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Die schwarze Fledermaus 01: Der Anschlag

von G. W. Jones (Autor:in)
176 Seiten
Reihe: Die schwarze Fledermaus, Band 1

Zusammenfassung

Tony Quinn ist ein bekannter und gefürchteter Staatsanwalt, als ihn ein brutaler Überfall während einer Gerichtsverhandlung zum Krüppel macht. Er erblindet. Mit einem Schlag hat sich sein Leben verändert. Monate später verspricht eine geheimnisvolle und schöne Unbekannte Tony Quinn Heilung, stellt aber auch eine Bedingung. Unterdessen weitet der Unterweltboss Snate, der auch für Quinns Erblindung verantwortlich ist, seine Schreckensherrschaft in Chicago aus. Tony Quinn wird nach einer gewagten Operation zur Schwarzen Fledermaus, formiert ein schlagkräftiges Team um sich und rüstet zum Kampf gegen das Verbrechen. Die Kult-Reihe aus den USA! Bisher in Deutschland unveröffentlichtes Abenteuer! Die Printausgabe umfasst 176 Seiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Kapitel I – Nächtlicher Besuch

 

Tony Quinn wälzte sich unruhig im Schlaf, während der Schatten eines Mannes lautlos durch sein Zimmer huschte. Obwohl der Einbrecher es eilig hatte, machte er nicht das leiseste Geräusch. Das Mondlicht zeigte ihn einen Augenblick lang als Relief eines Vierzigjährigen mit weit zurückgezogenem Haaransatz und spitzer Nase, die genauso schmal wie sein Mund war. Obwohl er weder finster noch anderweitig bedrohlich aussah, verhehlte er eine spezielle Eigenschaft nicht: Gerissenheit. Er berührte die Schulter des Schlafenden und rüttelte behutsam daran. Erschreckt fuhr Tony Quinn auf. Er vermochte sich sofort zu orientieren, und eine Hand schnellte unter das Kissen, um seine 38er Automatik hervorzuziehen.

„Halt, Sir“, flüsterte der Eindringling. „Ich tue Ihnen einen großen Gefallen. Hören Sie mich an! Bitte.“

„Nur zu“, entgegnete Tony Quinn leise. „Erklären Sie mir, was Sie im Haus des Bezirksstaatsanwalts zu suchen haben.“

„Der sind Sie?“, staunte der Unbekannte, fuhr dann jedoch, ohne auf eine Antwort zu warten, fort. „Das erklärt einiges. Ich bin nicht allein in diesem Haus, Sir. Ein weiterer Mann durchstöbert die Zimmer. Er trägt eine Waffe! Oh, ich leugne nicht, dass ich Sie ausrauben wollte, aber ich hatte nicht vor, mich dabei in einen Mord hineinziehen zu lassen, Sir.“

„In den Schrank mit Ihnen“, entschied Quinn schnell. „Schließen Sie die Tür, und keinen Ton. Falls Sie die Wahrheit sagen, soll es Ihnen nicht leidtun. Falls Sie mich aber hinters Licht führen wollen, werde ich diese Schranktür perforieren.“

Der Einbrecher schien durch den Raum zu schweben, so leise bewegte er sich. Quinn legte sich wieder hin und schob seine Pistole unter die Decke, wo er sie geruhsam entsicherte. Mittlerweile war er hellwach. Sogar zu einem Grinsen ließ er sich hinreißen.

Dann sah er mit halb geschlossenen Augen, wie sich die Schlafzimmertür öffnete. Eine Sekunde lang zeichneten sich die Umrisse eines stämmigen Mannes im Mondschein ab. Das Licht leuchtete auf. Quinn drehte sich unbehaglich um und blinzelte. Der Eindringling stand nun weniger als zehn Fuß vor ihm am Bett und richtete eine Pistole direkt auf seine Brust.

„Ruhig bleiben, Rechtsverdreher“, drohte der zweite Besucher.

Quinn betrachtete ihn eingehender. Ein kleiner, dicklicher Kerl mit breitem Gesicht, unbarmherziger Miene und nervös zusammengekniffenen Augen.

„Ich will nur reden“, behauptete der Fremde. „Du lebst allein in diesem Haus, also weiß ich, dass uns niemand stört. Mach bloß keine hektischen Bewegungen, denn ich will dich nicht umbringen müssen.“

„Jetzt einmal halblang“, erwiderte Tony Quinn ruhig. „Wer sind Sie, und weshalb hat Oliver Snate Sie hergeschickt?“

Der Eindringling grinste. „Du hast es erraten. Goldrichtig liegst du. Ich komme in Snates Auftrag, aber mein Name tut nichts zur Sache. Pass auf! Die Verhandlung wurde heute vertagt, um dir Zeit zu geben, einen unerwarteten Zeugen gegen Snate vorzuladen. Er steht wegen Nötigung und Verschwörung vor Gericht. Bislang sah es wenigstens für uns so aus, als sei er aus dem Schneider, doch dann hast du ’nen neuen Zeugen erwähnt und etwas davon, dass Snates Stimme aufgezeichnet worden sei. Ich bin hier, um dir ’nen Deal vorzuschlagen.“

Quinn zuckte mit keinem Muskel. „Mein Leben gegen die Aufnahmen sowie den Namen des Zeugen, damit Sie ebendiesen töten können. Sparen Sie sich die Luft, ich weiß Bescheid. Die Antwort lautet: ausgeschlossen!“

Der Killer schaute grimmig. „Machst es mir nicht leicht, Freundchen. Ich habe meine Anweisungen. Entweder die Bänder und den Namen des Zeugen, oder ich verpasse dir ’ne Kugel dorthin, wo sie am meisten weh tut. Lass es dir durch den Kopf gehen. Fünf Minuten. Nicht zucken, denn ich sitze am längeren Hebel und drücke nur zu gern ab.“

Tony Quinn fragte sich, mit einem Blick auf den Schrank, ob der Kerl darin, der ihn gewarnt hatte, nicht auch bloß einer von Snates Handlangern war. Innerlich verfluchte er sich dafür, so leichtsinnig gewesen zu sein. Als Police Commissioner Warner ihm einen Leibwächter aufzwingen wollte, hatte er lachend abgewunken. Nun steckte er in der Klemme. Mit dem Tod als offenbar einzigem Ausweg.

Sicher, mit der versteckten Automatik unter dem Laken hatte Quinn noch ein Ass im Ärmel. Sein Finger ruhte bereits am Abzug. Er schaute dem Killer unverhohlen in die Augen.

„Noch einmal, damit ich nichts falsch verstehe“, fasste er langsam zusammen. „Snate schickt Sie mit dem Auftrag, die Aufnahmen, von denen ich sprach, sicherzustellen sowie den Namen des Zeugen herauszufinden. Und wenn ich beides nicht preisgebe, sterbe ich. Soweit korrekt?“

„Hast das beim ersten Mal schon ganz genau kapiert“, raunte der Mann. Allmählich wurde er etwas fahrig. Eigentlich sollte jemand in Quinns prekärer Situation heulen und mit den Zähnen klappern, doch der Anwalt wirkte so ruhig, als trete er in einem Fall mit bereits feststehendem Ausgang vor die Geschworenen. Es war nicht normal, und der Killer befürchtete, dass Quinn eine Überraschung parat hatte. Er leckte seine Lippen und bereitete sich auf die Bluttat vor. Brachte er Quinn um die Ecke, konnte Snate sich nicht beschweren. Vermutlich traute der Zeuge sich daraufhin nicht, vor Gericht aufzukreuzen. Und die Tonbänder waren wohl im Haus und deshalb leicht zu finden. Er hakte den Finger seiner Schusshand ein wenig beherzter ein.

Quinn sah das Funkeln in den Augen seines Gegenübers. Er wollte seine eigene Waffe unter der Bettdecke hervorholen und sie auf seinen Widersacher richten. Doch dann setzte sein Herzschlag für einen Moment aus. Die Pistole hatte sich in der Decke verwickelt!

Genau in diesem Augenblick flog die Schranktür auf, ein Schuh schnellte hervor, geradewegs auf den Widersacher zu. Dieser fuhr mit dem Kopf herum, schwenkte seine Kanone und feuerte auf die Bretter. Inzwischen war es Quinn gelungen, die Automatik hervorzuzerren. Der Knall fiel fast mit dem Schuss des Killers zusammen.

Für eine Sekunde stand der Mann stocksteif da, dann erschlaffte sein Körper, sackte zusammen und lag nach einer Drehung reglos am Boden. Quinn war bereits aus dem Bett gesprungen und trat ihm auf dem Weg zum Schrank die Pistole aus der Hand.

Der Einbrecher, sein Retter, hielt sich mit einer Hand an einem Kleiderhaken fest. Blut lief über sein Gesicht. Ein freundliches Grinsen schlug fehl; er stand kurz davor, sein Bewusstsein zu verlieren. Quinn bekam ihn gerade noch zu fassen, bevor er vornüber zu Boden ging. Rasch schleppte er ihn zum Bett, legte ihn darauf und besorgte Handtücher aus dem Bad. Nachdem er dem Mann das Blut aus dem Gesicht gewischt hatte, stellte er erleichtert fest, dass nur seine Kopfhaut aufgeschürft war. Falls er keine Gehirnerschütterung davongetragen hatte, würde er in zehn Minuten wieder wohlauf sein.

 

*

 

Quinn flößte dem Mann puren Brandy ein und nickte zufrieden, als sich dessen Lider bewegten. Dann sah er nach dem Auftragsmörder. Mausetot.

„Sind Sie … Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Sir?“, fragte der Verwundete stockend.

Quinn ging zurück zum Bett und hockte sich auf die Kante. „Danke! Mir geht es von uns dreien hier am besten“, erwiderte er. „Sie haben eine Schramme am Kopf, die nicht besonders ernst aussieht. Können Sie reden?“

„Ja, Sir, ich schätze schon, aber es gibt nicht viel zu sagen. Ich … ich war in Ihrem Haus, hatte nichts weiter im Sinn, als Sie zu beklauen, und … und aktenkundig bin ich auch. Jetzt hab ich es wohl endgültig vergeigt.“

Quinn spendierte einen zweiten Schluck Brandy und half dem Mann, sich gegen die Kissen aufzurichten.

„Keinesfalls haben Sie das“, versicherte er. „Ihnen verdanke ich mein Leben. Das macht Ihren Einbruch vergessen. Wer sind Sie? Erzählen Sie.“

„Ich heiße Kirby, Sir. Norton Kirby. Die Bull… die Polizei kennt mich als Silk Kirby. Ich bin ein Trickbetrüger. Einbruch ist nicht mein Ding, aber ich hatte Hunger und war verzweifelt. Ihre Haustür kriegte ich mit einem Generalschlüssel auf und schlüpfte gerade rechtzeitig herein, um zu sehen, wie der da ein Fenster öffnete und durchkletterte. Ich wusste sofort, dass der nicht auf Beute aus war. Der Mann wollte Sie umbringen, Sir. Ich war dann schneller bei Ihnen, Sir. Das ist alles.“

Silk Kirby.“ Quinn schmunzelte. „Nie von Ihnen gehört. Gut, dann mache ich Ihnen mal etwas zu essen und Kaffee für uns beide.“

„Lassen Sie mich das übernehmen, Sir.“ Kirby schwang seine Füße auf den Boden. „Ich habe als Hausdiener gearbeitet, das ist mein Beruf.“

Quinn willigte ein, und wenig später nippte er an einer guten Tasse Kaffee, die Silk gekocht hatte.

Sein Retter war sehr gesprächig, als müsse er seinem Herzen Erleichterung verschaffen. „Ich habe nie etwas Unmoralisches getan, Sir. Es ging immer nur gegen Leute, die es verdient hatten, äh … ausgenommen zu werden. Mit dem Einbruch bei Ihnen habe ich zum ersten Mal Gewalt angewendet.“

„Und gleichzeitig auch zum letzten Mal“, sagte Quinn und bemerkte, dass Silk blass wurde. „Ich werde Sie nicht den Behörden ausliefern, Silk“, fügte er rasch hinzu. „Wissen Sie, jemanden wie Sie könnte ich gut gebrauchen. Ich bin nicht verheiratet, habe eine Menge Geld und als Bezirksstaatsanwalt obendrein nicht wenige Feinde. Einer ist ganz besonders scharf darauf, mir die Lichter auszublasen. Er setzte auch diesen Mann hier auf mich an. Was halten Sie davon, für mich zu arbeiten? Als eine Art Leibwächter.“

Der Feuereifer, der nun in Silks Augen aufblitzte, konnte nicht gespielt sein. „Sehr, sehr viel, Sir! Ich bin zwar kein gelernter Leibwächter, unterstützen kann ich Sie dennoch, Sir.“

Quinn grinste. „Perfekt! Sie sind angestellt. Meine Menschenkenntnis trügt mich nicht, also weiß ich, dass Sie offen zu mir sind. Und nun direkt zur Sache. Zu diesem versuchten Mord: Sie sollten wissen, dass sein Auftraggeber Oliver Snate wegen Verschwörung vor Gericht steht. Wie bei vielen schrägen Gestalten seines Kalibers ist der Prozess zu einer Farce ausgeartet. Zeugen verstummten urplötzlich, und Alibis tauchen aus dem Nichts auf. Snate wähnt sich bald wieder auf freiem Fuß, doch ich habe einen Joker in der Hinterhand.“

 

*

 

„Dieser Joker ist ein kleiner, alter Mann namens Brophy. Er betreibt einen Laden im Westen der Stadt und weigerte sich, vor Snates Schergen zu kuschen, weshalb ihm der Strippenzieher persönlich einen Besuch abstattete. Allerdings ist Brophy nicht auf den Kopf gefallen und traf Vorkehrungen, um seine Unterhaltung mit Snate aufzuzeichnen. Die Schallplatten händigte er mir aus. Sie liegen in meinem Safe. Morgen wird Brophy in den Zeugenstand treten, unter Eid aussagen und Snates Ausflüchte und Einwände unter Hinzuziehung der Aufnahmen vollkommen zunichte machen. Damit wäre dieser große Fisch an der Angel.“

„Snate ist mir ein Begriff, Sir“, erklärte Silk, der gerade dabei war, das Sandwich, das er sich zubereitet hatte, hinunterzuschlingen. „Mit ihm ist wahrlich nicht zu spaßen. Ich bleibe für den Rest der Nacht auf und bewache Ihren Safe. Sie brauchen Ihren Schlaf, damit Sie morgen ausgeruht und fit sind.“

Quinn ging zu einem Telefon, das an der Küchenwand hing, nahm den Hörer ab und wählte. „Bei allem sollten wir nicht vergessen, dass in meinem Schlafzimmer eine Leiche liegt. Auch ein Bezirksstaatsanwalt muss Rechenschaft über einen plötzlichen und gewaltsamen Tod ablegen. Also, Sie sind jetzt mein Angestellter. Niemand wird Fragen stellen, weil ich außer einer Putzfrau, die tagsüber hier sauber macht, keine andere Hilfe im Haushalt habe.“

Während Quinn telefonierte, schlug sich Silk den Bauch weiter mit Sandwiches voll. Eine halbe Stunde später rückte ein Polizeiaufgebot mit Kollegen der Gerichtsmedizin an. Sie nahmen den Toten mit. Nachdem Silk ein anderes Zimmer hergerichtet hatte, legte sich Quinn dort nieder. Mit einer Pistole, die er in der Schublade eines Sekretärs fand, pflanzte er sich auf einen Stuhl mit senkrechter Rückenlehne, kippte ihn gegen den Wandsafe und wartete, bis der Morgen graute.

Als Quinn gut ausgeschlafen erwachte, stand sein Frühstück schon bereit.

Kapitel II – Ätzende Säure

 

Im Gerichtssaal gab es wohl niemanden, der unter größerer Anspannung stand als Oliver Snate. Er saß mit seinem Zweihundert-Dollar-Anzug nebst entsprechenden Accessoires auf der Stuhlkante und kaute nervös an seinen Fingernägeln. Er wusste, dass Quinn der fähigste amtierende Bezirksstaatsanwalt seit Jahren war, und auch vom Tod des Mannes, den er auf ihn angesetzt hatte.

Als er über die Schulter blickte, kehrte ein Teil seiner Zuversicht zurück. Unter die Menge im Zuschauerraum hatten sich fünf Männer gemischt, die nicht aus dieser Stadt stammten. Jeder von ihnen war mit einer eindeutigen Aufgabe betraut worden. Falls sie versagten, stand Snates Urteil fest: Tod auf dem elektrischen Stuhl. Snate kannte diese Männer nicht, da sie von einem Freund angeheuert wurden. Ihm war keine andere Wahl geblieben.

Quinn betrat den Saal, gefolgt von Silk, der eine prall gefüllte Aktentasche sowie zwei schwere Gesetzbücher mitschleppte. Letztere legte er ab, ehe er dem Strafverfolger etwas zuflüsterte und dann mit wichtiger Miene am Protokolltisch Platz nahm.

Die Verhandlung wurde eröffnet. Quinn ergriff das Wort. „Euer Ehren, werte Geschworene. Gestern erbat ich mir einen Aufschub, um einen unwiderlegbaren Beweis dafür zu erbringen, dass Oliver Snate sowohl der Nötigung als auch der Konspiration schuldig ist. Mein Zeuge wurde sorgfältig bewacht. Aufzeichnungen, die Snates Schuld beweisen, bewahrte ich bei mir zu Hause auf, und ich allein weiß, was sie beinhalten und welche Aussage mein Zeuge treffen wird. Zu solchen Vorsichtsmaßnahmen sah ich mich gezwungen, da Oliver Snate ein skrupelloser und brutaler Verbrecher ist. Er …“

„Einspruch!“, rief Snates Verteidiger. „Wir möchten Beweise sehen und keine Beleidigungen hören. Die Anklage versucht, meinen Klienten vor den Geschworenen zu diffamieren. Einen unschuldigen Mann, der genauso rechtschaffen und redlich ist wie der verehrte Staatsanwalt selbst.“

Quinn wandte sich an Snate und fragte mit scharfem Ton: „Würde ein Unschuldiger einen Killer dafür bezahlen, mich im Schlaf umzubringen?“

Snates Gesicht blieb bis auf ein kurzes Zucken regungslos. Sein Verteidiger kniff die schmalen Lippen zusammen und plumpste auf seinen Stuhl.

Quinn trat vor den Zeugenstand, drehte sich um und gab einem älteren, weißhaarigen Mann in der ersten Reihe der Galerie ein Zeichen. „Ich rufe Joseph Brophy in den Zeugenstand!“

Der Mann stand auf, sah sich um und trat mit unsicheren Schritten vor. Nachdem er vereidigt worden war, setzte er sich und tippte unruhig die Fingerspitzen gegeneinander. Quinn öffnete seine Tasche, zog zwei Aufnahmescheiben heraus und legte sie auf den Tisch. Dann widmete er sich seinem Zeugen Brophy. „Erläutern Sie uns bitte mit eigenen Worten die genauen Umstände Ihrer Begegnung mit dem Angeklagten. Identifizieren Sie ihn und legen Sie alles offen, was Sie über ihn wissen. Wenn Sie fertig sind, werde ich die Aufnahmen abspielen und meinem geschätzten Kollegen die Möglichkeit geben, das kalte, mechanische Zeugnis eines Phonographen anzufechten.“

Und Brophy begann mit seiner Aussage. „Morgen ist es drei Monate her, als zwei von Snates Männern meinen Laden besuchten und meinten, ich müsse eine Versicherung kaufen. Ich brauchte keine und erklärte ihnen das auch so. Daraufhin zerbrachen sie eine Vitrine. Zwei Tage später kehrten sie zurück und wurden mir gegenüber handgreiflich. Ich lag eine Woche im Krankenhaus. Als sie danach wiederkamen, gab ich ihnen zu verstehen, sie sollten verschwinden, doch diesmal schlugen sie mein Schaufenster ein. Auf den nächsten Besuch wollte ich gefasst sein, weshalb ich ein Aufnahmegerät mit einem empfindlichen Mikrofon installierte. Ich hatte Glück, dass Snate mich persönlich aufsuchte. Ich ließ ihn glauben, ich sei bereit, mich ihm zu fügen, und er wurde redselig. Jedes einzelne seiner Worte ist auf diesen Scheiben verewigt.“

„Erzählen Sie uns, was er gesagt hat“, bat Quinn und sah, wie die Geschworenen sich gespannt nach vorne beugten. Dieses Dutzend war darauf erpicht, Snate zu überführen. Der Gangster war mit jedem Verbrechen, vom Mord bis zur schnöden tätlichen Beleidigung, davongekommen. Alles, was die Vereidigten noch brauchten, waren stichhaltige Indizien.

Snate beobachtete sie ebenfalls. Beklommen zog er ein Seidentuch aus seiner Hosentasche, um sich die Stirn damit abzuwischen. Das vereinbarte Zeichen. Sofort wurden die fünf unbekannten Männer rege. Einer langte wie beiläufig in seine Tasche und zog den Auslöser einer eigens entwickelten Rauchbombe. Er sprang auf, warf sie nach vorn und zückte blitzschnell eine Pistole. Seine vier Komplizen taten es ihm gleich. Die Bombe explodierte just in dem Moment, als sie unmittelbar vor dem Zeugenstand aufschlug. Der aufziehende Qualm machte es nahezu unmöglich, im Gerichtssaal noch etwas zu sehen. Die Bewegungen der Männer waren aufeinander abgestimmt, als sie sich nach vorn durch die Absperrung drängten. Zwei stürzten sich auf die Klangscheiben auf dem Tisch, einer mit einer Flasche extrem scharfer Säure in der Hand, deren Inhalt er teilweise über die Beweisstücke goss.

Quinn hatte sofort reagiert, kämpfte sich zum Tisch vor und versuchte den Mann mit der Säure zu attackieren. Er verfehlte jedoch sein Ziel und geriet ins Straucheln. Der Sturz war schmerzhaft, doch Quinn war sofort wieder auf den Beinen. Im Gerichtssaal herrschte Aufruhr. Frauen kreischten, Männer stießen Flüche aus, Polizisten und Wachleute versuchten, die Männer auszumachen, die für den Überfall verantwortlich waren, doch der Rauch stand dicht im Raum.

Quinn war dem Mann mit der Flüssigkeit hinterhergestolpert, bekam ihn zu packen, schlang beide Arme um ihn und wollte ihn zu Boden werfen, doch der Attentäter erkannte die Gefahr und widersetzte sich mit der einzigen Waffe, die er zur Hand hatte: Er kippte den verbliebenen Inhalt seiner Flasche über seine Schulter. Die aggressive Säure spritzte Quinn mitten ins Gesicht. Er spürte, wie sie sich ins Fleisch ätzte und in seinen Augen brannte, bis die weißen Schwaden einer undurchdringlichen Schwärze wichen. Quinn taumelte herum und fuhr sich mit der Hand in die Wunden. Tränen flossen ihm über die Wangen. Der Schmerz war so grausam, dass ein normaler Mensch ihn kaum aushalten konnte.

Er schwankte weiter, konnte sich an einem Tisch festhalten und drückte sich erneut die Finger in die Augen. Mit einem Schrei versuchte er sich Linderung zu verschaffen, doch die Säure fraß sich tiefer und tiefer. Jemand packte ihn am Arm. Zwei dumpfe Schüsse vernahm er noch, bevor eine tiefe Bewusstlosigkeit ihn von der Folter erlöste, die sein Körper durchleiden musste.

Neben Quinn stand Silk, in dessen Hand eine Waffe schimmerte. Er zielte durch den Dunst und feuerte einmal. Ein Mann, bewaffnet mit einer Automatik, ging mit einem Loch in der Stirn zu Boden.

 

*

 

Der Knall kam einem Startschuss gleich. Weitere Schüsse folgten. Jemand schlug ein Fenster ein. Luft strömte herein und vertrieb den Qualm. Während sich der Rauch allmählich lichtete, sah man zwei Marodeure, die sich durch die aufgebrachte Menge im Saal zwängten. Sie erreichten die massiven Flügel der Schwingtür.

„Haltet sie auf!“, brüllte jemand. „Stoppt die Mörder!“

Die Männer drehten sich um und jagten ein halbes Dutzend Kugeln in den Raum. Dann stürzten sie in den Flur, wo ein Beamter mit Schnellfeuergewehr sie mit einer unbarmherzigen Bleisalve empfing. Die zwei sackten zusammen.

Es dauerte mehr als eine halbe Stunde, bis die Ordnung einigermaßen wiederhergestellt war. Kranken- und Streifenwagen parkten dicht an dicht auf dem Gehsteig vor dem Gebäude. Auf den Gängen durchsuchten Polizisten jedermann und begannen mit Verhören. Snate saß in Handschellen zwischen zwei Wachen. Rettungssanitäter versorgten sechs Verwundete.

Commissioner Jerome Warner betrat den Gerichtssaal und fluchte. Draußen auf dem Flur lagen zwei durchsiebte Schützen, während die drei anderen, die Snate scharfgemacht hatte, drinnen ihr Ende gefunden hatten. Alle fünf waren tot, einer durch Silk, die anderen beiden gefallen im vernichtenden Kugelhagel der Polizisten.

Brophy, der als Einziger Rechenschaft über Snates Komplott ablegen konnte, saß immer noch im Zeugenstand, doch sein Körper lag schräg vornübergebeugt auf dem polierten Holz. In seiner Brust steckte ein Messer.

Quinn lag bewusstlos auf einem der langen Tische, während die Notärzte seine Augen behandelten. Silk, dem der Schweiß von den Wangen tropfte, wich nicht von seiner Seite.

Der Commissioner trat in die Richterbank und setzte sich neben den anhaltend blassen Amtsmann.

„Die Menschen in diesem Land sollten sich angesichts dieser Tat in Grund und Boden schämen“, wetterte der Richter mit brüchiger Stimme. „Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen, die ich angeordnet habe, kam es zu dieser Katastrophe. Der Zeuge ist tot, seine Aufnahmen von Säure zerfressen, und der Bezirksstaatsanwalt wird wahrscheinlich nie wieder sehen können.“ Er wandte sich dem Police Commissioner zu: „Commissioner, was ist zu tun?“

Der Commissioner wischte sich Schweiß aus dem Gesicht. „Gibt es überhaupt irgendetwas, das ich noch nicht versucht habe? Wenn wir es Snate ankreiden können, kommt er auf den Stuhl, aber seien Sie sich nicht allzu sicher, dass wir das auch tatsächlich schaffen. Snate saß ein und hat demgemäß ein wasserdichtes Alibi. Falls wir die fünf Leichen nicht identifizieren, befragen können wir sie ja nicht mehr, sind wir erledigt. Wir müssen sie mit Snate und seinen Schergen in Verbindung bringen, sonst beweisen wir nichts.“

„Ich friere ihn ein!“, schrie der Richter. „Und zwar so lange ich kann. Treiben Sie Ihre Leute an, Commissioner. Beweisen Sie, dass die fünf mit Snate zu tun hatten, dann haben wir ihn kaltgestellt. Zeigen Sie der Öffentlichkeit, dass wir einen Polizeiapparat besitzen und nicht bloß einen Haufen Idioten in blauen Uniformen.“

Die fünf toten Gangster wurden anhand ihrer Fingerabdrücke identifiziert. In der Stadt waren sie Fremde und ließen sich unmöglich an Snate oder dessen Hintermännern festmachen. Es war das alte Lied: Beweismaterial und Zeugen, die man nicht auf andere Weise zum Schweigen bringen konnte, wurden rigoros vernichtet. Die Vorwürfe gegen Snate hatten sich zerschlagen. Was das Volk glaubte oder mutmaßte, war vor dem geschriebenen Gesetz unerheblich. Man hatte absolut nichts gegen diesen Verbrecher in der Hand.

 

*

 

Dreihundert handverlesene Detectives arbeiteten Tag und Nacht, um selbst den winzigsten Beweisfetzen aufzuspüren, der Snate überführen mochte, doch einen solchen gab es nicht. Zudem besaß er gewiefte Verteidiger. Sie erhoben Einspruch gegen die Vermutung, ihr Klient sei dazu in der Lage gewesen, einen solch heimtückischen Plan auszuhecken. Sie erinnerten daran, dass Snate keinen Besuch empfangen durfte und demgemäß auch mit keinem seiner Verbündeten in Kontakt getreten war. Was immer sich ereignet hatte, ginge nicht auf sein Konto.

Die bestens bezahlten Anwälte stellten zynisch Theorien auf, wonach irgendwer, den Tony Quinn einmal hinter Gitter gebracht hatte, gekommen war, um Rache zu üben. Diese Vorstellung schien nicht allzu abwegig, da Quinn sich während seiner drei Jahre als Verbrecherjäger manchen Feind gemacht hatte. Verschiedene Ideen, Spekulationen und Vorwürfe standen im Raum, jedoch nichts Handfestes. Am Ende wurde Snate vom gleichen Richter freigesprochen, der sich vor den Kugeln der Auftragskiller hatte ducken müssen. Nicht einmal der Einbrecher, den Quinn getötet hatte, ließ sich Snates Klüngel zuordnen. Der Tote erwies sich in der Tat als jemand, der den Staatsanwalt aus nachvollziehbaren Gründen gehasst hatte: Dank Quinn war sein Bruder auf dem elektrischen Stuhl gelandet.

Die Zeitungen heizten die Stimmung weiter auf, indem sie wahlweise einen vollkommenen Umsturz der Behörden oder Snates Festnahme gänzlich ohne Anhaltspunkte forderten. Commissioner Warner verlor fünfzehn Pfund Gewicht in zwei Wochen. Seine Züge verhärteten sich, die Augen schwollen rot an, weil er kaum noch schlief und sich körperlich verausgabte.

Nur ein Mann hüllte sich in Schweigen. Tony Quinn ruhte auf einem Sofa in der Bibliothek seines Hauses. Er sprach mit niemandem außer dem getreuen Silk, und dann auch nur über Notwendigkeiten. In Tony Quinns Herz schwelte der Zorn. Sein Geist sann vergeblich nach einer Antwort auf alle Fragen, doch die schien nicht zu existieren. Was ihn zudem in tiefste Verzweiflung stürzte, war seine ungeheure Verletzung, die jede wache Stunde in Agonie hüllte.

Tony Quinn war vollkommen blind!

Kapitel III – Eine geheimnisvolle junge Frau

 

Tony Quinn musste seinen Beruf als Bezirksstaatsanwalt aufgeben und darbte weiter in Dunkelheit. Tage vergingen, Wochen, schließlich Monate.

„Ich bin blind, Silk“, wiederholte er zum tausendsten Mal. „Stockblind, mein Freund. Bis zum Ende meiner Tage bin ich dazu verdammt, in einer Welt ohne Licht zu leben, während ein Monster wie Snate weiter gedeiht. Gibt es etwas Neues über ihn zu vermelden?“

Silk schüttelte schwermütig den Kopf. „Ich werde Ihnen nichts verschweigen, Sir. Sie sind zu gescheit, als dass mir das unbemerkt gelänge. Snate steht wieder dort, wo Sie ihn letztes Jahr aufgehalten haben, indem Sie ihn festnagelten. Er übt mehr Einfluss denn je aus. Ich … Sir, ich habe es Ihnen bislang vorenthalten, aber er schickte einen Karton Blumen ins Krankenhaus, während Sie dort lagen. Mit einer Beileidskarte. Ich warf sie in den Papierkorb, Sir.“

Quinn lachte verbittert. „Richtig so. Dieser Schakal wäre besser selbst in den Müll gewandert. Nun, Silk, ich erwarte nicht, dass Sie sich noch länger mit mir herumschlagen. Weitere Heilung brauche ich mir nicht zu versprechen. Ich bleibe für immer entstellt, und die besten Ärzte, die sich für Geld einspannen lassen, zerschlagen jedwede Hoffnung darauf, dass ich irgendwann einmal wieder sehen werde. Ich bin ein Wrack, aber was ich auf keinen Fall gebrauchen kann, ist Mitleid. Falls Sie also Ihren Hut nehmen möchten, habe ich volles Verständnis dafür.“

Silk glättete die Decke auf Quinns Schultern. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir, werde ich bleiben. Sie bedürfen meiner jetzt, und ich … Ihrer mittlerweile auch, Sir. Vielleicht finden wir eines Tages einen Arzt, jemanden, der uns neue Zuversicht schenkt. Was Ihre Narben betrifft, so sind die kaum der Rede wert. Man nimmt sie überhaupt nicht wahr.“

Quinn lachte erneut sarkastisch. „Sie sind ein gnädiger Lügner. Immerhin fühle ich sie, wenn ich mir durchs Gesicht fahre. Schon seltsam, Silk, wie sich mein Tastsinn verändert hat. Obwohl ich erst seit einem Jahr blind bin, erkenne ich bereits Dinge, indem ich sie bloß mit den Händen berühre. Das gleicht das fehlende Sehvermögen teilweise aus. Wie wäre es mit einem Ihrer vorzüglichen Kaffees, Silk? Zumindest in einem Punkt kann ich mich glücklich schätzen: Ich habe Sie.“

Silk steckte ein Kloß im Hals. „Sofort, Sir. Nur ein paar Minuten. Der Kaffee ist gleich fertig.“

Quinn stand auf, entledigte sich der Decke, in die er gehüllt war, und tastete sich zu einem Tisch in der Ecke des Raumes. Dabei umging er einen Stuhl und blieb kurz vor dem Möbel stehen, um die Hände daraufzulegen. „Kein Grund zur Sorge, Silk“, sagte er mit einem Lächeln. „Noch so eine Sache, die ich gelernt habe: Obwohl ich Hindernisse nicht sehe, bemerke ich sie auf eine andere Weise. Ich weiß, dass sie sich vor mir auftun, und kann ausweichen. Alles in Ordnung mit mir; kümmern Sie sich nur um den Kaffee.“

Silk begab sich in die Küche und schüttelte den Kopf. Er war froh, dass Quinn die dunkelroten Wundmale nicht sehen konnte, die sein einst so stattliches Gesicht verunstalteten. Die Säure hatte sich tief hineingefressen und den Bereich über den Wangen zu einer abscheulichen Maske mit ausdruckslos starrenden Augen verunstaltet.

Quinn bahnte sich seinen Weg zurück und setzte sich aufs Sofa. Seine Gedanken kreisten. Was sollte er tun? Nicht einmal lesen konnte er. Radio hören war ihm längst öde geworden, und Freunde wollte er ebenfalls nicht empfangen, außer Commissioner Warner. Quinn rang unaufhörlich die Hände, als wollte er Snates speckigen Hals würgen. Dann fuhr sein Kopf hoch, er drehte ihn zur Seite wie ein lauschender Hund, streckte die Hand aus und schloss sie fest um ein schweres Zigarettenetui. „Wer ist da? Ich weiß, dass sich jemand in diesem Zimmer aufhält. Ich höre die Vorhänge im Wind rauschen, vorher waren alle Fenster geschlossen.“

Quinn bekam keine Antwort, doch seine hellhörigen Ohren vernahmen ein Rascheln, wie von Seidenstoff, zudem roch er Parfüm. Dann berührten kalte Finger sanft sein Handgelenk.

„Bitte!“ Die Stimme einer Frau. „Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, Tony Quinn. Es tut mir leid, dass ich mich auf diese Art vorstellen muss, aber es ging nicht anders.“

„Wer sind Sie?“ Quinn hob den Arm und tastete ihr Gesicht ab. Flink zeichneten seine Finger jede Rundung, alle Konturen nach. „Sie sind hübsch“, befand er. „Sehr hübsch. Ihr Haar ist samtweich. Sie haben warme, volle Lippen … und blaue Augen, stimmt‘s?“

„Richtig!“, hauchte sie und setzte sich neben ihn. „Was ich Ihnen zu sagen habe, wird nicht lange dauern, Tony Quinn. Ich weiß, wie Sie Ihr Augenlicht verloren haben. Eigentlich weiß ich alles über Sie. Die Ärzte behaupten, es gebe keine Hoffnung, doch ich bin hier, um Ihnen welche zu schenken. Werden Sie meine Vorschläge beherzigen, selbst wenn sie sich noch so befremdlich anhören?“

„Wer sind Sie?“, wollte er erneut wissen. „Und wie gedenken Sie mir diese Hoffnung zu geben?“

Die junge Frau beabsichtigte offenbar nicht, auf seine Fragen einzugehen „In genau drei Tagen werden Sie sich nach Illinois begeben, nach Springville, um genau zu sein, ein kleines Städtchen. Dort besuchen Sie einen Arzt namens Harrington. Jeder dort kennt ihn. Er erwartet Sie und hat alles vorbereitet. Nur er kann Sie heilen.“

„Wie kann er mich heilen?“, drängte Quinn heiser. „Wie kann irgendein Doktor vom Land etwas vollbringen, das weltbekannte Chirurgen für unmöglich halten? Und: Weshalb bekümmert Sie das überhaupt?“

„Ich werde es Ihnen erklären, irgendwann einmal“, orakelte sie. „Tun Sie es bitte. Mir zuliebe und für sich selbst!“

Er nickte und suchte nach ihrer zweiten Hand. Sie entzog ihm beide und stand auf.

„Kommen Sie wieder?“ Auch er erhob sich. „Kommen Sie zurück – bitte!“

Die Antwort blieb sie ihm schuldig. Silk stürmte herein. Er hatte ein Küchenmesser mit breiter Klinge in der Hand. „Was geht hier vor sich, Sir? Ist jemand bei Ihnen gewesen?“

Quinn ließ sich langsam nieder. „Ein Engel, Silk. Sie muss ein Engel gewesen sein, weil sie mir neuen Mut gemacht hat.“

Silk staunte und bewegte sich aufs Telefon zu. Was er lange befürchtet hatte, schien eingetroffen zu sein. Quinns geplagter Geist war dem Wahnsinn verfallen.

„Nein“, sagte der Blinde lachend, als er Silks Bewegungen nachvollzog und seine Gefühle und Gedanken zu erkennen glaubte. „Ich bin durchaus klar bei Verstand. Ein Mädchen war hier. Sie kam durch eines der Türfenster und nannte mir den Ort, an den ich mich begeben soll, um mein Augenlicht zurückzuerlangen. In drei Tagen, Silk, brechen wir auf nach Springville, Illinois. Niemand darf erfahren, wohin wir reisen. Wirklich niemand, Silk! Verstanden?“

„Ja, Sir, aber …“

„Nichts aber. Zu nichts und niemanden ein Wort! Verstehen Sie, Silk? Ich habe meinen Glauben wiedergefunden. Ein neues Leben wartet auf mich. Eines Tages, das weiß ich, werde ich wieder sehen können, und dann soll Oliver Snate es bedauern, dass er geboren wurde. Ich werde ihn in jeder Hinsicht niederringen! Ich mache ihn fertig, bis er zu Kreuze kriecht, und dazu werde ich mich nicht der Mittel bedienen, die mir als Bezirksstaatsanwalt gegeben waren. Unkonventionelle Waffen soll er fürchten. Mit seinen eigenen will ich ihn schlagen. Ich werde …“

Wir werden das tun“, unterbrach Silk. „Jawohl! Wir beide, Sir!“

Quinn lächelte. „Richtig. In meinem Übereifer habe ich Sie vergessen, Silk. Sie werden mir eine große Hilfe sein, und gemeinsam ziehen wir diesem Hund den Schwanz lang, bis er jault. Mag sein, dass es letztlich vergebliche Liebesmüh‘ ist, doch dieses Mädchen klang so überzeugend und ehrlich. Finden Sie heraus, wo Springville liegt, Silk. Wir werden kein Flugzeug nehmen, weil die ganze Angelegenheit geheim bleiben soll. Reservieren Sie Plätze bei der Bahn, aber unter falschen Namen.“

Die Türklingel unterbrach ihr Gespräch. Silk öffnete und führte drei Männer herein.

Quinn nickte in deren Richtung. „Ich kann mich nicht der üblichen Floskel bedienen, Commissioner Warner. Von wegen ich freue mich, Sie zu sehen. Daher belasse ich es bei: Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Sie und Ihre Freunde.“

Der Commissioner nahm Platz und spielte mit seinem Hut. In letzter Zeit schien das eiserne Grau von Schnurrbart und Kopfhaar noch heller geworden zu sein. Augenringe zeugten von anhaltender Sorge. Seine beiden Begleiter bauten sich links und rechts neben ihm auf. Warner stellte sie vor. Paul Stewart war ein kräftiger Mann mit kurzem, gedrungenem Hals und verengtem Blick. Er arbeitete als oberster Vollzugsbeamter des Bundesstaates. Sein Gegenüber hieß Otto Fox und leitete den landesweit größten Betrieb zur Herstellung von Panzerwagen. Er war hager, wirkte gutmütig, aber noch nervöser als Warner.

Der Commissioner begann: „Wir kommen, um uns Ihren Rat zu erbitten. Als Bezirksstaatsanwalt konnten Sie allein Schuldige ständig schneller ausfindig machen als jedes Dutzend Detectives. Ich wüsste gern, ob Sie dieses Talent nach wie vor an den Tag legen.“

„Geht es um Geldtransporte, Commissioner?“, fragte Quinn. „Nur zu, schießen Sie los. Falls ich Ihnen helfen kann, will ich mich gerne darum bemühen.“

„Geldtransporte? Ich schätze, Sie schließen darauf, weil Otto Fox mich begleitet. Damit liegen Sie richtig. Eigenartige Dinge geschehen, Quinn. Man stellt ausschließlich Männer ein, die vorbehaltloses Vertrauen genießen, und schickt sie mit den Fahrzeugen auf vorgegebene Strecken. Nachdem sie eine Zeitlang regelmäßig Rückmeldung gegeben haben, scheinen sie wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Irgendetwas lässt sie und die Wagen verschwinden, natürlich mitsamt jedem einzelnen Cent, den sie auf ihrer Route abgeholt haben.“

„Sie lösen sich in Luft auf wie Gegenstände, über denen irgendein Zauberer mit seinem Stab herumfuchtelt“, warf Otto Fox näselnd ein. „Wenn ich es Ihnen sage: Dahinter steckt etwas Übernatürliches. Wie kann jemand einen gepanzerten Lieferwagen voller Schwerbewaffneter stehlen, die dem Befehl unterstehen, im Notfall zu schießen? Überhaupt nicht. Glauben Sie mir, es ist unmöglich.“

„Wie viele sind verschwunden?“, fragte Quinn.

„Drei … bisher“, entgegnete Warner. „Von ihnen fehlt jede Spur. Und ich habe das Gefühl, Ihr Freund Oliver Snate zieht bei dieser Sauerei heimlich die Strippen. Sieht doch sehr nach seiner Handschrift aus, oder?“

Quinn schüttelte den Kopf. „Nach seiner Handschrift vielleicht, aber seinem Intellekt entspricht es nicht. Snate ist nicht schlau genug, um so etwas in die Wege zu leiten. Tut mir leid, Gentlemen, aber ich kann Ihnen wohl kaum helfen. Vor einem Jahr hätte ich mich noch nach Kräften bemüht, aber jetzt bin ich ein blinder Mann. Ich kann mich nicht mehr ohne Hilfe an meiner Seite fortbewegen. Ich stolpere über Möbel und verlasse mein Haus nur, um kurz Luft zu schnappen.“

Warner legte Quinn eine Hand auf die Schulter. „Ich weiß, mein Freund, aber Ihr Gehirn ist dadurch nicht beeinträchtigt. Ich dachte, Sie würden vielleicht ein Muster hinter all dem erkennen. Wissen Sie was, Tony? Ich komme wieder, sobald wir mehr erfahren haben. Kann sein, dass Sie uns helfen können, diesen Schlamassel für uns aufzudröseln.“

Otto Fox, der leise mit den Fingerspitzen auf die Lehne seines Sessels trommelte, nickte zustimmend. Paul Stewart hingegen sah ein wenig gelangweilt aus. Quinn schüttelte allen die Hände und ließ sie von Silk hinausführen.

Der Diener kam stirnrunzelnd zurück. „Ich begreife das nicht, Sir. Der Commissioner macht sich seiner Probleme wegen auf den weiten Weg zu Ihnen und erwartet, dass Sie sie auf der Stelle lösen, ohne dass er selbst überhaupt eine Untersuchung in die Wege geleitet hat.“

Quinn lachte. „Er täuscht mich nicht, Silk. Warner schneit herein und tut nur so, als bräuchte er mich. So will er mir weismachen, ich sei immer noch von Belang. Es handelt sich um einen kolossalen Bluff, und man könnte annehmen, ich falle darauf herein, aber Commissioner Warner meint es nur gut. Sie hingegen sehen nun zu, dass kein Sterbenswörtchen über unsere geplante Reise durchsickert.“

„Natürlich, Sir.“ Silk brachte den Kaffee und setzte sich zu Quinn, um eine Tasse mit ihm zu trinken.

Der Blinde starrte geradeaus. „Übrigens, Silk, finde ich Warners Zwangslage interessant. Stellen Sie sich das vor. Drei Geldtransporter mit verlässlichen Fahrern verschwinden am helllichten Tag. Dass man nur tatenlos zusehen kann, genügt bereits, um einen verrückt zu machen.“

Während der folgenden vier Monate verschwanden elf weitere Wagen von der Bildfläche, und die Polizei verzehrte sich nach dem geringsten Hinweis. Commissioner Warner musste sich verzweifelte Hilfegesuche anhören. Die Angehörigen der verschollenen Fahrer sehnten sich nach einem Lebenszeichen ihrer Lieben. Die Presse zerriss sich das Maul.

Unterdessen hockte Tony Quinn mit bandagierten Augen in einem dunklen Raum. Sein Abstecher ins Hinterland von Illinois hatte kaum zwei Wochen gedauert. Er musste sich einer Operation unterziehen, über deren Einzelheiten auszulassen der alte, kurz angebundene Hausarzt sich geweigert hatte. Eins wusste Tony Quinn jedoch: Er konnte wieder sehen. Bisher beschränkte es sich auf vage Schatten, doch die reichten, um Enthusiasmus und Erwartungen ins Unermessliche zu steigern. Was die junge Frau betraf, so war er in dieser Hinsicht keinen Deut schlauer geworden. Eine der Bedingungen, unter welchen Harrington sich bereit erklären wollte, ihn zu behandeln, bestand darin, dass Quinn keine Fragen stellte.

Nachdem Silk die aktuelle Zeitung gelesen hatte, warf er sie auf den Tisch. Quinn lehnte sich im Sessel zurück und massierte sanft seine Augen. „Ein paar Tage noch, Silk, und ich kann wieder sehen. Ich weiß es ganz sicher. Es muss einfach so sein, weil es so viel zu erledigen gibt. Sie und ich, wir werden herausfinden, was es mit den verschwundenen Geldtransportern auf sich hat. Wir hängen es Oliver Snate an und sorgen dafür, dass er angemessen für das Leid blutet, das er an vielen Menschen verschuldet hat.“

„Mir ist nicht ersichtlich, Sir, wie Sie das bewerkstelligen wollen. Sie sind stadtbekannt; natürlich wird Sie jeder für blind halten und nicht erwarten, dass sich daran je etwas ändert. Sie können ziellos umherirren, ohne Verdacht zu erregen.“

„Silk, worüber, glauben Sie, habe ich die ganze Zeit gebrütet?“ Quinn brannte vor Leidenschaft und Tatendrang. „Ziellos umherirren?“ Quinn lachte, doch der trübselige Ton in seiner Stimme war verklungen. „Wir werden nicht umherirren, Silk. Wir gehen gezielt vor. Mit rauchenden Colts in den Händen, wenn es sein muss. Wir gebrauchen, was immer uns praktisch erscheint, um Snate und seinesgleichen zu bekämpfen. Wir setzen sie mit ihren eigenen Mitteln schachmatt, mit Heimtücke, Gewaltandrohung, Raub, und schrecken einzig vor Mord zurück, sodass wir uns nicht selbst verteidigen müssen. Den letzten Rest ihrer Beute werden wir ihnen nehmen und sie einschüchtern, bis sie so verunsichert sind wie ein einbeiniger Seiltänzer. Wir schließen uns mit der Polizei kurz oder auch nicht, je nachdem, wie die Polizei es haben will. Unseren eigenen Gesetzen wollen wir folgen und Selbstjustiz üben. Silk, das ist die Gelegenheit, auf die ich im Dunkeln gewartet habe. Jeden Moment, da ich blind war, habe ich darauf hingearbeitet.“

Silks Augen strahlten erwartungsfroh. „Genauso wie ich, Sir. Ich habe gehofft, beinahe so innig wie Sie. Ich erwog sogar, meinen Dienst bei Ihnen zu quittieren und Snate auf eigene Faust dingfest zu machen. Ich sehe ihn immer noch selbstgefällig und gebieterisch im Gerichtssaal unter künstlichen Rauchschwaden stehen, während uns die Kugeln um die Ohren fliegen. An jenem Tag wollte ich ihn erschießen. Fast hätte ich es auch getan.“

„Gut“, pflichtete Quinn bei. „Nicht, dass Sie ihn erschießen wollten, denn das wäre zu milde für Snate. Nein, Ihre Einstellung gefällt mir. Wissen Sie, ich brauche genau jemanden von Ihrem Schrot und Korn. Einen Mann, der sich in der Unterwelt auskennt und dort einige Beziehungen unterhält.“

„Aber wie wollen Sie das handhaben, Sir?“, wunderte Silk sich. „Ihr Gesicht ist, wenn ich das so sagen darf, verunstaltet. Es wird kein angenehmes Gefühl sein, wenn Sie es zum ersten Mal wiedersehen. Damit fallen Sie auf.“

„Mein Gesicht?“ Quinn lehnte sich zurück und spannte die Lippen an. „Daran lässt sich etwas ändern. Die plastische Chirurgie kann es herrichten, aber nicht jetzt, Silk … nicht jetzt! Ich lasse die Leute glauben, ich sei machtlos und so lebensmüde, dass ich mich nicht einmal einer Schönheitsoperation unterziehen würde. Wir agieren anonym. Niemand soll erfahren, wer wir sind. Ich muss eine Maske tragen, mich vollständig verhüllen … sollte ich wirklich so hässlich sein …“

„Gute Idee, Sir. Sie müssen eine Haube tragen. Ich werde eine für Sie schneidern, aus Seide, schwarzer Seide, mit der Sie nachts nicht auffallen. Auch der Rest Ihrer Kleidung sollte schwarz sein, damit Sie wie ein bloßer Schatten im Dunkeln umgehen können.“

„Irgendein Erkennungsmerkmal brauche ich aber.“ Quinn schürzte die Lippen. „Etwas, woran die Leute sich erinnern. Ein Abzeichen, einen Namen, Silk. Blind bin ich gewesen, blind wie eine Fledermaus. Und was die Öffentlichkeit angeht, bin ich es nach wie vor. Weil ich im Dunkeln unterwegs und nachtaktiv sein werde, ohne mich auf meine Augen verlassen zu müssen. Ich will eine Fledermaus sein, Silk. Die Schwarze Fledermaus.“

Kapitel IV – Es werde Licht

 

Silk las jeden Tag laut aus der Zeitung vor, während Quinn die Informationen im Kopf abspeicherte, die er als wichtig erachtete. Ein weiterer Panzerwagen war verschwunden. Selbst die zusätzlichen Mitfahrer hatten es nicht verhindern können. Die Presse legte es in allen Einzelheiten offen. Laut Anweisung, die unter Verschlusssache stand und nur einem zuverlässigen Angestellten bekannt war, hatte der Transport an zwei Banken pralle Lohnbücher abgeholt. Mehr Geld war in florierenden Kaufhäusern und Gaststätten zusammengetragen worden, bis man am Vortag die Einnahmen einschlägiger Schauspielhäuser mitgenommen und somit schätzungsweise 200.000 Dollar im stahlverstärkten Laderaum gehortet hatte.

Nachdem man an einer kleinen Fabrik zehntausend davon zur Gehaltsabrechnung abgeliefert hatte, war der Wagen auf einem verkehrsreichen Boulevard nach Norden gefahren und seitdem nicht wieder gesehen worden. Irgendwo entlang einer Hauptader, auf der sich Zehntausende zu Fuß wie in Autos fortbewegten, wo Streifenwagen fuhren und Polizeipatrouillen ihren Dienst verrichteten, war der Transporter verschwunden, als sei er mitten im Asphalt versunken.

Es gab indes weitere Neuigkeiten von Oliver Snate. Im Laufe der Monate, da Quinn blind darniedergelegen hatte, konnte er weitere Bande knüpfen und galt nun als unbestrittener Pate. Sein Einfluss reichte von Politbüros über weite Teile der Privatwirtschaft bis hinab an den Grund der Unterwelt selbst. Kein Tunichtgut, ob groß oder klein, wagte es, seinem Tagewerk nachzugehen, ohne Snate einen Teil seiner Erträge abzugeben. Der Mann war so mächtig geworden, dass selbst die Zeitungen ihn zu fürchten begannen. Das einzige Blatt, das sich kühn auf die Wahrheit berief, war von einem Bombenanschlag auf seine Zeilensetzmaschinen heimgesucht worden.

„Peter Gage versucht, seine Arbeit zu machen“, erklärte Quinn Silk. „Er ist der Chef des News Record und hat Snate nachdrücklich den Fehdehandschuh hingeworfen. Allerdings gibt es noch jemanden hinter dem Rädelsführer. Er ist nur Fassade, ein Sündenbock, der den Kopf hinhalten muss, sollte es brenzlig werden. Snate mag vor nichts zurückschrecken, aber denken kann er nicht. Hinter alledem steckt ein gescheiter Kopf, und ich rechne fest damit, dass genau dieser auch einen Weg ersonnen hat, wie man gepanzerte Fahrzeuge einfach so von der Landkarte fegt. Demnächst werden wir es erfahren, Silk, und sobald wir Bescheid wissen, erlebt Snate eine unangenehme Überraschung.“

„Nehmen Sie die Verbände morgen ab, Sir?“, fragte Silk.

„Morgen“, bestätigte Quinn. „Richtig, Silk. Dann muss ich mich einen Monat lang an den Übergang gewöhnen. Das werden die längsten dreißig Tage meines Lebens, obwohl ich ein bisschen sehen kann. Das wäre jetzt aber alles, Silk. Heute Abend brauche ich Sie nicht mehr.“

Silk zog sich dezent zurück. Er war glücklich. Quinn wollte allein sein, allein während dieser hoffentlich letzten Stunden seiner Blindheit. Am Morgen würde er erfahren, ob er tatsächlich wieder sehen konnte oder nicht.

Seltsamerweise sann er weder über sein Leiden noch über die Aussicht auf Heilung nach. Wie er so vor der Glut am Kamin saß, dachte er über die junge Frau mit der sanften Stimme, dem samtigen Haar und den blauen Augen nach, die er nicht hatte sehen können. Dennoch spürte er irgendwie, dass sie die ganze Zeit über bei ihm war und auf ihn aufpasste, fast genauso wie Silk. Die Uhr schlug Mitternacht. Quinn hob die Hände und legte sie an seine Augenbinde. Langsam begann er sie aufzuwickeln. Die Zuversicht, die der Landarzt ausgestrahlt hatte, war zum Teil auf ihn übergegangen. Die letzte Lage Mull legte zwei dicke Wattebäusche frei, die endlich von seinen Augen fielen.

Ein gleißendes Licht! Quinn stieß einen kurzen Schmerzensschrei aus. Rasch wandte er sich ab. Er hatte vorm Feuer gesessen und nicht berücksichtigt, dass dessen Helligkeit seinen Augen schaden würde. Eins war nun jedoch sicher: seine Augen funktionierten! Er konnte wieder etwas sehen! Wie viel letztlich, konnte er nicht abschätzen, noch nicht, doch es stellte ihn zufrieden. Er sah wirklich! Nachdem er den Flammen den Rücken zugekehrt hatte, öffnete er die Augen erneut ganz zaghaft.

Dort stand ein Stuhl. Verschwommen, ja, aber das änderte nichts an der Tatsache. Er erkannte ihn! Ein Spiegel an der Wand gegenüber warf das Licht des Kamins teilweise zurück. Es verschlug Quinn den Atem: Er hatte es im Blick!

Dann erstarrte er. Da war noch etwas anderes, eine undeutliche Gestalt, dort in einer dunklen Ecke des Zimmers. Sie bewegte sich und kam auf ihn zu wie ein unheimliches Gespenst. Quinn blinzelte und versuchte, den Schleier zu durchdringen. Dazu neigte er den Kopf ein wenig und kniff die Augen zusammen. Er vernahm Schritte und das Rascheln von Seide. Da wusste er es. Das geheimnisvolle Mädchen war zurückgekehrt. „Sie?“, rief er. „Sie!“

„Ja, Tony Quinn. Ich wusste, dass Sie sich nach Mitternacht nicht mehr länger beherrschen würden. Sie dürfen Ihre Augen aber nicht dem Licht aussetzen – noch nicht. Es könnte sie verletzen.“

Quinn gehorchte, indem er sie fest verschlossen hielt, während er an der Feuerstelle vorbeiging und sich dennoch gewiss war, dass ein wenig Licht durch seine Lider drang. Bald würde er wieder hinschauen können! Er setzte sich erneut und schlug die Augen auf. Schwach fiel das Mondlicht durch die hohen Türfenster, und als die junge Frau in seine unmittelbare Nähe trat, stellte er verblüfft fest, dass er sie deutlich erkennen konnte. Sogar weit besser, als er es vor seiner Blendung vermocht hätte. Selbst ihren Teint, Haar- und Augenfarbe konnte er unterscheiden, obwohl es im Raum beinahe völlig düster war. Seine Hand schnellte hoch und wollte nach ihr greifen.

„Nein“, sagte sie streng. „Sie müssen bleiben, wo Sie sind, Tony Quinn. Ich bin gekommen, um mich mit Ihnen zu unterhalten und Sie um einen Gefallen zu bitten.“

„Einen Gefallen?“ Quinn stutzte. „Keinen Gefallen der Welt könnte ich Ihnen tun, um meiner Dankbarkeit Ihnen gegenüber Ausdruck zu verleihen. Zudem sind Sie wunderschön! Ihr Haar so golden, Ihre roten Wangen, die blauen Augen …“

„Sie … erkennen das alles?“, fragte sie ungläubig.

„Das tue ich. Irgendwie sind meine Augen seit der Operation überempfindlich, sodass ich selbst im Dunkeln sehe. Sie stehen klar und deutlich vor mir, als sei es taghell. Ich begreife das selbst kaum.“

„Ich schon“, erwiderte das Mädchen aufgeregt. „Ich kenne mich mit der Anatomie des menschlichen Auges aus, Tony Quinn. Zwischen Hornhaut und Glaskörper sitzt die Iris, eine von Muskeln gesteuerte Regenbogenhaut, die die Pupille umschließt, und diese fungiert schlicht als Öffnung für den Lichteinfall. Ihre Pupillen sind außerordentlich groß und deshalb viel empfindlicher. Sie ähneln denen einer Katze. Hinter jeder Pupille befindet sich eine kristallklare Linse, die wie die einer Kamera funktioniert. Bei Ihnen sind diese wegen der größeren Pupillen ebenfalls stärker ausgeprägt als bei gewöhnlichen Menschen. Sie sehen sowohl weiter als auch schärfer. Und Sie sehen in der Dunkelheit. Ich erkläre Ihnen das, Tony Quinn, damit Sie Bescheid wissen, doch zuvor hören Sie meine Geschichte.“

Sie setzte sich in einiger Entfernung vor ihm auf den Boden. „All dies tat ich für Sie mit einem bestimmten Gedanken im Hinterkopf, Tony Quinn. Da Sie Ihr Augenlicht wiedererlangt haben, sind Sie bereit, es denjenigen zu vergelten, die sie blind gemacht haben. Ich möchte an diesem Rachefeldzug teilnehmen.“

„Sie?“ Quinn war überrascht. „Woher wussten Sie überhaupt davon? Niemand wusste es, außer Silk, und der hat ganz bestimmt nicht darüber gesprochen.“

„Nein, hat er nicht“, pflichtete das Mädchen bei. „Trotzdem weiß ich, dass Sie das Böse und Verbrecher mit ihren eigenen Waffen bekämpfen möchten, dass Sie darauf aus sind, Oliver Snate für seine Taten büßen zu lassen. Fragen Sie nicht, woher ich das weiß. Es ist so. Erlauben Sie mir, Ihnen zur Seite zu stehen?“

Quinn schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist eine Sache, die ich nicht tun kann. Seit dieser Nacht bin ich die Schwarze Fledermaus! Wo auch immer ich umgehe, ist Gefahr im Verzug, tödliche Gefahr. Kein guter Platz für eine junge Frau.“

„Ihr letztes Wort?“, hakte sie nach.

„Mein allerletztes“, versicherte er. „Sonst erfülle ich Ihnen freimütig jeden Wunsch der Welt. Ich stehe tief in Ihrer Schuld, doch die werde ich nicht tilgen, indem ich Ihr Leben aufs Spiel setze. Bei meinem Vorhaben kann ich keine Frauen gebrauchen. All dies lasse ich Sie auch nur wissen, weil ich Sie für vertrauenswürdig halte. Aber … weshalb sagen Sie mir nicht, wer Sie sind und warum Sie das auf sich genommen haben? Und was steckt hinter Ihrem Wunsch, sich der Schwarzen Fledermaus anzuschließen?“

„Schließen Sie Ihre Augen, Tony Quinn“, verlangte sie in einem Ton ähnlich eines unterdrückten Schluchzens. „Sie dürfen sie während der ersten Tage nur wenige Minuten am Stück offen behalten.“

Quinn schloss seine Augen langsam. Es schien ihm vollkommen natürlich, dem Mädchen Folge zu leisten. Es rauschte erneut, und nachdem das Fenster mit einem Klick zugefallen war, verweilte sie nicht mehr im Raum. Er sprang auf und trat eilig vor die Scheibe, durch die sie geschlüpft war. Von draußen hörte er ein gedämpftes Lachen.

„Tony Quinn.“ Ihre Stimme waberte zu ihm herein. „Ich schließe mich Ihnen an, ob Sie wollen oder nicht. Und eines Tages werden Sie mich um eine Zusammenarbeit bitten. Nein, lassen Sie mich aussprechen, denn eins will ich Ihnen noch sagen: Nächsten Monat zum Ersten, bis dahin haben sich Ihre Augen soweit erholt, plant Oliver Snate einen Banküberfall. Sie müssen ihn aufhalten.“

Dann war sie fort. Quinn hörte einen Automotor. Gemächlich kehrte er zu seinem Sessel zurück und setzte sich, um nachzudenken. Wie hatte dieses Mädchen von seinen Plänen erfahren, das Verbrechen in all seinen teuflischen Facetten aus der Stadt zu tilgen? Silk hatte nichts ausgeplaudert; Quinn kannte ihn inzwischen zu gut, als dass er ihn deswegen verdächtigen musste. Doch sonst gab es niemanden, der von seinem Ansinnen wusste. Ihr Geheimwissen schrie geradezu nach hellseherischen Fähigkeiten, obwohl Quinn nicht an Hokuspokus glaubte.

Erst als der Morgen graute, begab er sich zu Bett. Seine Augen waren mit Wattetupfern bedeckt, die er mit Heftpflaster fixiert hatte.

Die Tage flogen dahin. Nachts arbeitete Quinn wie im Fieber. Ein schalldichter Schießstand im Keller seines geräumigen Hauses erzitterte unter dem Donner der Feuerwaffen. Quinns überragende Treffsicherheit sorgte dafür, dass Ziele zerschellten, die sich wie bloße Kleckse im Dunkeln ausmachten. Nicht ehe er eine Spielkarte perforierte, die Silk für ihn in die Luft schnippte, hörte er mit den Übungen auf. Und diese Karte hatte er in vollkommener Lichtlosigkeit getroffen.

 

*

 

„Gewissermaßen zahlen sich die Monate aus, während derer sie überhaupt nichts gesehen haben“, suggerierte Silk frohen Mutes. „Ich erkenne nicht einmal ein normal großes Ziel, wenn es drei Fuß vor mir steht, aber Sie treffen die Pik-Zwei auf dreißig Fuß Entfernung doppelt.“

„Zwischen Dunkelheit und Tageslicht besteht für mich kaum mehr ein Unterschied“, erklärte Quinn. „Übermorgen werde ich mich in die Helligkeit wagen. Wenn es soweit ist, Silk, können wir Snates glatte Stirn gehörig in Falten legen. Ist sonst alles bereit?“

„Ja, Sir. Zwei oder drei seiner Leute haben systematisch Juweliere ausgeraubt und dabei Schmuck im Wert von mehreren tausend Dollar eingesackt. Sie konnten noch nichts davon verkaufen, weil keiner der Hehler in der Stadt die Ware anrühren will. Sie ist zu heiß.“

„Gut.“ Quinn spitzte den Mund. „Sonst noch etwas, Silk?“

„Ja, Sir.“ Silk öffnete den Mund und grinste hämisch. „Ein neuer Schieber, jemand mit einer Menge Geld, könnte aus heiterem Himmel auftauchen und begierig alle möglichen prekären Güter kaufen. Ich schätze, das ließe sich einrichten, Sir.“

„Oh ja!“, erwiderte Quinn freudig. „Heben Sie genug Geld ab. Beeilen Sie sich und leiten Sie alles in die Wege. Sorgen Sie dafür, dass sich jedes einzelne gestohlene Schmuckstück am gleichen Ort befindet. An die Arbeit!“

Kapitel V – Stimme ohne Gesicht

 

Silk Kirby gab ein gänzlich neues Erscheinungsbild ab, als er zehn Stunden später in ein vornehmes Café stolzierte. Weder das eingefallene Gesicht noch die schmale Nase oder seine fliehende Stirn konnte er verbergen, aber man mochte ihn für wen auch immer halten, wie ein Hausdiener sah er nicht aus. Seine schillernde Kleidung war ganz offensichtlich teuer gewesen. Er rauchte Zigarren für einen Dollar das Stück, und seine Westentasche war mit Geldscheinen prall gefüllt. Am rechten Ringfinger warf ein zwei Karat schwerer Diamant das Licht in changierenden Farben zurück, während er die mit passenden Steinen besetzte Uhr am gleichen Handgelenk nach unten geschoben hatte, damit man sie deutlich sah.

„Brandy“, bestellte er beim Barkeeper. „Den allerbesten. Napoléon ’96.“

Eine Handvoll Gäste stand am Tresen und beäugte Silk mit Interesse, welches umso größer wurde, als er die anderthalb Dollar für das kleine Getränk bezahlte und seine Geldbörse vor Scheinen überquoll. Er trank langsam und genoss jeden Schluck, ehe er das Lokal verließ. Dabei folgte ihm ein Mann, unauffällig, doch Silk bemerkte ihn. Die Kundschaft hatte sich aus Snates Leuten zusammengesetzt; die Rolle des ausgemachten Trottels wurde ihm sofort abgenommen. Er versuchte gar nicht, sich unauffällig zu bewegen. Einmal trat er in ein Schmuckgeschäft und besprach sich im Flüsterton mit dem Inhaber. Der Beobachter sah, wie dieser den Kopf vehement schüttelte, woraufhin Silk etwas zurück in die Tasche steckte. Nachdem er den Laden verlassen hatte, ging sein Verfolger hinein und zeigte eine Marke vor, die er Monate zuvor einem Streifenpolizisten gestohlen hatte. „Der Kerl, der gerade hier war. Was wollte er?“

Der Juwelier schaute sich kurz um. „Er zeigte mir einen Diamanten, ein formvollendetes Stück. Er wollte ihn verkaufen, doch irgendwie kam mir der Stein bekannt vor. Mit zwielichtigen Gestalten will ich nichts zu tun haben, also forderte ich ihn auf zu gehen.“

„Sie hätten auf der Wache anrufen sollen“, mahnte der vermeintliche Detective, verließ das Geschäft und schlug die Richtung ein, in die sich Silk davongemacht hatte. Zu seiner Überraschung schlenderte sein Objekt der Begierde die breite Straße entlang und betrachtete die Schaufenster. Als Silk in ein protziges Hotel ging, stieß sein Schatten einen erleichterten Seufzer aus. Snate würde ihn gut für diese Information entlohnen. Die Strukturen des Verbrecherbarons sahen keine Wilderei vor, doch dieser markant gekleidete Mann drehte zweifellos irgendwelche krummen Dinger, denn wie hätte er sonst an einen so wertvollen Diamanten kommen können? Zudem die vielen Geldscheine. Eine diskrete Frage an den Chefportier, und Snates Untergebener wusste alles, was er brauchte.

„Dieser Mann?“ Der Angestellte steckte einen Zweidollarschein weg. „Sein Name lautet Alexander Green, Sir. Er kommt aus Los Angeles. Ein perfekter Gentleman, Sir.“

Silk spähte oben zwischen Vorhängen hindurch und beobachtete, wie sein Verfolger in ein Taxi stieg. Er grinste, entkleidete sich in aller Ruhe und schlüpfte in einen Bademantel. Dann deponierte er zwei Pistolen an unterschiedlichen Plätzen im Raum, sodass man sie nicht sah, er sie aber dennoch rasch aufgreifen konnte. Die nächsten zwei Stunden verbrachte er größtenteils mit dem Lesen der Zeitung. Als das Telefon klingelte, wirkte er wenig überrascht. Ein gewisser Mr. Walker wollte ihn sprechen.

Silk ließ ihn heraufkommen. Er öffnete und ließ die zwei Männer ein. Der letzte der beiden schloss sorgsam die Tür, stellte sich mit dem Rücken davor und behielt die Hand tief in der Manteltasche. Der andere war der Beschatter und nahm nun Platz, wobei er Silk eine Zigarette anbot.

„Da Sie nicht von hier sind“, begann er, „muss unser Besuch Sie überraschen. Ich will offen zu Ihnen sein. Vor wenigen Stunden haben Sie versucht, einen speziellen Edelstein in einem Juweliergeschäft zu veräußern. Unter Umständen wäre ich daran interessiert.“

Silk gab sich zurückhaltend. „Wenn Sie Ihrem Gorilla an der Tür bitte nahelegen möchten, von seinem Schießkolben abzulassen, sähe ich mich an einem Gespräch interessiert. Ich persönlich hasse Waffen. Bei meinen Geschäften dürfen sie keinerlei Rolle spielen.“

Walker winkte zur Tür. „Entspann dich, Joe.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957190017
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Kult Klassiker Krimi Spannung

Autor

  • G. W. Jones (Autor:in)

G. Wayman Jones – hinter diesem Pseudonym verbirgt sich meistens der amerikanische Autor Norman A. Daniels, so auch beim vorliegenden Roman.
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Titel: Die schwarze Fledermaus 01: Der Anschlag