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Vampire Moon

von Tanya Carpenter (Autor:in)
219 Seiten
Reihe: Sommermond, Band 1

Zusammenfassung

Paranormal Romance Livia – die Jägerin, und Asgard – der Sucher. Eine Werwölfin und ein Vampir, deren Wege sich durch Zufall kreuzen. Doch gemeinsam scheint es ihnen bestimmt, den jahrhundertelangen Zwist ihrer beider Arten zu beenden, indem sie zu den Ursprüngen zurückkehren und die Wahrheit ans Licht bringen. Dabei schwebt das ungleiche Paar in höchster Lebensgefahr, denn andere Jägerinnen der Lupus Garou sind ihnen auf den Fersen, und auch der Lord von Sacre Nuit hat seine Häscher bereits ausgesandt. Eine einzigartige Liebe, die Raum und Zeit überwindet - ein Schicksal, das mehr als nur zwei Herzen wieder miteinander vereint. 349 Seiten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Prolog

 

Juli 1807, Burg Sacre Nuit, Schottland

Schwüle erfüllte die Räume. Selbst die dicken Mauern der alten Burg vermochten die drückende Hitze, die seit Tagen herrschte, nicht länger auszusperren. Sie kroch durch jede Ritze und in jeden Winkel, legte sich wie eine schwere Last auf die Bewohner und machte sogar das Atmen schwer. Jede Tätigkeit wurde zur schieren Qual, weil jeder Schritt und Handschlag das Gefühl vermittelte, mehrere Zentner bewegen zu müssen.

Asgard rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn, damit ihm nicht noch mehr Schweiß in die Augen rann. Sie brannten schon jetzt wie Feuer. Er konnte sie kaum noch offen halten. Das Los aller Sucher, die bei flackernden Kerzen über uralten Dokumenten, Büchern und Schriftrollen saßen, um Wort für Wort zu entziffern, zu übersetzen, und alles Wissen dieser Welt zusammenzutragen. Für ihn – Lord Darwin. Was auch immer Auge und Verstand eines Suchers erreichte, offenbarte sich auch ihm. Dem ältesten Vampir, ihrem Anführer und Herrscher. Bei ihm liefen alle Fäden zusammen, bündelte sich das allumfassende Verständnis dessen, was in der Welt geschah. So war es immer schon gewesen. Die Vampire lenkten die Geschicke der Welt, indem sie deren Augen und Ohren geworden waren und handelten, wo und wie es ihnen nötig erschien. Unbemerkt von den Menschen drehten ihre Lords das Rad des Schicksals nach ihrem Belieben und Willen. Allen voran Lord Darwin.

Asgard wusste, welche Ehre es bedeutete, von Darwin nach Sacre Nuit berufen zu werden, um in der großen Bibliothek Dienst zu verrichten. Doch diese besondere Stellung besaß auch ihre Schattenseiten. Wann immer er dem Herrn der Burg begegnete, brannte sich dessen Blick aus eiskalten blauen Augen in sein Innerstes und legte jedes Gefühl, jeden Gedanken bloß. Unheimlich! Und gefährlich! Auch jetzt überlief ihn ein Schauder. Man sah nur selten eine Regung auf den marmorglatten bleichen Zügen. Wenn der Lord das Wort an jemanden richtete, wirkte allein seine Stimme wie ein Befehl, dem man sich nicht entziehen konnte. Der Lord war nie grausam – jedenfalls nicht gegen seine Untergebenen – aber aus seinen Augen sprach zuweilen der Wahnsinn. Man sagte, er sei früher anders gewesen, doch mit Beginn des Krieges habe sich ein Schatten auf seine Seele gelegt, der nicht mehr weichen wollte und auch die Burg in seinen grausamen Krallen gefangen hielt. Der Tod war nach Sacre Nuit gekommen, im Mantel eines Freundes. Diesen Verrat hatte der Lord nie verwunden. Alles, was man noch von diesen dunklen Tagen wusste, waren vage Legenden, deren Wahrheitsgehalt sich schwer ermessen ließ. Was wirklich geschehen war, wussten nur noch wenige. Vielleicht nicht einmal mehr der Lord selbst, wenn es stimmte, was man sich zu berichten wusste, und der Hass jede Erinnerung an die Zeit vor dem Krieg in ihm ausgelöscht hatte. Selbst seinen Sohn schien er nicht mehr zu kennen. Jedenfalls kümmerte er sich kaum um den Jungen, der seinerseits in eine eigene, entrückte Welt geflüchtet schien.

Die Hitze der vom Wachs genährten Flamme, die vor Asgards Gesicht flackerte, steigerte sich zur Unerträglichkeit. Nur ein wenig frische Luft schnappen, dachte er.

Das Geräusch des Schemels auf dem steinernen Boden ließ die anderen Sucher aufblicken. Asgard machte eine vage Geste der Entschuldigung und taumelte dann mehr, als dass er lief zum offenen Fenster hinüber. Dort hielt er sein Gesicht in den Nachtwind. So sehr er die eisigen Winterstürme hasste, während derer man nicht genug Kleidung tragen und nicht ausreichend Decken über sich breiten konnte, obwohl alle Kamine in der Burg loderten, die Mauern aber dennoch kalt blieben, im Augenblick hätte er alles dafür gegeben, wenn jetzt solch ein Sturm über sie hereingebrochen wäre, um Linderung zu verschaffen.

Er starrte in den Nachthimmel hinauf, der in tiefem Blutrot erstrahlte. Der Mond glühte wie das Gesicht eines Höllendämons. Wolkenfetzen trieben ruhelosen Geistern gleich um ihn her, als buhlten sie um seine Gunst.

Freiheit, dachte Asgard, dort draußen ist Freiheit. Eine, die er nie erlangen würde, denn so wertvoll die Sucher auch für die Lords waren. So gut man sie auch behandelte. Welche Vorzüge man ihnen auch immer gewährte. Sie waren und blieben doch Gefangene. Besonders hier in Sacre Nuit. Ihr Leben und all ihre Gedanken gehörten ihrem Herrn.

Asgard schloss die Augen und gab sich für einen kurzen Moment seiner Sehnsucht hin, einmal allein dort draußen umherstreifen zu dürfen. Die Welt mit seinen geschärften Sinnen auf eigene Faust zu erkunden, das Leben zu fühlen, zu riechen, zu schmecken, zu atmen. Nicht nur aus dem geschriebenen Wort, sondern wirklich und wahrhaftig.

Der Sucher presste seine Wange an das Gestein des Fensterrahmens auf der Suche nach Kühle, doch selbst der Fels, aus dem die Burg erbaut war, schwitzte aus jeder Pore. Der Versuch, Sauerstoff in die Lungen zu bekommen, misslang. Da ihm lediglich schwindlig wurde, je länger er dort stand und auf eine frische Brise hoffte, gab er schließlich auf und fügte sich in sein Schicksal. Irgendwann würde auch dieser Sommer zu Ende gehen. Der Herbst brachte Regen und den sanften Kuss der Nebel, die sich dann im schottischen Tal ausbreiteten und die Burg wie ein Mantel aus Feentau umgaben.

Der Gedanke daran ließ ihn seufzen. Noch sah es nicht danach aus. Es war erst Juli. Der Sommer dauerte an.

Das Buch, das er gerade gelesen hatte, nahm er mit zu dem großen Regal. Darin war nichts von Belang gewesen. Nur Aufzeichnungen längst vergangener Dinge, die sicher schon hundertfach wiedergegeben worden und Lord Darwin längst bekannt waren. Es hieß, der Herr von Sacre Nuit suche nach etwas Bestimmten, auch wenn niemand wusste, was genau es war. Er würde es wissen, wenn es gefunden wurde. Es gab viele Vermutungen. Rache für den begangenen Mord an seiner Tochter, von der heute niemand mehr sprach. Die ultimative Waffe gegen ihre Feinde, die Lykaner. Und einen Weg zur absoluten Macht – als ob diese nicht längst in seinen Händen läge. Doch um diese Dinge durfte sich ein Sucher keine Gedanken machen. Er musste das Wissen finden; die Entscheidung, wie damit zu verfahren war, oblag anderen.

Um den Folianten zurückzustellen, brauchte Asgard die Leiter. Die Stufen knarrten unter seinen Füßen. Er spähte über seine Schulter, doch alle anderen im Raum blieben auf ihre Bücher konzentriert und beachteten ihn nicht.

Er stellte den Einband an seinen Platz zurück. Der Letzte in diesem Segment. Das Nächste war einem anderen Sucher zugeteilt. Jedes Segment wurde im Zyklus eines Mondes neu bestückt. So lange hatte ein Sucher Zeit, die ihm zugeteilten Werke zu lesen, sich das Wissen darin einzuprägen und somit über das kollektive Bewusstsein des Lords alles, was er gefunden hatte, an ihn weiterzugeben.

Schon häufiger war Asgard vor dem Ende eines Zyklus mit seinem Segment fertig geworden. Andere wiederum brauchten länger als eine Mondphase. Die Werke, die sie nicht gelesen hatten, wurden dann einem anderen Sucher im neuen Zyklus zugeteilt. Somit hatte Asgard kein schlechtes Gewissen, wenn er dem vorgriff und in einem anderen Segment weiterarbeitete. Racuul war der Langsamste von ihnen. Asgard entschied, dem jungen Sucher, der erst seit drei Monden auf Sacre Nuit Dienst tat und bereits zweimal für seine Säumnis ermahnt worden war, zu helfen und einige Buchreihen für ihn zu studieren.

Er lehnte die Leiter an das fremde Segment und erklomm die oberste Stufe, da Racuul in der untersten Reihe begonnen hatte. So konnten sie aufeinander zuarbeiten.

Als er das Regal vor sich hatte, überflog er automatisch die Schriftzüge auf den Buchrücken. Wo sollte er beginnen? Er hatte im Laufe der Jahre ein eigenes System entwickelt, bei dem er sich auf seinen Instinkt verließ und die Bücher nicht in der Reihenfolge ihrer Position studierte, sondern so, wie seine innere Stimme es ihm riet.

Asgard schloss die Augen, ließ seine Fingerspitzen über die uralten Werke gleiten und lauschte in sich hinein. Er liebte es, auf sein Gefühl zu hören und dem zu vertrauen. Das hatte ihm bereits mehrmals ein Lob des Lords eingebracht. Wie ernst dieses gemeint war, kümmerte ihn nicht, doch offenbar hatte man Verwendung für die Dinge gefunden, die er in der Bibliothek entdeckt hatte. Die Linien seines Suchermals pulsierten wie von Leben erfüllt, während die Kraft des geschriebenen Wortes zwischen den Seiten hervorströmte und ihn wie eine zärtliche Gefährtin liebkoste. Die Einzige, die ein Sucher je haben durfte. Von dem unscheinbaren Mal zwischen seinen Schulterblättern wanden sich inzwischen unzählige Ranken und Muster über seinen Rücken, und eine einzelne Linie wanderte bereits seinen linken Arm hinab. Er fühlte, wie sie prickelte, eine Verbindung herstellte, zu dem Wissen, das nur darauf wartete, von ihm aufgenommen zu werden. Es war stets ein magischer Akt, so oft er sich auch wiederholte.

Als seine Hand über einen dicken, ledernen Folianten glitt, glaubte er, noch etwas anderes zu spüren. Wie ein Ruf. Eine flüsternde Stimme. Er stockte, ließ seine Finger ein Stück zurückwandern und wieder vor. Erneut hörte er das Wispern, kaum, dass er das derbe Material berührte. Eine vollkommen neue Erfahrung, der Klang hingegen so vertraut. Wie von jemandem, den er sehr gut kannte. Er konnte sich darauf keinen Reim machen. Sucher besaßen keine Familie. Jeder, der das Mal ihrer Gilde bei seiner Geburt trug, musste sofort in eine der Schulen gebracht werden. Dieses Mal, das einer Tätowierung ähnelte, breitete sich im Laufe eines Sucherlebens über den gesamten Körper aus. Es hieß, die Symbole und Linien verrieten dem wissenden Auge, was der Sucher getan und erfahren hatte. Aber Asgard konnte weder sein Mal, noch das eines anderen Suchers lesen. In den ersten Jahren hatte er gehofft, es irgendwann zu erlernen und so vielleicht seine Eltern wiederzufinden. Inzwischen hatte er sich damit abgefunden, dass dies ein Wunschtraum blieb. Es war auch nicht gewollt, dass ein Sucher Gefühle gleich welcher Art empfand, da ihn dies von seiner Arbeit ablenken konnte. Jeder arbeitete stets für sich allein. Freundschaften waren kaum möglich, denn das Einzige, was ihre Gedanken beherrschte und beherrschen durfte, waren Worte, Buchstaben und Schriften.

Dieses Gefühl, das nun von Asgard Besitz ergriff, war ihm daher umso fremder. Verwirrt schüttelte er den Kopf, verharrte einen Moment unschlüssig: Schließlich ergriff er das Buch und zog es hervor. Im selben Augenblick wurde ihm bewusst, dass der lautlose Ruf nicht von diesem Werk ausging. Der Ursprung lag dahinter verborgen. Er hob den Blick von dem ledernen Einband zurück zu der Lücke in der Buchreihe und sah dahinter etwas … schimmern. Nein, das war das falsche Wort. Es war mehr ein Flimmern wie von Hitze. Noch intensiver als es derzeit allerorts der Fall war, wo die Sonne unbarmherzig alles mit ihrem Feuer quälte, sodass ihre Glut selbst in der Nacht unter dem Schatten des Mondes noch nachwirkte.

Der Gedanke an ein Dolmentor schoss Asgard durch den Kopf. Er hatte selbst niemals eines gesehen, doch man erzählte sich, dass sich die Luft an diesen Orten veränderte, wenn ein Tor aktiviert wurde. Dass sich das Bild der Umgebung dann verzerrte, vor den Augen verschwamm. Unwirklich wie ein Bild auf der Wasseroberfläche eines Sees, nachdem man einen Stein hineingeworfen hatte und die Wellen sie in Bewegung versetzten. Genau so war es auch hier.

Asgard legte das Buch beiseite und griff in die Dunkelheit hinter den Büchern. Seine Hand berührte eine Unebenheit, sie lag so weit hinten, dass er sie nur mit den Fingerspitzen erreichen konnte. Er war sich nicht im Klaren gewesen, dass die Buchwand so weit nach hinten reichte. Asgard stand bereits auf der obersten Stufe der Leiter und musste sich dennoch strecken, um etwas, das einem kleinen Knopf ähnelte, erfassen zu können. Er drücke darauf und hörte ein leises Klacken. Sekundenbruchteile später fühlte er weiches, kühles Leder. Der Geruch alten Papiers drang ihm in die Nase. Sein Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen. Was hatte er gefunden? Und warum war es dort verborgen worden? Wieso hatte man es bisher nicht entdeckt, so oft wie die Bücher in diesem Regal schon ausgetauscht worden waren? Alles Fragen, auf die er nur dann eine Antwort finden konnte, wenn er sich seinen Fund genauer besah. Beherzt griff er zu und holte eine dicke Mappe aus hellbraunem Hirschleder hervor. Sie war mit einer silbernen Spange verschlossen, in welche eine Distel und eine Eule eingraviert waren.

Wenn es ein Wappen sein sollte, so war es ihm nicht bekannt.

Nachdenklich fuhr Asgard die Symbole mit dem Zeigefinger nach. Eine Flut von Gedanken und Emotionen durchströmte ihn. Sie kamen und gingen so schnell, dass er sie nicht fassen konnte. Aber er wusste, sie waren da und blieben tief in ihm – darauf wartend, dass er sie eines nach dem anderen ergründete.

Er blickte verstohlen über seine Schulter, weil ihn mit einem Mal das Gefühl überkam, beobachtet zu werden, doch niemand schenkte ihm Beachtung. Also kehrte er an seinen Platz zurück und bemühte sich um den Anschein der Normalität. Wohl wissend, dass ab diesem Moment nichts mehr wie bisher in seinem Leben sein würde. Es war weniger ein Bewusstsein, als vielmehr ein untrüglicher Instinkt. Was er gefunden hatte, war nur für ihn bestimmt. Daran zweifelte er nicht eine Sekunde. Er hatte es finden sollen. Genau dort, genau jetzt. Warum, das verstand er noch nicht, hoffte aber, es in den Zeilen zu erkennen, wenn er begann, sie zu studieren.

Mit einem seltsam flauen Gefühl löste er die Spange und schlug die Mappe auf. Das Papier schien alt, aber dennoch makellos. Die Schrift darauf war fein geschwungen und sauber, beinah ein Kunstwerk. Und die Worte weckten etwas tief in ihm, als reise er durch die Zeit zurück und lausche der Stimme ihres Verfassers.

 

 

17. August 1707, Sacre Nuit

Ich habe aufgehört die Tage zu zählen, die ich hier im Kerker von Lord Darwin verbringe, denn wenn ich sie zähle, zähle ich auch die Tage, die mir noch bleiben, ehe er mich am Galgen baumeln lässt. Wenn ich auch weiß, dass ich sterben muss, hänge ich doch an den letzten Stunden meines Lebens zu sehr, um mir beständig vor Augen zu führen, dass sie zerrinnen wie Sand in einem Stundenglas.

Ich begreife noch immer nicht, wie es geschehen konnte. Ein einziger Alptraum. Dabei wirkte alles so richtig. Für sie, für mich, für uns alle. Mit dem Segen ihrer Lords und unserer Fürsten. Und jetzt? Zerbrochen die Liebe, die Hoffnung und vor allem die Allianz, die so vielen Mut gemacht und ihnen den Glauben an eine sorgenfreie Zukunft hätte schenken sollen. Ich fühle mich schuldig, empfinde meine Strafe – so sehr ich sie auch fürchte – dennoch als gerecht, weil ich verantwortlich sein werde für den Tod so vieler Menschen. Und doch wiegen all diese Leben nicht annähernd so viel wie das eine, das durch meine Hände rann.

Ich kann Lord Darwin keinen Vorwurf machen, denn obwohl der Schmerz sein Herz sicherlich in Stücke reißt und nur der Hass auf mich es weiterschlagen lässt, verzichtet er auf jede Grausamkeit und Folter. Sie ist auch nicht vonnöten, denn die schlimmste Qual von allen ist für mich der Moment ihres Todes.

Diese schicksalsschwere Nacht verfolgt mich in meinen Träumen. Es ist alles so unwirklich, kann unmöglich geschehen sein. Der schönste Tag im Leben, ein Bund für die Freiheit, für die Zukunft – alles ertrunken in ihrem Blut.

Die grauen Wände meiner Zelle sagen mir höhnisch, dass es so ist, egal wie sehr ich mir einzureden versuche, dass es nur ein böser Traum sein kann, aus dem ich wieder erwachen werde.

Irgendwann.

Aber nein, ich wache nicht auf. Sie kommt nicht zurück. Alles dahin, verloren – für immer.

Oder doch nicht?

Ich wage es, eine letzte Hoffnung zu hegen, auch wenn hier und jetzt für mich alles zu Ende geht und mir wenig bleibt, was ich noch tun kann, außer meine Gedanken und Gefühle festzuhalten für jenen einen Tag, der kommen mag. Die Worte meines Freundes – des einzig wahren, der mir noch geblieben ist – gehen mir nicht aus dem Kopf. Es muss nicht alles vergeblich sein. Vielleicht ist nur ein Opfer nötig, um doch noch alles zum Guten zu wenden. So will ich auf seinen Rat hören und ihm vertrauen, auch wenn mir nicht in den Sinn will, wer dieses Opfer bringen soll. Das meine wird sicher nichts mehr ändern. Der bewusste Verzicht auf eine Flucht, weil ohne meine geliebte Roga auch mein Leben keinen Sinn mehr macht.

Ich bete, dass ich die richtigen Worte finde und dass, wer immer sie wahrnimmt, sie versteht. Dass er sie verbergen kann vor den Augen des Lords, so wie ich sie verbergen werde. Lange genug überlebt – länger als ich – um das Rad zurückzudrehen.

Ich bange, dass mein letzter Getreuer einen Ort weiß, wo all dies hier sicher ist bis zum richtigen Zeitpunkt. Nah genug, und doch verborgen. Wem, wenn nicht ihm, kann ich diese wichtige Aufgabe anvertrauen? Er wird wissen, was zu tun ist. Er wusste es immer. Darum will ich auch nicht glauben, dass er sich bei unserem Bund geirrt hat. Es hätte Großes daraus entstehen können. Er hätte eine ganze Nation zu retten vermocht. Dass wir scheiterten, hatte andere Gründe. Es lag nicht in unserer Hand; nur den Preis, den müssen wir bezahlen.

Die Vampire leiten das Schicksal der Welt, doch dieses eine Mal ist es auch ihren Händen entrissen worden. Oder doch nicht? Ich werde das Gefühl nicht los, dass irgendwer wollte, dass wir scheitern. Auch wenn sich mir der Grund und der Sinn nicht erschließen.

Nun denn, der Galgen steht. Alles Zaudern hilft nicht. Meine Zeit wird knapp, und wenn ich will, dass das Schicksal eine letzte Chance bekommt – dass wir eine letzte Chance bekommen – sollte ich keine Sekunde mehr verschwenden.

Du, der Du dies hier liest. Ich hoffe, Du bist der Richtige. Denn ich lege das Schicksal ganzer Völker in Deine Hände – und mein eigenes. So lese, was ich zu sagen habe und handle weise. Erkenne die Zeichen, finde die Hinweise, suche die richtigen Verbündeten, sieh den Weg und warte auf den richtigen Moment. Sonst ist alles verloren – und dieses Mal für immer.

 

Asgards Kehle war trocken geworden. Diese Stimme … sie klang in seinem Herzen nach und weckte etwas in ihm, das ein Sucher nicht besitzen sollte – den Drang zu handeln. Den Mut, etwas auf eigene Faust zu tun. Den Wunsch, das System hinter sich zu lassen, in dem er seit seiner Geburt ein gut funktionierendes Rädchen gewesen war.

Ein Abenteuer wartete auf ihn. Und Asgard wollte es.

Der Schreiber – wer war er? Ein Lykaner? Asgard warf einen erneuten Blick auf das Datum. 1707 – das Jahr, in dem der Krieg begann. Hielt er hier die letzten Worte des Mörders von Lord Darwins Tochter in Händen? Der Gedanke jagte Wellen des Schreckens durch seinen Leib, weckte aber auch seine Wissbegierde. Konnten diese Zeilen das Geheimnis enthüllen? Vielleicht sogar … Erlösung bringen? War es das, wonach sie in Wahrheit suchten?

Verbergen vor den Augen des Lords!

Diese eine Zeile ließ ihn ein weiteres Mal in dieser hitzegeschwängerten Nacht schaudern. Nein, dies war nicht für den Lord bestimmt, ungeachtet dessen, ob er Ahnung davon hatte und danach suchte, oder nicht. Kein Zweifel, hier, in den Hallen von Sacre Nuit, war weder die Zeit noch der Ort, die Seiten in der ledernen Mappe mit der silbernen Spange weiter zu ergründen. Er musste fort von hier. Musste das, was geschützt und bewahrt in dem Leder der Mappe der Zeit getrotzt hatte, vor Lord Darwin in Sicherheit bringen. Dieser durfte weder durch ihn noch mit eigenen Augen je Kenntnis von dem erlangen, was hierin geschrieben stand.

Dieses Bewusstsein loderte so klar und sicher in ihm wie nichts anderes je zuvor. Das Verlangen, ihm zu folgen, war stärker als seine Furcht, entdeckt zu werden. Oder seine Angst vor den Konsequenzen, wenn Lord Darwin bereits in seinen Gedanken las, was er sich anschickte zu tun.

Schnell! Je länger er zögerte, umso mehr wuchs die Gefahr, entdeckt und festgehalten zu werden. Asgard warf sich trotz der Hitze seinen Umhang über, um die Mappe darunter zu verstecken. Danach verließ er eiligen Schrittes die Bibliothek. Er spürte die Blicke der anderen Sucher in seinem Rücken. Sie brannten und jagten ihm zugleich eisige Schauder durch den Leib. Wenn er auch seine eigenen Gedanken verbergen mochte, so würde Lord Darwin vielleicht in den Köpfen der anderen lesen, wie merkwürdig sich einer seiner Sucher benahm. Was sollte er tun, wenn er in den dunklen Gängen dem Lord in die Arme lief? Mit welcher Ausrede wollte er sich rechtfertigen?

Er zitterte, als er an den Treppen vorbeikam, die hinunter in den Kerker führten. Dort waren die Zeilen verfasst worden, die nun durch eine Laune des Schicksals oder aufgrund einer Bestimmung in seine Hände gelangt waren. Das Risiko war nicht zu leugnen, dass auch er dort landen würde, wenn man ihn erwischte.

Bei jedem Bewohner der Burg, der ihm über den Weg lief, fürchtete Asgard, man könne ihm alles vom Gesicht ablesen. Doch die wenigen, denen er begegnete, grüßten ihn nur höflich. Sucher waren geachtet. Mit etwas Glück gereichte ihm dies zum Vorteil. Wenn er erst draußen im Burghof war, konnte er in der Menge untertauchen.

Die Versuchung war groß, dem Licht der Fackeln auszuweichen und sich von Schatten zu Schatten zu schleichen, aber das hätte ihn nur verdächtig gemacht und die Aufmerksamkeit des Lords erst recht auf ihn gezogen.

Asgard hatte den Gedanken an Lord Darwin kaum zu Ende gedacht, als dieser plötzlich wie aus dem Nichts vor ihm stand. Um ein Haar wäre Asgard direkt in ihn hineingelaufen.

Es durchzuckte ihn wie ein Schlag, obwohl Darwin ihn lediglich mit starrem Blick musterte. Der Vampirlord verzog keine Miene. Wusste er bereits von Asgards Entdeckung? Und wenn ja, was würde er tun?

Seine Größe war Ehrfurcht gebietend, jedoch nicht bedrohlich. Er hatte die Hände vor dem Torso gefaltet; die weiten Ärmel seines Mantels verdeckten dies fast. Die glatte Marmorhaut verriet nichts über sein Alter oder gar über das, was in ihm vorging. Während die Gedanken aller anderen Vampire angeblich ein offenes Buch für ihn waren, konnte niemand in die seinen blicken. Ein Umstand, der Asgard die Kehle zuschnürte. Er hörte sein Herz so laut schlagen, dass es von den Wänden widerzuhallen schien.

„Mylord!“, brachte er mühsam hervor. Es klang kratzig und bereits wie eine Lüge.

„Asgard? Nicht wahr?“

Die Stimme des Lords war schneidend wie Stahl.

„Ja, Mylord.“

„Was macht ein Sucher in diesem Bereich der Burg? Zu dieser Stunde? Alle anderen sind in der Bibliothek oder in ihren Kammern, habe ich nicht recht?“

Asgard überlegte fieberhaft, wie er sich herausreden konnte. Dabei durfte er auf keinen Fall den Bereich seiner Gedanken preisgeben, in dem das Wissen um die geheime Mappe ruhte. Dies war umso schwieriger, weil er den Rest seiner Gedanken nicht vor Lord Darwin verbergen durfte, um kein Misstrauen zu erwecken.

„Ich … meine Sektion ist fertig. Ich wollte einige Minuten nach draußen, ehe ich mich zurückziehe“, log er. „Die Hitze … sie ist … kaum zu ertragen.“

Eine Ewigkeit lang blieb der Lord stumm und blickte Asgard weiter nur durchdringend an. Ihm schlug das Herz bis zum Hals. Was, wenn der Lord seine Lüge durchschaute? Was würde er dann tun? Ihn sofort töten? Oder in den Kerker sperren? Es gab zu viele Strafen, die schlimmer waren als der Tod.

Das Leder unter seinem Umhang schien zu glühen wie ein Brandmal. Er durfte nicht daran denken, doch je mehr er den Gedanken zu unterdrücken suchte, umso deutlicher wurde die Präsenz. Eine Last – so verlockend, sie loszuwerden, indem er sie hervorholte und dem Lord übergab. Vor seinem geistigen Auge sah sich Asgard genau das tun, erschrak vor sich selbst und der Möglichkeit, dass Lord Darwin dasselbe Bild gesehen hatte. Es vielleicht sogar in seine Gedanken implizierte, um ihn dazu zu bringen, ihm die Mappe auszuhändigen.

„Die Hitze, ich weiß. Eine der wenigen Dinge, über die auch wir keine Macht haben“, sagte Darwin in diesem Moment und klang erstaunlich verständnisvoll. „Du gehörst zu meinen Besten, Asgard. Ich will, dass du dies weißt. Ich bin über jeden von euch im Bilde und weiß, wer mir mit ganzer Kraft dient. Oder mich zu trügen wagt.“

Die letzten Worte verwandelten das vermeintliche Lob in eine Anklage. Asgard stockte der Atem. Er war überführt.

„Du siehst sehr viel, Sucher Asgard“, sagte Darwin mit einer Stimme, die ihm Eiseskälte über den Rücken jagte. Sollte er gestehen? Oder versuchen, sich herauszureden?

„Das … ist … meine Aufgabe … Mylord“, antwortete er stockend.

„Ich weiß!“ Das heisere Flüstern strich wie ein Windhauch durch die Gänge. Beinah lockend. Sag es mir. Gib es mir. Lord Darwin hob den Blick und starrte über Asgard hinweg in die Schatten hinter ihm, als gäbe es dort eine Antwort zu finden. Eine kalte Stille senkte sich auf sie herab, in der Asgards Herzschlag das Einzige war, das er hörte. Viel zu laut, viel zu schnell.

Als der Lord seine Hand ausstreckte, kam dies der Forderung gleich, ihm die Mappe auszuhändigen. Vielleicht die letzte Chance, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Schon glitten Asgards Finger wie von selbst zu dem weichen Leder, um sie hervorzuholen. Da legte der Lord seine Hand auf Asgards Schulter und zeigte ein Lächeln. Nie zuvor hatte Asgard ihn lächeln sehen.

„Gönn dir eine Atempause, Sucher. Und dann kehre zu deiner Arbeit zurück. Es gilt, keine Zeit zu verlieren.“

Damit ließ er Asgard allein, der kaum wusste, wie ihm geschah. Ungläubig blickte er in die Richtung, in welche der Lord entschwunden war. Sollte ihm tatsächlich so viel Glück beschert sein?

Mit der beständigen Angst im Nacken, doch ohne sich noch einmal umzusehen, eilte er aus der Burg, überquerte den Innenhof in Richtung der Ställe und nahm sich eines der Pferde.

Das Tier spürte seine Nervosität. Hinzu kam, dass Asgard kein geübter Reiter war. Dennoch musste er alles auf eine Karte setzen. Zu Fuß konnte man ihn schnell wieder einholen. Nur mit einem Pferd besaß er eine reelle Chance zu entkommen und einen ausreichenden Abstand zwischen sich und Sacre Nuit zu bringen, ehe Lord Darwin seine Flucht bemerkte. Was dann kam, würde das Schicksal zeigen. Ein Leben in den Schatten, als ewig Gejagter. Bis der Augenblick kam, vom dem der Schreiber sprach … wann immer das sein würde.

Wie von Teufeln gehetzt jagte bald darauf eine dunkle, verhüllte Gestalt auf dem Rücken eines Pferdes durch die Nacht und warf keinen Blick zurück. Hinter Asgard ragten die Zinnen von Sacre Nuit wie Zähne eines gefräßigen Raubtieres in den Himmel, als wollten sie ihn packen, von seinem Ross herunterreißen und verschlingen, damit er sein Vorhaben niemals in die Tat umsetzen konnte. Schwärzer noch als die Nacht, ein unheimlicher Scherenschnitt.

Nichts war mehr wie zuvor und würde es auch nie wieder sein. Das Wissen um die Geheimnisse, die er mit sich fortnahm, konnte sein Todesurteil werden, das war ihm bewusst. Auf jeden Fall war es schon jetzt sein Schicksal geworden. Weil er es gefunden – und weil er die Aufgabe angenommen hatte, die sein Verfasser ihm stellte.

Furcht durchströmte ihn. Furcht davor, dass Lord Darwin, Urvater und Quelle aller Vampire, längst in seinen Gedanken gelesen und die Jagd auf ihn eröffnet hatte. Niemals würde der Lord von Sacre Nuit es dulden, dass sich jemand gegen sein erklärtes Lebensziel auflehnte und danach trachtete, den Krieg zu beenden – oder ihn gar zu verhindern.

Wer wollte es ihm verübeln? Hätte er nicht an Lord Darwins Stelle genauso gehandelt? Anhand der bisher bekannten Tatsachen sicher. Nun wusste er, dass da mehr war. Dass die wahren Hintergründe der Tragödie von einst, die das Leben von Darwins einziger Tochter gefordert hatten, nie ergründet worden waren. Dass das Unglück kein Zufall, aber auch kein schändliches Verbrechen desjenigen gewesen war, der dafür sein Leben hatte geben müssen. Da war ein Geheimnis – ein Rätsel – und dieses musste er ergründen. Er musste einen Weg finden, das Unglück zu verhindern. Er würde es schaffen. Daran glaubte er fest. Es war sein Schicksal. Wenn nicht er, wer dann? Denn dies war seine wahre Aufgabe – die eines Suchers.

 

 

Juli 1907, Baltimore

Die Luft flimmerte, rund um das Gemäuer zirpten Insekten in der Hitze der Sommernacht. Ein blutroter Mond verlieh den spärlichen Wolken das Aussehen, lebendig zu sein. Höhnisch versprachen sie Aussicht auf eine willkommene Abkühlung, nachdem die Erde seit Wochen einem regelrechten Glutofen glich. Doch auch sie vermochten bestenfalls wenige Tropfen Regen zu bringen, was die Schwüle noch auf die Spitze treiben würde. Selbst in der Nacht konnte man kaum atmen.

Ein Käuzchen schrie, und hier und da sah Livia Fledermäuse um die Türme huschen. Wie passend. Tief in ihrer Kehle formte sich ein Knurren, doch sie unterdrückte es. Nichts durfte sie verraten. Hier war ein Stützpunkt ihrer Feinde, den die Späher erst vor wenigen Tagen ausfindig gemacht hatten.

Eine Sucher-Schule.

Nun waren sie geschickt worden – die Jägerinnen. Ein ganzes Rudel. Elitekämpferinnen der Lykaner, ausgebildet um erbarmungslos alle Blutsauger niederzumetzeln. Vor allem deren Sucher, die ohne Unterlass nach einem Weg forschten, das Volk der Lykaner endgültig zu vernichten. Sie würden denen zuvorkommen.

Ein dunkles Heulen ertönte – Riva hatte das Kommando in dieser Nacht und gab das Zeichen zum Angriff. Zeitgleich stürmten zwei Dutzend Jägerinnen, bis an die Zähne bewaffnet, aus ihren Verstecken hervor, sprengten die Türen der umgebauten Grafenburg und verteilten sich in Windeseile im Inneren.

Der Duft der Vampire überlagerte alles. Es war leicht, ihm zu den Sälen zu folgen, wo dieser Abschaum sicher voller Schreck in seinem Festmahl gestört verharrte und wartete, was da über ihn hereinbrach.

Livia zog die Smith & Wesson noch während sie sich in einen Seitengang rollte. Instinktiv gab sie zwei Schüsse ab, die den ersten Vampir, der ihren Weg kreuzte, ins Jenseits beförderten. Jahrelanges Training und härtester Drill schulten die Sinne, bis man auch blind immer ins Herz traf. Die zweite Kugel war Verschwendung gewesen und würde sicher eine Rüge nach sich ziehen, doch der Blutrausch begann bei Livia einzusetzen. Wenn er gänzlich erwachte, würde sie genügend Kugeln einsparen, um diese eine zu rechtfertigen. Dann brauchte sie keine Waffen mehr, denn wie alle Jägerinnen wurde sie selbst zur Waffe, wenn der herbe Duft ihre Lungen flutete und in ihren Adern zu pulsieren begann. Vampirblut machte eine Jägerin rasend, denn sie wurden von Kindesbeinen an darauf konditioniert. Mit den Überresten von Vampiren gefüttert, bis sie süchtig nach deren Fleisch und Lebenssaft waren. Manchmal widerte es sie an, wenn die Bilder ihrer eigenen Taten sie heimsuchten. Dann dachte Livia oft, dass sie nicht so war wie die anderen, fühlte sich schwach und ausgestoßen. Aber die Momente vergingen ebenso wie die Träume einer Vergangenheit, von der sie nicht einmal wusste, ob sie je wirklich existiert hatte. Sie war Teil des Rudels, Teil des Systems und eine der besten Jägerinnen. Für Zweifel war da kein Platz. Schon gar nicht, wenn man in den Kreis der Lupus Garou aufgenommen worden war. Diese Ehre gewährte Fürst Cordova nur wenigen. Man musste sie sich verdienen.

Livia schüttelte die hinderlichen Gedanken ab. Dafür war jetzt keine Zeit. Sie jagte über den Flur, registrierte die Vibrationen der sich öffnenden Tür Millisekunden bevor diese aufschwang, warf sich dagegen, sodass der Lehrer dahinter zu Boden fiel, riss sie auf und feuerte einmal. Die weißen Fangzähne blitzen, das Fauchen jedoch erstarb. Seine Hand griff ins Leere, ehe sie kraftlos zu Boden fiel. Livia gönnte ihm nur einen Blick, dann nahm ihr feines Gehör das Wispern der Eleven wahr. Künftige Sucher, die hier ihre Weihen erhielten und bald eine ernst zu nehmende Gefahr darstellen würden, wenn sie diese Nacht überlebten. Ein kaltes Lachen entrang sich ihrer Kehle. Niemand würde überleben.

Mit halblautem, lang gezogenem Heulen signalisierte sie ihren Gefährtinnen in der Nähe, dass hier ein Nest war. So nannten sie die großen Lehrräume, wo ältere Vampire heranwachsende Sucher auf ihre künftigen Aufgaben vorbereiteten.

In der Dunkelheit der Burg leuchteten die Augen der anderen Jägerinnen wie glühende Kohlen. Livia sah das Jagdfieber darin, das auch in ihr immer stärker wütete.

Riva schloss zu ihnen auf. Sie verständigten sich jetzt lautlos. Nur Schatten, Rascheln, eine Anwesenheit, die dem Feind das Blut in den Adern gefrieren ließ, weil er nicht wusste, wann und von wo sie zuschlagen würden, aber bereits ahnte, dass er keine Chance besaß.

Wieder einmal wurde ihr Irrglaube, sich vor den Jägerinnen verbergen zu können, wenn sie nur nicht allzu viel Aufsehen erregten, den Vampiren zum Verhängnis. Wann würden sie endlich lernen, dass es besser war, ihre Ausbildungslager von Häschern bewachen zu lassen. Jenen Kämpfern, die einem Rudel Jägerinnen zumindest ansatzweise gewachsen wären. Dann hätten Livia und ihresgleichen auch mehr Spaß an diesen Aktionen. So war das alles viel zu leicht.

In geschlossener Formation stürmten sie den großen Schulraum, fielen über halbwüchsige Sucher her, die bereits die erste oder sogar zweite Weihe empfangen hatten. Die Gegenwehr blieb verhalten, wer zu fliehen versuchte, wurde mit einer gezielten Kugel niedergestreckt. Die meisten fielen den scharfen Klingen der Messer und den ebenso scharfen Reißzähnen der Jägerinnen zum Opfer, die sich in der beginnenden Transformation aus den Kiefern schoben.

Gleich war es so weit, Livia ließ sich im Lauf auf alle viere fallen und schoss als rotbrauner Isegrim durch die Tür und in den langen Gang hinaus.

Riva hatte ebenfalls Wolfsgestalt angenommen, erreichte die große Flügeltür und blieb witternd davor stehen. Dahinter hörte man Herzen ängstlich schlagen. Der beißende Geruch von Furcht schwängerte die Luft. Livia fletschte die Zähne, wartete darauf, dass sich Riva gegen das letzte Hindernis warf, das Holz zum Bersten brachte und den Weg zu der Beute freimachte.

Mit lautem Geheul, da nun keinerlei Notwendigkeit mehr zur Vorsicht bestand, gab die Leitwölfin das Signal und das Rudel stürmte vorwärts. Splitternd gab das Tor nach, riss halb aus den Angeln unter dem Ansturm ihrer kräftigen Leiber, die mit dem ersten Tropfen vergossenen Blutes kein Halten mehr kannten.

Ältere Eleven, beinah schon bereit, um als Sucher in die großen Bibliotheken der Vampire entsandt zu werden, hatten sich zusammen mit einem Lehrer in die hinterste Ecke des Raumes zurückgezogen, aber das nutzte ihnen nichts. Ein Dutzend Jägerinnen fiel über sie her, packte Arme, Beine und Kehlen. Warmes Blut spritzte Livia ins Gesicht, mit einem gellenden Schrei rissen Muskel und Sehnen, sprang die Schulter aus dem Gelenk. Doch der Vampir musste nicht lange leiden, denn eine andere Wölfin zerrte gerade seine Eingeweide aus dem aufgerissenen Leib.

Überall um sie herum herrschte Schmatzen und Schlingen. Die konditionierte Gier nach dem Fleisch der Vampire schaltete das bewusste Denken vor allem bei den jungen Jägerinnen, die erst kürzlich ihrem Rudel zugeteilt worden waren, gänzlich aus. Die Älteren waren zu kampferprobt und wussten ihren Hunger in Schach zu halten, bis das Nest komplett zerstört war.

Hier entlang, nahm Riva telepathisch Kontakt zu ihr auf und sprang durch das Fenster auf einen Balkon, der direkt zum Nebenzimmer führte. Livia dachte nicht lange nach. Die Schmerzensschreie verstummten langsam, von den Eleven wanden sich nur noch zwei zuckend am Boden, der Lehrer war nicht mehr zu erkennen.

Sie setzte über den Fensterrahmen hinweg, landete sicher draußen, ohne sich an den Glassplittern zu verletzen, und folgte Riva in das nächste Zimmer.

Knurrend und mit gesträubtem Fell baute sie sich vor den Betten auf, spürte wie Blut und Eingeweidereste von ihren Reißzähnen tropften, und suchte mit wildem Blick ihr nächstes Opfer. Doch dann ließ der Anblick sie innehalten.

In diesem Raum waren keine Eleven. An der Wand standen kleine Betten aufgereiht, in denen Säuglinge bis vor wenigen Sekunden noch geschlummert hatten. Mittlerweile waren sie aufgewacht und schrien erbärmlich, strampelten mit den Beinchen und schlugen mit den winzigen Fäusten ins Leere. Am Ende des Raumes stand eine junge Vampirin in einem schlichten Gewand, die sich um die Jüngsten der künftigen Sucher kümmerte, an denen noch nicht mehr als das dunkle Mal darauf hindeutete, dass sie bestimmt waren, diesen Weg zu gehen.

Livia sah das unheilvolle Zeichen auf dem Rücken des Säuglings links von ihr, der sich zur Seite gerollt hatte. Sie wusste tief in ihrem Inneren, dass dieses Geschöpf nicht leben durfte, doch gleichzeitig überrollte sie eine Welle des Mitleids angesichts der Unschuld und Ahnungslosigkeit dieses wimmernden Bündels. Was wusste dieses Wesen schon von dem Krieg, dem es zum Opfer fiel? In seinem Herzen war längst noch kein Platz für den Hass, der sie alle antrieb.

Livia fühlte eine Träne über ihre Wange rinnen. Ihre Schnauze war nur Millimeter von dem Gesicht des Kindes entfernt, das mit einem Mal ganz still dalag und sie aus großen blauen Augen anstarrte. Staunend und unsicher. Der süße Duft aus der Wiege löste keinen Hunger in ihr aus. Sie war sogar versucht, mit ihrer rauen Wolfszunge über die rosige Wange zu lecken, um dem Knaben zu versichern, dass alles gut war und er sich nicht fürchten musste.

Der Schrei der Amme riss Livia aus ihren verwirrenden Gedanken. Sie blickte in ihre Richtung und sah sie mit aufgerissener Kehle zu Boden sinken. Das Blut warf Blasen im Ringen um Luft während ihres letzten Todeskampfes.

Die Leitwölfin hatte sich bereits von ihr abgewandt und beugte sich mit gierig aufgerissenem Rachen über das erste Kinderbettchen.

Riva, nicht!, durchzuckte es Livia, ehe sie nachdenken konnte.

Mit gebleckten Zähnen fuhr ihre Anführerin zu ihr herum und knurrte sie an. In ihren Augen glomm Hass. Das sind Vampire. Künftige Sucher. Je eher man sie tötet, umso besser. Keine Gnade. Auch ein Neugeborenes wird erwachsen, wenn wir das nicht früh genug verhindern.

Riva zögerte nicht länger, sondern riss das Bettchen zu Boden, packte den Säugling und schüttelte ihn so heftig, dass Livia sein Genick brechen hörte. Es überlief sie eiskalt. Sie war eine Jägerin, ausgebildet um zu töten. Doch sie konnte diese hilflosen Geschöpfe nicht umbringen, die nicht einmal begriffen, was mit ihnen geschah. Geschweige denn sich wehren oder zumindest flüchten konnten. Sie wusste, mit einer solchen Schuld könnte sie niemals weiterleben.

Hinter ihr sprangen andere Wölfinnen herein und machten sich über die Babys her. Livia wich langsam rückwärts, bis die Wand sie stoppte. Ihr Herz pumpte heftig, das Blut rauschte ihr in den Ohren und der süße Babyduft, vermischt mit honigwürzigem Blut, ertränkte sie schier. Das Szenario vor ihren Augen lähmte sie.

Livia!“ Der Gedanke manifestierte sich wie ein Peitschenhieb in ihrem Kopf. Riva wandte sich ihr wieder zu, funkelte sie drohend an. „Ich warne dich, mach keinen Fehler. Ich dulde keine Versager in meinem Team.“

Sie zögerte nur eine Sekunde, blickte von Riva zu den toten Säuglingen und den schlingenden Wölfinnen. Dann traf Livia eine Entscheidung. Blitzschnell drehte sie sich um, sprang aus dem Fenster, stieß sich von der Balkonbrüstung ab und landete zwei Stockwerke tiefer auf dem Rasen. Sie achtete nicht auf den Schmerz in ihren Pfoten, sondern rannte einfach drauflos. Hinter sich hörte sie das Knurren und Heulen, das ihre Verfolgerinnen verriet, und beschleunigte ihre Flucht. Wohin, das wusste sie nicht. Noch weniger, wie es weitergehen sollte. Wer sich einmal gegen das System stellte, hatte sein Leben verwirkt, wurde zum Gejagten. Doch jedes Mal wenn sie an das Neugeborene in Rivas Schnauze dachte, dessen Genick brach, wusste sie, dass sie nie wieder mit den anderen Jägerinnen einen Angriff durchführen konnte. Sie hatte mit dem System gebrochen.

Livia rannte durch die Nacht, den Schrecken des soeben Erlebten noch immer vor Augen. Voller Angst im Herzen, dass die anderen sie doch noch einholten und sie zerfetzen würden. Zu Recht?! Sie hatte sie verraten. Aber wie hätte sie weiterleben sollen, wenn sie anders gehandelt hätte?

Tränen schnürten ihr die Kehle zu, machten das Atmen schwer, bis der Schmerz in ihrer Brust kaum mehr zu ertragen war. Dennoch lief sie weiter. Ihre Pfoten brannten bereits, aber sie wagte nicht anzuhalten. Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie bis ans andere Ende der Welt gelaufen. Nur weit weg von diesem Ort, von den Schreien, dem Blut und der Erkenntnis, dass dort kein Feind gestorben war, sondern ein unschuldiges Wesen, das rein gar nichts von diesem Krieg wusste.

Übelkeit stülpte ihr den Magen um, zwang sie zum Anhalten, weil sie sich übergeben musste. Brennende Galle, vermischt mit Vampirfleisch quoll aus ihrem Maul, verätzte ihre Kehle. Es schüttelte sie. Keuchend und mit gesenktem Kopf blieb die Jägerin stehen – nein, nicht Jägerin. Nur noch eine Wölfin. Denn diese Jagd würde nie wieder die ihre sein.

Mit bebenden Flanken verharrte Livia im Dunkeln, lauschte, bangte –, alles blieb still. Schweren Schrittes schleppte sie sich schließlich weiter. Ihre Glieder pulsierten, rebellierten von der ungewohnten Anstrengung einer derart langen Flucht. Sie ignorierte es, zweifelte aber, ob sie erneut davonrennen konnte, wenn doch noch eine ihrer einstigen Gefährtinnen hinter ihr auftauchen würde, was aber nicht geschah.

In der Ferne kamen die Lichter einer Stadt in Sicht, von der sie nicht einmal sagen konnte, welche es war. Als sie geflohen war, hatte sie weder auf eine Richtung geachtet, noch auf die Zeit. Sie musste eine Ewigkeit gelaufen sein. Keine vertrauten Gerüche, nichts, was sie an ihr Zuhause erinnerte. Wenn es denn jemals ein Zuhause gegeben hatte. Empfunden hatte sie es nie, und nun glaubte sie auch zu wissen, warum.

Unter einer Brücke lag umgeben von einem im Wind flatternden Absperrband eine schmutzige Decke, die nach Alkohol und Urin stank. Ein Obdachloser war hier vor nicht allzu langer Zeit gestorben. Jetzt war niemand mehr hier. Keine Polizei und auch keine ehemaligen Freunde des Toten. Sie war so müde, so erschöpft. Über ihr ratterte eine Straßenbahn, in der Ferne hupten Autos und Motorengeräusche bildeten einen monotonen, einschläfernden Klangteppich. Die Decke war rau, aber besser als nichts. Sich zu wandeln, wagte sie noch nicht. Zu verletzlich wäre sie in menschlicher Gestalt. Noch dazu nackt. Lieber wollte sie bis zur nächsten Nacht warten. Vielleicht warf jemand einem Streuner einen Happen zu, nicht jeder erkannte sofort einen Wolf, schon gar nicht bei der Farbe ihres Felles. Und wer vermutete einen solchen schon nahe einem Stadtzentrum? Sie fasste die Decke behutsam mit den Zähnen, schüttelte den Ekel ab und zerrte sie bis zu den Ausläufern des nahe gelegenen Stadtparks. Müde rollte sie sich schließlich unter einem Oleanderstrauch zusammen, gefangen in Trauer und Einsamkeit.

Das Rudel war Livias Halt gewesen. Die einzige Familie, die sie je gekannt hatte. In dieser Nacht war ihr bewusst geworden, dass dieses Leben nicht ihres war. Dass sie nie so sein würde, wie man es von ihr erwartete. Sie fühlte sich leer. Ohne Ziel, ohne Sinn, ohne Zukunft – und sehr, sehr einsam. Ihre Vergangenheit hatte sie eingeholt. Mit einem tiefen Seufzer schlief sie ein.

 

 

Begegnung

 

Juni 2007, Kanada

Livia blätterte die Zeitung um und studierte die Seite mit den Vermisstenmeldungen. Von Monat zu Monat wurden es mehr. Auch wenn viele dieser Menschen früher oder später wieder auftauchten, meist mit großen Gedächtnislücken oder völliger Amnesie, wuchs die Gesamtzahl der Gesuchten ständig. Livia wusste, woran das lag und es hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Vor allem, da sie lange Zeit ein Teil davon gewesen war.

Schon damals, als sie sich von dem System abgewandt hatte, bezogen die meisten Lykaner ihr Fleisch aus den Fabriken bestimmter Großkonzerne. Das war üblich, es gehörte zum täglichen Leben.

Die eigenständige Jagd auf Menschen war inzwischen verboten, weil sie zu viel Aufsehen erregte. Ihre Art benötigte aber eine bestimmte Menge menschlichen Fleisches, um ihren Organismus funktionsfähig zu halten. Die Alternative waren Vampire, doch abgesehen von den Schulen der Sucher, kam man an diese noch viel schlechter heran. Zuwenig für das ständig wachsende Volk der Werwölfe.

Die Gefahr, bei der Jagd auf andere Vampire von deren Häschern ausgeschaltet zu werden, war hingegen auf Dauer zu groß. Außerdem hatten sich die meisten Vampirfamilien in höhere Positionen der menschlichen Gesellschaft vorgearbeitet. Unbemerkt bliebe ein solcher Beutezug daher mit Sicherheit nicht, heute noch weniger als in früheren Zeiten. Aber Unauffälligkeit war das A und O, um eine konstante Futterproduktion zu sichern.

Darum wählten sogenannte Fänger gezielt Menschen aus, die schnell in Vergessenheit gerieten oder bei denen die Polizei zu der Vermutung gelangte, dass es sich um einen ungeklärten Selbstmord oder einfach einen ausgerissenen Teenager handelte. Diese Unglücklichen wurden in die Fabriken gebracht, die als Pharmakonzerne oder sogar als Hersteller von Nahrungskonserven getarnt waren. Von dort kehrten sie niemals wieder. Zumindest nicht in einem Stück.

Livia hatte es einmal gewagt, sich auf das Gelände einer solchen „Futterproduktionsanlage“ zu schleichen. Was sie dort gesehen hatte, schockierte sie fast noch mehr als das Massaker an den Vampirbabys, das vor einem Jahrhundert dazu geführt hatte, dass sie dem System ihres Volkes den Rücken kehrte und seither jeden Kontakt zu anderen Lykanern mied.

Wie Schlachtvieh wurden die Menschen getötet und zerlegt. Die einzelnen Organe und Gliedmaßen gab man dann in riesige Becken mit Nährlösungen, die mit einer Mischung aus Hormonen und synthetisch hergestellten Zellteilern angereichert waren. Dadurch wurden aus einem Kilo Menschenfleisch bis zu einhundert Kilo Synthetik-Futter für Lykaner.

Nicht nur die drohende Gefahr der Entdeckung hatte Livia auf schnellstem Wege flüchten lassen, sondern auch das Grauen, das sich ihrer beim Anblick der Fertigungshallen bemächtigt hatte. Sie würde diese Bilder nie wieder loswerden und sicher niemals mehr eine Mahlzeit aus diesen Futterkonserven zu sich nehmen.

Die Vampire hatten ein ähnliches System, weil auch bei ihnen die direkte Jagd inzwischen verboten war. Nur Abtrünnige und Geächtete mussten sich auf diesem Weg – oder durch Diebstahl in Krankenhäusern und Blutbanken – am Leben halten.

Da Vampire aber nur Blut benötigten, ließen sie die Menschen, die sie einfingen und in ihren Konzernen gefangen hielten, nach einer Weile wieder frei, wenn sie ausreichend Blutspenden von ihnen abgezapft und auf die eine oder andere Weise ihr Gedächtnis gelöscht hatten. So erregten sie noch weniger Aufsehen, als die Lykaner.

Livia war schon häufiger Vampiren begegnet, doch sie verbarg ihre Natur vor ihnen, auch wenn sie wusste, dass nur die Häscher eine ernste Gefahr darstellten. Alle anderen kümmerten sich zusehends weniger um die Konkurrenz mit den Lykanern oder den alten Krieg. Das nahm ihresgleichen noch weitaus genauer. Ihr Anführer, Fürst Cordova, schürte den Hass auf die Vampire, indem er die Geschichte ihrer Feindschaft lebendig hielt. Das Unrecht, das ihnen zugefügt worden war. Ihm war es zu verdanken, dass vor dreihundert Jahren nicht alle Lykaner ausgelöscht worden waren. Hätte er nicht mit den Jägerinnen einen ebenbürtigen Gegner für die Häscher-Brigaden geschaffen, würde es heute vielleicht keine Werwölfe mehr geben.

Livia kannte die Geschichte, doch sie hatte sie längst weit in einen dunklen Winkel ihres Gedächtnisses geschoben. Die Welt änderte sich. Und die Vampire von heute trugen keine Schuld mehr an den Ereignissen von einst. Auch nicht an dem noch immer andauernden Wahn ihres obersten Lords, der nach wie vor nicht ruhen wollte, bis der letzte Lykaner vom Antlitz der Erde getilgt war. Was man so hörte, stand er damit inzwischen fast allein, wenn man von seinen direkten Untergebenen absah, deren Heimat auch heute noch die Burg Sacre Nuit war, auf der er wie vor dreihundert Jahren herrschte.

Die Vampire hatten sich gewandelt, viel stärker als Livias Volk. Wenn sie die heutige Jugend der Bluttrinker betrachtete, unterschied sie sich wenig von der der Menschen. Außer, dass sie noch gleichgültiger und arroganter war. Sie glaubten, nichts und niemanden fürchten zu müssen und fühlten sich unbesiegbar. Sie fanden es uncool, sich von Konservenblut zu ernähren und liebten vielmehr den kleinen Trunk, den sie meist noch mit anderen angenehmen Aktivitäten verbanden. In ihrer Naivität gingen sie viel zu sorglos mit ihren Opfern um und vergaßen zuweilen sogar die Gefahr, die allgegenwärtig von den Jägerinnen der Lykaner ausging. Der augenblickliche Vampir-Hype spielte ihnen in die Hände. Doch das sollte nicht Livias Problem sein. Es ging sie nichts an, und sie mied die Nähe von Vampiren so gut es ihr möglich war. Trotz dessen, was man sie gelehrt hatte – über die Vampire, den Beginn des Krieges und die unverzeihlichen Taten ihres höchsten Lords Darwin – konnte sie keinen Hass mehr empfinden. Jeder versuchte zu überleben und was geschehen war, lag Jahrhunderte zurück.

Livia seufzte und überflog die Namen derer, die von der Polizei oder Angehörigen gesucht wurden. Müßig darüber nachzudenken, wer von den hier Genannten in ein paar Wochen wieder auftauchen würde und wer für immer verschwunden blieb. Für Livia waren es sowieso nur Namen ohne Gesichter. Und das war gut so. Andernfalls hätte sie ihr Wissen um die Lykaner-Futter-Fabriken noch weniger ertragen.

Sie hatte sich mittlerweile ein eigenes System angeeignet, um nicht aufzufallen. Von totem Fleisch brauchte man zwar mehr, dafür schaute aber niemand nach, ob eine Leiche im Sarg noch alle Körperteile besaß. Es war leicht, die frischen Gräber abzusuchen, bis man einen Toten fand, der nicht vor der Bestattung mit Formaldehyd oder Ähnlichem präpariert worden war. Die Erde war locker genug, um sich bis zum Sargdeckel hinunterzugraben, der unter ihren Werwolfkrallen schnell nachgab. Später richtete sie alles wieder so her, dass niemandem etwas auffiel.

Manchmal hatte sie auch das Glück, dass ihr auf den Streifzügen mit ihrer Hündin Sachmet Leichenduft in die Nase stieg, wenn jemand aus einem Pflegeheim entlaufen war und im Wald erfror oder ein Obdachloser einen Herzinfarkt erlitt. Die Verletzungen, die sie ihnen zufügte, wurden dann schnell auf wilde Tiere zurückgeschoben, und völlig abwegig war das ja nicht.

Dank ihrer harten Ausbildung war Livia zäh und genügsam. Wie alle Jägerinnen brauchte sie nicht viel. Manchmal nahm sie sich einen kleinen Vorrat mit, um eine Weile nicht auf die Suche nach Nahrung gehen zu müssen. Doch es barg ein Risiko, menschliche Überreste in der Tiefkühltruhe zu lagern.

Ein oder zwei Wochen blieben ihr noch, dann wurde es wieder Zeit, sich auf die Suche zu machen. Im Sommer hasste sie es am meisten, nach Leichen zu graben. Der Verwesungsprozess setzte rasch ein und folterte ihre empfindliche Nase. Außerdem mochte sie die Hitze nicht. Sie erinnerte Livia immer wieder an den einen Moment, auch wenn er bereits fast ein Jahrhundert zurücklag. Doch die Schwüle der Sommernacht hatte sich ebenso fest in ihr Gehirn gebrannt, wie alles andere, was damals geschehen war, als sie zum letzten Mal mit einem Rudel Jägerinnen auf die Jagd gegangen war, um junge Sucher zu eliminieren.

Obwohl die Temperaturen draußen auch jetzt nach Sonnenuntergang noch weit über 25 °C lagen, fühlte sich die Luft im Inneren des Zugabteils frisch an. Klimaanlagen waren der reinste Luxus. Livia fuhr sich über die feuchte Haut in ihrem Ausschnitt und drehte den Kopf mit halb geschlossenen Lidern Richtung Gebläse. Was die anderen Fahrgäste von ihr denken mochten, kümmerte sie nicht. Der kühle Hauch vertrieb die Erinnerung und brachte sie auf andere Gedanken.

Nicht mehr lange, dann erreichten sie ihre Station. Livia freute sich auf Sachmet. Die Hündin war bestimmt schon ungeduldig. Sie spürte, wenn ihre Herrin nach Hause kam, und erwartete sie stets schon an der Tür. Ein Spaziergang würde ihnen beiden gut tun.

Livia streckte sich und überlegte, welchen Weg sie einschlagen sollte. Durch den Park oder lieber hinaus in den Wald. Der Bachlauf wäre sicher erfrischend. Für die Hündin und die Wölfin. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.

Mit einem wohligen Seufzer öffnete sie ihre Augen wieder, und da sah sie ihn direkt vor sich. Livias Züge erstarrten, die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich instinktiv auf, beinah hätte sie das Knurren nicht unterdrücken können. Ein Sucher! Hier? Und allein?

Er blickte sie an. Offenbar fürchtete er sich nicht vor ihr, sondern beobachtete sie bereits eine geraume Weile. Wusste er, was sie war?

Jägerin, hörte sie seine Stimme wie zur Antwort in ihrem Kopf.

Er war sehr jung, so schien es. Hager, mit rot geränderten Augen als habe er viele Tage und Nächte nicht geschlafen. Typisch für einen Sucher, der sein Leben fast ausschließlich über Büchern verbrachte. Sein schwarzes Haar, das er im Nacken zu einem Zopf gebunden hatte, bildete einen starken Kontrast zu seinem bleichen Gesicht, in dem zwei bernsteinfarbene Augen funkelten. Er war unrasiert und die dunklen Ringe ließen ihn wie einen Junkie aussehen. Gute Tarnung unter Menschen. Es ersparte unerwünschten Kontakt.

Eine Weile starrten sie einander nur an, aber keiner von ihnen drohte offen. Sucher gehörten auch nicht zur kämpfenden Elite der Vampire. Dafür hatten sie ihre Häscher. Normalerweise waren immer welche davon in der Nähe, wenn die Sucher von einem Ort zum anderen reisten, und noch nie war Livia einem einzelnen Sucher begegnet.

Sie ließ ihren Blick durch das Abteil wandern und witterte. Nein, da waren keine anderen Bluttrinker. Weder Sucher, noch Häscher. Verwirrt runzelte sie die Stirn, was er mit einem sanften Lächeln quittierte.

Ich bin allein, ließ er sie wissen. Die Stimme in ihrem Kopf klang freundlich und ruhig.

Livia musterte ihn mit einer Mischung aus Skepsis und Neugierde. Allein und wehrlos, dachte sie und nickte langsam, als Zeichen, dass sie das unausgesprochene Friedensangebot akzeptierte.

Schließlich ertönte das Signal für ihre Station. Livia schaute zum Ausgang, griff nach ihrem Rucksack und warf einen letzten Blick auf den Vampir zurück.

Ja, ich bin eine Jägerin, bestätigte sie. Doch hab keine Angst. Ich gehöre nicht mehr zum System. Genau wie du bin ich allein.

Nun war er es, der langsam nickte. Ich weiß. Und ich habe keine Angst vor dir.

Die Art, wie er das transportierte, ließ sie schaudern. Während sie ausstieg, glaubte sie noch, seine Blicke in ihrem Rücken zu spüren, doch sie drehte sich nicht mehr um.

 

Zu Hause wurde Livia stürmisch von ihrer Hündin Sachmet begrüßt. Die vierjährige Huskydame sprang winselnd und jaulend an ihr hoch, wedelte mit dem Schwanz und leckte Livia die Hände vor Freude.

„Ist ja gut, Süße, ist ja gut. Ich bin wieder zu Hause. Ja, alles in Ordnung, Baby. Das nächste Mal nehme ich dich wieder mit.“

Sachmet war Livias einziger Gefährte. Im Leben einer Kriegerin war kein Platz für innige Freundschaften. Noch weniger für Liebe und Zärtlichkeit. Nur für den Kampf und den Tod. Sie kannte es nicht anders, daran hatte auch ihre Flucht nichts geändert. Man hatte sie nicht gelehrt, zu fühlen und für andere zu sorgen. Im Umgang mit anderen war sie daher befangen und stets auf der Hut. Darum war Livia immer allein geblieben, nachdem sie damals fortgelaufen war. Auch wenn ihre Art nicht für die Einsamkeit geboren war und den Zusammenhalt eines Rudels brauchte, was in der Gemeinschaft der Kriegerinnen gegeben gewesen war. Seit ihrer Flucht hatte sie nie den Mut besessen, sich einen gleichartigen Gefährten zu suchen – oder einen menschlichen. Sie hätte einfach nicht gewusst, wie sie mit einem Menschen umgehen sollte, ohne ihn zu verletzen. Ein Lykaner, der sie womöglich an das System verriet, kam gar nicht infrage. Da war die Gesellschaft eines Hundes ungefährlicher gewesen und vertrieb ebenso die Einsamkeit. Außerdem konnte sie sich auf Sachmet blind verlassen. Es gab keine Geheimnisse zwischen ihnen. Sie musste in ihrer Gegenwart nicht auf der Hut sein, wie es bei einem menschlichen Freund oder auch nur Bekannten der Fall gewesen wäre. Die Hündin war nicht der erste Vierbeiner, den Livia zu sich nahm, doch zweifellos der treueste und klügste bisher.

Normalerweise tat Livia keinen Schritt ohne ihren Schatten, denn Sachmet witterte Jägerinnen, lange bevor Livia ihrer Nähe gewahr wurde. Aber die Zugfahrt und das stundenlange Warten in der Behörde, wo sich Livia die nötigen Bescheinigungen für ihre neuen Papiere abgeholt hatte, wollte sie der Hündin lieber ersparen.

Ein notwendiges Ritual, das sie nun schon zum dritten Mal hinter sich gebracht hatte, damit ihr nicht irgendwann doch jemand vom System auf die Spur kam.

Beim Umzug verloren gegangene Papiere, eine gefälschte Geburtsurkunde, die gekaufte Sozialversicherungsnummer einer Frau, über deren wahren Verbleib sie lieber nichts wissen wollte und viele mitleidheischenden Worte. Bisher funktionierte diese Taktik jedes Mal tadellos. Natürlich hätte sie all ihre Papiere von einem Urkundenfälscher besorgen können, aber dies war ausgesprochen teuer und sie versuchte, neue Identitäten stets so weit wie möglich legal anzunehmen. Echte Ausweise erleichterten einiges und minimierten das Risiko einer Entdeckung, denn überall hatte das System seine Spione. Sie war immer auf der Hut.

„Sieh mal“, meinte sie und hielt Sachmet den Umschlag hin. „Da ist alles drin, was wir brauchen, um neu anzufangen. Morgen gehen wir zusammen zum Einwohnermeldeamt und dann bin ich endlich wieder offiziell ein Mitglied der Gesellschaft. Ist das nicht schön?“

Die Hündin bestätigte das mit einem Wuff und schnupperte interessiert an den Papieren. Aber dann überlegte sie es sich offensichtlich anders und rannte zu dem Haken, an dem ihre Leine hing, schnappte sich das Lederband und zog es herunter. Livia musste lachen. “Recht hast du. Den ganzen Tag in Gebäuden eingesperrt zu sein, ist nicht unser Ding. Ich brauche auch noch etwas frische Luft.“

Sie schlugen den Weg Richtung Wald ein. Nach der Begegnung mit dem Sucher stand ihr erst recht der Sinn nach einem Bad in der kühlenden Strömung des Baches. Vielleicht ließ sich sogar eine Forelle fangen. Sachmet rannte ein Stück voraus, schnüffelte abseits des Weges und hetzte kurz einem Kaninchen hinterher, ehe sie wieder zu Livia zurückkehrte.

Dieses kleine Fleckchen, das so unberührt wie die tiefste Wildnis Kanadas wirkte, war der Grund für ihre Entscheidung gewesen, hier eine Wohnung zu kaufen. Sie und Sachmet brauchten solch einen Ruhepunkt, wo vor allem Livia sie selbst sein konnte. Der Waldstreifen, die Wiese und der Bachlauf reichten dicht an den Ort heran und lohnten sich nicht für Jäger und Freizeitschützen. Dennoch bot es genug Freiheit für die Hündin und die Lykanerin. Es war perfekt, wie ein Zeichen, ein Geschenk.

Natürlich hätte sie auch eine Wohnung in Kelowna nehmen können, aber die Stadt engte sie zu sehr ein. Eine Blockhütte weit außerhalb bot hingegen nicht genug Schutz. Keine anderen Menschen, Maschinen und Geschäfte, die mit ihren vielschichtigen Gerüchen als Tarnung dienten.

Die Gegend hier war sowohl bei Touristen als auch bei Auswanderern sehr beliebt. Hier tummelten sich Leute aus aller Herren Länder. Es war demnach leicht unterzutauchen, sich einzufügen als einer von ihnen. Zugezogene fielen hier nicht auf, sorgten nicht für Misstrauen – auch nicht, wenn sie zurückhaltend waren und lieber für sich blieben. Wenn man dann noch solch ein Kleinod wie den Bachlauf am Waldrand in direkter Nachbarschaft fand, musste man zugreifen. Das hatte Livia getan und nun lebte sie schon seit fast zwei Monaten hier. Unbescholten, einsam, aber akzeptiert.

Als sie das Wasser erreichten, streifte Livia mit einem sinisteren Lächeln ihr Top und ihre verwaschene Jeans ab, um nackt in die belebenden Fluten zu gleiten.

Hier, wo die Bäume sie von den Häusern abschirmten und sich die Dunkelheit der Nacht, wie ein zweites Gewand um sie legte, fühlte sie sich relativ sicher. Nichts, außer den vertrauten Geräuschen der Waldbewohner drang an ihre Ohren. Einen Augenblick hielt sie inne, lauschte hockend in die Dunkelheit, ob sie eventuelle Gefahren in der Nähe ausmachen konnte. Schließlich gab sie sich ihrer Natur hin. Nicht schnell wie im Kampf, sondern langsam und genüsslich. Livia streckte sich auf allen vieren am Ufer aus und rekelte sich im Gras, das noch die Wärme der Sonne vom Tag gespeichert hatte. Es glitt streichelnd über ihre Haut, der Duft von Erde und Kräutern flutete ihre Nase und weckte ihre zweite Seele. Das Fell drang sacht durch ihre weiche Haut, ihre Schnauze wurde lang, die Reißzähne schoben sich hervor. Ihr schlanker Leib verformte sich Stück um Stück zu einem athletischen Wolfskörper in kupferfarbenem Pelz und ihre schmalen, langen Hände wurden zu breiten, kräftigen Pfoten.

Kaum, dass die Transformation vollendet war, sprang Livia auf und rannte mit Sachmet an ihrer Seite um die Wette. Sie tollten über die Wiese wie zwei ausgelassene Welpen, balgten miteinander und rollten als ein Knäuel von Pfoten und Fell durch das Gras, bis sie beide außer Atem waren und die Verlockung des Wassers die Oberhand gewann. Sie hielten auf den Bachlauf zu. Zwei Blitze, gold und silbern, die pfeilschnell dahinglitten.

Als Wolf erreichten Livias Läufe kaum den Grund, nachdem sie ins Wasser gesprungen war, das über ihr zusammenschlug und sie einen Augenblick des Atems beraubte, ehe sie den Kopf wieder herausstreckte. Sie schwamm ein kurzes Stück, bis sie Boden unter den Füßen spürte. Dabei genoss sie es, wie sich ihr Fell mit dem Wasser vollsog und so die Hitze aus ihren Gliedern vertrieb.

Am Ufer schüttelte sie sich ausgiebig, trank das köstliche Nass und spitzte dabei wachsam ihre Ohren. Immer auf der Hut vor unliebsamen Überraschungen.

Plötzlich erstarrte sie!

Auch Sachmet, die gerade noch an einer flacheren Stelle mit Forellen gespielt hatte, sprang aus dem Wasser und sträubte das Fell. Livia tat es ihr gleich. Sie kauerte am Uferrand und ließ ihren Blick über den breiten Wiesenstreifen bis hinüber zum Waldrand gleiten. Dabei lauschte sie konzentriert. Da war etwas. Der Flügelschlag einer Eule? Ein Fuchs? Eine Ricke mit ihrem Kitz?

Nein! Das alles klang anders. Livia kannte die Tiere inzwischen gut, die hier zum Trinken herkamen. Oder auf der Suche nach Beute durch das Dickicht stöberten.

Sie hob die Nase in den Wind. Witterte. Nichts. Nur eine vage Ahnung. Doch ihre Ruhe war gestört. Sie würde keine Entspannung mehr finden.

Rasch wandelte sie sich in ihre Menschengestalt zurück und schlüpfte mit feuchter Haut in ihre Kleidung. Dabei wurde sie das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht los. Es trieb sie zur Eile an.

„Komm, Sachmet. Lass uns nach Hause gehen.“

Entgegen ihrer Gewohnheit gehorchte die Hündin dieses Mal nicht sofort. Etwas schien sie weiterhin zu irritieren. Sie trabte einige Schritte in entgegengesetzte Richtung, näher an die Bäume heran, die an dieser Stelle einen schier undurchdringlichen Wall bildeten. In den Schatten zwischen ihren moosbewachsenen Stämmen konnte man kaum etwas erkennen, und der Geruch nach Harz, Rinde und moderndem Erdreich übertünchte alles andere.

Langsam trat Livia zu ihrer Hündin und kraulte ihr den Nacken, während sie ihrem Blick folgte.

„Ich weiß, meine Schöne. Ich spüre es auch. Doch solange es uns nicht angreift, lassen wir es in Frieden, ja? Komm.“

Sachmet fügte sich mit leisem Winseln. Livia spürte eine Gänsehaut im Nacken, als sie der unbekannten Präsenz im Wald den Rücken zuwandte. Ihre Gedanken glitten zu dem Sucher aus dem Zug. War er ihr gefolgt? Sie schüttelte den Kopf. Das war unwahrscheinlich. Selbst angesichts ihrer Versicherung, dass sie ihn nicht angreifen wollte, wäre es ein zu großes Risiko gewesen, das er – allein und wehrlos – sicher nicht einging. Wozu auch? Was sollte ein Sucher von einer Lykanerin wollen?

Ein Häscher hingegen hätte sie bereits angegriffen. Eine Jägerin ebenfalls. Und wenn es nun ein Mensch gewesen war? Ein Spanner, der eine nackte Frau beim Baden beobachten wollte? Sie schüttelte den Kopf. Spätestens ihre Verwandlung hätte Panik in einem Menschen ausgelöst und ihn sicher nicht beobachtend im Wald verharren lassen. Vielleicht war es wirklich nicht mehr als der Streich ihrer angespannten Nerven und es hatte sich auf Sachmet übertragen, weil ihr inneres Band so stark war.

Eine weitere Möglichkeit gab es noch. So wie sie dem System entflohen war, hatten es womöglich auch andere getan. Daran hatte sie schon häufig gedacht, und sich all die Jahre geschworen, sollte einmal ein flüchtiger Lykaner vor ihrer Tür stehen, würde sie ihn oder sie nicht fortjagen, sondern ihre Hilfe anbieten. Wer wusste besser als sie, was es bedeutete, mit den Seinen zu brechen? Und wie schwer es war, außerhalb des Systems ein unbehelligtes Leben zu führen.

 

Das Gefühl, beobachtet zu werden, hielt sich auch in den nächsten Tagen hartnäckig. Es ärgerte Livia insbesondere deshalb, weil sie gerade erst ihre neue Identität aufbaute und keine Lust verspürte, gleich wieder alle Zelte abzubrechen.

Solange es zu keiner direkten Bedrohung kam, wartete sie daher ab. Vielleicht entsprang das Gefühl auch ihrer Unsicherheit. Immerhin hatte sie ihren letzten Wohnsitz fluchtartig verlassen müssen, weil ihr ein Rudel Jägerinnen gefährlich nahe gekommen war. Das Einzige, was dagegen sprach, dass ihre überreizten Nerven ihr einen Streich spielten, war die Tatsache, dass auch Sachmet angespannt blieb. Immer wieder blitzte das Bild des Suchers vor Livias innerem Auge auf, und sie ertappte sich dabei, dass ihr diese Option zumindest lieber gewesen wäre als die meisten anderen. Andererseits hätte sie nicht gewusst, wie sie damit umgehen sollte. Vampiren war sie bisher nur auf eine Art begegnet. Der Gedanke, ihn zu töten, hinterließ jedoch einen derart unangenehmen Nachgeschmack in ihr, dass sie dies von vornherein verwarf, sollten sich ihre Wege noch einmal kreuzen.

Die anstehende Arbeit half ihr, sich zumindest zeitweise abzulenken und ihren Verfolgungswahn in den Hintergrund zu drängen.

Livia meldete sich unter dem Namen Carol Benedikt an ihrem neuen Wohnort an, mietete einen kleinen Transporter und fuhr gemeinsam mit ihrer Hündin die zweihundertfünfzig Meilen zu einer Lagerhalle, wo sie seit Jahren Möbel und Kleider verwahrte, falls ein Aufbruch so abrupt geschehen musste, dass sie keine Zeit mehr fand, ihre alte Wohnung aufzulösen und den Hausrat mitzunehmen. Kurzum: für einen Fall wie jetzt.

Während der Fahrt verlor sich das Gefühl eines unsichtbaren Beobachters zusehends, und Livia gewann ihre Sicherheit zurück. Auch Sachmet genoss den Ausflug und tollte während einer kurzen Rast über die Wiese neben einem Roadhouse, wo Livia einen kleinen Imbiss zu sich nahm.

Die Angst schwand wie ein dunkler Schatten, und schließlich dachte Livia nicht weiter darüber nach, sondern freute sich auf die nächsten Jahre in einem schönen Zuhause.

 

 

Asgard blickte dem davonfahrenden Wagen nach, bis dieser um die Kurve bog, und wartete weitere fünfzehn Minuten, ob er zurückkäme, ehe er sich dem Haus näherte. Dabei lauschte er, witterte. Man konnte nie wissen. Vorsicht war angeraten, wenn man nicht in einer Müllverbrennungsanlage oder dem Betonfundament eines Neubaus landen wollte – oder Schlimmeres. Egal, welche der beiden Seiten ihn erwischte, er hatte von keinem Gnade zu erwarten. Von seinen eigenen Artgenossen am allerwenigsten, aber auch eine Jägerin – egal wie lange sie bereits mit dem System gebrochen hatte – war nicht ungefährlich. Schon gar nicht, wenn man in ihr Heim eindrang.

Nach außen hin ließ er sich nichts anmerken. Je selbstverständlicher man sich bewegte, umso weniger Aufsehen erregte man. Menschen tickten so. Er bewegte sich inzwischen lange genug unter ihnen, um das gelernt zu haben. Wie so vieles andere auch.

Ruhig und souverän ging er auf die Eingangstür zu. Nur ein verstohlener Blick, als er davorstand und so tat, als hole er seinen Schlüssel hervor, doch es war ohnehin niemand zu sehen. Keine Nachbarn hinter den Fenstern der umgebenden Häuser, kein misstrauischer Hausmeister. Die junge Frau wohnte wohl noch nicht lange genug hier, um nachbarschaftliche Kontakte geknüpft zu haben. Wenn sie überhaupt so etwas zuließ. Es war sicherer, anonym zu bleiben.

Für sich selbst und vor allem für die Menschen.

Ein Sicherheitsschloss versperrte ihm den Weg. Sie war also vorsichtig. Damit hatte er schon gerechnet. Aber auch so etwas vermochte ihn nicht aufzuhalten. Sekunden später war er in der Wohnung, lehnte mit dem Rücken an der Tür und ließ den Blick schweifen.

Die Einrichtung war karg. Nur wenige Möbel, fast keine persönlichen Sachen. Ebenfalls ein Zeichen, dass sie noch keine Zeit gefunden hatte, sich einzurichten. Aber das wusste er schon.

An der Garderobe stieg der scharfe Geruch von Leder und Hundefell in seine Nase, doch die Leine ihrer vierbeinigen Begleitung war fort. Dieses Mal hatte sie das Tier mitgenommen. Vermutlich war das sein Glück. Er glaubte zwar nicht, dass die Hündin ihm im Beisein ihrer Herrin etwas antun würde, doch als Eindringling in ihre Wohnung, die von dem Tier bewacht wurde, hätte er schlechte Karten gehabt. Da half es auch nichts, dass er mit Tieren sprechen konnte. Eine Gabe, die ungewöhnlich für seinesgleichen war und eher unter den Lykanern verbreitet, doch er verfügte darüber. Das war ihm erstmals auf seiner Flucht vor zweihundert Jahren bewusst geworden; seither leistete ihm diese Fähigkeit zuweilen gute Dienste.

Mit lautlosen Schritten drang er in jedes einzelne Zimmer vor. Berührte nur wenig, denn er wollte keine Spuren hinterlassen, die sie auf ihn aufmerksam machen konnten, solange er noch nicht sicher war. Ihm genügten Blicke, Witterungen, Gedankenfetzen, die noch im Raum hingen – darunter sogar einige Schemen ihrer Träume der vergangenen Nacht. Die ihm angeborene Gabe des Suchers versetzte ihn in die Lage, in Windeseile auch den kleinsten Hinweis zu erkennen und alles zu einem Bild zusammenzufügen. Jahreslange, intensive Schulung hatte ihr Übriges getan. Und während seiner Zeit allein, außerhalb des Systems, hatte er all dies verfeinert und perfektioniert. Er sah Dinge, die selbst ein anderer Sucher vermutlich nicht bemerkt hätte.

Sollte er sie dieses Mal gefunden haben? War sie diejenige, auf die er gewartet hatte? Befähigt, die Prophezeiung der Schrift mit ihm zu ergründen, zu erfüllen und das Unheil aufzuhalten?

Er wünschte es sich so sehr, dass er um seine Vernunft fürchtete. Er durfte nicht unüberlegt handeln, sich nicht von seinen Gefühlen fehlleiten lassen. Doch genau dieses Risiko bestand. Etwas an ihr hatte ihn berührt. Sie hätte ihn im Zug nicht ansehen dürfen. Dieser eine Blick hatte ihr Schicksal besiegelt, und seines ebenso. Natürlich hatte er sie aufsuchen müssen. Eine einsame Jägerin war zu selten, um über sie hinwegzusehen. Erst recht in seiner Situation. Selbst wenn die Dinge anders stünden, und sie genau wie ihre Artgenossen Todfeinde wären, nicht außerhalb des Systems lebten, wäre er ihr gefolgt. Er konnte nicht anders. Wenn sie wirklich die war, die er suchte, dann war sie in großer Gefahr. Weil sie selbst eine Gefahr darstellte. Für alles, wofür ihr System stand – und das seiner Art.

Er hätte sich gerne vorgemacht, dass es vor allem diese Tatsache war, die ihn so vehement in ihre Nähe trieb, aber die Wahrheit war noch eine andere.

Vom ersten Augenblick an war sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Sie hatte ihn nicht bemerkt, als sie gelangweilt und genervt im Warteraum der Behörde saß und auf ihren Termin wartete. Asgard hatte sie von draußen beobachtet, im Café gegenüber gewartet, bis sie Stunden später das Gebäude verließ, und war ihr zum Bahnhof gefolgt. Im Gedränge am Bahnsteig verlor er sie kurzfristig aus den Augen, aber sein Instinkt brachte ihn wenig später in ihr Abteil, wo er in der letzten Sitzreihe Platz nahm und sie stillschweigend beobachtete. Versuchte, einzelne Gedankenbruchstücke zu erhaschen. Schon da hatte sie sein Herz schneller schlagen lassen und die kurz vor dem Ende ihrer Reise stattgefundene telepathische Unterhaltung den Wunsch verstärkt, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Eigentlich hatte er direkt mit ihr reden wollen, doch ihr Anblick im Wald hatte ihm schier den Atem geraubt; ein brennendes Sehnen in seinen Lenden ausgelöst, das ihm ebenso fremd war wie sie selbst. Er hatte es nicht gewagt, ihr in einem derartigen Zustand unter die Augen zu treten, aus Sorge, sie könne es ihm im Gesicht ansehen, wohin sich seine Gedanken verirrten. Das Mondlicht auf ihrer nackten Haut, die glatte Struktur der Muskeln, die sich darunter abzeichneten und der unübersehbare Genuss, als sie sich zunächst im Gras und später im Wasser rekelte.

Selbst jetzt noch beschleunigte die Erinnerung seinen Herzschlag, machte seine Kehle trocken und löste den unbedingten Wunsch aus, sie berühren zu dürfen.

Er schüttelte den Kopf. Diesen Empfindungen durfte er nicht nachgeben. Dafür war er nicht hier. Es war zu wichtig, er durfte nicht riskieren, sein Ziel aus den Augen zu verlieren. Doch da war dieser bittersüße Schmerz, der ihn seufzen ließ. Wie eine Ahnung tief in ihm.

Sie würde frühestens am nächsten Tag zurückkommen, dennoch hatte er keine Zeit zu verlieren, wenn er alles über sie herausfinden wollte, was diese Wohnung über sie verriet. Woher sie kam, was sie zur Einzelgängerin machte, warum sie gegangen war.

Es gehörte Mut dazu, dem eigenen Volk den Rücken zu kehren. Wer wusste das besser als er? Aber auch Verzweiflung und zuletzt Entschlossenheit – die Bereitschaft jeden Tag seines Lebens in tödlicher Gefahr zu schweben, immer auf der Flucht, immer mit der Angst im Nacken. Nur um sich dem System nicht länger beugen zu müssen. Mut besaß die Lykanerin zweifellos, ebenso wie Entschlossenheit und die Bereitschaft, lieber zu sterben als zurückzukehren. Verzweifelt hatte sie hingegen nicht auf ihn gewirkt. Dennoch wusste er, dieses Gefühl war da. Niedergerungen, weil es eine Schwäche darstellte, die ihresgleichen abtrainiert wurde. Völlig los wurde man sie jedoch nie. Auch er nicht. Mit jedem Jahr gewann es an Kraft. Mit jedem Scheitern trieb es einen weiter auf den Abgrund zu.

Ein zynisches Lächeln spielte um seine Lippen, dessen er erst gewahr wurde, als sein Blick auf sein Spiegelbild fiel.

Ähnlich waren sie sich, die Lykanerin und er. Er fragte sich insgeheim, ob sie das genauso sehen würde. Dies galt es herauszufinden.

Auf der Anrichte in der Küche lag ein Umschlag, den er sich näher ansah. Carol Benedikt, stand auf den Meldebögen. Unnötig darüber nachzudenken, ob dies ihr wirklicher Name war. Er war mit Sicherheit ebenso falsch wie der Vorherige, den sie benutzt hatte.

Weitere Unterlagen dürften schwer zu finden sein. Sie hatte alles zerstört, um neu anzufangen. Das einzig Sinnvolle, wenn man seine Spuren verwischen wollte. Diese Lykanerin war auf der Flucht, daran bestand kein Zweifel.

Damit wurde es für ihn nicht unbedingt einfacher, etwas über sie herauszufinden, ehe er den Kontakt suchte. Aber was hatte er schon zu verlieren? Wenn er auf seine innere Stimme hörte, wusste er, dass es mehr als nur den Versuch wert war. Alles andere musste sich zeigen.

Der Gedanke, dass sie ablehnen könnte, sandte eine kalte Unruhe durch seine Glieder. Die Zeit lief ihm davon. Es wäre eine Katastrophe, wenn sie die Richtige war, ihn aber zurückwies. Oder gar tötete. Dann war alles verloren. Doch was kümmerte es ihn dann noch?

Die Antwort war eindeutig. Sehr viel. Er hatte die Aufgabe angenommen, die das Schicksal ihm zugedacht hatte. Und er durfte nicht scheitern. Er lebte dafür, seit er Sacre Nuit verlassen hatte. Er hatte dafür gekämpft, gelitten und getötet.

Er schloss die Tür hinter sich und ließ die Wohnung in dem Anschein zurück, dass nie ein Fremder sie betreten hatte. Wenn sie zurückkam, würde er einen geeigneten Moment abwarten und sie mit dem konfrontieren, was er entdeckt hatte.

 

 

Erst spät am Abend kehrte Livia mit Sachmet zurück. Eigentlich hatte sie die weite Strecke nicht mehr fahren, sondern in einem Hostel übernachten wollen, dann war die Unruhe zurückgekehrt und mit ihr das unerträgliche Bedürfnis, sich zu vergewissern, dass ihr neues Heim nicht bereits wieder enttarnt worden war.

Erleichterung stellte sich ein, als sie den Wagen vor dem Haus parkte und keine Präsenz von Jägerinnen oder Häschern ausmachen konnte. Es war alles ruhig. Keine Gefahr.

Aufatmend entschied sie, dass Möbel und Hausstand auch bis zum Morgen warten konnten. Sie war müde von der Fahrt. Ihre Schläfen pochten. Sie brauchte dringend Bewegung und frische Luft, um nervlich zur Ruhe zu kommen. Sonst war an Schlaf nicht zu denken.

Den Bachlauf hatte sie in den letzten Tagen gemieden, seit ihr „Gespenst“, wie sie es inzwischen nannte, dort aufgetaucht war. Da sich der mysteriöse Geist aber nun offenbar verflüchtigt hatte, zog es sie wieder zu ihrem Lieblingsplatz. Außerdem war dies ihr Zuhause, und sie war nicht bereit, sich von irgendjemandem, der noch dazu so feige war, sich nicht zu zeigen, die Freude verleiden zu lassen.

Sachmet war nicht mehr zu halten, als sie die Baumgrenze erreichten. Übermütig tollte sie auf der Wiese umher, versuchte ihren eigenen Schwanz zu fangen und sprang dann mit lautem Platschen ins Wasser. Livia lachte, pfiff durch die Zähne und schon eilte ihre Hündin heran. Ein Schatten, der mit seinem grau-schwarz geflinkerten Fell mit der Dunkelheit nahezu verschmolz. Vor Livia angekommen schüttelte sie sich ausgiebig und entlockte ihr damit einen spitzen Aufschrei, der in ein Kichern mündete, als sie sich hinabbeugte, um Sachmet das nasse Fell zu kraulen.

„Wenn Jägerinnen hier wären, müsstest du dich fürchten – als Flüchtige.“

Livia wirbelte herum, und Sachmet wurde augenblicklich steif und fletschte die Zähne. Ihr Nackenfell sträubte sich und sie fixierte den Fremden, der hinter einem Baum hervortrat, mit gespenstisch leuchtenden Augen. Er zeigte sich davon jedoch unbeeindruckt und kam langsam näher, wobei er seine Hände vor den Körper hielt. Wohl um zu zeigen, dass er keine Waffe trug.

„Ganz schön schreckhaft für eine Jägerin“, bemerkte er mit einem leicht zynischen Unterton in der dunklen Stimme.

Der Vampir aus dem Zug. Sein Anblick durchfuhr Livia wie ein Blitz. Was machte er hier? War er ihr wirklich gefolgt?

Schlagartig hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, ein Gesicht. Ein Geist wäre Livia in diesem Moment bedeutend lieber gewesen.

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht“, antwortete sie, beugte sich wieder zu Sachmet herunter und hielt sie zur Sicherheit am Halsband fest.

„Nichts“, gestand er. „Aber du hast mich angesprochen. Da wurde ich neugierig.“

„Du warst es, der mich eine Jägerin genannt hat“, stellte sie klar.

„Du mich einen Sucher. Zumindest hast du das gedacht.“ Er grinste entwaffnend und entblößte dabei seine Fänge. In seinen bernsteinfarbenen Augen funkelte es herausfordernd.

„Liest du immer die Gedanken anderer Leute?“ Sie musterte ihn skeptisch, versuchte gleichzeitig die nähere Umgebung auszuloten, da es kaum vorstellbar war, dass sich ein einzelner Sucher freiwillig einer Lykanerin näherte. Erst recht nicht, wenn er sie als Jägerin erkannt hatte.

„Oh Pardon, ich dachte, es wäre eine telepathische Botschaft gewesen. Wenn ich natürlich gewusst hätte, dass du lediglich Selbstgespräche führst, hätte ich mich taub gestellt.“

Ihre Bissigkeit schien ihn nicht im Geringsten zu verunsichern. Livia war verwirrt, doch da er keine Bedrohung darstellte und sie außer ihm keinen Vampir in der Nähe witterte, entspannte sie sich fürs Erste.

Sachmet legte ihren Kopf schief, stellte aber das Knurren ein, nachdem ihre Herrin nicht mehr in Alarmbereitschaft war. Als Livia sie losließ, trottete sie sogar schwanzwedelnd zwischen den beiden hin und her. Dass sie dabei immer wieder freudig zu dem Fremden emporsah, ärgerte Livia.

„Du sagtest, du gehörst nicht mehr zum System“, erklärte der Sucher. „Das habe ich als Aufforderung verstanden.“

Sie schnaubte. „Es war eine Feststellung, nichts weiter. Ich wollte dir damit sagen, dass du von mir nichts zu befürchten hast, aber ich habe dich nicht eingeladen, in mein Leben einzudringen und womöglich auch noch Häscher auf mich aufmerksam zu machen. Ich habe auch so schon Probleme genug.“

Er nickte und vollführte eine vage Geste der Entschuldigung, fuhr aber unbeirrt fort. „Ich habe niemanden auf dich aufmerksam gemacht. Ich achte selbst darauf, den Häschern ebenso aus dem Weg zu gehen wie den Jägerinnen. Seit zweihundert Jahren schon habe ich dem System den Rücken gekehrt und meide seine Anhänger so gut es mir möglich ist.“

Seine Worte verwunderten und irritierten Livia. Warum verließ ein Sucher die Gemeinschaft der Vampire? Sie waren hoch angesehen und genossen viele Privilegien. Allein ging er ein hohes Risiko ein, denn ohne Kampferfahrung waren Sucher eine leichte Beute für Jägerinnen.

„Das System krankt, Jägerin. Eures genauso wie unseres. Vielleicht hat es das immer schon. Du weißt das ebenso wie ich, sonst hättest du die Deinen nicht verlassen. Ich kenne deine Gründe nicht, du nicht die meinen. Aber wir beide sind Geächtete. Eine Gefahr für das System, von dem wir wissen, dass es längst nicht mehr berechtigt ist, weil der Krieg, der zwischen uns herrscht, niemals hätte begonnen werden dürfen.“

Sie musterte ihn mit zur Seite geneigtem Kopf. „Was weißt du über unser System? Und über den Krieg unserer Völker?“

„Ich bin ein Sucher. Es ist meine Aufgabe zu wissen.“ Sein Blick verriet, dass er vor allem wusste, damit ihr Interesse geweckt zu haben.

„Deine Hündin mag mich“, lenkte er von dem Thema ab. Er kniete sich mit ausgestreckter Hand auf den Boden. Sachmet fragte nicht einmal mit einem Blick zu Livia um Erlaubnis, sondern ließ sich neben dem Sucher auf die Hinterpfoten nieder und bot ihm ihren Kopf, damit er sie kraulen konnte. Dabei stieß sie wohlige Grunzlaute aus und rückte immer näher an ihn heran. Livia presste ärgerlich die Lippen zusammen und schwieg, obwohl sie der kleine Verrat ärgerte. Aber die Hündin jetzt zu maßregeln oder zu sich zu rufen wäre ihr kindisch vorgekommen; sie wollte sich vor diesem Sucher keine Blöße geben. Es schien, als habe er ein Händchen für Hunde, was für einen Vampir durchaus beeindruckend war.

„Ich bin Asgard. Ich habe gehofft, einmal eine Jägerin zu finden, die wie ich mit dem System gebrochen hat. Und überlebt.“

Er sah sie abwartend an. Seine Augen hatten die Farbe von flüssigem Gold. Sie schienen sich unentwegt zu verändern, wurden heller und dunkler, als würde ein inneres Licht in ihnen glimmen und flackern. Sein schwarzes Haar war dieses Mal nicht im Nacken zusammengebunden, sondern fiel offen über seine Schultern. Das schwache Mondlicht zauberte bläuliche Strähnen hinein. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass auch der Körper eines Vampirs lunar reagierte. In ihrer Zeit als Jägerin hatte sie für so etwas keinen Blick besessen, heute hielt sie sich von Bluttrinkern möglichst fern, egal ob bei Tag oder Nacht.

Dass er sich der Gefahr, in der er schwebte, bewusst war, bezweifelte Livia nicht. Ein einzelner Sucher war kein Gegner für eine Jägerin. Unschlüssig suchte sie mit ihren Sinnen ein letztes Mal die nähere Umgebung ab, ob sich nicht doch irgendwo Häscher verbargen und sie dabei war, in eine Falle zu tappen. Aber da war nichts. Nicht einmal mehr das Gefühl, beobachtet zu werden, nachdem er sich offenbart hatte. Asgard war wirklich allein.

Wenn sie gewollt hätte, wäre es ein Leichtes gewesen, ihm augenblicklich die Kehle aufzureißen, ihn zu verschlingen und danach zu vergessen. Er hatte sich einen ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht, um sie anzusprechen. Der Hunger war in den letzten Tagen stärker geworden. Bald musste sie wieder Nahrung aufnehmen; und mit ihm wäre ihr Bedarf für sehr lange Zeit gedeckt.

Der Sucher erhob sich langsam und breitete seine Arme aus. In seinem schwarzen Ledermantel sah er auf diese Weise wie ein grotesker Totenvogel aus.

„Ich bin wehrlos, Jägerin. Ja, du hast recht, ich wäre eine leichte Beute. Also nur zu. Es würde einige deiner aktuellen Probleme lösen. Und meine … nun ja, die wären dann wohl nicht länger relevant.“

War er verrückt geworden? Livia runzelte die Stirn. Er lud sie ein, ihn zu töten? War es das, was er wollte? Dafür hätte er kaum eine flüchtige Jägerin suchen müssen. Die systemtreuen Rudel würden ihm solch einen Wunsch ohne Zögern erfüllen. Schnell und, wenn er Glück hatte, sogar relativ schmerzlos.

„Aber eines sollte dir klar sein“, warnte er sie. „Wenn du mich tötest, wirst du nie erfahren, warum ich dich ausgewählt habe. Was ich entdeckt habe, das unser aller Leben entscheidend verändern könnte. Willst du dich bis ans Ende deiner Tage fragen, was gewesen wäre, wenn? Ob es irgendeine Bedeutung gehabt hätte, mir zuzuhören und mehr zu erfahren über den Krieg, seine Gründe und die Fehler des Systems?“

Wieder dieses entwaffnende Grinsen. Verdammt, er war sich seiner Sache sicher. Was noch viel schlimmer war: Er hatte recht damit. Vor allem mit der Behauptung, er habe sie ausgewählt, hatte er nun endgültig ihre Neugier geweckt. Auserwählt wofür? Und warum?

„Also gut. Ich höre dir zu.“

Die Erleichterung war ihm anzusehen. Also hatte er doch gezweifelt, wie sie sich entscheiden würde. Dann war es umso mutiger von ihm, sich ihr zu stellen. Er machte einen Schritt auf sie zu, doch Livia stoppte ihn, indem sie die Hand auf seine Brust legte und ihn aus schmalen Augen anblitzte.

„Ich warne dich. Wenn mich nicht überzeugt, was du mir erzählen willst, kann es gut sein, dass du am Ende doch noch meine Tiefkühltruhe füllst, Sucher.“

Zu ihrer Überraschung blieb er ruhig.

„Das ist mir bewusst. Doch es ist vielleicht die einzige Chance, die ich jemals haben werde. Ich brauche eine Jägerin. Ich brauche dich.“

Wortlos und sehr verwirrt drehte sich Livia um und schlug den Weg nach Hause ein. Sachmet und der Fremde folgten ihr.

„Bitte nenn mich nicht ständig Sucher. Ich heiße Asgard, und ich würde dich auch gerne beim Namen nennen, statt nur Jägerin zu sagen. Ich finde, das klingt sehr despektierlich.“

„Livia!“, antwortete sie knapp, ohne ihn anzusehen.

„Livia“, wiederholte er. „Ein schöner Name.“

Sie schüttelte den Kopf. Dieser Sucher war merkwürdig. Aber war es nicht ebenso merkwürdig, dass sie – eine Jägerin – ihn mit zu sich nach Hause nahm? Sie gestand sich widerstrebend ein, dass die Jahre abseits des Systems sie mehr verändert hatten, als ihr bewusst gewesen war.

Beim Aufschließen der Haustür stockte Livia augenblicklich. Sie spürte, dass etwas Fremdes während ihrer Abwesenheit hier eingedrungen war.

Instinktiv zuckte sie unter der Hand zusammen, die sich auf ihre Schulter legte.

„Keine Angst“, sagte Asgard leise. „Was du fühlst, bin ich.“

Sie drehte sich um und sah ihm fassungslos ins Gesicht. „Du warst in meiner Wohnung?“

Sein Gesicht drückte Schuldbewusstsein aus. „Du wirst vielleicht verstehen, dass ich erst sicher sein musste. Ich wollte kein unnötiges Risiko eingehen, wenn ich dich auf der Lichtung anspreche.“

Livias Mund klappte auf und wieder zu. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Einerseits verstand sie seine Vorsicht tatsächlich, andererseits war das Gefühl, dass jemand in ihre Privatsphäre eingedrungen war, einfach widerlich.

„Es tut mir leid.“ Seine Stimme war wie ein Flüstern des Windes. „Ich versichere dir, ich habe nichts angerührt.“

Er streckte die Hand aus und strich eine ihrer rotblonden Strähnen zurück. Hastig wandte sie sich von ihm ab. Nicht, weil ihr die Berührung unangenehm war, sondern vielmehr, weil das Gegenteil der Fall war. Ihre Haut prickelte wie elektrisiert, dort wo sein Knöchel ihre Schläfe berührt hatte.

„Tu das nie wieder.“

Wie überflüssig diese Forderung war, wusste sie selbst. Doch im Augenblick befanden sich ihre Gedanken in einem solchen Aufruhr, dass ihr keine andere Erwiderung einfiel. Sie musste weg von der Tür. Weg von ihm. In seiner Nähe konnte sie nicht klar denken.

Livia ging zur Küchenzeile und setzte heißes Wasser auf.

„Möchtest du einen Kaffee oder lieber Tee?“

Er antwortete ihr nicht sofort. Sie sah über die Schulter zu ihm zurück. Asgard stand noch immer an der Eingangstür und streichelte Sachmet.

„Tee wäre wundervoll.“

 

„Wie lange bist du schon auf der Flucht?“, wollte Asgard wissen, als sie wenig später, jeder mit einem Becher in der Hand, auf ihrem Sofa saßen. Sachmet schlafend zu seinen Füßen. Diese treulose Hündin.

„Seit etwa einem Jahrhundert.“

Er schürzte die Lippen und schien nachzudenken.

„Was?“, fragte sie gereizt. Sie wusste nicht, was ihre Nerven mehr strapazierte. Dass sie sich nicht sicher war, wie weit sie ihm trauen konnte, oder dass er eine solch irritierende Wirkung auf sie ausübte. Sie ertappte sich immer wieder dabei, wie sie in seinem Anblick versank und ihre Gedanken höchst eigenwillige Wege einschlugen. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf.

„Du bist gut“, meinte er anerkennend. „Verdammt gut.“ Damit verwirrte er sie noch mehr.

„Wie? Was soll das heißen? Gut?“

Er schmunzelte. „Die durchschnittliche Lebenserwartung einer Jägerin, die das System verlässt, liegt bei weniger als einem Jahr.“

Livia keuchte. Dann gab es tatsächlich noch mehr, die sich widersetzten? Oder wohl eher nicht, wenn sie von ihren Artgenossinnen so schnell exekutiert wurden.

„Ich wusste nicht, dass …“ Sie brach ab.

„Was? Dass auch andere Jägerinnen weglaufen? Ich sagte dir doch, das System krankt. Sehr lange schon. Ein System, dessen Grundfesten wir sind. Die Sucher und die Jägerinnen. Beide Seiten können es sich nicht leisten, dass die Pfeiler bröckeln. Also wird jede Schwachstelle eliminiert. Häscher und Fänger sind entbehrlich. Aber nicht wir. Jeder von uns steht für das, was unsere Rasse ausmacht. Das Wissen ist die Macht der Vampire. Und der Kampfgeist die Essenz der Lykaner. Das war nicht immer so, aber heute leben unsere Völker genau davon. Wobei, so bedauerlich es ist, dass ich dies sagen muss, dein Volk noch weitaus mehr Zusammenhalt beweist, als das meine. Die Hohen Familien kümmert Darwins Krieg schon längst nicht mehr. Die Zeiten haben sich geändert.“

Er nahm ihre Hand. Livia ließ es geschehen, obwohl die Berührung ein Beben durch ihren Körper sandte. Einen solchen Kontakt mit einem Vampir kannte sie nicht. Sie kannte ihn mit niemandem. Die Aufrichtigkeit dieser simplen Geste verunsicherte sie, weil sie die widersprüchlichen Gefühle in ihrem Inneren verstärkte, die sie nicht einordnen konnte. Im Halbdunkel des Raumes ging ihr Asgards Blick durch und durch.

„Auch ich bin nicht der einzige Flüchtige. Doch die meisten, die in Darwins Diensten standen und von Sacre Nuit flohen, werden sofort von seinen Häschern gefangen, durch Folter erneut auf das System eingeschworen, oder gleich getötet. Aber die, die zurückkehren, haben nicht gesehen, was ich gesehen habe. Ich werde mich niemals wieder dem System beugen. Ich bin seit zweihundert Jahren auf der Flucht und das aus gutem Grund. Seit ich Dinge herausgefunden habe, die ich niemals hätte erblicken dürfen, wurde ich zum Gejagten, weil ich alles infrage stelle, wofür das System bisher stand. Es gibt eine Möglichkeit, alles zu ändern. Besser zu machen. Dafür bin ich bereit, jeden Preis zu zahlen. Auch wenn es mein Leben ist. Viele Jahre lebte und arbeitete ich in der großen Bibliothek von Sacre Nuit. Lord Darwin direkt unterstellt. Ich kenne ihn – und ich fürchte ihn, damals wie heute. Aber ich hatte auch Respekt – und falls die Geschichten über den Anfang stimmen sollten, sogar Verständnis. Dann entdeckte ich eines Nachts ein geheimes Fach. Es war Zufall – Schicksal –, dass ich darauf stieß, denn ich hätte in dieser Sektion keine Schriften studieren sollen. Weil ich einem Freund helfen wollte, hielt ich plötzlich etwas in Händen, das mein bisheriges Weltbild erschütterte. Ich wusste, als ich die Pergamente in der geheimen Lade entdeckte, dass mein Leben von diesem Moment an verwirkt war. Noch ehe ich sie las. Seit ich weiß, was darin steht, bin ich so gut wie tot. Weil ich keine andere Wahl mehr habe, als zu versuchen, diesen unrechtmäßigen Krieg aufzuhalten.“

Er sagte das eindringlich. In seiner Stimme schwangen Furcht und Achtung mit. Was konnte er entdeckt haben, das sowohl für die Vampire als auch die Lykaner entscheidend war? Und so gefährlich, dass man ihn dafür töten wollte.

Asgard hielt immer noch ihre Hand. Livia räusperte sich und entzog sie ihm sanft. Ein Moment der Verlegenheit entstand.

„Warum hast du sie nicht wieder zurückgelegt und dir nichts anmerken lassen, wenn du schon vorher gespürt hast, dass sie nichts Gutes für dich verheißen?“
Wenn eine so große Gefahr von Asgards Entdeckung ausging, wäre das vielleicht die bessere Wahl gewesen.

Er schüttelte den Kopf. „Das konnte ich nicht. Dafür war es zu wichtig, zu unglaublich. Mein Instinkt sagte mir, dass ich diese Schriften nicht ohne Grund entdeckt hatte. Und ich wusste mit jedem Wort, das ich las, dass es mir bestimmt war, dies zu finden. Und zu handeln. Dieser Notwendigkeit konnte ich mich nicht verschließen, auch wenn mein Leben dadurch verwirkt wäre. Du wirst es verstehen, wenn du es mit eigenen Augen siehst.“

„Was … was steht in diesen Schriften?“

Asgard stellte seine Tasse auf den Tisch und starrte hinein, als würden sich ihm dort die richtigen Worte offenbaren. Dabei streckte er seine Hand, die eben noch Livias gehalten hatte, nach unten und kraulte Sachmet das Fell, woraufhin die Hündin genussvolle Laute von sich gab.

Livia betrachtete ihren Gast nachdenklich. Waren sie wirklich so verschieden? Auf den ersten Blick konnte man es sich kaum vorstellen. Beide menschlich mit einem dunklen Geheimnis. Beide Jäger und der Nacht zugetan. Sie empfand ihn in ihrer Wohnung weder als Eindringling noch als Feind. Nicht einmal angesichts der Tatsache, dass er sich wenige Stunden zuvor unerlaubt Zutritt verschafft hatte. Livia fühlte sich in keinster Weise von seiner Gegenwart bedroht. Im Gegenteil. Seine helle Haut, die im Dämmerlicht schimmerte, faszinierte sie. Ebenso die gelben Augen, die in unterschiedlichen Tönen changierten und am deutlichsten seine Gefühle widerspiegelten. So war es auch bei ihrer lavendelfarbenen Iris. Man konnte an ihr stets ablesen, wenn Livias Gefühle übersprudelten.

Sie ertappte sich bei dem Gedanken, wie sich Asgards schulterlanges, schwarzes Haar wohl anfühlen mochte. Ob es so seidig wäre, wie es aussah.

Er war genau wie sie nur ein Einsamer, ein Flüchtender. Ein Wesen, das versuchte, in der Masse der Menschen unterzutauchen und irgendwie zu überleben. Sollte sie ihn dafür verurteilen?

Gleichzeitig war er aber auch so viel mehr. Denn er wusste Dinge, die er nicht wissen durfte, und wollte damit etwas erreichen, das in den oberen Reihen – wenn sie seine Worte richtig deutete – mehr als unerwünscht war.

Mit einem Mal fühlte sich Livia diesem Vampir viel näher als jemals einer der anderen Jägerinnen.

Asgard unterbrach ihre Gedanken, indem er sie wieder direkt anblickte und eine Antwort auf ihre Frage gab: „Ich weiß nicht recht, wie ich es beschreiben soll. Es scheint, als sei dies alles – der Krieg unserer Völker, die Feindschaft zwischen uns – vermeidbar gewesen. Nicht mehr als ein großer Fehler. Ein Unglück, das nicht hätte geschehen dürfen.“

Sie zuckte irritiert zusammen, sowohl über seine Worte als auch, weil sie in seinen Anblick so versunken gewesen war. „Was sagst du da? Ein Fehler? Bloß ein Unglück? Das kann doch nicht dein Ernst sein. Das wäre ja eine schreckliche Erklärung für mehrere hundert Jahre erbitterte Feindschaft. All die Toten auf beiden Seiten werden sicher nicht sagen, dass sie Opfer eines unglücklichen Fehlers geworden sind. Wenn es nicht mehr als das gewesen wäre, hätte es sich doch leicht aufklären lassen, ohne dass dafür Tausende sterben müssen. Jene, die die Geschicke unserer Völker damals leiteten, waren schließlich keine dummen unerfahrenen Kinder.“

Livia wusste nicht, was sie erwartet hatte. Es war schon ungewöhnlich, dass ein Sucher zu jemandem wie ihr Kontakt aufnahm. Noch mehr, dass er angab, Schriften gefunden zu haben, die für seine Augen nicht bestimmt waren. Wo es doch immer hieß, die Sucher seien in die Welt geboren, um alle Schriften zu sichten, die je aufgezeichnet worden waren. Aber dass er behauptete, all diese Jahre seien nichts weiter als ein Fehler gewesen, erschien ihr unvorstellbar. Vielleicht war er doch verrückt. Damit ließe sich sogar erklären, warum er es gewagt hatte, sie anzusprechen.

Asgard senkte verlegen den Blick und murmelte leise: „Es sind nicht meine Worte. Es ist das, was der Verfasser dieser Schriften sagt. Dass alles mit einem Missverständnis, einem Fehler, einem Unglück begann. Ich habe nicht gesagt, dass es leicht zu verstehen ist. Wenn es leicht wäre, hätte ich nicht zwei Jahrhunderte gebraucht, um eine wie dich zu finden.“

Ihre Schroffheit tat ihr augenblicklich leid. Wovon auch immer er sprach, es war ihm ungemein wichtig. Wichtiger als sein eigenes Leben. Welches Recht hatte sie, ihn zu verspotten? Trotzdem war seine Erklärung zu absurd. Es musste mehr dahinterstecken, wenn man ihn dafür zwei Jahrhunderte lang jagte und töten wollte, und noch ein Jahrhundert länger unzählige Männer und Frauen beider Seiten einander nach dem Leben trachteten. Sie versuchte, ihre Gedanken weniger verletzend zu formulieren. Scheinbar war sie in den letzten Jahren im zwischenmenschlichen Umgang ungeübt geworden.

„Ich wollte dich nicht verletzen oder deinen Fund abwerten. Aber denkst du nicht, dass du mit dieser Erklärung ziemlich weit entfernt von der Wahrheit bist? Ich meine, Belege für ein derartiges Versehen würde man doch nicht so gut verstecken. Oder danach trachten, einen Sucher, der darauf gestoßen ist, zu töten.“

Asgard fuhr sich in einer hilflosen Geste durchs Haar und ließ seinen Blick unstet zwischen Livia und der Wohnungseinrichtung wandern. „Vielleicht ist es das falsche Wort. Ich weiß nur nicht, wie ich es nennen soll. Es ist schwer zu beschreiben. Wie gesagt, du wirst es verstehen, wenn du es selbst gesehen hast. Dein Volk und meines waren nicht immer verfeindet, ich denke, dies zumindest weißt du. Aber das, was man uns und euch über den Beginn des Krieges erzählt, ist nicht dasselbe. Und ich denke, dies hat seinen Grund. In beidem wird wohl ein Funken Wahrheit liegen, aber auch eine Menge Lügen, um die Fehde zu rechtfertigen. Der Verfasser der Schrift, die in meine Hände gelangte, schildert eine andere Wahrheit und ist davon überzeugt, dass man das Unglück, das unsere Völker zu Todfeinden machte, noch immer korrigieren kann. Wenn man nur den richtigen Weg findet. Doch jemand versucht, genau dies zu verhindern. Ja sogar die Vergangenheit auszulöschen. Und ich bin mir nicht mehr sicher, ob das nur für eine der beiden Seiten gilt, oder ob nicht sogar noch mehr dahintersteckt. Damals wie heute.“

Livia schüttelte den Kopf. Sie konnte diesen Gedankengängen nicht so recht folgen. „Wie meinst du das, jemand will die Vergangenheit auslöschen? Man kann die Vergangenheit nicht ändern oder zerstören. Und außerdem: Wir sind diejenigen, denen damals Unrecht getan wurde. Unser Fürst und sein Sohn wurden bei einem freundschaftlichen Besuch auf Sacre Nuit gefangen genommen und hingerichtet. Einer ihrer Vertrauten konnte als Einziger entkommen und hat erst danach begonnen, Krieger auszubilden, um unser Volk zu schützen und zu verteidigen“, stellte sie aufgebracht klar.

„Na ja“, warf Asgard ein, „das ist wie gesagt die Variante, die ihr seit Jahrhunderten erzählt bekommt. Wir hingegen kennen die Geschichte anders. Euer Prinz hat Darwins Tochter getötet. Die Gefangennahme und Hinrichtung war damit ein berechtigter Akt der Vergeltung. Ihr habt daraufhin unser Volk mit euren Jägerinnen angegriffen. Den ersten Jägerinnen übrigens, die es überhaupt in der Geschichte deines Volkes gab. Lord Darwin hingegen entsandte seine Häscher zum Schutz der Hohen Familien und der Sucher.“

Livia presste wütend die Lippen aufeinander, versuchte gleichzeitig, sich innerlich zur Ruhe zu rufen. Es hatte keinen Sinn, einen zweiten Krieg zwischen ihnen beiden anzuzetteln. Jeder von ihnen kannte nur die Wahrheit, die ihnen gelehrt worden war. Weder Asgard noch sie waren seinerzeit dabei gewesen und konnten beurteilen, welche Seite log. Oder ob beide zwar die Wahrheit sprachen, aber zur Rechtfertigung ihres Handels die eine oder andere Kleinigkeit ausließen oder veränderten. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass Darwin überhaupt eine Tochter gehabt hatte und so etwas wäre sicher nicht in Vergessenheit geraten. Aber was für eine Rolle spielte das heute noch? Nun standen sie ohnehin außerhalb des Systems. Eines, von dem sich zusehends mehr abwandten, um ein Leben unter den Menschen zu führen. Stets bemüht, nicht aufzufallen. Der Krieg war nur noch eine Sache zwischen dem Vampirlord Darwin und dem Lykanerfürsten Cordova, den sie mit ihren treuesten Untergebenen austrugen. Auf deren Kosten, um den Preis derer Leben.

„Wie dem auch sei, es steckt sicher in beiden Überlieferungen ein Körnchen Wahrheit“, lenkte Asgard mit denselben Überlegungen ein, die auch Livia durch den Kopf gingen. „Aber du musst zugeben, allein die Tatsache, dass relativ schnell nach diesen Hinrichtungen eine große Zahl an Elitekämpferinnen auf eurer Seite zur Verfügung stand, zeigt wohl, dass auch die Lykaner nicht unvorbereitet waren. Die Geschichte, die ich gefunden habe, scheint eine Vereinigung beider Varianten zu sein. Vielleicht kommt sie der Wahrheit am nächsten. Und ich denke, sie wurde von einem Lykaner geschrieben.“

Livias Kopf ruckte hoch. „Von einem Lykaner? Bist du sicher?“ Warum sollte ein Lykaner derartige Aufzeichnungen in der Bibliothek von Sacre Nuit verstecken? Und vor allem, wie hatte er das angestellt? Nach Ausbruch des Krieges zwischen ihnen musste ein solches Unterfangen einem Selbstmord gleichgekommen sein.

Aber Asgard nickte bestätigend. „Das ist ein weiterer Grund, warum es so wichtig ist, dass du sie dir zumindest ansiehst.“

Seine Augen nahmen einen seltsamen Schimmer an, als er dies sagte. Eine vage, nicht greifbare Bedrohung lag in der Luft, sodass sich Livias Nackenhaare aufstellten. Als wäre alles, was er bisher gesagt hatte, nur die halbe Wahrheit und die Gesamtheit seiner Entdeckung zu unvorstellbar, um sie auszusprechen. Er und dieses Geheimnis, das er mit sich trug, wurden ein immer größeres Rätsel, in das sie unweigerlich hineingezogen wurde, egal ob sie wollte oder nicht. Sehr zu ihrem Ärgernis wuchs der Drang, beides ergründen zu wollen. Diese verrückte Geschichte und diesen undurchschaubaren jungen Mann.

„Bitte“, sagte Asgard eindringlich, als habe er bemerkt, was in ihr vorging und wolle dieses Interesse nutzen, ehe es wieder schwand. „Gib mir die Gelegenheit, dir zu beweisen, dass ich keinen Unsinn erzähle.“

Sie schwankte, haderte. Das alles war so verwirrend. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, wie sollte sie da eine Entscheidung treffen?

Livia zuckte leicht zusammen, als Asgard ihre Hand nahm.

„Damals, als der Krieg begann, braute sich bereits ein anderer zusammen, den die Lykaner zu vermeiden, oder für ihre Schutzbefohlenen zu gewinnen suchten. Werwölfe und Vampire pflegten enge politische Kontakte, sie ergänzten und berieten sich, doch was euer Fürst damals anstrebte, war eine hundertprozentige Unterstützung durch Lord Darwin und seine Gefolgsleute. Ein Bündnis, das unsere Völker auf ewig einen sollte.

Das war vor dreihundert Jahren. Wenn du dich in Geschichte auskennst, wirst du sicher wissen, dass damals mit dem Act of Union Schottland unter die Englische Krone gezwungen wurde, was viele Schotten nicht hinzunehmen bereit waren.

Deinesgleichen stand damals auf der Seite Schottlands, während sich die Vampire im eigenen Interesse trotz ihrer französischen Wurzeln zunächst neutral verhielten. Ich denke, Ziel der Allianz war es, die Vampire ebenfalls auf die Seite Schottlands zu holen. Mit ihrem Einfluss wäre dies eine Entscheidung zu Gunsten der Schotten gewesen. Doch dieses Bündnis kam nie zustande. Der Verfasser dieser Aufzeichnungen macht deutlich, dass man es nicht auf sich beruhen lassen darf.“

Sie musterte ihn zweifelnd. „Das klingt ehrlich gesagt … sehr verworren“, sagte sie vorsichtig. „Und nicht nach etwas, das einen Jahrhunderte langen Krieg rechtfertigen würde. Die Differenzen der Menschen haben sich nie auf unsere Arten ausgewirkt. Wir hatten unsere eigenen. Davon abgesehen denke ich nicht, dass ein einzelner Sucher und eine einzelne Jägerin irgendetwas daran ändern könnten, ganz gleich, was da geschehen sein soll. Du glaubst doch nicht wirklich, dass wir den Ausgang der Kriege zwischen Schottland und England beeinflussen könnten, die noch dazu lange zurückliegen? Und dass sich das dann auch noch auf die Feindschaft zwischen deinem und meinem Volk auswirkt.“

Man sah ihm an, dass er Livia nicht widersprechen konnte – oder noch nicht wollte, weil er dazu mehr preisgeben müsste, als er bereit war. Aber er war überzeugt von dem, was er gefunden hatte. Noch etwas sah sie in seinen Augen. Entschlossenheit. Ihm war wichtig, was er entdeckt hatte, und er wollte dieses Wissen mit ihr teilen, mit ihr nutzen. Entgegen aller Vernunft drängte es sie daher, ihn nicht sofort vor den Kopf zu stoßen, sondern ihm zumindest eine Chance zu geben, sie noch zu überzeugen.

„Bitte sieh es dir an“, bat Asgard leise. „Mehr verlange ich nicht. Mach dir selbst ein Bild davon und entscheide. Wenn du dann immer noch entschlossen bist, dass dich das alles nichts angeht, lasse ich dich in Ruhe. Das verspreche ich dir.“

Der Gedanke hatte etwas Beängstigendes, obwohl es dafür keine rationale Erklärung gab. Mehr ein siebter Sinn, der ihr riet, dass das, was sie dort sehen würde, ihr Leben für immer verändern und ebenso bedrohen würde wie seines. Wollte sie das? Was hatte sie mit ihm zu schaffen? Schlagartig gewann ihr Selbsterhaltungstrieb die Oberhand und ihre Bereitschaft, ihm eine Chance zu geben, rückte in den Hintergrund. Livias Skepsis überwog. Ruckartig entzog sie ihm ihre Hand und erhob sich. Jeder Zentimeter Abstand, den sie zwischen ihn und sich bringen konnte, war hilfreich, wenn sie nicht vollends ins Wanken geraten wollte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783948592059
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Werwolf Kanada Dark Romance Fantasy Schottland Liebe Mystik Vampir Liebesroman düster dark

Autor

  • Tanya Carpenter (Autor:in)

Die Autorin wurde am 17. März 1975 in Mittelhessen geboren, wo sie auch heute noch in ländlichem Idyll lebt und arbeitet. Ihr erster Roman „Tochter der Dunkelheit“ erschien im Herbst 2007 im Sieben-Verlag als Auftakt der „Ruf des Blutes-Serie. Sie ist in diversen Anthologien, die neben Dark Fantasy auch Crime, Humor, Sci-Fi, Erotik, Romance und Steampunk umfassen, vertreten und hat zahlreiche Roman in verschiedenen Genres in Klein- und Großverlagen veröffentlicht.
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Titel: Vampire Moon