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Der Morgen, den ich fürchte

Gay Romance

von Eliza Bauer (Autor:in)
95 Seiten

Zusammenfassung

Nach dem Verkauf des Hauses nimmt David auf einem letzten Rundgang Abschied. Sein halbes Leben hat er hier verbracht. Jeder Raum, jemacht eder Winkel, jede Ecke des Gartens birgt Erinnerungen – an schöne und schwere Zeiten, an Freude und Leid, doch vor allem Erinnerungen an Adam, der vor über dreißig Jahren Davids Leben auf den Kopf gestellt hat. Als sie sich Mitte der 80er Jahre auf der Einweihungsfeier begegnen, ahnt David noch nicht, dass aus der zögerlichen Freundschaft zu dem Mann, der das Haus entworfen und gebaut hat, mehr werden könnte – falls David den Mut findet, sein altes Leben hinter sich zu lassen und seinem Herzen zu folgen. Der Morgen, den ich fürchte erzählt von Veränderungen, Träumen und dem Mut, den es erfordert, sich gegen gesellschaftliche Konventionen und die Wünsche der eigenen Familie zu stellen, um persönliches Glück zu finden. Enthält: einen verstockten Anwalt, einen lässigen Architekten, pastellfarbene Sakkos, bunte Cocktails und einen Hund mit Buddelmanie. Nicht enthalten sind Explosionen, Actionszenen und Drama, dafür jede Menge Melancholie, heiße Sommernächte und eine Überdosis Gefühl.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt

 

Nach dem Verkauf des Hauses nimmt David auf einem letzten Rundgang Abschied. Sein halbes Leben hat er hier verbracht. Jeder Raum, jeder Winkel, jede Ecke des Gartens birgt Erinnerungen – an schöne und schwere Zeiten, an Freude und Leid, doch vor allem Erinnerungen an Adam, der vor über dreißig Jahren Davids Leben auf den Kopf gestellt hat.

Als sie sich Mitte der 80er Jahre auf der Einweihungsfeier begegnen, ahnt David noch nicht, dass aus der zögerlichen Freundschaft zu dem Mann, der das Haus entworfen und gebaut hat, mehr werden könnte – falls David den Mut findet, sein altes Leben hinter sich zu lassen und seinem Herzen zu folgen.

Der Morgen, den ich fürchte erzählt von Veränderungen, Träumen und dem Mut, den es erfordert, sich gegen gesellschaftliche Konventionen und die Wünsche der eigenen Familie zu stellen, um persönliches Glück zu finden.

 

Enthält: einen verstockten Anwalt, einen lässigen Architekten, pastellfarbene Sakkos, bunte Cocktails und einen Hund mit Buddelmanie.

Nicht enthalten sind Explosionen, Actionszenen und Drama, dafür jede Menge Melancholie, heiße Sommernächte und eine Überdosis Gefühl.

 

Widmung

 

 

 

Für den Mann meines Lebens

 

Kapitel 1

 

Gegenwart

 

Die Morgensonne fällt durch die mannshohen Fenster des Wohnzimmers und zeichnet ein Muster aus warmem Licht und freundlichen Schatten auf das Parkett. Frisch eingelassen glänzt das Holz ungewohnt stark, und ein schwacher Hauch von Bienenwachs hängt in der Luft.

Ich atme tief ein und betrachte den Boden, auf dem ich die letzten dreißig Jahre Spuren hinterlassen habe. Vor knapp zehn Jahren ist er frisch geschliffen worden, um die Spuren von unzähligen Tritten und jeder Menge Hundekrallen zu beseitigen. Deshalb sieht er jetzt zwar benutzt, aber nicht völlig abgetreten aus.

Ich habe das Parkett immer gemocht, strahlt das Holz doch eine Behaglichkeit aus, die man dem modernen Betonbau mit viel Glas von außen nicht unbedingt ansieht.

Nun ja, damals, als ich das Haus zum ersten Mal betreten habe, ist es modern gewesen. Mit einer nahezu revolutionären Architektur, vom Hausherrn Adam Volkmann persönlich entworfen. Drei Jahrzehnte später wirkt es normal, fast ein wenig anachronistisch. Selbst in unserer Nachbarschaft gibt es gewagtere Häuser mit Flachdächern oder Spitztürmen.

Von außen fallen die schlichten Betonelemente und die großen Fenster auf, die damals, in den Achtzigern, völlig gegen den Trend liefen, der kleine Fenster als Mittel zur Energieeinsparung vorsah. Doch innen dominieren Verkleidungen aus Holz die lichtdurchfluteten Räume mit den hohen Decken, die niemand mit der Epoche, in der das Haus gebaut worden ist, in Verbindung bringt.

Ich hätte gerne gesagt, dass ich mich auf den ersten Blick in dieses Haus verliebt habe, aber es war ein langsamer, gradueller Prozess, der ein paar Monate gedauert hat. Anfangs habe ich mir mit dem offenen Grundriss des Erdgeschosses schwergetan, bin ich doch in einer Villa voll verwinkelter Räume und steiler Treppen aufgewachsen.

Noch länger hat es gedauert, bis ich das Haus als meines angesehen habe. Es sind einige Jahre vergangen, bis ich es auch in Gedanken als mein Haus bezeichnet habe.

Wobei … das stimmt nicht wirklich. Es ist immer unser Haus gewesen. Das Haus von Adam und David.

Die Hälfte davon hat einmal mir gehört, doch jetzt ist auch das vorbei. Es ist verkauft. Nichts davon gehört mehr mir. Auch ich gehöre nicht mehr hierher.

Ich gehe in die Knie und ächze leise, als meine Gelenke bei der Belastung protestieren. Am Nachmittag ist das normalerweise weiterhin kein Problem, doch so früh am Morgen macht sich das Alter mit Schmerzen bemerkbar. Es ist meine Idee gewesen, noch vor acht Uhr morgens herzufahren.

Ich will ein letztes Mal einen Sonnenaufgang in diesem Haus erleben. Meinem Heim seit so langer Zeit. Der Gedanke, es für immer verlassen zu müssen, tut weh. Noch immer. Es ist nicht mehr der bohrende Schmerz wie am Anfang, als ich monatelang mit der Entscheidung gerungen habe, ob ich einem Verkauf wirklich zustimmen soll.

Das Angebot ist gut gewesen, mehr als großzügig, und ich wäre ein Narr gewesen, es auszuschlagen. Eine junge Familie mit zwei Kindern und einem Hund wird heute die Schlüssel übernehmen. Es ist der richtige Zeitpunkt, die Vergangenheit loszulassen. Es sind die richtigen Käufer, das habe ich sofort gespürt, als ich ihnen vor drei Monaten alles gezeigt habe.

Der riesige Garten ist der ideale Spielplatz für Kinder, die hier ungestört toben können. Kein Durchgangsverkehr, keine Autos, keine Gefahren, sieht man von Bienenstichen und Sonnenbrand ab. Auf einer Seite schließen sich weite Wiesen und Äcker an das Grundstück an, auf der anderen grenzt es an einen Wald. Besser können Kindern nicht aufwachsen.

Ich freue mich darüber. Ehrlich. Wenn ich eines in meinem Leben bedauere, dann, dass ich keine eigenen Kinder habe. Selbst meine Patentochter konnte diese Leere nicht füllen. Es ist schön zu wissen, dass diese Mauern bald mit Lachen und Kreischen und Jubel erfüllt werden.

Es gibt genug Platz, damit jedes Kind ein eigenes Zimmer bekommt. Ich werfe einen Blick über die Schulter nach oben. Die Treppe mit den abgetretenen Stufen, in die in den letzten drei Jahrzehnten vier Hunde ihre Krallen gegraben haben, führt in den ersten Stock, wo aus meinem Arbeitszimmer ein Kinderzimmer gemacht wird. Auch die Treppe wird abgeschliffen. Die Schleifmaschine steht bereits im leeren Wohnzimmer, neben einer Menge anderer Werkzeuge und Geräte, die die Handwerker übers Wochenende hiergelassen haben.

Die Galerie hat sich völlig verändert, seit ich sie vor so langer Zeit zum ersten Mal betreten habe. Andere Bilder, anderer Teppich, andere Möbel. Im Laufe der Jahre haben Einrichtung und Dekor mehrere Male gewechselt, nur das Geländer aus hellem Holz ist immer das gleiche geblieben.

Jetzt ist alles leer geräumt. Keine Rahmen mehr an der Wand, kein flauschiger Teppich voller Hundehaare, die ich nie gänzlich herausbekommen habe. Die meisten Möbel sind ebenfalls aus dem Haus verschwunden. Ein Teil davon hat Einzug in die neue Wohnung gehalten, einiges wurde entsorgt, weil es niemand brauchen kann.

Ein paar ausgesuchte Stücke dürfen im Haus bleiben, wie die Einbauküche und die Badezimmereinrichtung. In diesen Räumen ist alles maßgefertigt, und es wäre hinausgeworfenes Geld, neue Möbel zu kaufen, wo die alten doch hervorragend in Schuss sind. Das haben auch die Käufer so gesehen und dankbar zugestimmt, dass diese Einrichtung bleiben darf.

Ich schlendere zur Treppe. In ein paar Minuten wird die Sonne endgültig hinter dem Hügel hervorgekrochen sein und alles in ihrem warmen Schein baden. Bis dahin möchte ich einen letzten Rundgang machen. Wie schon vorgestern, als ich die letzten Sachen mitgenommen habe, die nicht hierbleiben dürfen. Nur ist es diesmal wirklich der allerletzte Gang durch unser Haus. Der Vertrag ist längst unterzeichnet, doch heute werde ich die Schlüssel abgeben. Damit ist es endgültig nicht mehr unser Haus.

Die Stufen knarren unter meinen Tritten, die längst nicht mehr so leichtfüßig sind wie in meiner Jugend. Gut, Jugend ist übertrieben, ich bin bereits Mitte dreißig gewesen, als ich das Haus und seinen Besitzer kennengelernt habe.

Die Galerie wirkt genauso leer und verloren wie das gesamte Erdgeschoss. Unten steht keine Couch mehr, keine Bücherregale, keine Blumentöpfe. Mein geliebter Fernsehsessel mit der eingebauten Massagefunktion, in dem ich mir zwar wie ein Großvater vorkomme, der meinem Rücken jedoch so gut tut, steht in meiner neuen Bleibe. Neben der Küche ist auch der Esstisch samt Stühlen hiergeblieben, ebenfalls handgefertigte, massive Möbel in einem zeitlosen Stil, der auch in diesem Jahrhundert nicht altmodisch wirkt.

Ich streiche mit beiden Händen über den Lauf des Geländers. Eine beinahe zärtliche Geste. Ich hätte mir nie gedacht, dass man zu einem Haus eine so emotionale Bindung aufbauen kann. Und dennoch stehe ich mit schwerem Herzen in der Galerie.

Hier hat alles begonnen. Hier habe ich mich das erste Mal allein mit Adam unterhalten, den ich an jenem Frühlingsabend vor so langer Zeit kennengelernt habe. Hier an dieser Stelle haben wir miteinander geredet, fernab vom restlichen Trubel.

Zwar habe ich mich hier nicht verliebt – das ist erst ein paar Wochen später geschehen, als wir uns besser gekannt haben –, aber an dieser Stelle hat sich mein Leben verändert. Unwiderruflich, endgültig und zum Besseren.

Was ich damals natürlich noch nicht gewusst habe. Aber jetzt, mit dem Abstand vieler Jahre und der damit einhergehenden Weisheit, bin ich dankbar, Adam getroffen und durch ihn und mit ihm mein Leben verändert zu haben. Auch wenn ich damals so viel Angst gehabt habe, auch nur einen winzigen Schritt in Richtung dieser Veränderung zu machen.

 

* * *

 

1984

 

Theoretisch hatte es gut geklungen. Geh auf diese Party. Lerne neue Leute kennen. Vergiss einen Abend lang deine Sorgen. Hab Spaß. Wie so oft unterschied sich die Theorie gewaltig von der Praxis.

Ich nippte an meinem Cocktail, der bis jetzt das Beste an diesem Abend war. Ich stand im ersten Stock am Holzgeländer, das die Galerie abgrenzte, und ließ meinen Blick über die Gäste schweifen. Die meisten waren im Erdgeschoss versammelt, das in seiner Offenheit riesig wirkte. Die Küche war zwar durch eine Theke vom Essbereich abgetrennt, doch ansonsten war es im Prinzip ein einziger gewaltiger Raum, dessen großzügige Dimensionen durch die Panoramafenster noch verstärkt wurden.

Falls ich mich für Architektur interessieren würde, hätte ich vermutlich Stunden damit zubringen können, mir das neue Haus in aller Ruhe anzusehen. Der Gastgeber, Adam Volkmann, hatte es selbst entworfen, wie es sich für einen Architekten gehörte. Der futuristisch anmutende Betonbau war gewöhnungsbedürftig, aber durchaus gefällig.

Viel mehr hatte ich nicht darüber nachgedacht, weil ich ohnehin nicht hier wohnen musste. Meine Dreizimmerwohnung reichte mir völlig. Ein Garten machte nur Arbeit, ein großes Haus erst recht, und was hatte ich davon, so viel Platz zur Verfügung zu haben,aber niemanden, mit dem ich ihn teilen konnte?

Und da waren sie wieder, meine düsteren Gedanken, die mich nicht losließen, egal wie sehr ich versuchte, mich abzulenken.

Ich nahm den nächsten Schluck von dem Mai Tai, den eine hübsche junge Frau vom Catering zubereitet hatte. Volkmann hatte an der Theke eine richtige kleine Bar aufbauen lassen, und der gigantische Esstisch war in ein kaltes Buffet verwandelt worden, von dem ich mir bereits ein paar Häppchen gegönnt hatte.

Die Musik, die leise aus dem Hintergrund ertönte, war irgendein langsames Instrumentalstück. Das hier war eine Einweihungsfeier, keine wilde Party, auf der man tanzte und sich betrank. Obwohl ich das momentan in Betracht zog, weil ich dann vielleicht weniger an mein Elend denken würde. Oder zumindest würde es mir dann bedeutend weniger ausmachen, hier ohne Ehering aufzukreuzen.

Gäste standen in kleinen Gruppen im gesamten Erdgeschoss und unterhielten sich, die meisten mit einem Glas oder einem Teller in der Hand. Es mussten gut fünfzig Leute hier sein. Vor einer Viertelstunde hatte ich meine Runde beendet, mich von Helen unzähligen Menschen vorstellen lassen und dabei so viel gelächelt, dass mir jetzt die Mundwinkel wehtaten. Ich war ein Dauergrinsen nicht gewöhnt.

Die Hälfte der Namen hatte ich schon wieder vergessen und war froh, im ersten Stock einen Moment Frieden gefunden zu haben. Neben mir lehnte ein Mann in einem mintfarbenen Sakko am Geländer und unterhielt sich leise mit einer Frau mit Löwenmähne und blauem Lidschatten, doch sonst entdeckte ich niemanden im ersten Stock.

Ich warf einen Blick auf meine Rolex. Erst zehn Uhr. Ich glaubte nicht, dass Helen vor Mitternacht gehen wollte, und da sie mich mitgenommen hatte, musste ich auf sie warten. Mitten auf dem Land war es schwer, ein Taxi zu bekommen.

Das war eine Chance für die Mai Tais und Long Island Iced Teas, meine Sinne zu betäuben.

Lautes Lachen drang von unten zu mir hoch. Volkmann löste sich gerade von einer Gruppe und spazierte zur nächsten, und die Menschen blickten ihm grinsend hinterher. Alle schienen ihn ehrlich zu mögen. Ich hatte den Mann nur kurz getroffen und mich für die Einladung bedankt, für die eigentlich Helen verantwortlich war.

Ich war ihre offizielle Begleitung, auch wenn sie vorsorglich klargestellt hatte, dass es zwischen uns nie mehr geben würde. Irgendwie mochte ich diese direkte Art an ihr, auch wenn andere in der Kanzlei damit so ihre Probleme hatten, allen voran mein Vater. Es war ein Wunder, dass er überhaupt eine Frau eingestellt hatte. Anscheinend war er bereit, seine Überzeugung, dass Frauen keine guten Anwälte abgaben, zu überdenken, wenn sich ihm durch eine weibliche Angestellte neue Klientenkreise erschlossen.

Volkmann blickte kurz hoch, und ich fing sein Lächeln auf. Der Architekt machte einen sympathischen Eindruck und schien sich prächtig zu amüsieren. Was auch gut so war, schließlich war das seine Party.

Plötzlicher, völlig irrationaler Neid stieg in mir auf. Nicht, dass ich ihm das neue Haus oder seinen beruflichen Erfolg nicht gönnte. Ich hatte eine mehr als würdige neue Bleibe gefunden und war als Anwalt in einer der größten Kanzleien der Stadt angestellt. Was mir fehlte, war die Unbeschwertheit, die Volkmann ausstrahlte. Als stünde ihm die ganze Welt offen, als wären alle seine Freunde und das Leben ein einziges Fest.

Vermutlich hatte ich diese Unbekümmertheit in meinem ganzen Leben nie besessen.

Der Mai Tai schmeckte auf einmal bitter. Jetzt war ich schon auf jemanden neidisch, den ich gerade erst getroffen hatte und von dessen Leben ich nichts wusste.

Wer mich kennenlernte, würde nicht vermuten, dass ich das Hauptabendprogramm im Fernsehen herbeisehnte, weil ich mich dann mit etwas ablenken konnte, das nicht aus juristischen Texten und Erinnerungen an mein Versagen als Ehemann bestand. Alles war besser als die elenden Gefühle, die mich vor allem nachts plagten. Da widmete ich meine Aufmerksamkeit lieber ein paar reichen fiktiven Texanern in Dallas und ihren immer dramatischer werdenden Problemen.

Wenn ich ausgetrunken hatte, musste ich mich wohl oder übel wieder unter die Gäste mischen. Ich würde mich zu Helen gesellen, die gerade ein Dessert vom Buffet holte, und mich im Hintergrund halten. Darin war ich gut. Dort konnte ich auch keinen Schaden anrichten. Und selbst nicht beschädigt werden. Von beidem hatte ich in letzter Zeit genug erlebt.

Volkmann hielt auf die Treppe zu, und ich schwenkte mit einem lautlosen Seufzen die Rummischung in meinem bauchigen Glas. Wahrscheinlich würde ich gleich Smalltalk betreiben müssen, auch wenn mir absolut nicht danach war. In meinem Gesicht war kein Lächeln mehr übrig.

Helens Worte hatten so überzeugend geklungen, als sie vor einer Woche versucht hatte, mir diese Party schmackhaft zu machen. Tagelang hatte sie auf mich eingeredet und mir vorgeschwärmt, wie toll das neue Haus Volkmanns sei, mit dem sie zusammen auf die Schule gegangen war. Wie dringend ich neue Bekanntschaften machen musste, wie gut mir Kontakt zu Fremden täte. Damit hatte sie fremde Frauen gemeint, und ich hatte mich dieser Meinung angeschlossen.

Es war Zeit, nach vorne zu blicken. Schließlich lag meine Scheidung schon ein halbes Jahr zurück.

Eine Tatsache, die meinem Gehirn zwar bewusst war, aber nicht meinem Herzen. Ich hatte nicht einmal einen Flirt mit der Barkeeperin zustande gebracht, wollte es gar nicht, auch wenn sie mich freundlich angelächelt hatte. Zwar hatte ich nicht das Gefühl, als würde ich Anna, meine Ex-Frau, betrügen, und vermutlich wäre ein Flirt ohne Verpflichtungen genau das Richtige, um mich wieder auf den Geschmack und andere Gedanken zu bringen, aber irgendetwas hielt mich zurück.

Wahrscheinlich war ich einfach nicht der Typ für lockere Affären oder gar eine schnelle Nummer nur für eine Nacht. Ich war seit meiner Studienzeit mit Anna zusammen gewesen, hatte vor ihr nur eine Freundin gehabt und nie das Bedürfnis verspürt, mich irgendwie auszutoben.

Überhaupt war ich ruhig und verlässlich und eine treue Seele. Laut Helen, die im Laufe der letzten Monate von einer Kollegin zu einer guten Freundin geworden war, lauter wünschenswerte Eigenschaften an einem Mann. Frauen standen auf so etwas. Nur Anna irgendwann nicht mehr, sonst hätte sie mich nicht verlassen.

Volkmann lief beschwingten Schrittes die Treppe hinauf, als ob er zehn Jahre alt wäre und nicht … hm, wie alt mochte er sein? Wenn er mit Helen zur Schule gegangen wäre, müsste er Ende dreißig sein, zwei oder drei Jahre älter als ich. Jedenfalls kein Alter, in dem Männer noch herumhopsten.

Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Nur weil ich miese Laune hatte, musste ich anderen nicht ihr Glück madig machen.

Volkmann blieb bei dem Pärchen stehen, und ich bemühte mich nicht, ihrer Unterhaltung zu folgen. Es ging mich nichts an, und ehrlich gesagt interessierte es mich nicht, was andere auf einer Party redeten. Ich konzentrierte mich auf den Abgang von Ananassaft und weichem Rum auf meinem Gaumen und musterte Volkmann unauffällig von der Seite.

Helen hatte mir gesagt, dass der Architekt nicht verheiratet war. Schwer vorzustellen, schließlich war er im besten Alter, beruflich erfolgreich mit eigenem Büro und überaus attraktiv. Soweit ich das bei einem Mann beurteilen konnte.

Er schien ein paar Zentimeter größer als ich zu sein und wirkte selbst in dem Leinensakko und der weißen Hose muskulös, ohne gleich wie Conan auszusehen.

Ich hatte mich noch nicht mit der neuen Mode von pastellfarbenen Jacketts anfreunden können. Da kam vermutlich meine konservative Erziehung durch. Ich blieb bei klassisch dunklen Farben, damit war man in meiner Branche immer passend gekleidet.

Doch ich musste zugeben, dass das apricotfarbene Sakko und die helle Hose an Volkmann frisch wirkten und nicht lächerlich. Das Outfit passte zu seinem Haar, das irgendwo zwischen dunkelblond und hellbraun schwankte und in sanften Wellen über seine Ohren fiel. Es reichte knapp bis zu den Schultern. Eine Länge, die meinen Vater zu einer Predigt über standesgemäße Frisuren an einem Mann veranlasst hätte.

Mit dem nächsten unterdrückten Seufzen fuhr ich mir durch mein eigenes kurzes Haar, das noch lange nicht Gefahr lief, meinen Hemdkragen zu berühren, und mir doch bereits zu lang schien.

Volkmann verabschiedete sich mit einem breiten Lächeln von seinen Gästen und schlenderte zu mir herüber. So jemandem mussten die Frauen doch in Scharen hinterherlaufen. Vielleicht genoss er einfach nur seine Freiheit.

Kluger Mann.

»David, nicht wahr?«, meinte Volkmann und bedachte auch mich mit einem strahlenden Lächeln, welches sogar ehrlich und nicht aufgesetzt wirkte. »Helen meinte, dass du zu enge Bekanntschaft mit einem Cocktail schließt und Kontakt zu Menschen brauchst.«

Ich wusste nicht, was ich von Volkmanns wenig förmlichen Umgang halten sollte. Ich war es nicht gewohnt, von Unbekannten gleich so herzlich aufgenommen zu werden. Vielleicht war das ja eine Architektensache?

»Richtig. Das mit dem Namen meine ich, nicht das mit dem Kontakt. Also, ich will damit sagen, dass ich mich nicht an meinen Mai Tai klammere, sondern ihn einfach gern trinke. Und danke, ich habe genug Kontakt. Sie müssen sich nicht um mich kümmern.« Anscheinend hatte meine Scheidung auch meine Art zu sprechen beeinträchtigt. Nach intelligenter Konversation klang das nicht.

»Nenn mich einfach Adam. Und ich kümmere mich gern um meine Gäste, sonst hätte ich sie nicht eingeladen.«

»Nun, ich bin nur die Begleitung.«

»Ein Grund mehr, dich näher kennenzulernen.« Adam betrachtete mich mit schief gelegtem Kopf, was an ihm nicht abschätzend, sondern einfach nur neugierig wirkte. Mein Vater hätte bei ihm Unterricht in freundlicher Ausstrahlung nehmen sollen.

»Nette Party.« Ich widerstand dem dringenden Bedürfnis, mir an den Kopf zu fassen. Was war nur mit mir los, dass ich nicht einmal mehr eine einfache Unterhaltung führen konnte? Ich war doch sonst auch nicht auf den Mund gefallen und durchaus in der Lage, geistreiche Bemerkungen beizusteuern und nicht solche Plattitüden von mir zu geben.

»Danke«, erwiderte Adam, und es kam so trocken heraus, dass ich unwillkürlich wieder an meinem Strohhalm sog, um etwas Feuchtigkeit zu spüren. »Ich habe mir Mühe gegeben.« Er deutete auf das Erdgeschoss. »Schließlich feiert man nur einmal eine Einweihungsparty.«

»Es ist wirklich ein schönes Haus.« Gott, das klang noch lahmer als die vorherige Bemerkung. »Und falls ich mich gerade anhöre, als könnte man mit mir maximal übers Wetter reden, liegt das nicht an dem Cocktail. Der ist ausgezeichnet.«

Adam lachte leise, was mir wiederum ein Lächeln entlockte. Vermutlich das erste echte in diesem Abend. »Schön, dass das Catering deine Zustimmung findet. Brauchst du Nachschub?«

»Nur, wenn du dich nicht mehr mit mir unterhalten willst. Ich werde nach einem weiteren Drink wohl kaum meine Intelligenz wiederfinden, um zu beweisen, dass ich durchaus zu interessanten Gesprächen fähig bin.«

Wieder dieses leise Lachen, und diesmal stimmte ich mit ein. »Ich hatte gehofft, dass dich ein weiterer Cocktail lockerer macht und deine Sorgen vergessen lässt. Zumindest ist dein Sinn für Humor noch vorhanden.«

»Wie kommst du darauf, dass ich Sorgen habe?« Ich war ehrlich gespannt auf die Antwort. Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich meine miese Laune dermaßen offensichtlich zur Schau stellte. Normalerweise war ich besser darin, meine Gefühle zu verbergen. Diese Kunst hatte ich mein ganzes Leben lang praktiziert, solange ich zurückdenken konnte.

»Deine Miene wirkt zu einstudiert freundlich, um echt zu sein. Du hast dich unten kaum an Unterhaltungen beteiligt. Und natürlich die Tatsache, dass du allein hier oben stehst und nicht versuchst, mit einer der Singlefrauen ins Gespräch zu kommen.« Adam zwinkerte mir zu. »Außerdem hat Helen fallen lassen, dass du eine Scheidung hinter dir hast und dringend aufgemuntert werden musst, ehe du in deinem Jammertal der Tränen ertrinkst.«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie übertreibt maßlos. Ja, gut, ich war in den letzten Monaten nicht bester Stimmung, aber so eine trübe Tasse bin ich auch nicht.«

»Helen ist da anderer Meinung.« Adams Grinsen verschwand. »Es ist immer schwer, jemanden zu verlieren, den man liebt. Das braucht einige Zeit, bis man darüber hinweg ist. Also fühl dich nicht dazu gezwungen, hier den Clown zu mimen, nur weil Helen dich lachen sehen möchte.«

Ich nickte nur stumm. Jemanden, den man liebt … Ich hatte Anna geliebt, keine Frage. Wir hatten die gleichen Interessen, gleiche Wertvorstellungen, gleiche Einstellung zum Leben. Und trotzdem hatte es nicht gereicht, um eine glückliche Ehe zu führen. Sie war von Woche zu Woche schweigsamer geworden, und ich hatte hilflos dabei zugesehen, weil ich keine Ahnung hatte, was in unserer Beziehung nicht stimmte.

»Ich weiß es zu schätzen, dass sich Helen um mich sorgt. Aber mir geht’s gut. Wirklich.« Und das war gelogen. Es ging mir nicht gut. Ich war nicht tieftodtraurig oder bis ins Mark erschüttert, weil ich wieder alleinstehend war. Etwas anderes nagte an mir. Etwas, über das ich lange nachgedacht und doch nie hatte benennen können. Eine Unzufriedenheit, gepaart mit einer seltsamen Melancholie. Als wäre ich an einem Scheideweg in meinem Leben angelangt und wüsste nicht, welche Möglichkeiten mir offenstanden.

Adam musterte mich wieder mit schiefgelegtem Kopf. »Das glaube ich dir nicht. Irgendetwas beschäftigt dich, was über diese Scheidung hinausgeht.«

»Hast du nebenbei auch Psychologie studiert?« Ich hatte es als Scherz formulieren wollen, doch es kam verbittert heraus.

»Nein, aber ich bin ein guter Beobachter.«

Ich deutete auf die Barkeeperin, die mit einem Shaker hinter der Theke hantierte. Ihr greller, pinker Lippenstift war bis hierher auszumachen. »Beobachte statt mir die Kleine. Sie ist süß.«

Adam zog einen Mundwinkel hoch und schnaubte belustigt. »Vermutlich. Wenn man auf Frauen steht, gefällt sie einem sicher.«

Ich hätte gerne gelassen reagiert. Oder noch besser, gar nicht. Doch stattdessen ließ ich mein Glas sinken und starrte mein Gegenüber an, als wären ihm Flügel gewachsen. »Und das tust du … nicht?«, brachte ich schließlich heraus und bereute es sofort. So etwas fragte man niemanden, schon gar nicht jemanden, den man gerade erst kennengelernt hatte.

Adam lächelte einfach, als wäre es ihm nicht peinlich. Als hätte er keinen verbalen Fauxpas begangen, sondern diese Aussage äußerst bewusst getätigt. Und je länger ich ihn ansah, desto sicherer wurde ich mir, dass das der Fall war.

»Nein. Ich dachte, das hätte sich mittlerweile herumgesprochen.« Er zog eine Schulter hoch, was nahezu entschuldigend wirkte. »Hab vergessen, dass du dich nicht in meinem Berufsumfeld bewegst. Ich glaube, unter Architekten und Bauherren weiß es jeder. Kostet mich weiterhin eine Menge Aufträge.« Jetzt hoben sich beide Schultern. »Irgendwann wird sich das hoffentlich ändern, und dann zählt nur mehr meine Leistung und nicht, mit welchem Geschlecht ich mich im Bett wälze.«

»Vielleicht im nächsten Jahrtausend«, murmelte ich. Ich kannte niemanden, der schwul war. Zumindest niemanden, von dem ich es wusste. Bis auf Adam eben.

Womit auch sämtliche meiner Vorstellungen über Schwule zusammenkrachten. Er wirkte nicht mal annähernd feminin. Breite Schultern, leichter Bartschatten, kantiges Kinn. Keine affektierten Gesten, keine abgespreizten Finger an der Hand, mit der er das Glas hielt.

»Wollen wir es hoffen.« Wieder dieser prüfende Blick, der nichts Verurteilendes enthielt, nur Neugier und … Mitgefühl? »Willst du mir erzählen, was dich bedrückt?«

»Ich habe eine Scheidung hinter mir. Das sollte Erklärung genug sein.«

»Weil du die Liebe deines Lebens verloren hast oder weil dein Lebensplan sich nicht erfüllt hat?«

Ich blinzelte irritiert. Das hatte mich noch niemand gefragt. Und die Antwort war eindeutig.

Und das schockierte mich.

»Es war nicht angenehm, Anna zu verlieren«, sagte ich, um die Stille zu füllen, während mein Verstand die Erkenntnis verarbeitete, dass meine monatelange Niedergeschlagenheit nichts mit dem Verlust ihrer Liebe zu tun hatte. »Aber ich denke, ich bin einigermaßen darüber hinweg.«

Ich vermisste sie, ja. Aber als Freundin, als Gesprächspartnerin, als Begleiterin bei Veranstaltungen und Reisen. Nicht als Frau in meinem Bett. Die letzten Monate vor der Trennung hatten wir ohnehin keinen Sex mehr miteinander gehabt, und ich hatte ihn nicht vermisst.

Bislang hatte ich auch keine Lust verspürt, mit einer anderen Frau zu schlafen. Es erschien mir einfach nicht erstrebenswert. Sicher, Sex war nett, aber dieses Feuerwerk der Gefühle, das er für andere Leute zu sein schien? So ganz konnte ich die Aufregung um diese Sache nicht verstehen.

Was vermutlich auch dazu beigetragen hatte, dass Anna einen Schlussstrich gezogen hatte. Sie wollte mehr, hatte sie mir gesagt. Mehr Spaß am Leben, mehr Intensität, tiefere Gefühle. Zusammengefasst war es angenehm und nett an meiner Seite, aber in emotionaler Hinsicht todlangweilig.

»Aber es ist das Beste für euch beide, weil ihr zusammen nicht glücklich wart. Jedenfalls nicht mehr.« Adam nickte langsam. »Kenne ich. Habe ich gerade hinter mir.«

Durfte ich diesen fast Fremden fragen, wer ihm das Herz gebrochen hatten? Wie Adam es schaffte, weiterzumachen und dabei nicht ständig ins Grübeln zu geraten? Und wollte ich überhaupt wissen, wie das Liebesleben von Schwulen aussah?

Vermutlich nicht anders als das von Heterosexuellen. Liebe war Liebe.

»Willst du mir davon erzählen?«, fragte ich vorsichtig.

»Wir waren vier Jahre zusammen und haben uns vor drei Monaten getrennt. Er hat jemand anderen gefunden, der ihm lieber ist als ich.« Ein bitteres Lächeln stahl sich auf Adams Gesicht, und er vertrieb es mit einem Kopfschütteln. »Es hat eine Weile gedauert, bis ich draufgekommen bin, dass es nicht so sehr der Verlust von Michael war, der mir zu schaffen machte, sondern die Vorstellung, dass ich jetzt wieder von vorne anfangen muss. Ich war allein, mitten im Hausbau, und hatte nicht mehr die sichere Zukunft vor mir, die eine feste Beziehung bietet.«

»Also war das Haus für euch beide gedacht?«

»Das war der Plan. Jetzt habe ich eben viel Platz für mich allein.« Das nächste Lächeln war so fein, dass ich nicht sicher war, ob ich es mir nicht nur einbildete. »Allerdings hoffe ich, dass das nicht ewig so bleiben wird. Irgendwann wird wieder ein Mann in mein Leben treten, mit dem ich alles teilen möchte.«

»Ich wünsche es dir.« Ich meinte es ehrlich und hoffte, dass es auch so ankam.

»Nun, vielleicht habe ich ihn ja schon kennengelernt.« Adam bedachte mich mit einem offenen Lächeln, bei dem sich seine Zähne zeigten, und etwas Merkwürdiges geschah.

Nicht nur, dass ich es erwiderte, weil ich mich in Adams Gesellschaft zusehends wohler fühlte, und nicht, weil ich automatisch reagierte, sondern es regte sich auch etwas in meinem Bauch. Ein seltsames Flattern, als wäre ich nervös. Nicht so schlimm wie vor einer Prüfung in Strafrecht, aber auch nicht so unbedeutend wie vor einem unangenehmen Telefonat.

Vielleicht sollte ich noch etwas essen. Oder lag es an den Happen, die ich bereits zu mir genommen hatte?

Meine Verwirrung musste sich deutlich auf meinem Gesicht abgespielt haben, denn Adam sah mich aufmerksam an. »Alles in Ordnung?«

Mein Kopf ruckte nach oben. »Ja. Ja, alles bestens. Ich war nur … in Gedanken.«

»Wie wär’s, wenn du heute Abend das Denken sein lässt und dich einfach nur amüsierst? Ich weiß, es sind eine Menge Leute aus der Baubranche hier, aber auch mit denen kann man Spaß haben. Wir erzählen nicht nur Witze über Wärmedämmung und falsche Polierpläne, versprochen.«

»Ich will deinen Gästen nicht die Laune verderben, indem ich sie zwinge, sich mit einem steifen Anwalt zu unterhalten.«

Adams Blick fiel auf meinen Schritt, und unwillkürlich schoss mir Hitze ins Gesicht. »Hm, davon bemerke ich noch nichts.« Er trat einen Schritt näher und senkte die Stimme. »Aber falls dir danach ist, kann ich gerne dafür sorgen.«

Ich hätte entrüstet sein sollen. Oder beleidigt. Zumindest konsterniert. Es schickte sich nicht, einem heterosexuellen Mann gegenüber solche anzüglichen Bemerkungen zu machen. Stattdessen musste ich grinsen. Breit und fröhlich und einfach nur amüsiert.

»Danke, aber das würde dich zu lange von deinen Gästen fernhalten«, hörte ich mich sagen, bevor ich auch nur über eine adäquate Antwort nachgedacht hatte. »Das kann ich ihnen nicht antun.«

»Nun, falls du deine Meinung änderst, dann gib einfach Bescheid.« Adam deutete auf die Treppe. »Wollen wir nach unten gehen und herausfinden, was der nächste Cocktail mit dir anstellt?«

»Falls du darauf hoffst, dass du mich betrunken dazu bringst, dass ich dich in meine Hose lasse, muss ich dich enttäuschen. Ich schlafe höchstens rasend schnell ein und schnarche dann laut.« Zum ersten Mal sah ich ihm bewusst in die Augen. Sie schienen blau zu sein, aber es war kein helles, klares Blau, auch kein intensives, sondern ein mit Grau durchsetztes. Seine Wimpern waren dunkler als seine Haare und lang und dicht.

Ich schüttelte andeutungsweise den Kopf. Seit wann fiel mir so etwas bei einem Mann auf? Ich hatte solche Details oft nicht einmal an Frauen wahrgenommen, die ich attraktiv fand.

»David, David«, meinte Adam kopfschüttelnd. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du flirtest mit mir.« Er hielt auf die Treppe zu und warf einen Blick über seine Schulter. »Aber sicher irre ich mich.«

Ich folgte ihm und gab keine Antwort, weil ich keine Lust hatte, über meine Reaktion nachzudenken. Adams breite Schultern bewegten sich unter dem apricotfarbenen Stoff, als er eine Hand auf das Geländer legte.

Mein Blick folgte den langen Fingern, die über das Holz glitten, als Adam die Stufen hinabstieg. Es gäbe sicher Schlimmeres, als von diesen Fingern berührt zu werden.

 

 

Kapitel 2

 

Gegenwart

 

Ich gehe zur Tür hinaus, die in den Garten führt, und bleibe auf der Terrasse stehen. Tief sauge ich die frische Luft in meine Lungen. Noch ist es kühl, auch wenn die Sonne schon scheint. Die Temperaturen werden bald steigen, wie es sich für einen anständigen Frühsommertag Ende Mai gehört.

Die Aussicht hat sich in den letzten drei Jahrzehnten kaum verändert und ist doch anders als zu Beginn. Die Hügel sind die gleichen, auch die Äcker und Wiesen jenseits der Naturhecke aus Ziersträuchern sind nicht wie in anderen Gegenden im Umfang geschrumpft. Auch wenn es mehr Häuser gibt und eine richtige Siedlung entstanden ist, ist unser Haus noch immer das letzte an der Straße.

Der Wald hat sich zu meiner Überraschung auch kaum verändert. Ja, es wurden immer wieder mal ein paar Bäume gefällt, aber es fand keine völlige Rodung statt, demzufolge auch keine Neubepflanzung. Die hohen Bäume, die mich seit meinem ersten Besuch faszinieren, sind noch höher, doch es fällt mir kaum auf. Ob ein Baum nun zwanzig oder fünfundzwanzig Meter hoch ist, kann ich kaum abschätzen. In beiden Fällen fühle ich mich daneben klein.

Die Vögel zwitschern in verschiedenen Tonlagen, versteckt in der Hecke und auf den Bäumen. Eine vorwitzige Amsel hüpft über das sattgrüne Gras und sucht nach Futter. Auch wenn es durch die Geräusche der Natur hier nie wirklich still ist, kommt es einem doch so vor. Es fehlt der Motorenlärm und die tausend anderen Laute der Stadt.

Die deutlichste Veränderung haben die Bäume auf dem Grundstück durchgemacht. Als ich angefangen habe, hier öfter zu Besuch zu kommen, waren sie klein und gerade erst gepflanzt. Dünne Obstbäumchen mit Stämmen, die nicht einmal so dick wie meine Faust waren. Jetzt stehen sie in voller Pracht verteilt im Garten, unsere Apfelbäume, alle vier bis fünf Meter hoch, tief verwurzelt und stark genug, um jedem Sturm zu widerstehen. Jedes Jahr haben sie uns Ernte beschert. Anfangs nur zwei oder drei Äpfel, dann jedes Jahr hunderte.

Ich wandere zu meinem Lieblingsapfelbaum, der mir sogar meine anfangs ungeschickten Schnittversuche verziehen und trotzdem das Wachstum nicht einstellt hat. Wegen dieses Baums habe ich an so vielen Septembertagen in der Küche gestanden und Apfelmus zubereitet. Ich, der Mann mit den zwei linken Händen, was Kochen angeht, und der Aversion gegen alles, was in stundenlanger Vor- und Zubereitung ausartet.

Anfangs habe ich es gehasst und nur Adam zuliebe gemacht. Allein das Kleinschnippeln der Äpfel und Ausschneiden der unvermeidlichen wurmigen Stellen nahm so viel Zeit in Anspruch, die ich besser nutzen wollte. Doch dann entdeckte ich, wie gut so ein selbstgemachtes Apfelmus schmeckt. Wie schön es ist, etwas aus dem eigenen Garten zu ernten. Frisches Obst, ohne chemische Behandlung, mit einem Geschmack, bei dem kein gekaufter Apfel mithalten kann.

Bald wurde es unser Ritual im Spätsommer und Herbst. Verarbeitung der Ernte. Gemeinsames Einkochen und Einfrieren. Stundenlang waren wir damit beschäftigt. Manchmal schweigend, manchmal ohne Unterlass redend. Mit Adam war beides möglich. Ich mochte seine gesprächige Seite, seine witzigen Bemerkungen und klugen Kommentare, doch ich liebte sein Schweigen. Wenn wir nicht redeten und einander dennoch so viel sagten. Durch Blicke, durch Gesten, durch Berührungen.

Es musste nicht immer ein laut ausgesprochenes »Ich liebe dich« sein. Oft genug reichte ein Lächeln über einer Schüssel voller Apfelspalten. Eine Umarmung und ein Kuss auf die Wange, während ich im großen Topf mit dem Fruchtmus rührte. Ein stilles Aneinanderschmiegen, nachdem wir uns in einer lauen Septembernacht geliebt hatten.

Meine Finger streichen über den Stamm, um den ich jetzt meine Hände nicht mehr legen kann. Zu dick, zu stark. Ich hoffe, dass er seinen neuen Besitzern ebenso lange Freude und Ernte bereiten wird wie uns.

Die Früchte sind noch winzig klein. Mir wird ihre Ernte nicht vergönnt sein. Aber ich habe noch etliche Plastikdosen mit Apfelmus vom letzten Herbst eingefroren, die ich beim Umzug mitgenommen habe. Das sollte die Enttäuschung etwas mildern. Theoretisch.

Mein Blick fällt auf den Kirschbaum. Was die Ernte angeht, hat er nie unsere Erwartungen erfüllt. Kleine Früchte, an denen der Kern das Größte war und die immer säuerlich schmeckten, obwohl es eine Süßkirsche ist. Lange Zeit hatten wir überlegt, den dünnen Stamm wieder herauszureißen und etwas anderes zu pflanzen. Vielleicht eine Birne oder sogar einen Pfirsichbaum, auch wenn das Klima dafür eigentlich zu rau ist. Wir konnten uns nie dazu überwinden. Denn jedes Jahr im Frühjahr, meistens Anfang April, manchmal schon Ende März, blüht dieser Baum und erstrahlt in einer Schönheit, die atemberaubend ist.

Viele Freunde, die uns besuchten, verstanden nicht, warum wir den Baum nicht fällten, zumal ich mich so oft darüber beschwerte, dass ich keine vernünftigen Kirschen ernten konnte. Zu wenig Ertrag, nicht wohlschmeckend genug. Wenn sie uns in der Woche besuchten, in der der Baum in voller Blüte stand, fragten sie nicht mehr, warum die Kirsche weiterleben durfte.

Jedes Jahr heben sich weiße Blüten, die sich zu kleinen Kugeln ballen, wie gemalt vom blauen Himmel ab und künden von den wärmeren Tagen, die bald folgen werden. Der ganze Baum explodiert förmlich vor Leben. Noch kein Grün, kein einziges Blatt, nur dunkelbraune, auf die Entfernung schwarz wirkende Äste und strahlend weiße Blüten. Ich habe nie ein besseres Sinnbild für den Frühling gefunden als diesen Baum.

Jetzt ist er gute zwölf Meter hoch und trägt die Früchte so weit oben, dass wir mit der Leiter nicht mehr rankommen. Die Vögel freuen sich. Sie haben den Baum bereits leer gefressen, und überall auf dem Boden liegen Kerne.

Ich habe den Käufern Bilder geschickt und in den Vertrag hineinschreiben lassen, dass dieser Baum nicht gefällt werden darf, es sei denn, er ist krank oder morsch. Das war mein einziger Sonderwunsch beim Verkauf unseres Hauses. Ich wusste, dass ich mich von der Kirsche trennen muss, dass ich nicht mehr in ihrem Schatten sitzen und dem Lied der Vögel lauschen werde, aber ich wollte erst dann von ihr Abschied nehmen, als ich mir sicher war, dass sie weiterleben wird.

Ich habe die Hoffnung, dass der Baum auch nach meinem Tod weiterbestehen wird. Dass er viele Vögel ernähren wird und dass die Kinder, die bald hier einziehen, durch ihn das Wunder des Lebens beobachten und bestaunen können, welche Schönheit in der Welt existiert.

Meine Finger streichen ein letztes Mal über die raue Rinde der Kirsche. Es war schön mit dir. Ich bedanke mich stumm, indem ich den Stamm mit der flachen Hand streichle, als wäre er kein Baum, sondern die Wange meines Liebhabers.

Bei dem Gedanken an Schönheit wandere ich zur Rose weiter, die hinter dem Kirschbaum steht. Eine einfache Strauchrose, der nicht einmal meine anfänglichen stümperhaften Schnittversuche etwas anhaben konnten.

Adam hat einen Ableger aus dem Garten seiner Eltern mitgenommen. Diese alte Sorte verströmt einen Duft, bei dem eine dieser hochgezüchteten Edelrosen nicht mithalten kann.

Die Blüte hat bereits begonnen und wird sich bis Ende Juni hinziehen. Ich ziehe eine der zyklamfarbenen Rosen mit den filigranen Blütenblättern an meine Nase und atme tief ihren betörenden Duft ein. Vor zwei Monaten, als feststand, dass der Verkauf des Hauses klappen wird, habe ich einen Ableger gemacht und in einen riesigen Blumentrog gepflanzt, in der Hoffnung, dass diese Rose auch in der neuen Bleibe wächst und gedeiht, auch wenn sie vermutlich zu wenig Platz haben wird.

Seufzend lasse ich die Blüte nach einem letzten Atemzug los. Der Weg zurück zur Terrasse über den sattgrünen Rasen lässt mein Herz schwer werden. Ich weiß nicht, wie oft ich durch unseren Garten spaziert bin, wie oft ich mich an der Natur erfreut habe, nur um mich wieder daran zu erinnern, wie viel Arbeit es macht, diese Natur zu pflegen.

Diesen Teil meines Leben werde ich nicht vermissen. Die viele Arbeit im Garten und im Haus, um alles in Schuss zu halten. Das war einer der wesentlichen Gründe, warum heute mein letzter Tag hier ist. Ich bin keine dreißig mehr. Nicht mal mehr fünfzig, und selbst da bin ich schon an den meisten Tagen mit Schmerzen im Kreuz aufgewacht. Seitdem ist es nicht besser geworden.

Doch wie mit allem im Leben lernt man, auch damit umzugehen. Noch lässt mich mein Körper nicht im Stich. Meistens jedenfalls nicht. Die Wehwehchen werden monatlich mehr, aber es lässt sich aushalten. Vor zehn Jahren habe ich mit etwas angefangen, was ich bis dahin immer belächelt habe: Yoga.

Adam war zuerst verwundert, dann zog er mich damit auf, warum ich das nicht schon viel früher praktiziert habe, als wir beide noch beweglicher waren und im Bett Verrenkungen hätten ausprobieren können.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752141269
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
LGBTQ schwuler Roman schwul Gay Romance gay

Autor

  • Eliza Bauer (Autor:in)

Eliza Bauer lebt mit Partner und Hund im Süden Österreichs, wo es jede Menge Wein, Maroni und die weltweit größte Sammlung an Blankwaffen gibt, was ihre Faszination mit Fantasy erklären könnte.
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Titel: Der Morgen, den ich fürchte