchdringlichen Schutzschild über ihren Körper und ihre Seele gestülpt.

Gerda Bellis schien irgendwann alle Gefühle aus ihrem Leben verbannt zu haben. Die Härte, die sie sich zulegen hatte müssen, um ihr Leben überhaupt aushalten zu können, hatte sie unempfindlich gemacht.

Und kalt!

Der Schutzschild wirkte hundertprozentig.

Er ließ keine Gefühle mehr von außen nach innen, aber auch nicht von innen nach außen strömen.

Diese Gefühlskälte spürte allerdings in schmerzhafter Weise ihre Tochter, die auf mütterliche Wärme, Liebe oder Gefühle gewartet hätte.

Nicht nur gewartet.

Diese auch gebraucht hätte! Doch Mutters Panzer war dicht. Nichts kam mehr durch.

Kein Schmerz, aber auch keine Freude.

Kein Kummer, aber auch keine Liebe.

Nichts! Absolut dicht!

Wie konnte ein kleines Mädchen so etwas aber verstehen? Ihr kleines Kinderherz lechzte nach Liebe und es war auch noch so voll davon.

Dora liebte ihre Mami und hatte es demnach nie verstehen können, warum ihre Mutter nicht einmal, nicht ein einziges Mal, zu ihr so gewesen war, wie die anderen, liebevollen Mamis zu ihren Kindern waren.

Die stolzen und behütenden Mütter ihrer Schulkolleginnen, die sich vor der Schule mit Küsschen und Umarmungen von ihren Kindern verabschiedeten.

Dora wusste gar nicht, wie sich das anfühlte. Sie wusste nicht einmal, dass die Arme ihrer Mutter eine andere Funktion hatten als die, um Vaters Schnapsflaschen heimzuschleppen.

Durch Zufall hatte Dora eines Tages mitbekommen, dass sie ein sogenannter ‘Unfall’ war.

Sie war damals am Wohnzimmer vorbeigegangen, und hatte gehört, wie Vater Mutter angeschrien hatte.

„Wenn du die Pille nicht vergessen hättest, gäbe es diesen Quälgeist nicht!“, hatte er gelallt. „Halte sie mir jetzt wenigstens vom Leib. Dieser Balg nervt!“

Dementsprechend ‘geliebt’ hatte sie sich in ihrem Elternhaus auch immer gefühlt.

Die Warmherzigkeit ihrer Mutter hatte immer schon in etwa die Wärmeleistung eines Tiefkühlschrankes gehabt.

Und ihr Beschützerinstinkt war auch nicht gerade stark ausgeprägt. Die Mütter der anderen Kinder kamen schon erbost in die Schule, wenn ihren Kindern bloß ein Bleistift stibitzt wurde.

Doras Mutter war nicht einmal gekommen, als sie einmal ein größerer Junge verprügelt hatte. Warum auch? Der Junge konnte doch gar nicht so fest zuschlagen wie Doras Vater.

Und das stimmte sogar.

Wie oft aber hatte Dora mit flehenden Blicken auf Unterstützung durch ihre Mutter gehofft. Doch ihr Hoffen blieb stets unbemerkt.

„Mama, warum gehen wir nicht weg?“, hatte Dora ihre Mutter irgendwann dann doch gefragt.

„Das geht nicht! Frage nicht so viel! Räume lieber dein Zimmer auf!“

„Aber Mama, das Zimmer ist aufgeräumt. Bitte, sage mir, warum das nicht geht? Vielleicht könnten wir ja zu Oma ziehen! Ich habe so große Angst. Bitte, ich möchte so gerne, dass wir von ihm weggehen!“ Doch Doras Mutter weigerte sich, mit ihrer Tochter zu reden.

Die Sorge, dass ihr Schutzschild durch Aussprechen einer unangenehmen Wahrheit einen Riss bekommen könnte, war wohl zu groß.

„Und ich habe gesagt, dass das nicht geht. Also sei still!“, war Mutters Antwort gewesen. Und: „Du solltest froh sein, dass du kein Scheidungskind bist!“

„Aber ihr seid doch gar nicht verheiratet“, wusste Dora zu dem Zeitpunkt schon, weil sie doch den Familiennamen ihrer Mutter und Großmutter trug.

„Außerdem wäre ich viel lieber ein Scheidungskind, als ständig windelweich geprügelt zu werden!“, hatte Dora damals geantwortet.

Und es sofort bereuen müssen.

So schnell hatte sie seinerzeit nämlich gar nicht schauen können, hatte sie für diese freche Antwort nun auch von ihrer Mutter eine Ohrfeige abgefangen.

Dabei hatte sie doch nur die Wahrheit gesagt!

Ihre gesamte Kindheit lang war es daher Doras Bestreben gewesen, ein artiges Kind zu sein, schon deshalb, weil sie nicht riskieren wollte, womöglich gar einmal gerechtfertigt verprügelt zu werden.

Wie ein geschlagener Hund hatte Dora sich bemüht, die Liebe ihrer Eltern durch besonders devotes Verhalten zu bekommen.

Ein Vorhaben, das zum Scheitern verurteilt war. Doch die kleine Dora suchte die Fehler weiterhin bei sich. Immerhin hatten andere Kinder doch liebe Eltern. Wahrscheinlich machte sie etwas falsch!

Vielleicht war sie nicht brav genug?

Vielleicht war sie nicht lieb genug?

Vielleicht war sie nicht ordentlich genug?

Daheim war sie daher niemals frech, außer dieses eine Mal, als sie ihrer Mutter gesagt hatte, dass sie nicht gerne verprügelt wurde.

Dora hatte als Kind einmal in einem Tierfilm gesehen, wie eine Eisbärmama ihr Junges verstoßen hatte. Das Baby hatte kläglich nach der Mutter geschrien, wollte ihr nachkriechen. Doch es war zu klein, um ihrer Mutter folgen zu können und die Mutter war einfach weggegangen. Das Junge starb.

Dora hatte damals Rotz und Wasser geheult, weil der Sprecher dieser Dokumentation erklärt hatte, dass Muttertiere ihre Babys meist dann verstoßen, wenn das Junge krank sei. In der Tierwelt galt das Gesetz des Stärkeren und ein krankes Tier großzuziehen, lohnte den Aufwand offenbar nicht.

Sofort hatte sich Dora gefragt: Bin ich auch krank?

Doch dann war ihr klargeworden, dass ihre Mutter sie doch nicht verstoßen hatte. Zumindest nicht im räumlichen Sinn.

Vielleicht aber auch nur: Noch nicht!

Das Bild des kreischenden Eisbärenbabys ging ihr nicht aus dem Kopf und Dora strengte sich daher einfach noch mehr an.

Sie hatte sich regelrecht verbogen, um nur ja von der Mutter nicht wie das Eisbärenbaby verstoßen zu werden.

Dora hatte sich aber auch total verbiegen müssen, denn im Grunde ihres Wesens war sie leider schlampig. Und im Grunde ihres Wesens war sie auch ein wenig keck.

Und im Grunde ihres Wesens war sie auch überhaupt nicht devot. Das wusste sie deshalb so genau, weil ihr dieses Kriechen schon als Kind mächtig auf die Nerven gegangen war.

Aber gut, wer kroch schon gern? Ihr fiel eigentlich nur eine Eidechse ein, die als Kriechtier doch gar keine andere Möglichkeit hatte.

Vielleicht hätte aber sogar eine Echse lieber längere Beine und würde gerne wie eine Gazelle hüpfen, hinterfragte die wissensdurstige Dora sogar diese Tatsache.

Dora hatte längere Beine als eine Eidechse und damit wäre sie tatsächlich viel lieber fröhlich in der Wohnung herumgehüpft.

Doch sie tat es nicht! Sie wagte es nicht!

Trotzdem war ihre Suche nach mütterlicher Liebe, Geborgenheit oder Anerkennung ein einziger Misserfolg.

Bis sie irgendwann, als Jugendliche, auf nichts mehr gewartet und ihr Verhalten als sinnloses Bemühen erkannt hatte.

Sie hatte stattdessen erfasst, dass sie es trotzdem schlechter hätte erwischen können. Wenn sie nämlich völlig lieblos aufgewachsen wäre. Doch das war nicht so!

Es gab Liebe in ihrem Leben! Sie war doch nicht ganz allein! Je mehr sie sich dieser Liebe bewusstwurde, desto dankbar war sie dafür: Für die Liebe ihrer Großmutter.

Volksbank

2001

Der großgewachsene Bursche mit den langen Haaren zog an seiner Zigarette.

„Was ist jetzt? Hast du schon einen Fahrer?“, fragte ihn sein Kumpel und entfernte mit seinem Klappmesser den Dreck unter seinen Fingernägeln.

„Noch nicht!“

„Was heißt: Noch nicht?“, schrie der Ältere und hatte sein Messer plötzlich anders in der Hand. Die scharfe Klinge kitzelte das Kinn des Langhaarigen.

„Glaubst du, die Bank sperrt für uns am Wochenende auf? Was ist denn mit deinem schwindeligen Bruder? Hat der nicht erst seinen Führerschein gemacht?“

„Ja, vor einem Monat!“

„Na, dann soll er uns fahren!“

„Ach, der ist doch viel zu dämlich!“

„Er muss ja auch keine Mathematiknachhilfestunden geben, sondern braucht bloß das Fluchtauto fahren. Sag ihm, dass wir ihn brauchen! Morgen soll er um 9 Uhr vor der Volksbank stehen!“

9 Uhr.

Volksbank.

Das Auto stand da.

Der Bruder nicht.

Das wird er mir büßen, schwor sich der Bruder. Das werde ich ihm heimzahlen!

Rettungsanker

1998-2002

Rosa Bellis war die Liebe in Person. Die weißhaarige, kultivierte Dame umarmte Dora, wenn sie kam und wenn sie ging und sehr oft auch dazwischen.

Dora konnte sich ihren Zärtlichkeiten gar nicht entziehen und meistens wollte sie das auch gar nicht.

Auf Großmutters Schoß hatte die kleine Dora Häkeln und Stricken gelernt. Oma war mit ihr an den Wochenenden in den Zoo und ins Kino gegangen.

Bei ihr hatte Dora Kind sein können. Hier durfte sie lebhaft und frech sein und bekam trotzdem keine übergebraten. Omi lächelte immer nur verständnisvoll, war sogar selbst manchmal keck. Und fröhlich! Was war Oma doch für eine humorvolle Person.

Als kleines Mädchen hatte Dora jedes Wochenende bei ihrer Großmutter übernachten dürfen. Oma hatte kein eigenes Bett für sie, daher schlief sie mit ihr im Doppelbett, das nach Großvaters Tod sowieso nur mehr zur Hälfte belegt war. Sich in Omas liebevolle, weiche Arme zu kuscheln, schenkte dem kleinen Mädchen so viel Behaglichkeit, Nestwärme und Geborgenheit.

Vor dem Zubettgehen hatte Oma ihre Zähne stets in ein Glas Wasser versenkt in der bereits eine Kukident-Tablette sprudelte.

„Kann ich meine Zähne auch rausnehmen?“, hatte Dora eines Tages gefragt.

„Aber natürlich!“, neckte sie ihre Oma und sah Dora lachend zu, wie sie versuchte, ihr Gebiss ebenfalls aus der Verankerung ziehen zu können.

„Ich schaffe es nicht!“, ärgerte sich die Kleine und hob verständnislos ihre Schultern.

„Na, dann probiere es einfach morgen weiter!“, hatte Oma nach Doras erfolglosen Versuchen schallend gelacht und die Bettdecke aufgeschlagen.

„So, jetzt ab ins warme Bettchen. Welche Geschichte möchtest du hören?“, fragte sie und drehte das Licht ab. Oma konnte alle Märchen auswendig.

„Schneewittchen!“, rief Dora. „Es ist so schön, wie gern die Zwerge Schneewittchen haben. Sie hat nämlich auch so eine böse Mutter, aber so viele liebe Freunde“, schien Dora eine Gemeinsamkeit zwischen ihr und Schneewittchen auszumachen.

Ihrer Großmutter schnitten diese Worte ins Herz, weil sie wusste, was das Mädchen meinte.

Sie litt mit ihrer kleinen Enkeltochter und konnte ihr doch nicht helfen.

Sie hatte einmal, ein einziges Mal, Doras Vater Einhalt bieten wollen, als ihm in ihrer Gegenwart die Hand ausgekommen war. Rosa war damals entsetzt gewesen und hatte ihren Schwiegersohn angeherrscht, dass er seine kleine Tochter doch nicht so grob schlagen könne.

Daraufhin hatte er sie des Hauses verwiesen und Gerda, ihre eigene Tochter, hatte ihre Mutter gebeten, zu gehen.

Rosa hatte danach mehrmals versucht, ihrer Tochter telefonisch ins Gewissen zu reden. Doch sie kam nicht mehr an sie ran.

Dabei hatte Doras Großmutter gar nicht gewusst, wie heftig und regelmäßig ihr Schwiegersohn seine Frau und Tochter in den eigenen Wänden tatsächlich verprügelt hatte.

Wenn Oma blaue Flecken an Doras Körper entdeckte, erzählte ihre Enkelin stets, dass sie sich gestoßen hatte oder gefallen war.

„Halte bloß deinen Mund und erzähle Oma nur ja keine Schauergeschichten von daheim, sonst lasse ich dich nicht mehr zu Großmutter gehen!“, hatte ihr ihre Mutter stets eingebläut.

Ihre Besuche bei Oma waren Dora jedoch heilig. Also schwieg sie. Und flunkerte über den Ursprung ihrer Verletzungen.

Nachdem Rosa mit ihrer eigenen Tochter nicht mehr reden konnte und spürte, wie schwermütig Dora manchmal war, half sie ihrer Enkeltochter auf die Art und Weise, die ihr möglich war. Durch ihre Liebe, die sie im Übermaß besaß.

Sie schenkte ihrer Enkelin die Nestwärme, die sie brauchte, um das seelische Manko, das die Kleine mit Sicherheit irgendwann spüren würde, so gering wie möglich zu halten.

Als Dora aber zuvor die Stiefmutter Schneewittchens als Mutter bezeichnet hatte, korrigierte sie ihre Enkeltochter.

„Schneewittchen hat eine Stiefmutter gehabt, ihre leibliche, liebevolle Mutter ist gestorben!“

Dora sah ihre Großmutter mit großen Augen an.

„Ist meine Mutter auch eine Stiefmutter und meine leibliche Mutter ist gestorben?“, blickte sie erschrocken.

„Nein“, antwortete Rosa und musste zugeben, dass Doras Frage durchaus gerechtfertigt war.

„Aber ich möchte auch so gerne so viele liebe Freunde haben wie Schneewittchen.“

Ihre Oma strich ihr zärtlich übers Haar und sagte: „Dora, mein Liebes, du wirst doch ganz genauso stark geliebt. Von mir und von deinen Freunden.“

„Wie von den sieben Zwergen?“

„Mindestens genauso stark wie von den sieben Zwergen!“, bestätigte Großmutter und das Gesicht ihrer Enkeltochter bekam ein seliges Lächeln, als ihre Oma zu erzählen begann.

„Es war einmal, mitten im Winter ...“

Während Omi erzählte, waren der kleinen Dora schon durch Omas Wärme die Augen zugefallen. Die Errettung aus dem Glassarg durch den verliebten Königssohn hatte sie gar nicht mehr gehört.

Wie wohlbehütet hatte Dora bei Oma schlafen können, ohne das beängstigende Poltern des Vaters im Nebenraum hören zu müssen. Bei Großmutter war es immer ruhig gewesen und Dora hatte nie Angst gehabt.

Es war ein Segen, dass Dora so viel Zeit bei ihr verbringen hatte dürfen, denn dadurch hatte sie von ihrer Großmutter die Liebe und benötigte Nestwärme bekommen, die sie gebraucht hatte, um überhaupt liebesfähig werden zu können.

Das emotionale Zuhause und die seelische Sicherheit, die Dora von ihrer Mutter nicht bekommen konnte, erhielt sie von ihrer Oma.

Das Urvertrauen, das ein Kind in den ersten Lebensmonaten entwickeln sollte, dieses Gefühl, dass man jedem Menschen vertrauen kann, hatte Dora in ihrem Elternhaus nicht entwickeln können. Doch die Liebe ihrer Oma hatte bewirkt, dass dieses positive Grundgefühl bei Dora dennoch entstehen hatte können.

Großmutter besaß aber noch etwas, das mindestens genauso wertvoll war, wie ihre Liebe.

Etwas, das Doras Leben bereichert hat und ihr jedes Unglück ertragen hatte lassen: Die Liebe zur Musik!

Oma war außerordentlich musikalisch. Sie hatte eine wunderschöne Stimme und konnte hervorragend Klavierspielen. In ihrem Wohnraum stand ein Flügel und Dora bat sie bereits als kleines Kind, ihr täglich vorzuspielen.

Großmutter erfüllte ihr diesen Wunsch nur allzu gern, denn für sie war Musik nicht einfach nur das Spielen von Noten, sondern eine Glückstankstelle und ein Hafen der Freude und Gefühle. Und diese Ideologie gab sie an Dora weiter.

Wenn Großmutter ein Lied vortrug, spürte Dora die Botschaft, selbst wenn sie in einer anderen Sprache sang.

Dora liebte die Lieder ihrer Großmutter, konnte sie bald auswendig und begann mit ihr im Duett zu singen. Der klare Sopran des Mädchens und der tiefe Alt der Großmutter ergaben einen derart wohlklingenden Harmoniegesang, dass ihre Oma einige Lieder aufgenommen hatte.

Wenn Dora sich diese alten Aufnahmen anhörte, wurden ihr noch als Erwachsene die Augen nass. Auch, weil es die einzigen Tonaufnahmen waren, die sie von ihrer geliebten Oma besaß. Sie hütete diese daher wie einen Schatz.

„Möchtest du auch einmal?“ hatte Oma Dora eines Tages gefragt, als sie neben ihrem Klavierhocker gesessen und zu ihr hochgesehen hatte.

Natürlich wollte sie! Es war für Dora ein unvergessliches, erhebendes Gefühl gewesen, zum ersten Mal ihre kleinen Finger auf die Bernsteintasten legen zu können und in weiterer Folge von Oma Klavierunterricht zu bekommen.

„Ich hätte auch so gerne ein Klavier!“, wollte Dora daheim üben können.

Doch sie wusste, schon als sie diesen Wunsch ausgesprochen hatte, dass das nicht möglich war. Und nicht nur, weil in ihrem kleinen Zimmer für ein Piano gar kein Platz gewesen wäre.

Stattdessen hatte Dora von ihrer Großmutter als 12-Jährige zu Weihnachten eine Gitarre bekommen.

Als sie dieses edle Saiteninstrument in Händen gehalten hatte, wollte sie ihre Oma am Klavier am liebsten sofort begleiten.

Doch bis sie so weit gewesen war, dass Dora mit ihrer Großmutter musizieren hatte können, dauerte es!

Es war gar nicht so einfach, der Gitarre reine Klänge entlocken zu können. Dora legte ihre Finger, wie auf beigelegter Grifftabelle angeführt, auf die angezeigten Saiten und schlug nach unten.

Die knarrenden und knirschenden Töne, die Dora diesem Instrument beim ersten Kennenlernen allerdings entlockt hatte, glichen eher dem gequälten Aufschrei einer Katze, der man auf den Schwanz getreten war.

„Die Greiffinger musst du kraftvoll, von vorne aufsetzen und die nicht gegriffenen Saiten darfst du keinesfalls berühren“, wusste Omi.

Sie legte Doras Finger auf die Saiten und Dora presste ihre Fingerkuppen so fest auf die Saiten, dass es ihr das Wasser in die Augen drückte.

Es tat weh!

Verdammt weh! Aber plötzlich schwangen die Saiten wohlklingend!

Nachdem eine Saite demnach mit so viel schmerzhaftem Druck niedergedrückt werden musste, um einen klaren Klang zu erzeugen, hatte sich Dora gewundert, warum das bei all den Gitarrenspielern so simpel aussah.

„Übung, mein Kind! Das ist alles nur Übung!“, hatte Oma erklärt. „Bald wird es auch bei dir so leicht aussehen und niemand wird merken, wie viel Druck es braucht. Irgendwann wirst auch du die Schmerzen kaum mehr spüren“, hatte sie ihrer Enkeltochter gesagt.

„Du hast Talent, mein Kind. Aber ohne Fleiß, kein Preis!“, hatte ihr Oma liebevoll über das Haar gestrichen.

Und rechtbehalten.

Seither hatte Dora wie besessen geübt und die bald wild schmerzenden Fingerkuppen ohne mit der Wimper zu zucken, einfach ignoriert.

Wochenlang hatte sie die peinigenden Barré-Griffe geübt.

Mit eiserner Disziplin quetschte sie immer wieder den linken Zeigefinger über alle Saiten, in der Hoffnung, endlich einmal alle Saiten wohlklingend schwingen lassen zu können.

Bis die Muskeln ihrer Hand allerdings darauf trainiert waren, dass einzelne Saiten nicht trotzdem knarrten, schnarrten oder schepperten wie ein Blecheimer, hatte sie schon beinahe Hornhäute auf den Fingern.

Doch ihr Einsatz hatte sich gelohnt.

Irgendwann war sie mit dem Instrument förmlich verschmolzen. Und ab jenem Moment gab es für Dora, wenn sie nicht bei ihrer Oma sein konnte, nur mehr die Musik und ihre Gitarre.

Das war ab nun eine Einheit.

Nun hatte sie einen Rettungsanker.

Eine Zuflucht.

Wenn sie sich mit der Gitarre in ihre eigene Welt zurückziehen hatte können und in ihren eigenen vier Wänden gesungen hatte, war alles andere um sie herum unwichtig geworden.

Wer singt, spürt keine Angst, hatte sie damals festgestellt.

Außerdem war sie dabei ihrem Vater nicht im Weg gewesen. In ihr Zimmer kam er nämlich nicht.

Seine Alkoholvorräte waren im Wohnzimmer, Schlafzimmer oder in der Küche versteckt. Wo anders hatte das Leben für ihn keinen Sinn.

Bald waren die sechs Quadratmeter ihres Kinderzimmers zu ihrem Therapieraum geworden.

In der Musik lebte sie die Gefühle aus, die sie gelernt hatte, für sich zu behalten.

Die fehlende Mutterliebe, ihren prügelnden Vater und ihr frostiges Elternhaus verarbeitete die Zwölfjährige, indem sie Songs schrieb.

Die Worte und Melodien kamen aus ihrem Innersten hoch. Schwermütige, melancholische und gefühlvolle Balladen entstanden zu jener Zeit.

Ausgezwitschert

Mai 2018

Der Mann in der Fußgängerzone beobachtete die Straßensängerin mit zusammengekniffenen Augen. Er stand in einer Passage auf der anderen Straßenseite und zwischen ihm und Dora waren so viele Leute unterwegs, dass er immer wieder den Blick auf sie verlor.

Doch hören konnte er sie immer.

So schaut sie also aus, dachte er, als er wieder einmal einen Blick auf die kleine, zierliche Person werfen konnte. So süß, wie sie ausschaut, wird er sie sicher so schnell wie möglich zurückhaben wollen und anständig blechen, schätzte er die Lage als lukrativ und gewinnbringend ein.

Das wird sicher ein leichtes Spiel, war er sich sicher und kratzte sich am stoppeligen Kinn.

Und der heutige Tag ist auch optimal, wusste er, als er seine Zigarette zu Ende rauchte und den Stummel achtlos auf die Straße warf.

Er hatte noch einiges zu tun und setzte sich daher in Bewegung. Als er an ihr vorbeiging, besah er sie etwas genauer.

Ja, sie ist wirklich süß, dachte er und als er die Fußgängerzone entlangging, hörte er ihre Stimme noch trällern, als er sie gar nicht mehr sehen konnte.

Das reiche Vögelchen wird bald ausgezwitschert haben, dachte er mit einem grimmigen Lächeln.

Das Gänseblümchen

2002

So kleinlaut und unterwürfig sich Dora in ihrem Elternhaus zeigte: Außerhalb dieser vier Wände war die 12-Jährige keinesfalls schwermütig oder melancholisch.

Im Gegenteil.

Sie war ein kecker, schlagfertiger Teenager und eine gute Schülerin. Außerdem war sie beliebt, denn durch ihr humorvolles Wesen, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, scharten sich stets viele Freunde um sie.

Doch mit der rothaarigen, sportlichen Susanne und Mark, den blonden, schlaksigen Buben, der einen Faible für lateinische Blumennamen hatte, war sie bald unzertrennlich geworden.

Ab ihrem sechsten Lebensjahr besuchten die drei Freunde die Schule gemeinsam.

Nach dem Schulwechsel mit 10 Jahren hatten sie das große Glück gehabt, auch im Gymnasium wieder in der gleichen Klasse gelandet zu sein.

Marks Leidenschaft für Latein war dabei von Vorteil gewesen, denn aus diesem Grund besuchte er nicht, wie die meisten Burschen, das Realgymnasium. Indem er sich für den humanistischen Zweig entschied, blieben ihm seine beiden Freundinnen erhalten. Und Dora und Susanne ein brauchbarer Latein-Nachhilfelehrer. Auch wenn sie Marks Begeisterung für diese tote Sprache nie hatten verstehen können.

Die drei Freunde verbrachten die meiste Zeit gemeinsam und als sie eines Tages bei einem Schulausflug auf einer Blumenwiese tollten, pflückte Mark ein Gänseblümchen und überreichte es Dora.

„Das bist du!“, grinste der Junge mit den Sommersprossen.

„Wie meinst du das?“, fragte sie ihn und Susanne, die soeben einen Handstand übte, lachte so schallend, dass sie große Mühe hatte, auf den Händen stehen bleiben zu können.

„Wie kommst du denn da drauf?“, fragte Susanne und auch Dora schüttelte den Kopf.

„Bellis perennis heißt das Gänseblümchen!“, erklärte Mark. „Du heißt ja Bellis, also bist du unser Gänseblümchen!“

„Mark, was du immer für Sachen weißt!“, erkannte Susanne. „Du wirst sicher mal ein Lateinprofessor.“

„Und du Spider-Woman, weil du ständig turnst oder irgendwo herumkletterst“, gab er ihr einen Schubs, den Susanne dazu nutzte, um ihrem Handstand einen eleganten Salto anzuhängen. Mark und Dora applaudierten, als sie auf beiden Beinen in aufrechter Pose zu stehen kam und ihre Arme zu einem ‘V’ hochhielt.

Von den anderen Mitschülern wurden Gänseblümchen, Spider-Woman und der Professor die drei Musketiere genannt.

Weil sie immer zusammenklebten.

Einer für alle.

Alle für einen.

Bis Mark die Schule verlassen musste, weil seine Mutter übersiedelte.

Dora hatte weder Marks Mutter noch seinen Vater jemals zu Gesicht bekommen. Genauso wie Susanne und Mark auch Doras Eltern nie kennengelernt hatten.

Wenn sich die drei Musketiere außerhalb der Schule getroffen hatten, dann in Susannes Elternhaus. Ihre Mutter war eine fröhliche und warmherzige Frau, die mit Zärtlichkeiten nicht sparsam umging.

Wenn die drei Teenager zur Tür reinkamen, mussten sie sich erst küssen lassen, noch bevor sie die Schuhe von den Füßen streifen konnten.

„Ich beneide dich um deine Mama!“, sagte Dora oft zu ihrer Freundin. Sie genoss die Zeit mit ihren besten Freunden in diesem liebevollen Zuhause.

Susannes Mutter hatte immer eine offene Tür, ein geöffnetes Herz und stets jede Menge Pizza, Lasagne oder Toasts für die drei Musketiere zur Hand.

In Susannes Zimmer machte ihnen Mark auch die traurige Mitteilung, dass er die Schule wechseln musste. Sie hörten wie immer Musik und lagen dabei zu dritt auf Susannes Bett.

Die beiden Mädchen plauderten ununterbrochen und bekamen dabei gar nicht mit, dass Mark ruhiger war als sonst.

Plötzlich sagte er ansatzlos: „Ich bin ab morgen in einer anderen Schule!“ Susanne und Dora setzten sich auf und starrten ihn mit großen Augen an.

„Warum?“ fragte Susanne erschrocken. Auch Dora spürte einen schmerzhaften Knoten in der Magengegend. Mark ging weg?

Das ging doch nicht!

„Meine Mutter übersiedelt und der Schulweg ist zu weit“, erklärte er in kurzen Worten, doch Dora verstand gar nichts.

Nur eines: Mark war ab morgen weg.

„Sehen wir dich dann nie wieder?“, stiegen in Doras Augen Tränen hoch und sie griff nach seiner Hand, wollte ihn nicht gehen lassen.

Sie waren doch die drei Musketiere!

„Aber sicher!“, sagte Mark und drückte ihr ein linkisches Küsschen auf die Wange.

„Auseinander, ihr zwei Turteltäubchen! Ihr seid schon wieder so rührselig!“, brauste Susanne auf. „Wir sind doch die drei Musketiere!“, rief sie und sprang vom Bett. Sie reichte Mark und Susanne die Hand und zog sie ebenfalls auf die Beine. Die Drei bildeten einen kleinen, innigen Kreis. Sie hoben ihre Hände hoch und riefen im Chor: „Einer für alle, alle für einen!“

„Und daher sehen wir einander auch wieder!“, rief Susanne und wischte sich ebenfalls, aber verstohlen, mit dem Ärmel eine Träne aus den Augen.

Dora und Susanne hatten Mark nicht mehr wiedergesehen.

Die drei Musketiere waren nur mehr zwei.

In der ersten Zeit nach Marks Schulabgang waren Susanne und Dora noch völlig am Boden zerstört. Doch schon nach einiger Zeit hatte sie der normale Schulalltag wieder.

Sie wurden älter und das andere Geschlecht begannen reizvoll zu werden. Da fehlte der alte Freund bald nicht mehr so sehr, weil es andere Burschen gab. Nicht so brave und liebe, wie Mark gewesen war. Böse, laute und wilde, die plötzlich sehr interessant wurden.

Neues Leben

Dezember 2016

Mit 26 Jahren stand Dora vor den Scherben ihres Lebens.

Ein Jahr nach Dieters Zusammenbruch war alles, was sie sich aufgebaut und erarbeitet hatte, nicht mehr vorhanden.

Es schien, als wäre durch einen Reset-Schalter ihr Leben auf ‘Werkeinstellungen’ zurückgestellt worden.

Nichts war mehr, wie es zuvor gewesen war.

Nichts! Auch sie selbst nicht.

Gleichzeitig mit Dieter war auch Dora in der Versenkung verschwunden.

Sie funktionierte bloß noch. Ohne Hoffnung und wie eine seelenlose Marionette tat sie einfach nur, was von ihr erwartet wurde.

Und das war nicht mehr viel – rein objektiv betrachtet, wenn sie es mit dem Stress der Tournee verglich.

Doch subjektiv gesehen, war es die Hölle, durch die sie nun gehen musste!

Krankenhausbesuche waren nämlich ihr einziger Lebensinhalt geworden. Seit über einem Jahr! Täglich und stundenlang!

Es gab für sie nur mehr Krankenhausbesuche, wonach sie danach deprimiert war und Krankenhausbesuche, wonach sie danach völlig deprimiert war.

Um nicht vollkommen in Selbstmitleid zu versinken, führte sie sich stets vor Augen, dass sie diejenige war, der es dabei noch relativ gutging. Wirklich schlecht ging es Dieter und für ihn musste sie stark sein!

Optimistisch bleiben!

Hoffnung verströmen!

Wo aber gab es eine Bedienungsanleitung, die erklärte, wie man das mit leerem Tank überhaupt bewerkstelligen konnte?

Dora fühlte sich wie ein Auto ohne Benzin, das sie trotzdem einen Berghang hochzuschieben versuchte, um oben zu erkennen: Es wird nie wieder fahren! Bestenfalls nach unten rollen! Aber nie wieder fahren. Und wie das unbrauchbar gewordene Vehikel fühlte sie sich die meiste Zeit. Nach der kräfteraubenden Tournee war in ihren körperlichen Energietanks nämlich nur noch Vakuum.

Dora hätte so dringend Ruhe und Kraft tanken müssen!

Das Schicksal hatte ihr diese Möglichkeit aber nun einmal nicht gegeben. Und sie konnte auch nicht wie ein seelenloses Auto ohne Treibstoff einfach stehen bleiben. Es interessierte niemanden, ob sie die Kraft hatte, die sie brauchte. Von ihr wurde erwartet, dass sie funktionierte. Das war das Einzige, das zählte.

Also schob sie ihren Körper mit Gewalt den Berghang hoch. So zumindest fühlte sich der tägliche Gang ins Krankenhaus an, der Dora ihrer letzten Reserven beraubte.

Täglich wurde der Kraftaufwand größer, doch Dora begann ihre körperlichen Befindlichkeiten zu ignorieren.

Sie musste für Dieter da sein und sie war für Dieter da!

Aus! Schluss! Basta!

In dieser Situation merkte sie, wie viel ein Körper doch noch hergeben konnte, selbst wenn gar nichts mehr da war.

Bis sie eines Tages zusammenklappte.

Gottlob nicht an Dieters Bett, denn er konnte zusätzliche Aufregung nicht gebrauchen. Er benötigte doch eine optimistische und kräftige Hoffnungsspenderin.

Nein, verantwortungsbewusst kippte Dora am Gang vor Dieters Zimmer um. Ihre Beine hatten einfach nachgegeben.

Ein Arzt, der soeben aus Dieters Zimmer gekommen war, hatte rasch reagiert, als Dora plötzlich schwarz vor Augen geworden war.

In ihrer Erinnerung fehlten danach einige Minuten. Doch als sie wieder die Augen aufschlug, lag sie am Gang auf einem rollbaren Bett. In ihrem Arm steckte eine Nadel und über ihrem Kopf hing eine Plastikflasche, aus der Flüssigkeit tropfte.

„Sie hatten eine Synkope!“, erklärte die Krankenschwester, die Dora inzwischen schon sehr gut kannte.

Nachdem aber auch Dora bereits das gesamte medizinische Personal kannte, muss die Schwester angenommen haben, Dora sei bereits eine von ihnen, nachdem sie ihr diesen lateinischen Ausdruck zugeworfen hatte, mit dem Dora aber tatsächlich überhaupt nichts anfangen konnte.

„Ich hatte eine was?“, fragte sie daher und blickte völlig verwirrt.

„Verzeihung“, erklärte daraufhin die Schwester. „Sie hatten einen Kreislaufkollaps!“, erklärte sie, während sie ihren Arm tätschelte. „Aber Sie sind gottlob nicht gestürzt. Doktor Brauner hat sie auffangen können.“

„Ich muss aber ...“

„Ich weiß, Frau Bellis, wohin Sie müssen. Doch jetzt müssen Sie einmal wieder zu Kräften kommen, bevor Sie zu Ihrem Mann gehen!“, lächelte die junge Schwester, die ganz genau wusste, wohin sie wollte.

Jeder hier auf der Station kannte Dora.

Wahrscheinlich werde ich bald als Abschreibposten eine Inventarnummer bekommen, dachte Dora, als ihr klarwurde, dass sie sich nicht einmal ausweisen hatte müssen.

„Diese Infusion wird Sie stärken, doch nun ruhen Sie sich einmal aus! Ich werde Dieter Seller Bescheid geben, dass Sie in einer Stunde kommen!“

„Aber sagen Sie ihm bitte nicht, was mit mir passiert ist!“, bat Dora.

„Aber natürlich“, lächelte die junge Frau und verschwand in Dieters Zimmer.

„Danke“, hatte Dora geflüstert und die Augen geschlossen. Bis sie ihren Namen hörte.

„Dora?“

Sie blickte hoch und direkt in die Augen ihrer Schulfreundin.

„Susanne?“, glaubte sie, ihren Sinnen nicht trauen zu können. „Was machst du denn hier?“, fragte sie.

„Na, was wohl?“, fragte Susanne und zeigte auf ihr Gipsbein. „Ein Zirkeltraining unter erschwerten Voraussetzungen!“, grinste sie, während sie die Krücken an die Wand stellte und sich auf die Bettkante zu ihrer Freundin setzte.

„Dora!“, lächelte sie. „Wie schön dich zu sehen! Dass ich dich nach so vielen Jahren wiedersehe, ist es fast wert, dass ich vom Schwebebalken gefallen bin!“

„Oh!“, sagte Dora. „Du bist also noch immer Turnerin?“

„Nun, in den nächsten sechs Wochen wohl eher nicht. Aber danach, ja! Ich bin Sportlehrerin!“

„Schön, Susanne. Also, schön, dass du deinen Traum zum Beruf hast machen können. Ist deine Verletzung sehr schlimm?“

„Nein, eigentlich nicht. Ein einfacher Bruch, der nicht einmal operiert werden musste. Aber jetzt heißt es halt einige Wochen lang keinen Sport treiben können und das ist für mich natürlich nicht so lustig.“ Dann sah sie ihre Freundin an.

„Aber du hast deinen Traum doch auch zum Beruf machen können“, lächelte sie Dora an. „Du hast wirklich eine tolle Karriere hingelegt. Hut ab, Dora!“ nickte sie und blickte dann in das müde Gesicht ihrer Freundin.

„Ich habe gelesen, was in München mit deinem Freund passiert ist“, wurde Susanne ernst. „Geht es ihm schon wieder besser?“, fragte sie. Als sie die Tränen ihrer Freundin kullern sah, wusste sie, dass dem nicht so war.

„Willst du es mir erzählen?“, fragte sie und Dora begann stockend zu reden. Nachdem sie geendet hatte, zog Susanne ihre Freundin in eine liebevolle, warme Umarmung.

„Wow, Dora. Ich glaube, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es dir derzeit geht. Aber ich will für dich da sein. Wann immer du Hilfe brauchst, oder plaudern willst, melde dich!“, sagte sie und reichte ihr eine Visitenkarte.

„Danke, Susanne“, flüsterte Dora. „Du hast ja keine Ahnung, wie gut mir dieses Wiedersehen getan hat. Ich habe mich in den vergangenen Monaten so einsam gefühlt. Es tut so gut, mit jemandem reden zu können, der einen versteht und immer verstanden hat.“

„Immer wieder gern!“, sagte Susanne und sah auf ihre Armbanduhr. „Ich muss jetzt aber leider gehen. Meine Mutter wartet auf mich, um mich heimzufahren. Aber du meldest dich doch wieder?“, fragte sie, während sie nach ihren Krücken griff.

„Auf jeden Fall!“, nickte Dora und blickte ihrer Freundin nach, wie sie den Gang entlang humpelte.

Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Das erste seit wie vielen Monaten?

Mit Susanne reden zu können, ließ in ihr ein warmes Gefühl hochsteigen.

Heimat. Freundschaft.

Jetzt wusste sie wieder, was ihr gefehlt hatte in all den Jahren.

Freunde.

Echte, wahre Freunde.

Einer für alle. Alle für einen, fiel ihr ein.

Solche Freunde hatte sie, seit Mark die Schule gewechselt hatte und auch Susanne aus ihrem Leben verschwunden war, nicht mehr gehabt.

Als Musikerin waren zwar viele Freunde um sie geschart. Doch im Nachhinein betrachtet, waren das eher Kollegen gewesen. Nett im Zusammenarbeiten, unkompliziert im Umgang, locker und frei im Pflegen von Freundschaften.

Wobei die stärkste Betonung auf ‘frei’ lag, denn kaum aus den Augen, so aus dem Sinn. Die freiheitsliebenden Zugvögel waren weitergezogen. So war die Musikszene.

Echte Freunde hatte Dora keine mehr!

Außer jetzt wieder Susanne.

Sie muss mir der Himmel geschickt haben, dachte sie, als sie Susannes rotem Haarschopf nachblickte und fühlte, wie wieder etwas Stärke zurückkam.

Oder war es die Infusion?

Vielleicht beides.

Sie hat mich tatsächlich nicht vergessen, freute sich Dora. Ein unglaubliches Geschenk, nachdem sie doch alle anderen schon vergessen hatten.

Die Tour war beendet. Dieter schwerkrank. Dora an seiner Seite geblieben. Das Leben war für die ehemaligen Musikerkollegen weitergegangen. Ohne Dieter und Dora.

Als hätte es sie nie gegeben! Die ‘Hells Angels’ waren Vergangenheit und kein Hahn krähte mehr nach Dieter, dem heißen Gitarristen und Dora, der Leadsängerin, die noch ein Jahr zuvor ganze Stadien zum Brüllen gebracht hatte, beklatscht und bejubelt worden war.

Als hätte es sie tatsächlich nie gegeben, hatten sie Medien, Fans, Kollegen und ehemalige Freunde vergessen.

Dass die Medien nicht mehr über sie berichteten, war dabei aber am leichtesten zu verkraften.

Im Gegenteil! Die nervigen Reporter, die ihr mit ihren Mikrofonen beinahe in die Nasenlöcher gebohrt hatten, als sie nach Dieters Zusammenbruch mit verquollenen Augen aus dem Krankenhaus gekommen war, gingen ihr tatsächlich nicht ab.

Ebenso wenig wie die Schlagzeilen, die mit reißerischen Worten über Dieters Zusammenbruch berichtet und sich nicht gescheut hatten, sogar Fotos von seinem Abtransport zu zeigen. Fotos, die ihn leblos und Dora mit verheultem Gesicht gezeigt hatten.

Die sensationsgeile Öffentlichkeit wollte auf dem Laufenden gehalten werden und die Reporter hatten sich mächtig ins Zeug gelegt:

Der begnadete Gitarrist und Mädchenschwarm Dieter Seller erlitt auf offener Bühne einen Herzstillstand. Er musste reanimiert werden und wird seither in einem Wiener Krankenhaus behandelt! Seine Überlebenschancen sind nicht hoch!

Wird Dieter Seller, der begnadete Leadgitarrist der Hardrock-Gruppe ‘Hells Angel’s’ je wieder auf der Bühne stehen? Wir berichten exklusiv über die wahren Hintergründe des Zusammenbruchs dieses einst so charismatischen Gitarristen!

Schock für Dora Bellis! Die Leadsängerin muss um das Leben ihres Musikerkollegen und Lebensgefährten bangen. Beim letzten Konzert der erfolgreichen Deutschland-Tournee in München erlitt der Gitarrist einen Herzstillstand. Wir halten unsere treuen Leser auf dem Laufenden und berichten weiter!

Bald wurde nichts mehr weiter berichtet, denn nichts war älter als die Schlagzeile des Vortages. Und nach wenigen Wochen war das öffentliche Interesse an Dieter, dem ehemals so gutaussehendem Rocker abgeflaut.

Niemanden interessierte ein herzkranker Ex-Musiker und seine Frau, die bloß noch an seinem Krankenbett saß.

Doras Mutter hatte sich in all den Jahren nicht ein einziges Mal bei ihr gemeldet. Nicht einmal, als jede Zeitung von ihrem Unglück berichtet hatte!

Nichts. Kein Besuch. Kein Anruf.

Das übliche Schweigen.

Wirklich gewundert hatte das Dora eigentlich nicht.

Und doch hatte sie in ihrem Innersten ein ganz klein wenig gehofft.

Gut, nicht ein wenig, sondern sehr.

Sie hatte förmlich nach mütterlicher Unterstützung gelechzt, also nach etwas, das doch eigentlich noch nie da gewesen war und daher auch nicht kam, als sie es so dringend benötigt hatte.

Ja, sie hätte Beistand so dringend gebraucht!

Von ihren Musikerkollegen hatte ein Monat nach dem Unglück wenigstens Uwe noch angerufen und nachgefragt, wie es Dieter ging.

Doch als sich herausgestellt hatte, wie schwerkrank Dieter war und wohl nie wieder völlig gesund werden würde, waren auch Uwes Anrufe ausgeblieben.

Uwe und Tommy spielten inzwischen in anderen Bands und bald waren alle Kontakte zum alten Leben völlig abgebrochen, während Dora in ihrem neuen Leben nur noch zwei Menschen geblieben waren.

Ludmilla, die ihr gottlob treu zur Seite stand und sich nun um den Haushalt in ihrer Villa kümmerte und Dieter.

Sonst war ihr nichts und niemand geblieben!

Doch sie wollte nicht undankbar sein. Eine Freundin und einen Ehemann zu besitzen, empfand sie als Geschenk des Himmels.

Auch wenn die Freundin eigentlich eine bezahlte Angestellte und der Ehemann dem Tod geweiht war.

Aus diesem Grund war dieses unerwartete Wiedersehen mit Susanne für Dora so ein unglaublich tröstender Hoffnungsschimmer gewesen.

„Du bist stark!“ spürte sie plötzlich die Worte, die ihr ihre Großmutter stets gesagt hatte. In den vergangenen Monaten hatte sie davon nichts mehr gespürt.

Doch nachdem sie die Visitenkarte von Susanne in ihre Handtasche verstaut hatte, spürte sie ihre Stärke zumindest in Teilfragmenten wiederkehren und sie konnte, nachdem sie von der Infusionsnadel befreit wurde, wieder an Dieters Bett treten.

Wie immer lag er mit eingefallenen Augen in seinem Bett und über sein Gesicht zog sich ein Funken Wärme, als sie sich über ihn beugte.

Sie küsste ihn auf die Wange und versuchte dabei seine Sauerstoffbrille nicht zu verschieben.

„Hallo, mein Liebster!“, strich sie ihm wie immer über sein Haar, das inzwischen ganz kurzgeschnitten war, damit es leichter zu pflegen war.

„Dora!“, flüsterte er und in seinen glanzlosen Augen lag Angst. „Ist etwas passiert?“

„Warum fragst du?“

„Du bist später da!“

„Nein, mein Schatz!“, flunkerte sie, um ihn nicht zu beunruhigen. „Ich habe lediglich eine Freundin von früher getroffen“, ergänzte sie, denn somit war ihre Antwort keine richtige Lüge.

„Gottlob, ich habe mir schon Sorgen gemacht.“

„Bitte sorge dich nicht! Es genügt, wenn ich mich um dich sorge“, lächelte sie und in diesem Moment kam das Essen und Dora sorgte dafür, dass Dieter wenigstens einige Löffel Nahrung zu sich nahm.

Es war für Dora eine Selbstverständlichkeit, dass sie sich um Dieter kümmerte. Ihr Platz war an seiner Seite.

Sie wusste, er wartete auf sie und sie würde ihn nie enttäuschen. Er brauchte sie und sie war für ihn da.

So einfach war das!

Und auch wieder nicht!

Es war nämlich in der Tat alles andere als einfach. Es war sogar verdammt hart! Sie war zwar die Gesunde von ihnen beiden. Doch sein Leid mitzuerleben war eine unbeschreibliche Qual.

Außerdem war Dieter sehr heftigen Gefühlsschwankungen ausgesetzt. Dora verstand ihn natürlich und auch, dass er seine Ängste doch nur an seinen nächsten Verwandten auslassen konnte.

Und nachdem er genauso allein war wie sie, war Dora nun einmal seine einzige Verwandte. Dieters Unzulänglichkeiten und Wutausbrüche waren für Dora zu ihrem täglichen Brot geworden, die sie jedoch still und duldsam ertrug.

Scheinbar habe ich doch auch ein wenig von meiner Mutter geerbt, dachte sie so manches Mal, wenn sie ihre Tränen unterdrückte.

Aber dann gab es da auch wieder seine Dankbarkeit! Oft saß sie einfach nur still neben ihm und hielt bloß seine Hand, während ihm Tränen über die Wangen liefen und er sich mit dünner Stimme für ihren Beistand bedankte.

Allerdings waren seine schlechten Stimmungen viel häufiger. Doch sie verübelte es ihm nicht.

Tapfer und stark blieb sie an seiner Seite, auch wenn sie selbst es manchmal einfach nicht mehr aushalten konnte.

Alles!

Sein Leid zu sehen!

Seine Angst mitzubekommen!

Ihrer eigenen Hilflosigkeit ausgeliefert zu sein!

Und doch musste sie es aushalten!

An manchen Tagen dachte sie allerdings, dass sie es einfach nicht mehr schaffte. Dann wurde es für sie schon zur Qual, in der Früh aus dem Bett aufzustehen.

Aber danach fragte niemand!

Für Doras Ängste, Depressionen, Unzulänglichkeiten und Wutausbrüche gab es keinen Blitzableiter. An manchen Tagen fühlte sie sich aber so schwach und energielos, dass sie sich am liebsten gar nicht mehr aus dem Bett erheben wollte, um in das Krankenhaus zu fahren.

Und doch tat sie es.

Tag für Tag. Jahr für Jahr.

Seit sie Dieter in München leblos am Boden liegend vorgefunden hatte, war sie jeden Tag stundenlang bei Dieter im Krankenhaus gewesen und hatte sich im Spital bereits mehr daheim gefühlt als in ihrer Villa, die sie bloß noch zum Schlafen anfuhr.

Doch es hätte schlimmer kommen können.

Wenn Dieter kein Spenderherz bekommen hätte oder die Operation nicht überlebt hätte.

Club 27

2007 - 2011

Dora hatte sich zu einer energiegeladenen Alleinunterhalterin entwickelt und war in der Schule zur Klassensprecherin gewählt worden.

Während Susanne in der Sportklasse ihren ersten, festen Freund gefunden hatte, hing Dora mit 17 Jahren regelmäßig mit Uwe herum.

Der zwei Jahre ältere, langhaarige Bursche war Schlagzeuger und Dora zog es wie magnetisch zu diesem Musiker.

Seine Eltern besaßen ein Haus, in deren Garage ein Schlagzeug stand. Hier konnte Uwe ungestört üben.

Aber nicht bloß auf den Drums.

Auf dem alten Sofa in der Garage sammelten Uwe und Dora ihre ersten körperlichen Erfahrungen.

Mehr war es nicht. Für ihn nicht, aber auch nicht für sie. Mehr hatte sich Dora von diesem pickeligen Jungen nicht erwartet.

Irgendwann hatte sie ihre Gitarre mitgebracht und war jeden Tag nach der Schule in Uwes Garage zu finden gewesen. Es war zwar beileibe nicht das Ritz, doch Dora fühlte sich in diesen spartanischen vier Wänden wesentlich wohler als in ihrem Elternhaus.

Gut, wer fühlte sich schon in einem Tiefkühlschrank wohl?

Ihr fielen eigentlich nur Eiswürfel ein.

Ihren Eltern schien es nicht aufgefallen zu sein, dass sie bloß noch zum Schlafen heimgekommen war.

Es hat auch sein Gutes, wenn man seinen Eltern egal ist, versuchte sie bereits als Jugendliche jedem Negativen auch Positives abzugewinnen.

In dieser Garage wurde die Rockband ‘Hells Angels’ gegründet, die später so erfolgreich werden würde.

Uwe fand in einer Nebenklasse zwei ambitionierte Gitarristen, die sich bald ebenfalls regelmäßig mit ihren Instrumenten in der Garage einfanden.

Es wurde geprobt und gelacht, getrunken und gealbert, geraucht und geblödelt.

Dora genoss diese unbeschwerte Zeit unter Gleichgesinnten. Die jungen Musiker coverten alte und neue Rock-Klassiker und Dora stellte irgendwann den Jungs ihre eigenen Songs vor.

Gemeinsam arrangierten sie die Lieder zu Hardrock-Songs und stellten fest: Sie klangen gar nicht so übel! Zwar völlig anders, als sie von Dora ursprünglich komponiert worden waren. Doch in der rockigen Version passten sie perfekt zum Musikgenre und Lifestyle dieser jungen Leute.

„Wir brauchen einen Bandnamen“, sagte Dora eines Tages und alle dachten nach. Bis sie selbst eine Idee hatte.

„Wie gefällt euch ‘Hells Angels’?“, fragte sie und die Burschen waren sofort von diesem Namen angetan.

Das war die Geburtsstunde der ‘Hells Angels’. Dora war das mit Abstand jüngste Bandmitglied dieser neuen Formation und sie war das einzige Mädchen.

Doch das hatte sie nie gestört.

„Lasse dir nichts gefallen! Von niemandem! Du bist stark! Sei dir dessen immer bewusst!“, hatte sie ihre Großmutter gelehrt. Diese Stärke zeigte Dora schon in jungen Jahren und bald tanzten die Jungs nach ihrer Pfeife.

Dora hatte definitiv nicht das unterwürfige Naturell ihrer Mutter geerbt. Im Gegenteil.

Sie entwickelte sich zur Bandleaderin, denn sie hatte ein gutes Organisationstalent und verschaffte der Band erste Engagements für Live-Auftritte.

Bald schon hatten die jungen Leute regelmäßige Gigs in Bars oder Tanzschuppen. Sie waren eine beliebte Coverband, die allerdings auch immer wieder eigene Songs in ihr Programm einbauten.

Dem Publikum gefiel es und die ‘Hells Angels’ nahmen bald ihre ersten Songs auf, die äußerst erfolgreich wurden.

Nachdem Dora die Schule beendet hatte, beschloss sie, kein Studium zu beginnen, sondern gleich mit der Musik durchzustarten.

Es war die richtige Entscheidung, denn die Musikprojekte liefen gut. Doras Karriere nahm mit der Band Fahrt auf und die Songs fanden Gefallen beim Publikum.

Die Häuser, in denen sie auftraten, wurden immer größer und bald schon bespielten sie Hallen. Der Name ‘Hells Angels’ wurde bekannt und auch Doras Gesicht prangerte bald schon auf diversen Magazinen.

Mit 17 bat Dora ihre Mutter, doch einmal einem ihrer Auftritte beizuwohnen.

„Mama, wir sind wirklich gut! Sieh dir doch unseren Auftritt an. Ich besorge dir eine Eintrittskarte im VIP-Bereich!“

Sie kam nicht.

Ob aus Angst vor Vaters Reaktion, wenn er daheim niemanden zum Niederdreschen fand, oder weil sie kein Interesse am Leben ihrer Tochter hatte.

Dora wollte es irgendwann nicht mehr hinterfragen. Sie beschloss, das Thema abzuhaken und fragte ihre Mutter nie wieder, ob sie kommen wollte.

Dieses entwürdigende Lechzen nach etwas, das nicht kam, war zu demütigend.

Ein schwerer Schicksalsschlag, der Dora das Herz aus ihrer Seele riss, erleichterte ihr die Entscheidung, alles hinter sich zu lassen und den letzten seidenen Faden abzutrennen, der sie noch an ihr Elternhaus gebunden hatte.

Kurz nach Doras achtzehntem Geburtstag starb ihre Großmutter völlig überraschend nach einem schweren Schlaganfall.

Der Tag des Begräbnisses war der letzte gewesen, den Dora mit ihrer Familie verbracht hatte.

Verblüfft hatte sie an jenem Tag festgestellt, dass ihre Mutter offenbar doch Gefühle hatte, denn um ihre eigene Mutter hatte sie an deren Grab geweint.

Still und kaum sichtbar durch die dunkle Sonnenbrille, waren ihr Tränen über die Wangen gelaufen.

Also ganz abgestorben war sie nicht.

Aber fast! Denn sie behielt auch diesen Kummer für sich. Sie stand stocksteif, völlig teilnahmslos und wie eine seelenlose Marionette am Grab.

Dora hingegen hatte ihre Gefühle nicht im Griff. Schluchzend und verzweifelt hatte sie einfach nicht wahrhaben wollen, dass ihre Großmutter nicht mehr da war!

Wie ein Häufchen Elend war sie neben ihrer Mutter gestanden und hatte gezittert wie Espenlaub. Doch Doras Mutter konnte sich nicht einmal im gemeinsamen Schmerz ihrer Tochter nähern.

Dora hätte tröstende Nähe so dringend gebraucht, nachdem ihr einziger Halt soeben in ein dunkles, tiefes Erdloch runtergelassen wurde.

Doch er war einfach nicht mehr vorhanden.

Ihr einziger Halt war weg.

Dann wurde ‘Amacing grace’ gespielt. Gesungen von LeAnn Rimes in der Acapella Version, die ihrer Großmutter stets so sehr gefallen hatte.

Als sie dieses himmlische Lied und die herrliche Stimme über die Lautsprecher hörte, spürte Dora, wie ihr Körper von Gänsehaut überzogen wurde. Und noch etwas spürte sie: Rosa Bellis war bei ihr. Jetzt in diesem Moment. Sie war in ihrem Herzen.

Die Liebe zur Musik war Großmutters Vermächtnis. Wie ein nachträgliches Geschenk, das sie umhüllte, war Dora klargeworden, dass sie durch die Musik ihrer Omi immer nah sein würde.

Immer.

Dankbar hatte sie die rote Rose geküsst, bevor sie sie auf den Sarg geworfen hatte.

„Danke, Omi, für deine Liebe, die Musik und deine Nestwärme! Ich werde immer bei dir sein, wenn ich Musik mache!“, hatte sie geflüstert und nicht auf ihre Mutter gewartet.

Allein war sie in das Restaurant gegangen, in dem sich Freunde und Verwandte versammelt hatten.

Beim Leichenschmaus hatte Doras Vater bereits vor der Nachspeise glasige Augen. Als er auf die Toilette wanken wollte, krachte er wie ein Mehlsack der Länge nach auf das Gesicht, weil er eine Stufe übersehen hatte.

Da hatte Dora gewusst, was zu tun war. Die allgemeine Aufregung nutzend, war sie aufgestanden und hatte die kleine Trauergemeinschaft grußlos verlassen.

Daheim hatte sie ihre wenigen Habseligkeiten in eine Ikea-Tasche geworfen und war zu Uwe gefahren.

Seit einem Jahr war sie mit ihm fix zusammen.

Das genügt als Probezeit, hatte sie beschlossen.

Er wohnte inzwischen in einer kleinen Wohnung, die etwas größer war als ein Schuhkarton. Doch auf Luxus war Dora nicht aus und die meiste Zeit verbrachten sie beide sowieso in der Garage.

Sie ließ ihre Ikea-Tasche vor Uwes Bett von ihrer Schulter gleiten und informierte ihn: „Ich wohne jetzt bei dir!“

„Cool“, hatte er sich gottlob wenigstens gefreut. Oder er hatte zumindest seinen Schrecken nicht zu deutlich gezeigt.

Cool war die kommende Zeit tatsächlich.

Die Band war immer erfolgreicher geworden, und die Gitarristen hatten gewechselt.

Uwes Damenbekanntschaften ebenso. Dora hatte sein Verschleiß an weiblicher Unterhaltung allerdings nicht besonders gestört.

So war das Leben als Rockerbraut eben.

Außerdem war sie sowieso nicht Hals über Kopf in Uwe verknallt. Dass sie bei ihm als 18-Jährige Unterschlupf gefunden hatte, dafür war sie ihm dankbar gewesen und die unbeschwerte, lockere Zeit danach hatte sie einfach genossen.

Wer dachte in diesem Alter schon an die große Liebe?

Dora nicht! Und daher hatte sie es auch salopp hingenommen, indem es Uwe genauso wenig getan hatte.

Mein Gott! Sie waren doch noch so jung!

Und auch Dora hatte begonnen, sich umzusehen.

Sex. Drugs. Rock´n Roll!

Massenhaft hatte sie davon konsumiert.

Massenhaft.

Doras Droge war der Alkohol. Uwe hingegen warf Pillen ein.

„Probiere es auch mal, danach fühlst du dich high!“, war er bereit, mit ihr zu teilen. Doch sie lehnte ab.

„Nein, das mag ich nicht!“

„Spießerin!“, ließ sie sich danach gerne beschimpfen.

„Besser spießig als Mitglied des Club 27“, blieb sie ihrem Motto treu. Vor Drogen scheute sie zurück.

Waren es die Mahnungen ihrer Großmutter?

Schon möglich! Omi hatte sie noch kurz vor ihrem Tod davor gewarnt, wohl ahnend, dass Dora früher oder später in die eine oder andere Sucht schlittern könnte.

Ob sie dabei an Doras Gene oder lieblose Kindheit als Auslöser gedacht oder einfach nur um die Verführungen dieser Branche gewusst hatte? Dora würde es nie erfahren.

Doch Großmutters Worte: „Halte dich bloß von harten Drogen fern!“, hallten in Doras Kopf, wenn sie ihre zugedröhnten Musikerkollegen beobachtete.

Solange sie selbst überhaupt noch etwas beobachten konnte.

Denn nach einigen Gin Fizz schwanden auch ihr rasch die Sinne und irgendwann, jenseits der Mitternacht saßen oder lagen sie alle bloß noch lallend herum.

Jeder in seinem eigenen Delirium.

Dora halt ‘nur’ betrunken.

Aber nicht durch Drogen beeinträchtigt! Ihre Oma wäre stolz auf sie.

Das zumindest glaubte Dora.

Immerhin hatte sie auf ihre eindringlichen Mahnungen gehört: „Drogen können dich rasch ins Grab bringen und deinen Körper so nachhaltig schädigen, dass du lebenslange, unheilbare Beschwerden hast! Glaube mir, ich habe schon viele Drogenkranke gekannt! Selbst wenn sie es schafften von der Droge wegzukommen: Keiner davon war danach gesund. Keiner!“

Nachdem Omas Tod noch so schmerzhaft in Doras Seele brannte, wollte sie nicht die letzten, gutgemeinten Ratschläge ihrer Oma in den Wind schreiben.

Aber ein gesundes Leben führte Dora trotzdem nicht, denn an manchen Tagen begann sie bereits zu Mittag mit dem Trinken.

Aus vielen Gründen. Wenn die Trauer sie übermannte und der spürbare Verlust ihrer geliebten Omi in ihr hochkroch oder aber dieser grässliche Schmerz, den dieses vernichtende Gefühl verursachte, nichts wert zu sein!

Hochprozentiges versprach zuverlässiges, schnelles Vergessen und dieses Wegsaufen hatte sie in den Jahren nach dem Tod ihrer Großmutter tatsächlich gebraucht.

„Du weißt aber schon, dass man sich auch totsaufen kann?“, ätzte Uwe, wenn er sich eine Pille genehmigte.

„Ich habe es im Griff!“, behauptete Dora.

„Ja, genauso wie dein Vater es im Griff gehabt hat!“

Uwes bloß so dahingesagte Antwort ließ sie zusammenzucken.

Dass sie auf dem besten Weg war, ihrem Vater nachzueifern, empfand sie richtig gruselig.

Wurde sie tatsächlich wie er?

Dem Menschen, den sie auf dieser Erde am meisten verabscheute, eiferte sie nach?

War das tatsächlich so?

Bestürzt musste sie erkennen, dass es tatsächlich so wirkte.

Nicht wirkte. War!

Seit dem Tod ihrer Großmutter hatte es tatsächlich keinen einzigen Tag gegeben, an dem sie nicht getrunken hatte.

Und immer öfter war das Wort ‘trinken’ zu einer sanften, jedoch nicht ganz ehrlichen Umschreibung für das geworden, was Dora jeden Tag tat.

Was sie an vernichtenden Mengen in sich hineinschüttete, konnte man beim besten Willen nicht mehr als trinken bezeichnen.

Dora soff sich die Seele aus dem Leib! Das war die Realität und ihr: „Ich habe es im Griff!“, war lediglich das verleugnende, typische Herumgerede und Abschwächen jedes Alkoholikers.

Tatsächlich hatte sie überhaupt nichts mehr im Griff, denn sie versuchte sich ihren Kummer aus dem Herzen zu saufen und trank sich bald ins Grab, wenn sie so hemmungslos weiter becherte!

Das waren die Fakten, die es zu erkennen galt, wenn Dora sie zu sehen bereit war. Und manches Mal war sie das. Doch eine Verhaltensänderung brachte dieses Erkennen nicht. Im Gegenteil.

Jetzt hatte sie einen Grund mehr, um sich zuzuschütten: Sie musste sich den Ekel vor sich selbst wegsaufen.

Warum sie ausgerechnet so wurde, wie sie doch nie werden wollte, war ihr damals in hellen Momenten einfach nicht in den Kopf gegangen.

Gottlob gab es von diesen hellen Momenten aber sowieso nicht mehr allzu viele und sie soff daher einfach weiter, um sich nicht auch noch darüber Gedanken machen zu müssen.

Alkohol schien ihre Kreativität zu beflügeln oder sie zu beruhigen, ihren Kummer zu beseitigen oder ihr schlechtes Gewissen zu verdrängen. Was immer sie von ihm erwartet hatte: Ein gutgefülltes Glas hatte ihr beschert, was sie gebraucht hatte.

Bis sie mit 20 Jahren mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus gelandet war.

Sie hatte im Nachhinein erfahren, dass sie ein hilfsbereiter Taxifahrer bewusstlos auf der Straße aufgelesen und ins Spital gebracht hatte.

Erinnerung daran hatte sie absolut keine mehr.

Sie hatte einen klassischen Filmriss und erst das Erwachen im Spital war wieder in ihrem Gedächtnis vorhanden.

Wobei: Auf dieses Erinnern hätte sie in der Tat verzichten können!

Wahnsinnige Kopfschmerzen! Schreckliche Übelkeit! Ein Schlauch in ihrem Schlund.

War das eine Erfahrung gewesen!

Grauenhaft! Echt furchtbar war das gewesen!

Doch dieser Krankenhausaufenthalt hatte ihr die Augen geöffnet und sie hatte sich geschworen: Nie mehr wieder würde sie sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken!

Nie wieder!

Die Zeit im Spital hatte ihr mahnend aufgezeigt, wie nah sie am Abgrund gestanden hatte. Hätte sie dieser unbekannte Taxifahrer nicht gefunden und in das Krankenhaus gebracht, wäre sie gestorben. Auf der Straße. Wie ein Penner.

Dabei hatte sie doch nie dem Club 27 angehören wollen und aus diesem Grund die Finger von Drogen gelassen.

Ha! Um ein Haar hätte sie sich schon sieben Jahre zuvor in den Tod gesoffen! Janis Joplin und Amy Winehouse wären ihr wohl wie Greise erschienen, hätte sie sich mit ihnen im Jenseits auf einen Erfahrungsaustausch-Plausch getroffen.

Und noch etwas hatte ihr dieser Krankenhausaufenthalt gezeigt: Wie rasch es wieder bergab gehen würde, wenn sie nichts an ihrem Leben änderte.

Sie war auf dem besten Weg, eine Alkoholikerin zu werden. Wie ihr Vater!

Im Nachhinein war sie daher für diese qualvolle Erfahrung samt den Schmerzen fast dankbar!

Ihr war dadurch nämlich klargeworden, dass sie so weit nie kommen wollte!

Sie würde ihr Leben ändern!

Nie mehr wollte sie einen Schlauch im Magen haben! Nie mehr!

Seit jenem Vorfall hatte sie kaum mehr getrunken und wenn doch, war sie auf Wasser umgestiegen, wenn sie diesen wohlbekannten, unheilschwangeren Schwindel gefühlt hatte.

Natürlich wurde sie belächelt. Selbstverständlich wurde sie ständig verführt.

Sie musste lernen, mit Spott umzugehen.

Doch das fiel ihr nicht schwer, nachdem sie sich erst dazu entschieden hatte, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben.

Und sie dachte dabei an die Worte ihrer Großmutter.

„Sei stark und dir dessen immer bewusst!“

Ja, sie war stark und ging nicht den bereits eingeschlagenen Weg ihres Vaters weiter und auch keinesfalls den ihrer Mutter.

Sie ging ihren eigenen! Den Weg der Dora Bellis!

Autounfall

Der junge Mann besuchte die ältere Dame.

Sie saßen nach dem Essen gemütlich auf der überdachten Terrasse. Er hatte sein zweites Bier getrunken und sie hatten viel gelacht.

Plötzlich stand der alte Mann an der Gartentür. Wie ein Penner hatte er ausgesehen und herumgebrüllt, wonach alle Nachbarn ihre neugierigen Nasen vorsichtig durch die Büsche gesteckt hatten. Die Frau war kreidebleich geworden.

„Wie hat er mich nur finden können?“, flüsterte sie und zitterte wie Espenlaub.

Der junge Mann wusste es nicht. Doch hier konnte sie nicht länger bleiben, so viel war klar!

Nicht jetzt! Nicht, nachdem der Alte sie gefunden hatte.

„Du kommst zu mir!“, entschied der Jüngling daher und wies sie an, einige Sachen zusammenzupacken.

Während sie kurz darauf eilig aus dem Haus huschte, versuchte der junge Mann den Alten zur Vernunft zu bringen.

Eine Mission Impossible! Bei der enormen Ausdünstung, die der Betrunkene verströmte, hatte der Jüngere aber sowieso nicht damit gerechnet, ein vernünftiges Gespräch führen zu können. Er wollte den Alten bloß ein wenig ablenken, damit die Frau unbehelligt zu seinem Auto laufen und einsteigen konnte.

Als der wankende Trunkenbold realisierte, dass die Frau bereits im Auto des jungen Mannes saß, hob er seine dreckige Pranke und wollte auf den Jüngeren eindreschen.

Da hätte er aber früher aufstehen müssen. Ein beherzter Schritt zur Seite und schon lag der Saufbold mit dem Gesicht im Dreck. Davon unberührt lief der Bursche zum Auto, startete und wollte die Frau in Sicherheit bringen.

Da tauchte der Penner wie ein Geist vor der Motorhaube auf und torkelte schnurstracks in das Auto des jungen Mannes. Wie der Alte so rasch wieder auf die Beine hatte kommen können, war dem Jüngeren schleierhaft. Doch diesen grässlichen Aufprall würde der junge Mann sein Leben lang nie vergessen!

Prinzipien

2011-2013

Dora war schon mit 21 auf dem Weg ganz nach oben.

Die ‘Hells Angels’ starteten durch ihr ambitioniertes Engagement als Bandleaderin und ihrer Kreativität als Komponistin und Leadsängerin voll durch. Die Verkäufe der Alben stiegen. Die Einnahmen kamen. Die Kasse klingelte.

Dora kaufte eine traumhafte Villa am Rande des Wienerwaldes, die sie aber leider nur selten bewohnen konnte, weil bald die ausgedehnten Tourneen begannen.

Mit 23 kam nämlich der ganz große Durchbruch.

Gleichzeitig mit Dieter, dem neuen Gitarristen. Der 30-Jährige war nicht nur ein virtuoser Musiker, er hatte auch das, was nur wenige besaßen: Charisma.

Und was für eines!

Wie die Reinkarnation von Jim Morrison stürmte er mit seiner lässigen Ausstrahlung und den dunklen Locken auf die Bühne und brachte die Mädchen zum Kreischen.

Er hatte das weibliche Publikum in seiner Tasche. Mit seinem muskulösen Oberkörper, den er bevorzugt ohne Shirt präsentierte und seinem unwiderstehlichen Lächeln brachte er das Publikum auf Touren.

Genauso wie Dora.

Sie war ihm eigentlich sofort verfallen.

Als sie Dieter kennenlernte, war sie schon lange nicht mehr mit Uwe zusammen, obwohl er noch immer der Schlagzeuger der Band war.

Tim, dem langjährigen Gitarristen der Band hatte seine Freundin angeblich das sprichwörtliche Messer an die Kehle gesetzt. Dora hatte damals gar nicht gewusst, dass er in einer Beziehung gewesen war. Doch eigentlich hatte sie von Tim so gut wie gar nichts gewusst.

„Dora, ich muss leider aussteigen“, hatte er erklärt, als sich die Mitglieder der Band in Wien gerade auf die kommende Tournee vorbereiteten.

„Die Tour kann ich nicht mehr mitmachen. Meine Süße erwartet ein Baby und sie hat gesagt, wenn ich sie jetzt monatelang allein lasse ... also ... sie ...“, er zögerte, blickte zu seinen Schuhspitzen.

„Ist schon gut!“, wusste Dora Bescheid. Dieser Job und vor allem eine Tournee war alles andere als familienfreundlich. „Ich verstehe das“, versuchte sie ihre Enttäuschung zu verbergen und vor allem ihre Sorge bezüglich der Tournee, die in wenigen Wochen losging.

Wo bekomme ich so rasch einen Gitarristen her? Einen wirklich guten? Diese panischen Gedanken stiegen in ihr hoch und sie überlegte bereits, wo sie Ersatz herbekommen konnte, während sie noch versuchte, Tim ihren Schock nicht spüren zu lassen.

„Ich habe einen Freund, der mir einen Freund eines Freundes empfohlen hat. Er soll wirklich gut sein. Er könnte morgen zum Vorspielen kommen!“, kam daher ein Vorschlag von Tim, der Doras Gedanken und Sorgen gleich einmal fürs Erste beendete. Sie war Tim dankbar, dass er sich schon im Vorfeld um eine Lösung bemüht hatte.

Kurz vor der ersten großen Tournee durch Westeuropa hinterfragte Dora Tims Empfehlung daher nicht weiter, sondern nickte erleichtert. Normalerweise wusste sie gerne, wer ein Bewerber war. Doch sie konnte es sich nicht leisten, besonders wählerisch zu sein und wer sagte denn, dass der Freund eines Freundes nicht trotzdem eine gute Wahl war?

„Ja, schicke mir diesen Gitarristen, wenn er wirklich gut ist“, nickte sie daher und hoffte auf ein Wunder.

„Das soll er sein! Ich sage ihm, dass er morgen zum Vorspielen kommen soll“, versprach Tim.

Am nächsten Tag übte Dora gerade einen neuen Gitarrenriff und war allein im Proberaum, als die Tür aufflog und Dieter mit seinem Gitarrenkoffer im Türrahmen erschien.

Er zog augenblicklich Doras volle Aufmerksamkeit auf sich und sie konnte ihre Augen nicht von ihm abwenden.

Mit wiegenden Schritten und einem verwegenen Grinsen trat er in den Raum und grüßte mit einem coolen: „Hi, ich bin Dieter! Tim hat gesagt, dass ich zum Vorspielen kommen soll“, erwähnte er knapp und packte seine Gitarre aus.

„Darf ich?“, fragte er und schloss sein Instrument an einen Verstärker an.

Dora beobachtete, wie er die Gitarre zur Hand nahm und kaum, dass er die ersten Töne gespielt hatte, war für Dora alles klar.

Er war es!

Der neue Gitarrist!

Und er war es auch so!

Sie spürte ein verräterisches Kribbeln in der Magengegend, als sie seine schlanken Finger beobachtete, wie sie über die Saiten flogen. Sie beobachtete sein Gesicht, als er spielte, blickte auf seine langen dunklen Wimpern und wurde sich seiner anziehenden Ausstrahlung sofort schmerzhaft gewahr.

Das war nicht gut, was sie da empfand. Das war überhaupt nicht gut, versuchte sie ihre so überraschend auftauchenden, ungewohnten Gefühle zu ignorieren.

Sie hatte sich noch nie Hals über Kopf in jemanden verliebt und dabei wollte sie es auch bewenden lassen. Man ist nicht mehr Herr seiner Sinne, wenn die Sinne erst einmal den Herrn beeinflussten.

Das wusste Dora gottlob bloß von anderen unglücklich Verliebten, die sich die Augen ausheulten, wenn sie sich in einen Kollegen verliebt hatten und den so sehr Geliebten jeden Tag sehen mussten, selbst dann noch, wenn es Streit oder gar eine unschöne Trennung gegeben hatte.

Nein, nein! Gefühle hatten am Arbeitsplatz nichts verloren.

Hätte sie beispielsweise Uwe geliebt, hätte sie unter seinem Fremdgehen gelitten. Nachdem sie für ihn aber keine romantischen Gefühle gehegt hatte, war es ihr möglich gewesen, seine Affären locker hinzunehmen.

Selbst als sie und Uwe noch ein Paar gewesen und Ludmilla des Öfteren mit zerrauften Haaren aus seinem Zimmer gekommen war, hatte sie nicht überreagiert wie eine eifersüchtige, zänkische Ehefrau.

Im Gegenteil!

Ludmilla war inzwischen Teil der Crew und ihre Vertraute geworden, während Uwe und Dora noch immer Arbeitskollegen waren, die sich hervorragend verstanden.

Das verdankte sie bloß der Tatsache, dass sie ihre Gefühle ausblenden konnte.

Obwohl.

Nachdem sie für Uwe keine tiefen Gefühle gehegt hatte, musste sie doch auch gar keine ausblenden, erkannte sie sehr wohl, dass es da einen kleinen, nicht unerheblichen Unterschied gab.

So wie sich das soeben bei Dieter anfühlte mit dem pochenden Herzen und Flattern im Bauch, so etwas hatte Dora eigentlich noch nie gefühlt.

Trotzdem!

Dann musste sie eben an sich arbeiten!

Dieses Wissen, jede Situation im Leben weiterhin im Griff haben zu können, wollte sie auf keinen Fall verlieren.

Ihr Motto blieb daher: ‘Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps‘. Berufliches von Privatem zu trennen, war wichtig und sie hatte demnach auch nicht vor, das zu ändern.

Auch nicht, nachdem sich ihr Magen inzwischen anfühlte, als versuchte er Purzelbäume zu schlagen und ihr das Herz bis zum Hals pochte.

Nein! Der Typ war gut, entschloss sie sich, die Angelegenheit sachlich zu sehen. Nachdem sie so heftig auf ihn reagierte, war er wohl ein Mädchenschwarm! Und das war doch gut für die Band!

So etwas konnten die ‘Hells Angels’ gut gebrauchen!

Dora heizte den Burschen ein und Dieter konnte das männliche Aushängeschild für weibliche Fans werden, versuchte Dora ihre eigenen Empfindlichkeiten auszublenden und in berufliche, marketinggesteuerte Überlegungen zu lenken.

„Du bist gut!“, nickte sie anerkennend, als er die Gitarre zur Seite legte und auf ihr Feedback wartete.

„Ich weiß!“, antwortete er selbstbewusst und lächelte breit.

„Wir haben demnächst eine Tournee. Könntest du so kurzfristig mit uns auf Tour gehen?“, war ihre vordergründigste Frage, denn was nützte es, einen guten Gitarristen gefunden zu haben, der in seiner Familie womöglich unabkömmlich war.

„Aber klar!“, grinste er und ließ es klingen, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, dass man von einem Monat auf den nächsten für einige Zeit von daheim weg sein konnte.

„Echt? Wir sind vier Monate unterwegs!“, präzisierte Dora daher.

„Kein Problem! Ich stehe bereit!“

„Keine Verbindungen?“, wunderte sie sich.

„Keine Verbindungen!“

Er hatte sie dabei mit seinen dunklen Augen angesehen und Dora war heiß und kalt geworden.

„Gut, dann bist du unser Mann!“, traf sie ihre Entscheidung aus dem Bauch heraus.

„Ich freue mich, mit so einer talentierten, aber vor allem wunderschönen Frau unterwegs zu sein!“, grinste er sie an und verneigte sich wie ein Kavalier, was in seinem rockigen Lederoutfit fast ein wenig seltsam aussah.

Und trotzdem fühlte sie sich geschmeichelt.

„Ich werde jeden Tag pünktlich zur Probe erscheinen!“, versprach er.

Tatsächlich war er am nächsten Tag der Erste im Proberaum.

Dora kam gerade mit ihrem Kaffeebecher in das Studio, als er ihr bereits die Tür aufhielt.

„Nicht, dass du noch den Kaffee verschüttest!“, lächelte er und sie spürte bei seinem Blick, wie ihr Herzschlag schon wieder zu trommeln begann.

Das kann ja heiter werden, ärgerte sie sich über diese kindische Reaktion und nahm sich vor, dieses Gefühl ganz einfach zu ignorieren.

„Du bist aber zeitig da!“, zeigte sie sich verwundert und schlug einen humorvollen, aber sachlichen Ton an. Von ihren Bandkollegen war sie gewohnt, dass die akademische Viertelstunde oftmals zu einer unendlich langen Stunde werden konnte.

„Der frühe Vogel frisst den Wurm und ich hab ja versprochen, pünktlich zu sein“, schielte er auf ihren Becher.

„Ob wohl ein Schluck für mich drinnen ist?“, fragte er keck und sie reichte ihm den Becher.

Er trank einen Schluck und nickte.

„Genauso habe ich dich eingeschätzt: Cappuccino ohne Zucker, denn süß bist du selbst!“

Dora schüttelte den Kopf und sah ihn irritiert an.

Flirtet er mit mir?

Uwe und Tommy, der Bassist, kamen lärmend in den Raum und eine halbe Stunde später war jeder an seinem Instrument und sie begannen mit ihrer Probe. Es stellte sich heraus, dass Dieter sich sehr gut in das Team integrierte und sich die Burschen gut untereinander verstanden.

„Gute Entscheidung!“, hob Uwe den Daumen in einer Pause. „Und ich glaube, er steht auf dich!“, schoss er noch nach und grinste dreckig.

„Blödsinn!“, schüttelte sie den Kopf, ließ sich aber nach der Probe von Dieter auf einen Drink einladen.

Natürlich nur zu dem Zweck, den neuen Kollegen kennenzulernen, weil das die Teamfähigkeit festigte.

Sie saßen in einer schummrigen Bar und Dora fragte ihn nach seiner Familie.

„Ich habe einen älteren Bruder!“, erzählte er und ließ Informationen über seine Eltern aus. Gut, vielleicht gab es über sie auch nichts zu erzählen, bloß über den Bruder, mutmaßte Dora, dass er ihn wohl sehr gerne hatte, nachdem er lediglich von ihm redete.

„Du hast ihn wohl ziemlich vergöttert?“, fragte sie daher.

„Wie man nimmt“, lachte er. „Als kleiner Junge natürlich schon.“ Dann fragte er Dora, ob sie auch Geschwister hätte.

„Nein, leider. Ich hätte aber gerne welche gehabt“, hielt auch sie sich bezüglich ihrer Familie bedeckt.

„Und wie war deine Schulzeit?“, fragte sie ihn und trank einen Schluck.

„Nun!“, verzog er das Gesicht. „Eine Zusatzrunde in der fünften Klasse ist sich schon ausgegangen!“, grinste er ein wenig beschämt, zuckte aber dann die Achseln. „Wegen ungebührlichen Benehmens“, gestand er. „Ich habe ständig irgendwelchen Unfug getrieben und mich eigentlich immer nur für Musik interessiert.“

„Warst du in der Schule auch so eine Laus?“, fragte er daraufhin Dora.

„Nein, das hätte ich gar nicht gewagt!“

„Warum nicht? Du wirkst so taff!“

„Mein Vater hat mich regelmäßig grundlos geschlagen. Ich wollte ihm nicht auch noch einen Anlass liefern.“

„Na, dann wäre es aber vielleicht sowieso egal gewesen!“

„Wie meinst du das?“

„Ganz einfach: Wenn er dich ständig ohne Grund geschlagen hat, hättest du ihm doch ohne Weiteres Anlass bieten können und hättest wenigstens deinen Spaß gehabt!“, sah er die Situation ziemlich locker und Dora begann herzhaft zu lachen.

„So habe ich das noch gar nicht gesehen!“, antwortete sie. „Stimmt, du hast wirklich recht! Schade, dass ich da erst jetzt draufkomme.“

„Nun, ich denke, vielleicht bist du deshalb so eine verdammt gute Rockerin geworden: Du hast das Feuer in dir immer zügeln müssen und jetzt lässt du es einfach raus. Ungefiltert. Wild und sexy!“

Er sah sie plötzlich mit einem anderen Blick an.

„Dein Lachen vorhin: Weißt du, dass du bezaubernd bist, wenn du lachst? Gut, eine Augenweide bist du ja sowieso, doch wenn du lächelst, geht die Sonne auf“, sagte er und ließ seine Augen über ihren Oberkörper gleiten, riss seinen Blick aber wieder hoch und sah in ihr Gesicht.

„Deine grünen Augen sind wie Smaragde und wenn du lachst, werden sie zu blitzenden Sternen!“, schwärmte er und Dora hätte ihm solch poetische Worte nie zugetraut.

Sie spürte allerdings, wie es bei diesen Worten und vor allem unter seinen Blicken in ihrem Bauch zu brodeln begann. Er schien zu spüren, dass sie zu Wachs wurde und beugte sich zu ihr. Als sie abwartend seinem Blick standhielt, schob er seine Hand in ihren Nacken und zog sie zu sich.

Jetzt wäre der Moment gewesen, wo sie, um ihren Prinzipien treu bleiben zu können, geschäftsmäßig hätte aufstehen und heimgehen können.

Wenn sie dazu noch fähig gewesen wäre.

Was natürlich nicht der Fall war.

Er sah ihr lange in die Augen, schien zu warten, ob sie es auch wollte.

Sie waren sich so nahe, dass Dora den warmen Hauch seines Atems bereits spürte. Sie fühlte seine animalische Ausstrahlung, die sich mit dem herben Duft seines anregenden Herrenparfums vermischte mit jeder Pore.

Da schloss sie ihre Augen und beugte sich vor, küsste ihn. Augenblicklich wurde der Druck seiner Hand stärker und er strich ihr mit seinen Händen verlangend durch ihr Haar. Hemmungslos öffnete er mit seinem Mund ihre Lippen und drang mit seiner Zunge in sie, spielte mit ihrer.

Dora spürte, dass er nicht nur mit seiner Zunge in ihr sein wollte. Und das ließ er durchblicken, als er raunte: „Du machst mich total verrückt. Und zwar schon, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe.“

„Das war doch erst gestern“, flüsterte sie.

„Und seither brenne ich“, murmelte er in ihren Mund. „Komm, lass uns gehen!“

Sie war wie benommen und nickte bloß.

Er winkte dem Kellner, zahlte und zog sie an der Hand hoch.

Dora wankte. Sie wusste nicht, ob sie von dem einen Drink betrunken war oder bloß trunken vor Glück.

Dieter jedenfalls bemerkte es, hakte sie unter und führte sie ins Freie. „Zu dir oder zu mir?“, fragte er und winkte nach einem Taxi.

„Zu mir“, nannte sie die Adresse ihrer Villa.

Ludmilla, die als Haushaltshilfe in Doras Haus ein Zimmer bewohnte, war noch wach und befand sich gerade in der Küche, als Dora nach Hause kam.

Sie blickte überrascht, dass Dora Besuch mitgebracht hatte. Doch sie verschwand mit einem vielsagenden Lächeln in ihr Zimmer, während Dora Dieter in ihr Schlafzimmer zog.

„Willst du noch etwas trinken?“, fragte sie und zeigte auf die Bar.

„Nur dich!“, rief er und zog sie in seine Arme. Er küsste sie heißblütig und verschlang mit seinen Lippen ihren Mund. Mit einem heftigen Ruck schob er ihr das T-Shirt über den Kopf, als er sich kurz von ihren Lippen löste.

„Du bist wunderschön!“, hauchte er, als er ihre Brüste bewunderte. Wie ein Kunstsammler, der ein Gemälde bestaunte, ließ er seinen Blick über Doras Rundungen gleiten und strich über ihre weiche Haut. Als sich ihre Brustwarzen aufstellten, küsste er sie, während sich Doras Finger in seinem Haar vergruben.

„Du schmeckst so gut!“, raunte er, hob sie hoch und trug sie zum Bett. Er ließ sie auf das Laken sinken, während er sein Hemd auszog.

Dora beobachtete das Spiel seiner Muskeln und war fasziniert von seinem Waschbrettbauch. Sie schlüpfte aus ihrer Jeans und nestelte mit gierigen Händen auch an seinem Hosenbund.

Im selben Moment war er auch schon in ihr und eine rasende Begierde nahm von Dora Besitz. Zügellos wand sie sich in seinen Armen, krallte ihre Fingernägel in seinen Rücken.

Nach nur wenigen, heftigen Stößen erbebte ihr Körper und als sie die süße Erfüllung nahen spürte, nahm sie auch seinen Höhepunkt mit einer Intensität wahr, die sie bisher noch nie erlebt hatte.

Viel zum Schlafen kam sie in dieser stürmischen Nacht nicht und am nächsten Tag erschien sie zum ersten Mal selbst zu spät zu den Probeaufnahmen.

Gleichzeitig mit dem neuen Gitarristen, der versprochen hatte, immer pünktlich im Studio zu erscheinen.

Uwe und Tommy waren bereits am Proben, als Dora und Dieter hektisch in den Proberaum stürmten.

Uwe lächelte zweideutig und schob Dora lediglich einen großen Becher Kaffee vor die Nase.

„Ich denke, das könnt ihr jetzt brauchen – oder?“

„Oh, ja!“, lächelte Dora und nahm einen Schluck, hielt auch Dieter den Becher hin.

Mit Dieter an ihrer Seite kam, nach Großmutters Tod, nicht nur Liebe, sondern auch wieder etwas Nestwärme in ihr Leben zurück.

Sie liebte ihn mit einer verzehrenden Leidenschaft und hatte endlich jemanden an ihrer Seite, der zu ihr zu gehören schien. Sie fühlte sich Dieter so verbunden und das Leben begann schön zu werden.

Mit 23 war Dora endlich so etwas wie glücklich.

Nein, nicht so etwas! Sie war glücklich!

Nummer 31 und 52

Februar 2010

„Hey, Nummer 31, hast du eigentlich schon nachgedacht, was du danach aus deinem Leben machst?“

„Wenn ich das wüsste!“, sagte der Jüngere und stocherte lustlos in seinem Erbseneintopf herum. „Ich weiß nur eines: Ich will hier nie wieder landen!“

Mit einem angewiderten Gesicht schmiss er seine Gabel auf den Teller.

„Ja, der Fraß ist wirklich kaum zum Runterwürgen. Aber du kommst ja sowieso bald raus, oder?“

„In einer Woche“, antwortete der Jüngere einsilbig, erhob sich, wollte den Mittagstisch verlassen und dieses Gespräch beenden.

„Bleib jetzt gefälligst sitzen! Ich rede doch gerade mit dir!“, fuhr ihn der Ältere an und verhinderte, dass er sich aus dem Staub machen konnte.

„Hast du draußen einen Job?“, fragte der Ältere, nachdem sich der Jüngere wieder gesetzt hatte.

„Ich habe einen gehabt. Aber den kann ich vergessen!“

„Wieso?“

„Ich war Chauffeur!“, log er. Sein Beruf ging diesen Kerl nichts an.

„Was ist denn daran verkehrt, Nummer 31?“

„Wieso nennst du mich eigentlich immer Nummer 31?“, fragte der Jüngere entnervt. „Ich nenne dich doch auch nicht Nummer 52!“

„Kannst du aber, hier in diesem Loch bist du doch sowieso nur eine Nummer!“, grinste der Ältere, der bereits einige Erfahrungen mit dem Einsitzen gesammelt hatte.

Zumindest mehr als der Jüngere, der zum ersten Mal dieses zweifelhafte Vergnügen hatte und sich auch genauso verhielt wie ein Grünschnabel.

Aus diesem Grund wollte ihm der Ältere auch ein wenig unter die Arme greifen.

Hätte er sich nicht um ihn gekümmert, säße der junge Spund noch immer wie ein Einsiedlerkrebs ganz allein herum und würde mit niemandem reden. Er konnte es ihm verdanken, dass er überhaupt eine Ansprache hatte!

Doch so wirklich dankbar zeigte er sich nicht, denn der junge Kerl wirkte ständig, als wäre er vor ihm auf der Flucht!

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752121834
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Leid Drama Freundschaft Betrug Romantik Spannung Alkoholmissbrauch Liebe Musik Vertrauen Roman Abenteuer Liebesroman Psychothriller

Autoren

  • Brigitte Kaindl (Autor:in)

  • Brenda Leb (Autor:in)

Brigitte Kaindl wurde 1960 in Wien geboren. Die Autorin und Musikerin ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Ihre Autobiografie "Mein Weg aus dem Fegefeuer" schrieb sie unter dem Pseudonym ‘Brenda Leb’. Danach veröffentlichte sie humorvolle Unterhaltungsliteratur sowie fesselnde Romane mit sozialkritischem Hintergrund. Die Autorin schreibt für Leser die Unterhaltung, Humor, Spannung und Gefühle suchen.
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Titel: Der Tote und das Gänseblümchen