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Zuckermeer

von Thomas Neumeier (Autor:in)
221 Seiten
Reihe: Young & Crunchy, Band 1

Zusammenfassung

Endlich Semesterferien, doch Lottes heiß ersehnter Sommerurlaub steht unter einem seltsamen Stern. Sie und ihr Bruder staunen nicht schlecht, als sie das geerbte Strandhaus an der Ostsee von einer Kommune junger Künstler besetzt vorfinden. Dann sind da noch die zahlreichen Rätsel, die sich um das Haus, den Strand und ein geheimnisvolles Zuckermeer ranken. Nicht jeder Hausgast ist, was er zu sein scheint. Zwischen Partys, kunstschaffender Exzesse und Liebesfreuden erlebt Lotte einen atemberaubenden Sommer. 426 Seiten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Salz auf feuchten Lippen

 

Sehr geehrte Klimaanlage, du bist ein richtig fieses Miststück.

Lottes Laune näherte sich unaufhaltsam ihrem Tiefpunkt, daran konnte auch das sommerliche Bilderbuchwetter nichts ändern. Im Gegenteil. Es trug eher massiv dazu bei. Seit Stunden stach die Sonne von dem wolkenlosen Himmel, der dampfende Teer schien mit der warmen Luft zu verschwimmen und der Wagen hatte sich aufgeheizt wie ein Backofen.

„Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist blau.“

Stressgeplagt, wie Beifahrer nun mal sind, wandte Torben den Kopf. „Ist das dein Ernst? Das haben wir zuletzt als Kinder gespielt.“

„Macht es das irgendwie schlecht?“

„Nein. Nein, ich schätze nicht.“ Er seufzte. „Also, was soll’s?“ Er nahm die Sonnenbrille ab und spähte aus dem offenen Beifahrerfenster. „Hier ist eine Menge Blau. Und das Meer rieche ich auch schon, glaube ich. Vielleicht die Straßenausschilderung da vorne? Nein, zu banal. Ha! Ich hab’s! Die Schubkarre da! In dem Pflanzgarten neben dem Lieferwagen.“

„Zweimal total daneben“, entgegnete Lotte am Steuer. „Beeil dich, gleich sind wir daran vorbei.“

Torben drehte den Kopf auf ihre Seite. Spätestens jetzt musste er das prächtige Mühlengebäude mit den roten Flügeln sehen, das linksseitig die Dächer dieses malerischen Dorfes überragte.

„Die Mühle“, erklärte Torben siegessicher, und Lotte bestätigte das.

„Du bist dran.“

„Wie willst du unter deiner schwarzen Sonnenbrille Farben erkennen?“

„Das ist mein Problem, oder? Mach schon.“

„Na gut. Okay, also pass auf: Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist gelb auf Blau.“

„Die Sonne am Himmel.“

„Nein, Blödsinn. Für wie einfältig hältst du mich? Die Sonne ist nicht mal gelb.“

Bevor Lotte einen neuen Tipp abgeben konnte, meldete sich die Stimme des Navigationsgeräts: „In zweihundert Metern links abbiegen.“

Lotte blickte auf das nicht zu übersehende Hinweisschild am Straßenrand. Noch knapp vierzig Kilometer bis zum Ostseebad Prerow. Demnach blieben ihr und ihrem Bruder noch eine Weile Zeit für Ich sehe was, was du nicht siehst. Wahrscheinlich zu viel davon. Sie folgte der Empfehlung des Navis und bog ab, als es der Gegenverkehr zuließ.

„Damit hast du es verpasst“, sagte Torben. „Es war das Plakat mit der Bierwerbung. Kein Punkt für dich.“

„Na schön, ich glaube, wir spielen doch nicht weiter.“

„Schlechter Verlierer“, schob Torben ihr unter, während er die an der letzten Tankstelle erworbene Zeitschrift auf seinem Schoß ausbreitete.

„Kannst du mal das Fenster schließen?“, bat Lotte. „Es zieht mir allmählich.“

Torben tat es. Wahrscheinlich nur, weil ihn der flatternde Fahrtwind beim Lesen beeinträchtigte. „Wir müssten rechts gleich den Saaler Bodden sehen können“, verkündete er und schaute wieder auf.

„Aha, und was soll das sein?“

„Das größte der vier Küstengewässer zwischen der Halbinsel und dem Festland“, antwortete Torben. „Der südlichste Teil wird Ribnitzer See genannt, steht hier.“

„Ist ja faszinierend“, kommentierte Lotte beiläufig. Im Moment war sie nicht an umgebungsspezifischen Einzelheiten interessiert. Zum wiederholten Mal drückte sie probehalber den Knopf für die Klimaanlage, die leider kurz vor Lübeck ihren Geist aufgegeben hatte. Das Kontrolllämpchen blieb weiterhin aus, und auch die Lüftung versagte die Kühlung des Fahrzeugs. Somit würde auch der letzte Abschnitt ihrer Anreise eine Saunafahrt werden. Nun ja, darauf kam es jetzt nicht mehr an. Lotte spürte den Schweiß sowieso schon überall. Ihre Klamotten schwammen wie nach einem Tennis-Match mit Tante Konstantina, und ihre langen blonden Haare klebten an ihr wie ein vollgesogener Putzlappen.

Torben ließ das Fenster wieder herunter.

„Ich habe doch gesagt, du sollst es zulassen!“

„Aber ich gehe hier ein vor Hitze! Du hättest mich fahren lassen sollen. Mit meiner Kiste wäre das nicht passiert.“

„Ich steige nicht bei Leuten ein, die nicht Auto fahren können.“

„Jetzt bloß nicht wieder die Leier, ja?“

Torben beteuerte immerfort, sich gebessert zu haben, aber Lotte traute ihm nicht. Ihr kleiner Bruder war ein notorischer Raser. Mit zwanzig hätte er es allmählich besser wissen sollen, doch erst vor einigen Wochen hatte er sich mit seinem Wagen überschlagen. Der Vorfall hatte das Beziehungsende mit seiner Jugendfreundin Anita zur Folge gehabt. Mit ihm Schluss zu machen, war ihre erste Amtshandlung gewesen, nachdem sie im Krankenhaus nach einem dreitägigen Koma die Augen wieder aufgeschlagen hatte.

„Jetzt! Schau nach rechts!“, rief Torben. „Da hinten! Das Küstengewässer. Wie ich gesagt habe. Der Ribnitzer See im Saaler Bodden. Gleich fahren wir auf die Halbinsel, dann sind wir am Meer. Jedenfalls so gut wie.“

Die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst an der mecklenburgischen Küste maß eine Gesamtlänge von etwa fünfundvierzig Kilometern. Bis zu ihrem Ziel waren es noch mehr als zwei Drittel davon, wie Lotte dem Navi entnahm. Wenigstens war die Gegend schön anzusehen, wo das Auto schon ein erdrückender Schmelztiegel geworden war. Malerische Fischerhäuser, eingebettet in sattgrüne Orgien von Blumenbeeten, Ligusterhecken und Obstbäumen zeichneten das sommerliche Landschaftsbild. Kurz nach Dierhagen tat sich am rechten Fahrbahnrand endlich das Meer auf, wenngleich es nur das Küstengewässer zwischen dem Festland und der Halbinsel war. Linksseitig, zur offenen See hin, versperrten Ferienanlagen und Parks die Sicht.

Lotte folgte dem empfohlenen Straßenverlauf noch einige Kilometer, dann entschloss sie sich spontan, auf einen parallel verlaufenden Weg entlang der Ferienhäuser zu wechseln.

„Warum biegst du ab?“, fragte Torben.

„Ich will endlich das Meer sehen!“, antwortete Lotte gereizt. „Auf ein paar Minuten länger kommt es jetzt auch nicht mehr an! Ich will das Meer sehen. Nur für einen Augenblick.“

Neuberechnung erfolgt“, trug das Navi zur Diskussion bei.

Als nur noch die Dünen des Sandstrandes sowie vereinzelte Gräser und Bäume die Straße vom Wasser trennten, fuhr Lotte langsamer. Im prallen Sonnenlicht glitzerte die Ostsee so saphirblau wie auf den Postkarten, die ihnen Oma ab und an geschickt hatte. An dem ockerweißen Sandstrand zeichneten sich zwischen bunten Sonnenschirmen zahllose Körper ab, im strandnahen Wasser weitere. Draußen ergänzten weiße Segelboote das Bild. Unverwandt heftig erwachte eine Sehnsucht in Lotte. Sie wollte aussteigen und sich dem Treiben anschließen. Aber sie beherrschte sich.

„Mann, ist das geil hier“, staunte auch Torben. „Warum hat sie uns nie eingeladen? Ich meine, ein Haus am Strand, das lockt doch den trägsten Stinkstiefel an. Denk dir nur mal, wie wir hier mit Freunden hätten abfeiern können! Nun ja, das können wir ja immer noch. Hör mal, wenn wir genug Platz haben, würde ich gern einige Leute einladen. Ich habe Facebook-Freunde in der Gegend.“

An der vom Meer abgekehrten Straßenseite reihten sich in ausladende Gärten eingebettete Ferienhäuser aneinander. Die meisten waren Fachwerkhäuser mit dunklen Holzstreben und weißen Fensterrahmen, gekrönt von hohen Dachgeschossen mit eingelassenen Gauben. Ein solches Kaliber erwartete Torben vermutlich auch von dem geerbten Haus.

„Jetzt mal langsam“, gebot Lotte. „Es gibt sicher einen Grund, warum Oma uns nie eingeladen hat.“

„Klar, sie hat halt keinen Wert auf unsere Gesellschaft gelegt.“

„Wahrscheinlich ist es nur eine klitzekleine Hütte“, versuchte Lotte seine Erwartungen zu bremsen. „Wir stellen uns immer ein Ferienhaus vor, aber vielleicht ist das viel zu hoch gegriffen. Vermutlich ist es nur ein Häuschen. Eine Hütte. Sie hat garantiert nicht in so einem Bunker, wie denen hier, gewohnt.“

Torben beäugte sie skeptisch von der Seite. „Na herzlichen Dank. Ich habe jetzt die grandiose Horrorvorstellung, wie du und ich uns ihr altes Bett teilen müssen. In Laken, die immer noch nach ihr riechen.“

Lotte lenkte den Wagen auf die Straße zurück und fuhr schneller. Noch eine gute halbe Stunde, dann wären sie endlich am Ziel. Auspacken, einrichten und ihr Erbe besichtigen genoss längst keine Priorität mehr. Lotte wollte sich ins Meer stürzen. Das war im Augenblick ihr einziger Antrieb. Bei Wustrow war die Landzunge so schmal und spärlich bewachsen, dass man es auf beiden Seiten sehen konnte. Salzige Seeluft wehte durch den Wagen. Am liebsten hätte sie einfach angehalten und der Versuchung nachgegeben.

„Falls das Haus wirklich so klein ist“, grübelte Torben vor sich hin, „wo sollen wir dann Issi unterbringen? Sie wird wahrscheinlich in ein paar Tagen nachkommen.“

Es war später Nachmittag, als das Navigationsgerät sie nach einem Stück Wald von einer schmalen geteerten Straße auf einen unbeschilderten Pfad lotste. Büsche und Felsen am Wegesrand machten ihn sehr unübersichtlich. Seewinde hatten ihn mit feinen Sandkörnchen gepudert. Neben einer ungepflegten Hecke verkündete das Navi ihre Ankunft am Ziel. Lotte ließ den Wagen ausrollen und blickte sich ratlos um. Der Wall aus Hainbuche gleich zu ihrer Rechten überragte das Auto um mindestens das Doppelte und war nicht zu überschauen. Auf der anderen Wegseite war hinter dotterfarbenen Felsformationen und im Wind winkenden Wogen von Dünengras der Strand zu erahnen. Doch es gab weder Häuser noch Fahrzeuge. Und auch keine Menschen.

„Hier sind wir wohl kaum richtig!“, maulte Torben. „Wann hast du das Navi denn zuletzt upgedatet?“

„Es ist nagelneu.“

„Hey, schau mal da!“ Torben deutete voraus, wo etwas Blaues aus der Hecke stach. „Ist das ein Briefkasten?“

Es war tatsächlich einer. Eine türkisblaue US-Mailbox auf einem hölzernen Stützpfeiler. Die himmelwärts zeigende rote Schwenkfahne signalisierte, dass der Briefträger etwas hinterlassen hatte. Lotte fuhr näher heran und hielt vor einem schmalen Durchlass. Es gab kein Gartentürchen, doch durch die etwa einen Meter breite Schneise in der verwilderten Hecke blinkte ein Stück Fachwerkhaus hervor, weiß und dunkel gemustert.

„Ha! Wir sind da! Das muss es sein!“, jubelte Torben und riss die Wagentür auf. Schon war er draußen und schlüpfte durch den Wall.

Lotte verharrte noch, atmete tief durch und drehte beinahe feierlich den Zündschlüssel. Das Motorengeräusch erstarb. Die plötzliche Stille war eine ungeheuere Wohltat. Nach einer erschöpfenden wie schweißtreibenden Fahrt durfte sich nun endlich Entspannung einstellen. Sie waren am Ziel.

„Hey, wo bleibst du denn?“, rief Torben von irgendwo her.

„Komme schon“, raunte Lotte der Windschutzscheibe zu und stieg aus. Eine warme, salzige Brise blies ihr ins Haar und benetzte ihre Haut mit Sand. Es tat gut und weckte Erinnerungen an ihr Schulabschlussjahr, als sie mit drei Freundinnen die westfriesischen Inseln bereist hatte. Am Himmel zogen Möwen ihre Kreise.

„Jetzt komm schon!“, rief Torben ungeduldig. „Und bring den Schlüssel mit!“

An der Heckenschneise nahm ein brüchiger Pflasterpfad seinen Anfang und mündete an einer himmelblauen Haustür. Sie sah frisch gestrichen aus, was aber nicht darüber hinwegtäuschte, dass Wind und Wetter sie im Laufe von Jahrzehnten ziemlich geschunden hatten. Das dazugehörige Haus war kleiner als die prachtvollen Feriendomizile entlang der Landzunge und dennoch größer, als Lotte erwartet hatte. Grob geschätzt hatte es bestimmt die Grundfläche eines durchschnittlichen Klassenzimmers, und unter einem hohen, spitzen Ziegeldach gab es noch ein komplettes Vollgeschoss. Die Fensterrahmen waren sattgrün gestrichen und schufen mit sonnengelben Blumenkästen und der leuchtend blauen Haustür einen warmen Kontrast zu den weißen Mauern und den dunklen Holzstreben.

„Gar nicht übel, was?“, meinte Torben anerkennend. „Sie hätte uns ruhig mal einladen können. An Platz hätte es ihr nicht gefehlt.“

Von irgendwoher wehte Musik zu ihnen herüber. Unaufgeregtes Geklampfe auf einer Akustikgitarre. Lotte schaute sich um. Es gab noch ein Nachbarhaus, dessen identisch aussehendes Dachgeschoss über die Hainbuchenhecke ragte. Wahrscheinlich kam die Musik von dort. „Es sieht alles so gepflegt aus.“ Sie registrierte den frisch gemähten Rasen.

„Stimmt. Umso besser. Wir sind ja nicht zum Schuften da.“

„Oma ist schon seit neun Wochen tot. Wahrscheinlich kümmert sich der Nachbar um das Grundstück.“

„Wo hast du denn jetzt den Schlüssel?“, drängte Torben.

Lotte fischte ihn aus ihrer Tasche und Torben schnappte ihn ihr aus der Hand. Bevor er den Schlüssel ins Schloss führen konnte, schwang die Tür jedoch von selbst auf. Im Rahmen erschien ein mittelgroßer Kerl in zerknitterten Boxershorts und offenem Hemd und stierte sie aus müden, graugrünen Augen an. Er hatte halblange kastanienfarbene Haare, die zerfranst und fettig auf seine Schultern fielen, und war bemerkenswert schlecht rasiert. Er mochte geringfügig älter als Lotte und ihr Bruder sein. In der einen Hand hielt er einen losen Bogen Papier, mit der anderen wischte er wie in Zeitlupe eine störende Haarsträhne aus seinem Blickfeld. „Wer seid ihr denn?“, krächzte er mit trockener Stimme.

Lotte fehlten vor Überraschung die Worte.

Torben sprang ein. „Wer wir sind? Wer bist du?“, fuhr er den Fremden an. „Sind wir hier etwa falsch? Wie ist denn die Adresse?“

Wahrscheinlich ist das Nachbarhaus das richtige, schloss Lotte stumm.

Der Fremde musterte sie eindringlich und sein Blick blieb an ihrem Gesicht kleben. Seiner ungepflegten Erscheinung zum Trotz sah er gut aus, fand sie. Unter seinen Bartstoppeln und dem stoischen Ausdruck verbargen sich weiche Gesichtszüge. Aber von ihm ging eine fast greifbare Lethargie aus. Sie schlug Wellen wie die See und machte aus einem verwegenen Alternativen einen trägen Langweiler. „Ihr seid wohl die Enkel“, konstatierte er. „Tja, dann macht’s euch mal bequem.“

Damit ließ er die beiden stehen und trottete über den Rasen die Hauswand entlang.

Lotte wechselte einen Blick mit ihrem Bruder. Das hier war vollkommen absurd.

„He! Jetzt warte mal!“ Torben eilte dem Kerl hinterher. „Was soll das? Wer bist du und was machst du hier? Das ist doch unser Haus? Oder nicht?“

Mit Torben im Genick verflüchtigte sich der Fremde um die Hausecke.

„Wahrscheinlich“, hörte Lotte ihn brummen.

Sie lief den beiden nach und sah, wie Torben mit ihm um den Papierbogen rang.

„Lass das los! Lass das los, du Lackaffe! Lass los!“

„Erst wenn du mir erklärst, was hier abgeht!“, blaffte Torben zurück. „Was hast du da?“

„Torben, bitte lass ihn! Wir können das sicher irgendwie aufklären.“ Lotte war von der langen Fahrt vollkommen geschlaucht und alles andere als auf Streit aus. Sie wollte jetzt ihre Ruhe, ihre schweißverklebten Klamotten loswerden und sich endlich ins Meer stürzen. Von den zahlreichen Fragen, die ihr auf der Zunge brannten, wusste sie keine auszuformulieren.

Der Fremde entriss Torben seine Papiere und ging auf eine Hängematte zu, die zwischen der Hauswand und einem heckenhohen Apfelbaum gespannt war. Die Äpfel waren noch grün und unreif. Unter einer knallgelben Markise standen zwei Motorroller, ein Rasenmäher und eine dunkelhölzerne Sitzgarnitur.

„Was macht ihr denn schon wieder für einen Krach?“, rief plötzlich jemand von oben.

Lotte sah hinauf. Eins der großen Gaubenfenster war geöffnet worden und eine langhaarige Blondine schaute auf sie herab. Das schmale, blasse Gesicht eines Kerls mit dunkler Pilzfrisur schob sich neben sie.

„Das sind die Enkel“, raunte der Typ mit den Papieren, bevor er sich mit wenig Elan in die Hängematte schwang.

Die Blondine oben blühte wiederum förmlich auf. „Ihr seid Luises Enkel? Großartig!“ Sie strahlte wie die Sonne. „Toll, dass ihr endlich da seid! Wir haben uns schon auf euch gefreut! Passt auf, wir spielen die beiden Stücke noch zu Ende, dann kommen wir runter und lernen euch kennen. Bis gleich!“

Die Blonde und der blasse Pilzkopf verschwanden wieder, das Fenster wurde geschlossen. Lotte verstand die Welt nicht mehr. Auch Torben schien gerade um Worte verlegen, was sehr selten vorkam. Kurz darauf setzte wieder Gitarrengeklampfe ein und jemand, vermutlich die Blondine, begann zu singen.

Von der Vorderseite des Hauses wurden Gekicher und Geschnatter laut, dann kamen zwei weitere Leute um die Ecke. Zwei junge Frauen. Eine korpulente Rothaarige mit abstehenden Pippi-Langstrumpf-Zöpfen und eine Schlanke mit so kurzen Kopfhaarstoppeln, dass überall die Haut durchschimmerte. Beide waren barfuß und hatten bunte Handtücher um die Leiber geschlungen.

„Wenn die Karre draußen euch gehört, seid ihr wohl die Enkel, oder?“, meinte die Rothaarige und kam mit aufdringlich ausgestreckter Hand auf Lotte zu. „Die Autonummer verrät euch. Wir haben uns schon gefragt, wann ihr kommt. Tja, schön, dass ihr es endlich geschafft habt, hey.“

Die Hand anzunehmen und förmlich zu schütteln war eine reine Reflexhandlung von Lotte. „Entschuldigt mal, aber was geht denn hier eigentlich vor?“, fragte sie nicht halb so scharf, wie sie beabsichtigt hatte.

Die Rothaarige ignorierte sie und wandte sich stattdessen an den Kerl in der Hängematte. „Mensch, Christoph, sag bloß, du hast dich endlich aufgerafft! Echt toll, ich bin beeindruckt.“ Sie hatte eine kindlich knarzige Reibeisenstimme, wodurch sie ihre Ähnlichkeit mit Pippi Langstrumpf noch einmal bestätigte.

„Jaaaaa. Lasst mich in Ruhe“, murrte der Angesprochene, ohne den Blick von seinen beschmierten Blättern zu nehmen.

Die Schlanke mit den Stoppelhaaren trat vor Torben hin und kniff ihm kühn in die Wange. Sie war nur ein wenig kleiner als er. „Was da für ein hübsches Bürschchen zu uns kommen wird, hat uns unsere Luise nicht gesagt. Nicht, dass mir das was ausmachen würde. Habt ihr Bier dabei?“

Torben wehrte ihre Hand ab, schien aber wie Lotte zu perplex, um etwas Sinnvolles zu erwidern. Der Stoppelhaarigen schien das zu gefallen. Ihre Lippen kräuselten sich amüsiert, dann ließ sie ihn mit einem verspielten Augenzwinkern stehen und widmete sich dem Hängemattentyp. „Freut mich, dass du es endlich geschafft hast. Wir sind stolz auf dich, Christoph.“

Was hat er denn geschafft?, fragte sich Lotte. Sich von der Couch in die Hängematte zu begeben?

In ihrem Kopf begann es endgültig zu schwirren, als zwei weitere Leute um die Ecke bogen. Dieses Mal waren es junge Kerle: ein weißblonder Pummeliger und ein Schlanker mit feuchter, schwarzer Kurzhaarfrisur. Beide hatten ihre Handtücher über den Schultern hängen. Badehosen trugen sie nicht.

„Luises Enkel sind da“, verkündete ihnen die Rothaarige.

„War mir klar, als ich das Auto gesehen hab“, meinte der Pummelige und hielt mit einem breiten Grinsen auf Lotte zu. „Wie schön, dass ihr endlich zu uns gefunden habt! Wir haben lange auf euch gewartet! Marcel Vielleben ist mein oft benutzter Name“, stellte er sich geschäftig beim Händedruck vor. „Und das ist mein Kumpel Severin. Severin Altmeier. Nicht halb so alt, wie sein Name vermuten lässt.“

„Ist mir eine Freude“, sagte der andere und grüßte mit einem dezenten Kopfnicken.

Ein gut aussehender Kerl, befand Lotte in Ermangelung einer nützlicheren Denkrichtung, die ihr ihr Kopf gerade standhaft verweigerte. Hohe Wangen, weiche Züge, sanft dreinblickende dunkelbraune Augen. Ein ziemlicher Blickfang – erst recht ohne Klamotten. Marcel war das auch. Er war kernigerer Natur. Ein harter Kinnschwung, eine breite Nase und anscheinend auch ein größeres Geltungsbedürfnis.

„Nun, ihr beiden seht das Haus zum ersten Mal, oder?“, fragte er launig und gestikulierte, als müsse er Lotte auf das Haus hinweisen, damit sie es bemerkte. „Ihr werdet feststellen, es ist in bestem Zustand. Luise hat nur sagen müssen, was zu tun war, und wir haben es besorgt. Die Markise war Severins Idee.“ Er schob Lotte an den Hüften ein Stück näher, damit sie die Markise auch nicht übersah.

„Wir haben eine Alternative zum Esszimmer gebraucht“, fügte der Schwarzhaarige, Severin, hinzu. „Luise hat viel Wert auf gemeinsame Mahlzeiten gelegt, und der Tisch in der Küche hat selten für alle gereicht. Habt ihr euch drinnen schon umgesehen? Wenn nicht, ich führe dich gern herum.“

Lotte fühlte sich von den beiden Nackten schon beinahe bedrängt, als sich Severin ohne eine Antwort abzuwarten abkehrte und Torben mit einem flüchtigen Handschlag begrüßte. Der aufdringliche Marcel wiederum überrollte sie mit weiteren Ausführungen.

„Zwischen dem Apfelbaum und der Hecke steht ab Herbst unser Treibhaus. Da bauen wir Feldsalat und Radieschen an. Siehst du die umgegrabene Fläche? Wir haben es auch mit Knoblauch probiert, aber das gibt der Boden leider nicht her. Im Herbst wollen wir es in einer anderen Ecke noch einmal versuchen, deiner Oma zu Ehren, aber ich wette, das schlägt fehl. Haben du oder dein Bruder ein Händchen fürs Gärtnern? Luise war ja verdammt gut darin. Ihre Tomaten letztes Jahr waren ein Gedicht. In knapp zwei Monaten werden wir die ersten ernten können. Habt ihr die Stauden an der Rückseite schon gesehen?“

„Ich will jetzt endlich wissen, wer ihr seid!“, donnerte Torben, wofür Lotte überaus dankbar war. Nicht, dass sie auf eine Konfrontation aus war, doch irgendjemand musste hier für Klarheit sorgen – und Marcel und seinen Redeschwall bremsen. Der fuhr wie aufs Stichwort herum, um nun Torben zu überfallen. Im ersten Moment fürchtete Lotte schon, er würde ihn in die Arme schließen, was ihrem leicht reizbaren kleinen Bruder bestimmt nicht gefallen hätte. Doch Marcel begnügte sich mit einem kumpelhaften Schulterschlag.

„Ach ja, du bist Torben, was? Luise hat uns eine Menge Fotos von euch gezeigt“, erklärte er. „Da wart ihr noch kleine, süße Scheißerchen. Die Fotos haben ihr viel bedeutet. Stimmt doch, oder, Christoph?“

Der Angesprochene ließ nicht mehr als ein Grunzen aus dem Hintergrund hören. Was in aller Welt war das hier für ein Haufen? Lotte überlegte, ob ihnen hier irgendwer einen Streich spielte. Isabella zum Beispiel. Womöglich war ihre Cousine schon angereist und inszenierte dieses Schmierentheater für sie. Zuzutrauen wäre es ihr.

„Ihr hättet ruhig früher schon mal vorbeikommen können“, fuhr Marcel aufgeräumt fort. „Luise hätte sich gefreut. Und wir natürlich auch. Jeder Impuls bereichert das Leben, und jeder Input bedeutet Inspiration. Wo habt ihr beiden bloß so lange gesteckt? Besseres Wetter abgewartet? Jetzt habt ihr es jedenfalls gut erwischt.“

Der Kerl stand anscheinend gern im Mittelpunkt und genoss es, wenn alle an seinen Lippen hingen. Lotte war angehende Bankfachwirtin und kannte solche Typen aus ihrem Studiengang. Dort trugen die Jungs allerdings meistens schicke Anzüge und nicht nur ein Handtuch über den Schultern. Severin gab sich zurückhaltender und flüsterte gerade der noch namenlosen Stoppelhaarigen etwas ins Ohr. Lotte hatte Mühe, ihre Blicke nicht zu den Penissen der beiden Jungs zu lenken.

„Eure Ankunft müssen wir natürlich feiern“, proklamierte Marcel nun wieder in Lottes Richtung. „Den Grill hätten wir sowieso angeschmissen. Kaufen wir halt ein paar Steaks mehr. Die Holzkohle ist fast alle, fällt mir ein. Wie sieht es aus, können wir euren Wagen benutzen?“

„Nein!“, erwiderten Lotte und Torben im Chor, und Torben legte nach: „Hier wird gar nichts gegrillt! Packt eure Sachen und verschwindet aus unserem Haus!“

Nun stimmten die anderen einen Chor an, einen Chor aus lang gezogenen Uuuhs und Ooohs. Dazu klampften von oben wie zur dramatischen Untermalung die Gitarren. Aus der Fassung ließ sich keiner bringen. Marcel, geduldig und gönnerhaft lächelnd, unternahm einen erneuten Versuch, Torben kumpelhaft die Schulter zu klatschen.

Dieses Mal aber schlug Torben seine Hand beiseite. „Lass mich in Ruhe und fang zu packen an!“, schnauzte er dem nackten Dicken ins Gesicht.

Die Stoppelhaarige meldete sich zu Wort. „Hört, hört, der ungehörig laute Mann hier möchte uns rauswerfen. Ich frage mich, wie er das anstellen will“, flötete sie Torben maliziös zu. „Was meint ihr, wird er uns einen nach dem anderen mit einem Fußtritt vor die Tür befördern? Ist er derart stark und mutig?“

„Uuuuuuh“, machten die anderen spöttisch.

„Wir rufen die Bullen, ganz einfach“, blaffte Torben zurück.

„Hervorragende Idee. Lasst euch am besten zu Hauptmeister Kunze durchstellen. Der schaut öfter bei uns vorbei, um beim Malen zu entspannen, weißt du? Und wenn Annika in der Gischtkönigin singt, sitzt er meistens in der ersten Reihe. Rede mit ihm! Er kommt bestimmt gern vorbei. Hat eure Oma sehr gemocht. Mehr als ihr beide, offensichtlich. Sonst wärt ihr schon früher vorbeigekommen und hättet nicht abgewartet, bis sie abtritt und euch das Haus vererbt.“

Das hatte gesessen, wie Lotte auch anhand Torbens kurzer Verlegenheit feststellte. Ihr Bruder war jedoch schnell wieder bei der Sache. „Wie habt ihr sie reingelegt?“, fuhr er die Stoppelhaarige an. „War sie senil? Oder habt ihr sie bedroht? Erpresst? Ihr habt das Haus besetzt und sie um ihre Rente betrogen, was?“

„Wir! Haben! Sie! Nicht! Betrogen!“, tönte eine aufgebrachte Stimme durch den Garten. Der Hängemattentyp stand plötzlich auf beiden Beinen und erfasste Torben mit lodernden Augen, als wolle er ihn rösten.

Torben wich vor Respekt sogar einen Schritt rückwärts und taumelte gegen Marcel.

Über Lotte wurde wieder das Fenster aufgestoßen. „Könntet ihr vielleicht bitte noch ein paar Minuten eure Klappen halten?“, schalt die Blondine. „Oder streitet euch woanders weiter! Das nervt und bringt uns ständig raus!“

Hinter ihr zupfte jemand weiter Gitarrensaiten.

Lotte wurde es zu viel. „Ich muss hier weg.“ Es war nur ein Hauchen, das ihre Kehle verlassen hatte, doch alle schienen es gehört zu haben. Sie kehrte der Bande den Rücken zu.

„Hey! Warte mal!“, rief Torben. „Jetzt sag doch auch mal was! Die haben unser Haus besetzt!“

Das sehe ich selbst, lag Lotte auf der Zunge. „Wie komme ich am einfachsten zum Strand?“, fragte sie stattdessen.

„Den Weg noch fünfzig Meter weiter, dann zweigt ein Pfad ab“, erklärte Pippi Langstrumpf.

„Danke.“

Als Lotte im Kofferraum nach Handtuch und Bikini kramte, kam Torben hinzu. „Wo willst du denn jetzt hin?“

„Habe ich doch gesagt. Ins Meer“, antwortete Lotte. „Fang mit denen keinen Streit an, während ich weg bin, okay?“

„Keinen Streit? Den haben wir längst! Die haben sich in unserem Haus festgesetzt!“

„Ist mir aufgefallen.“

„Warum sagst du dann nichts? Wir können uns das nicht gefallen lassen! Das Haus gehört uns!“

„Ich habe jetzt keinen Nerv, Arschtritte zu verteilen. Ich will endlich aus diesen Klamotten raus und ins Meer. Kommst du mit?“

„Scheiße, nein!“, erwiderte Torben. „Am Ende sperren die uns noch aus! Und klauen unseren Wagen!“

„Das glaube ich nicht.“

„Ich schon! Die müssen Oma irgendwie reingelegt haben. Ich meine, das ergibt doch alles überhaupt keinen Sinn, oder?“

„Sehr komisch ist das alles, ja.“

„Mehr hast du dazu nicht zu sagen?“

„Torben, ich bin erschöpft und will mich jetzt einfach nur erfrischen.“

„Na, cool! Super! Dann mach nur.“ Er hob theatralisch beide Hände und trat einen Schritt zurück. „Erfrische dich. Während ich um unser Haus kämpfe.“

„Tust du nicht!“, erwiderte Lotte schärfer. „Wir klären das später, okay? Und zwar mit Worten, nicht mit Fäusten.“

„Dafür kann ich nicht garantieren.“ Torben fuhr herum und enterte erneut ihr Erbgrundstück.

Lotte stöhnte resigniert. Sie wusste, dass sie ihn nicht aufhalten konnte, und unternahm erst gar keinen Versuch. Sie fand den sandigen Pfad zwischen den Felsen, den die Rothaarige erwähnt hatte, und erblickte nach einer lang gezogenen S-Kurve endlich das offene Meer. Ruhig und rhythmisch schickte es Wellen ans Ufer und glänzte in der spätnachmittäglichen Sonne, die Lotte halbseitig blendete. Weit draußen punkteten kleine Segel den Horizont. Dies hier war kein offizieller Badestrand und wäre als solcher mit seinen zahlreichen Felsen zwischen dem Sand wohl auch nicht geeignet gewesen.

Mit ihrem spärlichen Badegepäck machte sich Lotte auf den Weg zum Wasser, wo sie die lange Reise endlich von sich abwaschen wollte. So weit ihre Augen reichten, verlief die Küste gerade und formte weder Buchten noch Zungen. Etwa fünfhundert Meter südwärts tat sich hinter einem sandbraunen Felsenturm ein Heer aus Sonnenschirmen auf. Aus den rückwärtigen Baumreihen stachen einige Häuser hervor. Nach Norden hin gab es nur vereinzelte Sonnenschirme und keine Häuser mehr. Irgendwo dort begann das Naturschutzgebiet.

Als die ausrollenden Wellen schon fast an ihren Turnschuhen leckten, ließ Lotte ihre Sachen fallen. Zwanzig Meter den Strand hinauf stieg ein Pärchen aus dem Wasser. Nackt – was Lotte anhand von Marcel und Severin schon erwartet hatte. Auch sie schwamm und sonnte sich lieber ohne Kleidung. Sie ließ den Bikini bei dem Handtuch und ihren verschwitzten Klamotten und stürzte sich in die Ostsee.

Die so lang ersehnte Erfrischung elektrisierte sie geradezu. Elan und Tatkraft kehrten zurück. Nicht so viel, dass sie nachher die Hausbesetzer mit Arschtritten davonjagen würde, aber genug, um sich wieder wohlzufühlen. Lotte tauchte kraftvoll unter den flachen Wellen hindurch und schmeckte genüsslich das Salz auf ihren Lippen. Als sie aus dem Wasser schoss, wurde sie von einer Welle überrollt, doch das war einkalkuliert. Sie machte sich lang und ließ sich von der nächsten ein Stück weit zum Strand zurücktragen. So fühlt sich Freiheit an, dachte sie bei sich und freute sich auf die vor ihr liegende freie Zeit bis zum Herbstsemester.

Als sie Sand zwischen ihren Zehen spürte, kehrten auch ihre Gedanken auf den Boden der Tatsachen zurück. Da hatten sich Fremde in Omas Haus eingenistet. Wenn Isabella ihnen keinen Streich spielte, waren diese Typen echt, und das bedeutete Komplikationen. Torben hatte schon recht. Irgendwas ging da nicht mit rechten Dingen zu. Oma hätte ihren Enkeln doch nicht ihr Haus vererbt, wenn sie irgendwelche Spinner darin wohnen lassen wollte. Lotte erinnerte sich vage, dass es in England irgendein altes Gesetz gab, das Hausbesetzern Besitzansprüche zugestand, wenn die Besetzung nur lange genug aufrechterhalten wurde. Ob es so etwas auch in Deutschland gab, wusste sie nicht, aber vielleicht war das der Plan dieser Typen.

Sie tauchte noch einmal unter, um sich mental für die Konfrontation mit ihnen zu wappnen. Als sie kurz darauf aus den Wellen stieg, bemerkte sie eine Gestalt in kurzer schwarzer Hose und weißem Hemd, die bei den Felsen stand, wo der Pfad zum Haus zurück seinen Anfang nahm. Sicher war sich Lotte nicht, aber das konnte der Hängemattentyp sein. Christoph. Schnüffelte er ihr nach? Lotte überlief ein Schauer. Von all den Typen war er der merkwürdigste, soweit sie das bisher ermessen konnte. Während sie sich abtrocknete, verzog er sich ohne Hast den felsigen Schlangenpfad hinauf.

 

Liebende Hausbesetzer

 

Entgegen Torbens Befürchtungen war ihr Wagen nicht geklaut worden, wie Lotte feststellte. Allerdings stand eine Blondine in einem luftigen Blümchenkleid an der Beifahrerseite und glotzte neugierig durch die Seitenscheibe.

Lotte ging näher heran. Sie trug nun ihren Bikini, das Handtuch um die Hüften und ihre verschwitzten Klamotten in einem Knäuel in beiden Händen. „Soll ich entriegeln? Von innen schnüffelt es sich bestimmt leichter.“

Die Blonde fuhr herum. Nicht unvermutet war es die Sängerin aus dem Dachgeschoss. Ein unaufdringliches Lächeln zierte ihr Gesicht. Eine Schönheit, ohne Zweifel. „Schnüffeln ist nicht meine Absicht. Ich kann dir mit dem Gepäck helfen.“

„Ich weiß noch nicht, ob wir hier einziehen“, entgegnete Lotte reserviert. „Wo ist mein Bruder?“

„Palavert hinten mit den Jungs. Warum solltet ihr nicht einziehen? Es ist euer Haus.“

„Aber ihr haltet es besetzt.“

„Wenn wir zusammenrücken, geht es schon.“

„Und wenn wir euch raushaben wollen?“

„Das wäre schade.“

Lotte seufzte und legte ihren Klamottenhaufen vorsichtig auf der brennend heißen Kühlerhaube ab.

„Bring sie in die Waschküche“, riet ihr die Blondine. „Am Montag ist Waschtag.“

„Und wo ist die Waschküche?“

„Ach so, du warst ja noch nicht im Haus. Also los, komm, ich führe dich herum. Ich bin übrigens Annika.“

„Lotte.“

„Klar, weiß ich. Eure Oma hat von euch erzählt.“

Lotte erinnerte sich an etwas, das sie vorhin im Garten in Verbindung mit dem Namen Annika vernommen hatte. „Weshalb bist du die Gischtkönigin?“, fragte sie.

Annika grinste. „Ich bin nicht die Gischtkönigin, ich singe dort nur manchmal. Und Patrick spielt Gitarre. Die Gischtkönigin ist eine Musikkneipe in Prerow.“

Lotte nahm ihren Klamottenhaufen wieder auf und schlüpfte hinter Annika durch die Heckenschneise. Ums Hauseck hörte sie angeregte Wortfetzen der Jungs.

„Die lassen wir mal lieber unter sich“, meinte Annika und hielt auf die offene Haustür zu.

„Was für Musik macht ihr denn?“, fragte Lotte. „So Hippie-Zeug aus den Sechzigern und Siebzigern?“

„Oh nein, nicht doch.“ Annika winkte ab. „Das ist mir viel zu altbacken. Die Musik an sich ist zum Teil ja durchaus gut, aber die Texte und Botschaften sind einfach überholt. Was damals revolutionär und richtig war, ist heute rückständig und nicht weiter spektakulär. Wir spielen Songs zeitgenössischer Liedermacher und natürlich eigene Stücke. Patrick schreibt fast Tag und Nacht. Das meiste verwirft er wieder, selbstkritisch, wie er ist. Manchmal muss ich ihn dafür ohrfeigen, weil er auch wirklich gute Sachen fallen lässt.“

Annika auf den Fersen betrat Lotte einen lichtlosen Mittelflur mit je zwei Türen rechts und links und einer Holzstiege am entfernten Ende, die nach oben führte. Die warme Luft war stickig, es roch nach altem Holz.

„Die Waschküche ist hinten links.“ Annika öffnete die letzte Tür vor der Stiege und gestikulierte Lotte hinein. Diese Waschküche war auch ein Badezimmer, wie sie feststellte, und kein kleines. Es gab eine rechteckige Badewanne, eine Dusche mit einem gelb geblümten Vorhang, eine Toilette und ein großes Waschbecken. Die grellgrünen Wand- und Bodenfliesen wirkten überladen und kitschig, genauso wie die bonbonfarbenen Gardinen an den beiden Fenstern. Draußen lag der schattige Garten. Lotte erspähte eine leere Wäschespinne.

„Schmeiß deine Sachen einfach dazu“, sagte Annika. „Bald kommen sie in die Maschine.“

An der rückwärtigen Wand stand eine monströs große Waschmaschine, wie Lotte noch keine zuvor gesehen hatte. Daneben lag ein bunter, ungeordneter Haufen unterschiedlichster Kleidungsstücke. An einer Wäscheleine entlang der Wand hingen Handtücher, auf einem Schemel in der Ecke stand eine Großpackung Waschpulver, darunter befanden sich weitere Flaschen und Päckchen. Putzzeug verwahrte vermutlich der schmale Holzschrank in der anderen Ecke. Daneben gab es noch eine unscheinbare Tür.

„Da drin ist die Heizung. Und der Warmwasserboiler. Das Öl reicht noch locker für den kommenden Winter.“

„Wie lange wohnt ihr hier schon?“, fragte Lotte. Hatte sie sich im Meer noch klar und gestärkt gefühlt, fühlte sie sich jetzt wieder überfordert von dieser grotesken Situation.

„Schon seit Jahren“, antwortete Annika. „Aber nicht permanent. Nur, solange es uns guttut. Wenn es die inspirativen Säfte verlangen, verziehen wir uns.“

„Die inspirativen Säfte.“

„Genau die. Na los, wirf deine Sachen hin. Dann zeige ich dir den Rest des Hauses.“

Neben der Waschküche befand sich die Speiseküche mit einem wuchtigen Esstisch und acht uneinheitlichen Stühlen drum herum. Der Tisch war sauber, nicht aber die Küchenablage und der Herd. Leere Gläser und benutztes Geschirr waren liegen geblieben. Von ihren Kommilitonen war Lotte allerdings Schlimmeres gewöhnt.

„Eure Oma war eine großartige Köchin“, sagte Annika. „Ich habe eine Menge von ihr gelernt, werde ihr aber nie das Wasser reichen können. Kannst du kochen, Lotte?“

„Spiegeleier, Back-Camembert und Fertigpizzas bekomme ich glänzend hin.“

Annika grummelte gequält. „Irgendwie schon eine Schande, dass unsere Generation das Kochen verlernt, oder? Wir verlassen uns auf diesen abgepackten Mist aus der Tiefkühltruhe. Dabei ist Kochen die vielleicht größte Kunst von allen. Wir nehmen uns für alles Mögliche Zeit, aber nicht fürs Kochen und Genießen.“

Lotte schwieg, weil sie auf so eine Diskussion jetzt keine Lust hatte. Im Grunde hatte sie zu gar nichts Lust. Dieser Urlaub hatte einen miserablen Anfang genommen und ihre Laune war im Keller.

Der Raum gegenüber war ein Wohnzimmer, das zu einem Schlafareal umfunktioniert worden war. Die Couch war ausgezogen, damit zwei Leute darauf übernachten konnten. Zerknüllte Kopfkissen und Decken ließen keine Zweifel daran aufkommen, dass das auch geschah. Auf den hölzernen Bodendielen lagen noch zwei weitere bestückte Matratzen. Um den nötigen Platz zu schaffen, hatte man den Beistelltisch und einen Sessel aufeinandergestapelt und in eine Ecke verbannt. Hinter den gläsernen Ziertüren des Wohnzimmerschrankes erspähte Lotte Klamotten, Shampoo und Getränkeflaschen, die Anrichte mit dem Fernseher war mit Papieren zugekleistert, auf dem Stück Boden davor stand ein aufgeklappter Laptop.

„Es ist schon ein bisschen eng, aber wir sind immer zurechtgekommen“, erläuterte Annika. „Letzten Sommer hat Marcel drei Schauspieler herbeigezogen und sie vorübergehend bei uns einquartiert. Da war es dann wirklich eng, sage ich dir. Wir mussten uns schon überlegen, im Garten ein Zelt aufzuschlagen.“

„Schauspieler?“ Lotte verstand immer weniger. Willkürliche Szenen von Staraufläufen bei irgendwelchen Filmfestivals geisterten durch ihren Kopf.

„Mit denen hat er in Prerow seinen ersten Film verwirklicht“, bestätigte Annika. „Leider will ihn bislang kein Sender haben.“

Eins der Fenster war gekippt und Lotte hörte ihren Bruder, der mit den anderen draußen aggressiv diskutierte.

„Marcel macht also Filme?“

„Klar, er ist Regisseur. Hat die Filmhochschule in Potsdam besucht. Aber nicht sehr lange, dann hat er abgebrochen.“

„Also … du und Patrick, ihr seid Musiker. Und Marcel macht Filme und bringt Schauspieler mit. Seid ihr hier so eine Art Künstlerkommune?“

„Ja, könnte man so sagen.“

„Aber wieso hier? Wieso unter dem Dach unserer Oma?“

„Weil es toll hier ist“, antwortete Annika schulterzuckend. „Und weil eure Oma es so gewollt hat. Wir haben uns wohl bei ihr gefühlt. Und sie hat sich über uns gefreut.“

Lotte musterte sie und fragte sich, wie viel von all dem sie glauben konnte. „Was machen denn die anderen?“, fragte sie. „Sind das auch Künstler?“

„O ja doch“, behauptete Annika. „Severin und Wanda malen. Ziemlich gut sogar, wenn du mich fragst. Christoph schreibt. Gedichte und Novellen und so. Und Ursula spielt Dudelsack in einer Mittelaltercombo. Sie macht aber auch als Schauspielerin eine gute Figur. Letztes Jahr hat sie in Marcels Film mitgewirkt. Er dreht bald wieder einen, und Ursula wird dabei sein.“

Lotte sondierte ihre Möglichkeiten. Sie und Torben waren in der Unterzahl. Mit roher Gewalt würden sie diese Bande nicht loswerden. Es blieb nur die Polizei. Doch denen klarzumachen, wem dieses Haus gehörte, wäre nicht so einfach. Womöglich hatte das Grundbuchamt die neuen Eigentumsverhältnisse noch gar nicht nachgetragen. Fürs Erste war Geduld gefragt.

Das Zimmer nebenan war Lagerraum und Maleratelier zugleich. Schwarz-Weiß-Kritzeleien auf großen Papieren kleisterten den Boden zu, beschmierte Leinwände hingen an den Wänden oder warteten auf Staffeleien, verkleckerte Farbtuben lagen willkürlich auf Klapptischen herum und verschandelten die Fenstersimse. In einer gelben Plastikwanne voll dunkel gefärbtem Wasser hinter der Tür lagen mindestens ein Dutzend Pinsel. Unscheinbar und fast unsichtbar in all dem Chaos waren die Getränkekisten an der hinteren Wandseite, die gestapelten Packungen Klopapier, ein Staubsauger und ein Regal, in dem die Kommune Nudeln, Reis, Zucker, Zahnbürsten, Zigaretten und anderen Alltagskram lagerte.

„Ein bisschen unaufgeräumt hier“, gab Annika zu.

„Ein klein bisschen“, merkte Lotte bissig an.

Durch eins der Fenster sah sie Torben, Marcel und Severin an dem Tisch unter der Markise sitzen. Marcel redete wild gestikulierend auf Torben ein, der so finster dreinschaute, als hätte man ihm gerade den Führerschein genommen.

Annika winkte Lotte zu einer der Staffeleien. „Na komm. Wanda und Severin haben sicher nichts dagegen, wenn du dir ein paar Bilder ansiehst.“

„Danke, kein Interesse.“ Lotte kehrte dem Chaos den Rücken. Draußen im Flur stand sie vor der Holzstiege. Sie schaute hinauf. Wie viele unangenehme Überraschungen würden da oben wohl noch folgen? Wie aufs Stichwort setzte Gitarrengeklampfe ein. Verursacher war wahrscheinlich der blasse Pilzkopf, Patrick. Er fabrizierte einen ruhigen, rhythmischen Klangteppich. Lottes Empfindungen hätten nicht gegensätzlicher sein können. In ihrem Inneren tobte eine Kakofonie. Am liebsten hätte sie einfach losgeschrien. Aber damit würde sie diese Typen wohl kaum aus dem Haus vertreiben.

„Das ist Irish Rain von Leaves’ Eyes“, erklärte Annika hinter ihr. „Den Song spielen wir bei fast jedem Auftritt. Kennst du ihn?“

Lotte schüttelte den Kopf, und versuchte gefasst zu bleiben. Annikas leichtfüßige Offenheit und ihre anhaltend gute Laune machten es ihr nicht einfacher.

Annika stieg die Stufen hinauf. „Komm, Patrick hat nichts dagegen, wenn wir kurz reinschauen.“

Oben gab es ein zweites, kleineres Badezimmer, was schon mal ein guter Anfang war. Das nächste Zimmer, in das Lotte sah, war das, aus dem die Gitarrenklänge kamen. Der Pilzkopf hockte in der Raummitte auf einem Schemel und zupfte vor sich hin. Er schaute auf, als Lotte hineinspähte, schien sie aber nur bedingt wahrzunehmen. Für etwas so Banales wie einen Gruß unterbrach er sein Spiel nicht.

„Am besten stören wir ihn nicht weiter“, riet Annika.

Lotte ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Auf dem weißen Teppich lagen Notenblätter aus, unter der Dachschräge außerhalb der Gaube lehnten zwischen Mikrofonständern zwei schwarze Gitarrenkoffer an der Wand. Der klobige Kasten mit vielfarbigen Tasten und Knöpfen war wohl ein altes Mischpult. Rundherum hatte sich eine Menge Kabelsalat angesammelt. Weitere Instrumente scharten sich in einer entlegenen Ecke. Lotte identifizierte Trommeln, einen Dudelsack, eine Schalmei und eine Klarinette. Auch ein Bett gab es, das zu ihrem Erstaunen sogar sorgfältig gemacht war. Ob der danebenstehende Kleiderschrank tatsächlich als solcher benutzt wurde, blieb offen.

„Der Raum hat eine brauchbare Akustik, deshalb proben wir hier meistens“, erklärte Annika. „Trotzdem ist er eigentlich zu klein dafür.“

Dann sucht euch halt was anderes, wollte Lotte schon herausschmettern, sie behielt es aber für sich.

Der nächste Raum war Omas Schlafzimmer und Lotte fand es geradezu pietätlos, dass sich die Bande auch hier festgesetzt hatte. Christoph lümmelte in einem Sessel und hatte ein Notebook auf seinem Bauch stehen. Dem pink bezogenen, ungemachten Doppelbett nach zu schließen, schlief hier drin auch jemand. Und wahrscheinlich nicht nur das.

„Oh, entschuldige“, sagte Annika. „Wir wollten nicht stören. Ich dachte, du wärst noch draußen bei den anderen.“

„Keine Chance“, entgegnete Christoph affektiert und schenkte Lotte einen gelangweilten Blick. „Ihr Bruder ist ein entsetzlicher Störfaktor.“

Nun platzte Lotte der Kragen. „Ein entsetzlicher Störfaktor?“, fauchte sie den Kerl an und wurde lauter. „Er ist es nicht, der ein Haus besetzt, in dem er nichts zu suchen hat! Er ist es nicht, der sich im Schlafzimmer einer toten Frau ausbreitet! Ihr seid das! Ihr seid hier der Störfaktor! Und deshalb haut ihr jetzt ab! Raus mit euch! Raus! Raus aus diesem Haus! Verpisst euch!“

Sie hatte mit ihrem Ausbruch genug Eindruck gemacht, um den lethargischen Kerl auf seine Füße zu holen. Nun wirkte er nicht mehr träge, sondern verlegen. Im Zimmer gegenüber hatte auch das Gitarrenspiel aufgehört.

Lotte machte weiter, denn jetzt war sie in Fahrt: „Wage es nicht noch einmal, mich oder meinen Bruder als Störfaktor zu bezeichnen! Das hier ist unser Haus! Unser Haus! In dem ihr nichts zu suchen habt! Verschwindet! Packt euren Scheißkrempel zusammen und verschwindet!“

Der Kerl starrte sie glasig und ausdruckslos an. Lotte erwartete eine Retourkutsche oder wenigstens eine Rechtfertigung, aber eine solche kam nicht. Christoph nahm sein Notebook auf und stürmte an Annika und ihr vorbei aus dem Zimmer.

„Das hättest du nicht tun sollen“, sagte Annika leise.

„Ach, und warum nicht?“, fuhr Lotte sie an. „Hab ich etwas Falsches gesagt? Das ist unser Haus!“

„Ja, mag sein“, gab Annika zu. „Aber Christoph ist sehr sensibel. Er steckt so was schlecht weg.“

„Das ist mir gerade so was von egal“, raunzte Lotte und stampfte ebenfalls aus dem Zimmer in den Flur zurück.

Annika folgte, Christoph polterte die Holzstiege hinunter. Lotte wollte ihm noch etwas hinterherschleudern, aber dann ließ sie es dabei bewenden. Der Kerl wirkte schon fertig genug.

„Er ist in ein tiefes Loch gestürzt und kommt erst jetzt langsam wieder daraus hervor“, sagte Annika strenger als zuvor. „Mach es ihm bitte nicht schwerer, als es schon ist. Weißt du, ich finde es ziemlich schwach, wie du und dein Bruder euch hier aufführt.“

Lotte verspürte den drängenden Wunsch, sie an ihrem Kleidchen zu packen und ordentlich durchzuschütteln. „Wie wir uns hier aufführen? Ihr haltet unser Haus besetzt! Ihr habt euch Omas Sachen unter den Nagel gerissen und bringt sogar die Frechheit auf, in ihrem Bett zu schlafen!“

„Tut mal nicht so, als hätte euch eure Oma irgendwas bedeutet“, schoss Annika unterkühlt zurück. „Ihr seid einzig und allein wegen des Hauses hier. Eure Oma war euch in all den Jahren vollkommen egal. Uns nicht! Wir waren ihre Freunde. Ihre Familie! Und Christoph …“ Annika unterbrach sich, und Lotte hatte das unangenehme Gefühl, dass sie gerade tief in sie hineinblickte. „Christoph hat sie geliebt. Aufrichtig – wie man nur irgendjemanden lieben kann.“

Lotte brauchte eine Weile um das Gesagte zu begreifen. „Was?“, entfuhr es ihr dann fassungslos.

„Du hast mich schon verstanden“, erwiderte Annika. „Was meinst du, warum er seit Wochen kaum ihr Schlafzimmer verlässt? Christoph hat Luise geliebt. Und tut es noch.“

Lotte fehlten die Worte, und aus Gründen, die sie selbst nicht verstand, fühlte sie sich plötzlich schlecht und schäbig. Durfte sie das glauben? Christoph und ihre Oma sollten ein Liebespaar gewesen sein? Oder war das nur ein mieser Trick, um … ja, um was eigentlich?

„Du solltest ein wenig sanfter zu ihm sein“, fuhr Annika fort. „Wenn ihr darauf besteht, wird er das Zimmer bestimmt freigeben.“

„Wir können darauf bestehen, dass ihr das gesamte Haus freigebt.“

„Könnt ihr, aber dann werdet ihr auf Widerstand stoßen. Wir gehen hier seit Jahren ein und aus. Damit ist das Gewohnheitsrecht auf unserer Seite.“

Lotte wusste, dass es ein Gewohnheitsrecht gab, aber nicht, was es bedeutete, darum schwieg sie dazu.

Jemand trampelte die Stiege herauf. Es war Severin und Lotte stellte dankbar fest, dass er inzwischen eine Hose anhatte.

„Was war denn das für ein Geschrei gerade?“, fragte er.

„Nichts weiter“, erklärte Annika ruhig. „Lotte musste nur ein wenig Dampf ablassen. Die lange Fahrt, die Hitze …“

Severin nickte wissend und verständnisvoll. „Habe ich mir schon gedacht. Ich finde es toll, dass ihr endlich hier seid. Vielleicht könnt ihr die Leere füllen, die Luise hinterlassen hat.“

„Ich habe nicht den Eindruck, dass hier Platz für uns ist“, erwiderte Lotte schroff. „Von wegen Leere.“

„Quatsch!“, wischte Severin den Einwurf beiseite. „Nebenan ist noch genug Raum. Komm! Schau es dir an! Wir helfen euch mit dem Gepäck.“

Severin öffnete die Nachbartür und winkte Lotte hinein. Den Fingerzeig mit dem nicht ausreichenden Platz, dem er und seine Freunde einfach mit ihrem Auszug hätten entgegenwirken können, hatte er entweder nicht verstanden oder er überspielte ihn gekonnt.

Das Nachbarzimmer war eine Art Rumpelkammer. Schemel, Sessel, kniehohe Vasen, ungebrauchte Blumenkästen, ein kleines Podium, zwei Kamerastative, Blenden, eine faltbare Trennwand, ein mächtiger Scheinwerfer und anderer Kram drängten sich entlang der Wände, aber es blieb genug Raum übrig, um ein oder zwei Betten aufzustellen. Ob solche zur Verfügung standen, war fraglich. Lotte sah sich schon am Fußboden auf ihrer Isomatte schlafen.

„Marcel hat hier ein paar Teile verstaut, aber das meiste hat Luise gehört“, sagte Severin. „Sie hatte ein Faible fürs Fotografieren. Wusstest du das?“

„Nein“, antwortete Lotte ehrlich. „Was hat sie denn fotografiert?“

„Vor allem Landschaften. Die Postkarten, die sie euch immer wieder mal geschickt hat, waren ihre Werke. Ich hoffe, ihr habt sie gut aufgehoben.“

Das glaube ich kaum, dachte Lotte, wollte es aber nicht sagen.

„Ihr könnt natürlich schlafen, wo immer ihr wollt“, räumte Severin großzügig ein. „Es ist schließlich euer Haus.“

„Schön, dass ihr euch daran erinnert.“

Draußen wurde das penetrante Summen von Motorrollern laut.

„Ah, Ursula und Wanda kommen zurück.“ Severin rieb sich die Hände. „Dann gehe ich mal den Grill befeuern. Sag Bescheid, wenn’s ums Gepäck geht, klar?“

Er rauschte davon, Annika blieb wie Lottes personifiziertes schlechtes Gewissen zurück und beäugte sie durchdringend, als warte sie auf etwas. Eine Erklärung. Eine Rechtfertigung. Oder eine Entschuldigung.

„Unsere Oma hatte also ein Verhältnis mit Christoph, wie?“, fragte Lotte, um die Stille zu durchbrechen.

„Das scheint dir nicht zu gefallen“, meinte Annika.

Lotte zuckte mit den Schultern und schlüpfte an ihr vorbei in den Flur hinaus. „Geht mich nichts an. Gibt’s auch einen Keller?“

„Ich habe mein eigenes Haus noch nicht einmal besichtigen können“, klagte Torben. „Worauf muss ich mich gefasst machen?“

„Auf das Schlimmste“, antwortete Lotte.

Sie bfanden sich etwas abseits der anderen im hinteren Teil des Gartens. Nicht weit von ihnen stand Severin an einem gemauerten Grill inmitten der getrimmten Rasenfläche, wo er mit Feuer und Föhn Holzkohle zum Glühen brachte. Marcel und die stoppelhaarige Ursula saßen rauchend unter der Markise. Vielleicht besprachen sie den Film, den sie angeblich drehen wollten. Ihre süffisanten Blicke in ihre Richtung ließen Lotte jedoch anderes vermuten. Ein Stockwerk höher klampfte Patrick fortwährend in seinem Zimmer. Wo die anderen steckten, wusste Lotte nicht.

„Was machen wir jetzt?“, raunte Torben. „Wie werden wir die Typen los?“

„Wenn ich das nur wüsste.“ Lotte hätte gewettet, dass Marcel und Ursula ähnliche Überlegungen anstellten. Die Kommune hatte sie und ihren Bruder freundlich willkommen geheißen, doch diese Freundlichkeit war garantiert aufgesetzt gewesen. Nur Schauspielerei. Irgendwie hatten sie Oma übertölpelt und mit ihnen hatten sie nun wahrscheinlich dasselbe vor. „Im Moment können wir nicht viel tun. Ich schlage vor, wir fügen uns erst mal.“

„Fügen? Wir sollen mit denen Bett und Küche teilen?“

„Wenn du eine bessere Idee hast, rück raus damit. Ich bin ganz Ohr.“

Torben kaute verbissen auf seinen Lippen und stierte zur Markise. „Hab ich nicht. Fuck! Nein, hab ich nicht. Aber es gefällt mir nicht, so einfach nachzugeben. Ich meine, die lachen uns doch aus!“

„Schaffen wir erst mal alles nötige Gepäck rein“, schlug Lotte vor. „Oben in der Rumpelkammer ist Platz für uns.“

„Rumpelkammer?“, fuhr Torben auf. Die anderen drehten ihre Köpfe. „Wir sollen in einer Rumpelkammer übernachten?“

„Mach jetzt nicht wieder Theater. Komm!“

Die beiden passierten die Sitzenden unter der Markise, die sie stumm musterten, als Severin zu ihnen aufholte. „Mein Angebot steht. Ich helfe euch mit dem Gepäck.“

„Nicht nötig“, erwiderte Torben borstig.

„Danke“, entgegnete Lotte versöhnlich. „Kann die Holzkohle so lange auf dich verzichten?“

„Das Risiko gehe ich ein“, erklärte Severin mit einem breiten Lächeln und wandte sich an Torben. „Hey, Torben! Hast du jemals bei blassem Vollmond mit dem Teufel getanzt?“

Torben zog eine finstere Grimasse. „Was ist das denn für eine bescheuerte Frage?“

„Schon gut.“ Severin winkte ab und stolzierte auf die Heckenschneise zu. „Ich wollte nur herausfinden, ob du ein Filmefreak bist.“

Severin wirkte bester Dinge. Torben hingegen fühlte sich einmal mehr vorgeführt, das sah Lotte ihm deutlich an. Sie tat gut daran, ihren kleinen Bruder in Sichtweite zu behalten. Er wähnte sich bereits um sein Haus betrogen. Ihn jetzt auch noch zu verspotten, war keine gute Idee.

Lottes Blick fiel auf die US-Mailbox mit der nach oben zeigenden Schwenkfahne. „Habt ihr keine Zeit, den Briefkasten auszuleeren?“

„Doch, schon“, antwortete Severin. „Wir haben auch schon zwei Rechnungen bezahlt, die Luise nach wie vor bekommt. Das Päckchen, das da gerade drin liegt, ist allerdings ausdrücklich an euch beide adressiert, darum haben wir es drin gelassen.“

„Ein Päckchen an uns?“

Torben entriegelte die Klappe, langte hinein und zog ein braunes Kuvert hervor. Lotte nahm es in Augenschein. Eine feingliedrige Handschrift nannte in der Tat ihre Namen zur hiesigen Adresse.

„Aber kein Absender“, kommentierte Torben.

„Luise ist der Absender“, sagte Severin. „Das ist ihre Schrift. Und schaut euch mal den Poststempel an.“

Lotte tat es – und erschauderte. 15.05., war deutlich zu lesen. Am Morgen des Sechzehnten war ihre Leiche am Strand angeschwemmt worden.

„Sie hat dieses Kuvert am Tag vor ihrem Tod verschickt? An uns adressiert und an diese Adresse?“

Severin nickte. „Es ist zwei Tage nach ihrem Tod hier angekommen.“

„Aber warum sollte sie das tun?“, blaffte Torben ihn an. „Und noch dazu ausgerechnet einen Tag vor ihrem Tod?“

„Wisst ihr …“ Severin senkte kurz den Blick und kratzte sich verlegen am Hinterkopf, „wir sind uns eigentlich alle ziemlich sicher, dass Luise nicht einfach so ertrunken ist. Sie ist oft nach Einbruch der Dunkelheit an den Strand gegangen und war eine gute Schwimmerin. Wir glauben, nun ja, dass eine Absicht dahinter gesteckt hat.“

„Was?“, erwiderten Lotte und Torben gleichzeitig.

„Hört zu, das sollten wir wohl besser in einer ruhigen Minute besprechen“, schlug Severin vor und visierte den Kofferraum an, aber Torben hielt ihn fest. „Sie … sie soll sich umgebracht haben?“

„Weiß ich nicht, aber es spricht einiges dafür. Sie war eine ausgezeichnete Schwimmerin, wie gesagt.“

Lotte war fassungslos. Weniger über die Information selbst, sondern weil sie jetzt so beiläufig davon erfuhren. Selbst Torben schien zu verblüfft, um wütend zu sein.

Severin ging zum Kofferraum. „Tut mir leid, wir wollten euch das eigentlich behutsamer beibringen. Na ja, vielleicht täuschen wir uns ja auch. Vielleicht erklären sich einige Dinge, wenn ihr dieses Päckchen öffnet.“

„Das hätte sie uns auch nach Hause schicken können“, sagte Lotte. „Und wenn sie wollte, dass wir es erst hier bekommen, warum hat sie es dann überhaupt bei der Post aufgegeben und es nicht einfach in der Küche liegen gelassen?“

„Ist doch klar, warum“, zischte Torben unheilvoll. „Wegen denen da.“ Damit benickte er Severin abfällig.

Von dem aber prallte die Anschuldigung ohne jegliche Wirkung ab. „Mach dich nicht lächerlich. Wir standen Luise näher als irgendwer sonst. Sie hat uns vertraut. Und wir haben ihr vertraut.“

„Warum gibt sie dieses Kuvert dann zur Post?“ Torben wurde lauter. „Am Tag, bevor sie sich umbringt?“

„Keine Ahnung!“, erwiderte Severin. „Wir haben uns das auch schon gefragt. Wahrscheinlich will sie euch damit irgendetwas sagen. Sperrst du jetzt den Wagen auf, Lotte?“

„Ich wette, ihr habt sie in den Selbstmord getrieben.“

„Glaubst du? Vielleicht war es auch ihre Familie. Ihr wisst schon, die, die sie verstoßen hat und dann nichts mehr von ihr wissen wollte.“

Der Vorwurf hätte richtig gesessen, wäre Lotte durch das Gespräch mit Annika nicht auf dergleichen vorbereitet gewesen. „Oma ist nicht verstoßen worden, sie ging aus freien Stücken“, rechtfertigte sie sich. „Keine Ahnung, was sie euch erzählt hat, aber niemand hat sie gezwungen, Opas Lebensversicherung in ein Strandhaus zu investieren und von uns wegzuziehen.“

„Wie du meinst“, lenkte Severin schulterzuckend ein. „Öffnest du jetzt den Kofferraum, damit wir anfangen können?“

Torben warf in jeden Raum düstere Blicke, bevor sie die Stiege erklommen. Annika und Pippi Langstrumpf, die eigentlich Wanda hieß, werkelten in der Küche, die anderen Zimmer waren menschenleer. Oben war es still. Patrick und seine Gitarre hatten offensichtlich eine Pause eingelegt.

„In dem Zimmer hier ist am meisten Platz“, sagte Severin und stieß die Tür in den großen Abstellraum auf. „Ihr könnt freilich nächtigen, wo ihr wollt, aber hier kriegen wir erst mal euer Gepäck unter. Falls ihr Luises Schlafzimmer beziehen wollt, würde ich euch bitten, noch einen Tag abzuwarten. Christoph fängt sich gerade erst wieder. Es wäre nicht gut, ihn so überstürzt da rauszuwerfen.“

„Wie bitte?“, blökte Torben angriffslustig. „Soll das heißen, einer von euch schläft in Omas Bett?“

„Die beiden hatten ein Verhältnis“, klärte Lotte ihn auf.

Torben blieb stehen und Lotte sah, wie es in seinem Kopf arbeitete. „Jetzt wird mir einiges klar“, sagte er bedrohlich. „So war das also. So seid ihr hier reingekommen. Ihr müsst diesem langhaarigen Faltenficker ja sehr dankbar sein. Habt ihr ausgewürfelt, wer sich dafür hergibt, die alte Lady zu vögeln?“

Severin ließ die Reisetasche fallen und baute sich vor Torben auf. „Jetzt hör mir mal zu.“ Er sprach ruhig, doch jedes Wort war eine Drohung. „Ob Enkel oder nicht: Solltest du es noch einmal wagen, das, was Luise und Christoph miteinander hatten, zu verhöhnen, dann bekommst was auf die Nuss, dass dir Hören und Sehen vergeht.“

Torben ließ sich nicht einschüchtern. „Von wem? Von dir etwa?“

„Lasst das, Jungs“, ging Lotte dazwischen. „Das bringt doch nichts.“

„Ihr beide wisst rein gar nichts über eure Oma, nicht wahr?“, fuhr Severin fort. „Darum schlage ich vor, ihr holt das nach, bevor ihr sie posthum beleidigt. Anfangen könntet ihr mit ihren Fotos.“

„Wer beleidigt sie denn?“, erwiderte Torben aufgebracht und wuchtete seine Tasche auf die Bodendielen, womit er sich zum Kampf bereit erklärte.

„Du beleidigst sie“, sagte Severin. „Luise war eine großartige, eine intelligente, warmherzige und gütige Frau. Du verspottest sie, wenn du glaubst, sie wäre auf Christoph oder uns reingefallen.“

„Komm jetzt, geh weiter, Torben.“ Lotte drängte ihren Bruder sanft in die Rumpelkammer. „Wir haben ein Zimmer einzurichten. Gibt’s irgendwo noch ein Klappbett oder wenigstens eine Matratze?“

„Da lässt sich was organisieren“, versprach Severin mit unverwandtem Blick auf Torben.

Der wiederum gab ebenfalls ein Versprechen ab: „Wir finden schon raus, was ihr hier für ein Spiel treibt. Verlasst euch drauf.“

Als sie und Torben kurz darauf zwischen all dem Gerümpel und den Film- und Fotografieutensilien allein waren, ließ sich Lotte erschöpft in einen alten quietschenden Sessel fallen. Eine Staubwolke erhob sich daraus.

Torben riss endlich das Kuvert auf. „Wäre doch gelacht, wenn wir die nicht loswerden“, murmelte er vor sich hin. „Vielleicht finden wir hier drin Beweise. Vielleicht ist es ein Hilferuf von Oma. Die lügen uns doch an! Von vorne bis hinten!“

Lotte wollte das jetzt nicht diskutieren. Vielleicht würde der Inhalt des Kuverts für sich selbst sprechen. Zum Vorschein kam ein Buch im Taschenformat. Torben überprüfte, ob sich noch mehr in dem Kuvert befand, was aber nicht der Fall schien. Er ließ es achtlos fallen und nahm sich das Buch vor.

„Was ist das?“, fragte Lotte.

Torben blätterte hastig hin und her. „Alles handgeschrieben. Wahrscheinlich ein Tagebuch oder so was. Omas Tagebuch wohl. Scheiße, was sollen wir damit?“

„Wenn ich raten soll: lesen“, sagte Lotte und nahm einen tiefen Atemzug.

„Das könnte genauso gut gefälscht sein. Nur weil dieser Typ behauptet, das wäre Omas Handschrift, muss es noch lange nicht so sein. Lotte, die ziehen hier irgendwas ab! Vielleicht haben sie Oma in den Tod getrieben! Wer weiß, vielleicht haben sie sie sogar mit eigenen Händen umgebracht! Und vielleicht wollen sie auch uns loswerden.“

„Du steigerst dich da in was rein.“

„Natürlich steigere ich mich da rein. Lotte, die haben sich unser Erbe unter den Nagel gerissen!“

„Bis jetzt wohnen sie nur hier.“

„Das ist doch dasselbe.“

„Wir werden sehen.“

„Und wie sollen wir sie loswerden?“

„Ich weiß nicht. Heute jedenfalls nicht mehr. Ich bin zu fertig von der Fahrt, um noch irgendwas zu tun. Wir richten uns jetzt hier ein, dann essen wir friedlich mit denen zu Abend, und morgen sehen wir weiter. Vielleicht finden wir in dem Buch Antworten.“

„Na dann, viel Spaß beim Lesen“, meinte Torben und ließ das Buch in Lottes Schoß fallen, bevor er hinausstampfte.

Ursula, die Dudelsackspielerin, war auch die Grillmeisterin. Lotte ließ sich von ihr ein saftiges Steak auf den Teller legen und belud den noch freien Platz mit Tomatensalat. Wandas Schafkäsesalat ging sie aus dem Weg, weil er sehr seltsam roch. Torben hingegen hatte seinen halben Teller damit vollgemacht, wie Lotte feststellte, als sie unter die Markise zurückkehrte und neben ihm Platz nahm. Ihr gegenüber hockte Marcel und schob ihr zuvorkommend Ketchup und Schaschlik-Dip neben den Teller. Zu trinken gab es Mineralwasser und ein gläsernes Weißwein-Fässchen auf einem Sockel in der Tischmitte. Lotte begnügte sich mit Mineralwasser. Als Severin nach dem Grillschmaus Asbach, Wodka und Jägermeister auftrug, ließ sie sich zu einem Jägermeister überreden. Marcel hielt ihr eine offene Zigarettenpackung hin. Lotte lehnte wie Torben ab. Ihr Bruder hatte den ganzen Abend lang noch kein Wort gesagt. Sein Schweigen war beunruhigend, doch es war ihr lieber, als würde er wieder Streit suchen. Mit Streit war dieser Konflikt nicht zu gewinnen.

Neben Torben gab es noch jemanden am Tisch, der kaum ein Wort redete: Patrick, der fahlhäutige Gitarrenfreak mit der Pilzkopffrisur. Er schien sowohl das Essen als auch die Gesellschaft der anderen nur als einen leider lebensnotwendigen Prozess zwischen seinen Klampforgien zu begreifen, der ihm kostbare Zeit raubte, die er auch mit dem Komponieren neuer Songs zubringen könnte. Umso gesprächiger war Annika neben ihm, sie schäkerte immerfort mit Severin und versuchte dann und wann, auch Lotte und Torben einzubeziehen. Wanda gab sich ebenfalls Mühe, eine lockere, ungezwungene Atmosphäre zu schaffen. Dazu trug auch Marcel bei, der Lotte ausführlich seine Ambitionen als Filmemacher näherbrachte und ihr sogar eine kleine Rolle in Aussicht stellte, falls sie Interesse hätte. Lotte lehnte höflich ab und gaukelte nicht minder höflich Interesse für den Rest von Marcels Ausführungen vor. Viel lieber hätte sie mit Christoph gesprochen. Der aber saß am weitesten von ihr entfernt. Vielleicht, weil Lotte ihn in Omas Schlafzimmer so angefahren hatte. An einem Gespräch mit ihm führte über kurz oder lang kein Weg vorbei, wollte Lotte das Geschehen in diesem Haus und die Rolle ihrer Oma begreifen.

„Scorseses beste Tage sind vorbei“, erläuterte Marcel mit einer Gewissheit, als spräche er von der Farbe des Himmels. „Mit Gangs of New York hat er noch Konventionen zerschmettert. Spiegel vorgehalten. Finger tief in Wunden gelegt. Aber danach? Ich meine, hey, das waren doch nur noch Wohlfühlfilme mit Alibihandlung und ein bisschen obligatorischer Gewalt, um die Moralapostel kirre zu machen. Nein, Scorseses beste Zeiten sind vorbei. Weißt du, wen ich für maßlos unterschätzt halte? Paul Verhoeven! Kritiker nageln ihn gern auf seine drastischen Sex- und Gewaltdarstellungen fest und blenden – freilich bewusst – aus, dass jeder seiner Filme schon per se ein Schlag in deren kleinmütige Fressen ist. Verhoeven war schon vor zwanzig Jahren die Antwort auf unsere pervertierte Zeit und steckt all die anderen in die Tasche. Seine frühen Hollywoodklassiker entpuppen sich inzwischen als wahr gewordene Visionen. Ich liebe es, wie er in seinen Filmen mit der Systempresse abrechnet. Der Mann war damals seiner Zeit voraus und ist es heute mehr denn je.“

„Aha“, kommentierte Lotte und hörte nur mit halbem Ohr zu. Wandas und Ursulas Plauderei über die Avancen eines notgeilen Gemüsehändlers in Prerow fand sie bedeutend interessanter.

„Was hast du denn schon für Filme gemacht?“, fragte Torben. Anhand seines Tonfalls erkannte Lotte, dass er nach Munition suchte, um auf Marcel zu schießen.

„Einen Kurzfilm, letztes Jahr vollendet“, verkündete Marcel salbungsvoll. „Der Titel ist Stadtwolf. Zwanzig Minuten lang eisenharter Stoff über die Dekadenz städtischer Mentalität.“

„Nie davon gehört“, erklärte Torben triumphierend.

„Kein Wunder, er wurde noch nicht ausgestrahlt.“

„Warum nicht? Ist er so scheiße?“

Es war nicht zu übersehen, dass er damit einen wunden Punkt in Marcel getroffen hatte. Der aber blieb trotzdem gefasst. „Das dauert nun mal seine Zeit. Ich stehe in Kontakt mit ARTE. Andere Programme kämen sowieso nicht infrage. Die sind viel zu vorsichtig und Stiefel leckend. Die digitale Vermarktung und Verbreitung beginnt im Herbst.“

„Auf ARTE läuft nur Müll“, legte Torben nach und nippte geziert an seinem Drink.

Lotte wusste, dass er auf dem Sender ein oder zwei Serien verfolgte. Er wollte Marcel nur provozieren.

„Wäre schon toll, wenn das mit ARTE klappt“, warf sie ein, um dem entgegenzuwirken. „Ich wünsche dir Glück.“

Marcel nickte und schien in seine Mitte zurückzufinden. „Danke. Glück ist leider nicht alles. Ihr glaubt ja nicht, womit man da alles zu kämpfen hat. Beziehungen sind vorteilhaft, und wenn man die nicht hat, wird es verdammt hart. Erst recht, wenn man mit seinen Werken gegen gängige Schemen verstößt.“

Marcels Vortrag dauerte fort. Am anderen Tischende tauschten Patrick und Christoph einige belanglose Worte. Deutlich lustiger ging es bei den anderen zu. Severin hob einen von Wandas Pippi-Langstrumpf-Zöpfen an und flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie sich vor Lachen und Kichern beinahe an ihrem Wodka verschluckte. Torben sah von weiteren Provokationen ab, was Lotte als Erfolg verbuchte – auch wenn das zur Folge hatte, dass Marcel mit seinem Monolog über die wegweisende Genialität seines Kurzfilms kein Ende fand. Ursulas Aufruf an alle, den Platz zu wechseln und den weiteren Abend mit Musik zu verbringen, kam einer Erlösung gleich.

Von der Hainbuchenhecke eingeschlossen, war Lotte entgangen, wie die Sonne rötlich eingebettet im Meer versunken war. Sie hätte das Schauspiel gern beobachtet, aber dazu würden sich schon noch Gelegenheiten finden. Inzwischen hatte die Nacht Einzug gehalten und ein leuchtender Sternenteppich bedeckte das Firmament. Die Gruppe nahm auf Decken und Sitzkissen im Umfeld des gemauerten Grills Platz, in dem noch eine Menge Holzkohle glühte. Patrick holte eine Gitarre aus dem Haus, Ursula zauberte eine Mundharmonika aus ihrer Hosentasche und Annika missbrauchte ein Tischtablett und eine halb volle Asbachflasche als Schlagzeug, auf dem sie mit einem Löffel und ihrer Gürtelschnalle spielte. Die Lieder, die sie damit fabrizierten, kamen Lotte vage vertraut vor, doch sie hätte keine Interpreten nennen können. Mitsingen konnte sie auch nicht, wenngleich sie an bekannten Stellen die Lippen bewegte. Sie teilte sich ein Sitzpolster mit Ursula, die ihre gesanglichen Unzulänglichkeiten mit ihrer lauten Mundharmonika kaschierte. Neben ihr fläzten sich Severin und Wanda auf einer Decke. Die beiden sangen laut und ausgelassen, aber auch ziemlich falsch, wie Lotte fand. Der allgemein guten Laune tat das keinen Abbruch, eher im Gegenteil. Auch Lotte fühlte sich davon vereinnahmt, wozu der Jägermeister sicherlich Beihilfe geleistet hatte. Patrick war an der Gitarre sichtlich in seinem Element, und selbst der mürrische Christoph trug dann und wann ein paar Textzeilen zu den Songs bei. Nur Torben kauerte ein Stück abseits der anderen im Dunkeln und verhielt sich still.

„Dylan!“, polterte Marcel. „Ich will jetzt was von Dylan! Ursi, schärf deine Mundharmonika!“

„Nein, bloß nicht Dylan“, wehrte Patrick ab. „Ich würde Adrian Crowley oder die Fleet Foxes spielen, aber die kennt ihr Banausen ja nicht.“

Es waren die ersten Worte, die Lotte bewusst von ihm vernommen hatte. Patrick lebte anscheinend nur auf, wenn er eine Gitarre auf dem Schoß hatte. Auch die anderen riefen ihm Vorschläge zu, nur Wanda und Severin nicht. Und als Lotte den Kopf zu ihnen drehte, sah sie erschrocken, dass Wanda Severins Penis hervorgeholt hatte. Eine seiner Hände war wiederum in ihren Shorts verschwunden. Sofort wandte sie den Blick wieder ab und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Die anderen schienen daran nicht weiter Anstoß zu nehmen.

„Dylan!“, bellte Marcel erneut. „Ohne Dylan gehe ich heute nicht schlafen!“

Lotte wollte gerade einen weiteren Blick zur Seite riskieren, als sich Wanda und Severin schon hastig erhoben und zur Markise eilten. Dort zogen sie sich vollends aus und begannen im Sternenlicht ungeniert zu vögeln.

Von den anderen kam keine Reaktion. Das Musizieren ging unbeirrt weiter, aber da gerade zwei der lautesten Sänger abhandengekommen waren, fehlte es an Gesangskraft. Dafür mischte sich Wandas Gekicher und Gestöhne hinein. Etwa zehn Minuten später war alles vorbei. Provisorisch bekleidet gesellten sich die beiden wieder zu der Gruppe, als ob nichts gewesen wäre. Wanda schenkte ihnen Wodka nach, und der gemeinsame Gesang fand eine Fortsetzung. Nur Torben blieb weiterhin außen vor – bis Ursula mitten in einem Lied aufstand und ihn vor den Grill in ihre Mitte zog. Zu Lottes Überraschung gelang es ihr, Torben zwar nicht zum Mitsingen aber wenigstens grummelnd zum Mitklatschen zu bewegen.

„Die haben eine Riesenmeise, allesamt“, raunte Torben, als sie später leicht angetrunken die Stiege erklommen. „Vor allem die Glatzköpfige. Die hat den größten Schuss.“

„Pssst!“, gemahnte ihn Lotte. Christoph war schon nach oben gegangen, und Lotte wollte nicht, dass er mitbekam, wie Torben über ihn und seine Freunde herzog. Die anderen waren noch draußen, sangen, tranken und rauchten am Grill. Vor allem Marcel war zuletzt ganz schön betrunken gewesen.

„Was für ein mieser Tag, was?“, meinte Torben.

Lotte wollte ihm gewohnheitsmäßig zustimmen, als ihr aufging, dass sie gar nicht so empfand. Ihre nachmittägliche Niedergeschlagenheit war fort. Sie war zum Umfallen müde, aber es war eine angenehme Müdigkeit. Eine, die sich richtig anfühlte.

Nach dem Zähneputzen in dem kleinen Badezimmer betteten sie sich in das Klappbett, das Marcel und Ursula aus dem Nachbarhaus geholt hatten. Ob der Eigentümer davon wusste, hatte Lotte vorsichtshalber nicht hinterfragt.

„Morgen müssen wir Fakten schaffen“, proklamierte Torben und gähnte ausladend. „Ein Dauerzustand ist das jedenfalls nicht.“

Dem stimmte Lotte zu. Zuletzt hatten sie als Kinder im selben Bett geschlafen, wenn Torben bei Gewittern zu seiner großen Schwester unter die Decke gekrochen war. Heute war das nicht mehr so einfach. Lotte war sicher, dass sie in kürzester Zeit einschlafen würde, doch womöglich würde Torben sie im Laufe der Nacht versehentlich auf den Fußboden befördern.

 

Der gezähmte Ork

 

Lotte erwachte im Bett und nicht auf dem Fußboden. Torben war schon auf den Beinen und stand Zähne putzend zwischen dem Gerümpel am Gaubenfenster, durch das der Morgen hereinstrahlte.

„Wie spät ist es?“, fragte Lotte und streckte sich.

„Haw meum“, antwortete Torben, was wohl halb neun heißen sollte.

„Hast du schon herausgefunden, wie es hier um ein Frühstück bestellt ist?“ Lotte schwang sich ebenfalls auf die Beine.

„Meim“, antwortete Torben. Er schaute weiterhin aus dem Fenster. Seine Putzbewegungen hatten etwas Einschläferndes.

„Was ist da draußen?“

Torben gab den Platz kommentarlos frei und schritt aus dem Zimmer ins Bad zurück. Lotte nahm seinen Platz am Fenster ein und erspähte Ursula. Was sie da unten auf dem Rasen trieb, musste wohl Yoga sein – und das splitterfasernackt. Langsame, ausgedehnte Bewegungen. Figuren, die sämtliche Gliedmaßen beanspruchten. Am Kopf hatte sie nur Haarstoppel, weiter unten gar keine.

In der Küche traf Lotte Annika an. Sie schmierte Brötchen an der Spüle, daneben blubberte die Kaffeemaschine.

„Guten Morgen. Habt ihr gut geschlafen?“

Lotte bestätigte das, was nicht gelogen war.

„Bei dem Wetter frühstücken wir natürlich draußen“, führte Annika leutselig aus. „Ihr beide trinkt doch Kaffee, oder?“

Lotte bestätigte noch einmal.

„Gut, dann belade doch schon mal das Tablett. In dem Schrank da ist das Geschirr. Sechs Gedecke.“

„Sechs Gedecke? Sind wir nicht neun?“

„Nein. Wanda, Marcel und Severin sind arbeiten. Die werden nicht vor drei zurück sein.“

„Arbeiten? Du meinst … sie malen und drehen Filme?“

„Quatsch. Sie arbeiten. Du weißt schon. Um Geld zu verdienen. Marcel und Severin jobben in einem Warenhaus für Handwerkerbedarf. Wanda ist gelernte Floristin und macht Gestecke für einen Blumenladen. Was sie von Beruf ist, schimmert auch in den meisten ihrer Bilder durch, wenn du mich fragst. Aber das sag ihr besser nicht.“

„Ich werde bestimmt daran denken.“ Lotte nahm sich den Geschirrschrank vor. „Ihr habt also auch richtige Berufe, nicht nur eure Kunst?“

„Kunst ist meistens so brotlos, wie uns das Sprichwort suggeriert“, erklärte Annika. „Für unsere Auftritte in der Gischtkönigin bekommen wir nur minimale Gagen. Bei den anderen ist es ähnlich. Severin malt fantastisch, aber Geld verdient er damit nicht. Selbst Ursula, die mit ihrer Band bei einem großen Studio unter Vertrag steht, kommt nicht ohne wechselnde Nebenjobs aus. Die Kunst ist keine empfehlenswerte Branche. Und nun gibt’s auch noch selbstgerechte Möchtegern-Politiker, die uns das Urheberrecht streitig machen wollen.“

„Und was machst du?“

„Ich gebe Nachhilfe in Englisch. Tja, und du bist Bankerin, stimmt’s?“

Lotte nickte flüchtig. „Im Moment mache ich eine Fortbildung zur Bankfachwirtin.“

„Ist das dein Traumjob? Bank und so? Wolltest du das schon immer werden?“

„Hat sich halt so ergeben.“

„Machst du es gern?“

„Meistens“, antwortete Lotte ehrlich. „Der Druck von oben ist groß, aber ich denke, ich bewältige das.“

„Du willst also mal hoch hinaus, wie?“

„Wenn es sich ergibt.“ Lotte nahm das beladene Tablett und marschierte davon. Sie wollte jetzt nicht über ihren Job plaudern. Das hier war ihr Urlaub. Er entwickelte sich nicht gerade nach Plan, doch es war ihr Urlaub.

Draußen unter der Markise saßen bereits Ursula und Patrick. Sie quatschten miteinander, aber als sie Lotte um die Ecke kommen sahen, verstummten sie. Ursula trug inzwischen einen pinkfarbenen Morgenmantel. Sie erfasste Lotte mit einem provozierenden Blick. Patrick hingegen wandte sich demonstrativ ab, schenkte sich Mineralwasser ein und starrte griesgrämig die Tischfläche an.

„Der weibliche Anteil des Enterkommandos“, bemerkte Ursula. Sie grinste dabei, aber Lotte wusste, dass sie genau meinte, was sie sagte. Für die Kommune waren sie und Torben die Eindringlinge. Die Störenfriede, die diesen Neohippies ihr Häuschen abspenstig machen könnten – und würden! Lotte wusste nur noch nicht, wie.

„Wo ist dein Bruder? Braucht er ein bisschen Zeit im Badezimmer, nachdem ihm der Ausblick aus eurem Fenster so gut gefallen hat?“

„Du, frag ihn am besten, wenn dich das interessiert!“, gab Lotte zurück, ruhig aber nachdrücklich.

„Gibt’s auch Kaffee zu dem Geschirr?“, meinte Ursula unbeeindruckt. „Und Frühstück?“

„Wie läuft das hier?“, erwiderte Lotte. „Lassen sich jeden Tag dieselben bedienen oder wird gewechselt?“

„Bist es nicht gewohnt, etwas für andere zu tun, was?“

„Wie könnte sie auch“, raunte Patrick. „Sie arbeitet in einer Bank.“

„Was willst du denn damit sagen?“, fragte Lotte mit ehrlichem Interesse.

Patrick sah düster auf und erfasste sie mit seinen dunklen Augen, die angesichts seiner blassen Haut noch stechender zur Geltung kamen. „Es gibt zwei Sorten von Menschen“, sagte er. „Die Schaffenden und die Schmarotzer. Du und deinesgleichen, ihr gehört zu Letzteren.“

„Och, Patrick, nicht jetzt am Anbruch eines so schönen Tages“, wurde er von Ursula getadelt.

Lotte aber hielt Blickkontakt und hockte sich ihm gegenüber. „Erklär mir das näher“, forderte sie ihn auf. Äußerlich gefasst, spürte sie dennoch Zorn in sich aufsteigen. Dabei war es eher lustig. Ausgerechnet einer von denen, die sich bei Oma eingenistet hatten, wollte andere als Schmarotzer betiteln.

Patrick wich ihrem Blick aus und schaute mit einem Anflug von Nervosität um sich, als suche er seine Gitarre. Die finstere Miene blieb ihm erhalten.

„Hier bin ich“, sagte Lotte und schnippte mit den Fingern, um ihm bei der Orientierung zu helfen. „Na los! Erklär mir das näher, was du gerade gesagt hast. Warum sind meinesgleichen und ich Schmarotzer?“

Patrick stierte sie wieder an. „Es gibt diejenigen, die mit ihren Händen etwas erschaffen. Sie planen, sie ernten, sie backen, sie bauen, sie züchten. Und dann gibt es Leute wie dich. Banker. Spekulanten. Heuschrecken!“

„Heuschrecken?“

„Ihr lebt von anderer Leute Arbeit. Ihr stellt dem Wert fremder Arbeit einen Wert in Zahlen gegenüber. Und diese Zahlen blast ihr mit Zinsen auf, um sie noch mal verzinst weiterzuverschieben und der Rendite wegen in immer risikoreichere Pakete zu stecken. Und dann, wenn euch euer Laden um die Ohren fliegt, weil ihr euch milliardenfach verspekuliert habt, muss euch wieder der schaffende Bevölkerungsanteil aus der Patsche helfen. Mit dem Resultat, dass ihr ihn beim nächsten Mal noch mehr bescheißt. Ihr seid Heuschrecken. Um keinen Deut besser als die Sozialschmarotzer, die auf Kosten anderer leben. Ihr habt die Zukunft ganzer Generationen zerstört.“

„War’s das? Bist du fertig?“, entgegnete Lotte. Was anderes als polemische Allgemeinplätze hatte sie von dem Klampfer nicht erwartet und auch nicht bekommen. „Ob du meine Arbeit anerkennst oder nicht, könnte mir nicht gleichgültiger sein. Ich nehme an, du als Musiker zählst dich natürlich zu den Schaffenden, oder?“

„Natürlich“, antwortete Patrick mit einer Aalglätte, die Lotte ihm nicht zugetraut hätte. „Ich trage mit meiner Musik dazu bei, dass für andere der Alltag erträglicher wird.“

„So? Das empfinde ich anders.“ Lotte wusste, dass es ein Tiefschlag war, doch sie konnte ihn nicht zurückhalten. „Vielleicht tätest du dem Alltag einen viel größeren Gefallen, wenn du deine Gitarre im Winter als Brennholz verwenden würdest. Hast du daran schon mal gedacht? Mein Alltag wäre definitiv erträglicher, müsste ich dein Geklampfe nicht länger über mich ergehen lassen.“

„Bitte, hört jetzt auf“, warf Ursula ein. „Der Tag ist viel zu schön für so etwas.“

Dieses Mal hielt Patrick Lottes Blick stand. Ein verletztes Tier focht umso härter. „Ich bin nicht überrascht, dass es dir an Horizont mangelt“, sagte er mit merklich unterdrückter Wut. „In deiner Friss-oder-stirb-Welt gibt es nur Ellenbogen, um sich durchzusetzen. Nichts anderes. Dabei gäbe es so viele Wege. Keine, die du je betreten wirst, zweifelsohne. Nun ja, vielleicht bist du aber wenigstens in der Lage, meine andere Arbeit als produktiv anzuerkennen. Ich bin auch Kurierfahrer, weißt du?“

„Herzlichen Glückwunsch“, gab Lotte zurück.

Patrick erhob sich, als Annika mit dem Frühstückstablett um die Ecke bog. „Das ist der Rest von Luises eingemachter Erdbeermarmelade“, verkündete sie. „Also, genießt es. So etwas kommt nicht wieder.“

„Danke, ohne mich“, meinte Patrick, als er an Annika vorbeirauschte.

„Hey, wo willst du denn hin? Hast du keinen Hunger?“

„Doch, aber mir stinkt die Gesellschaft hier“, brummte er, als er um die Hausecke verschwand.

Nun wurde Lotte doch noch sauer. Was bildete sich dieser Kerl ein? Er besetzte hier gerade ihr Haus, hatte zuvor ihrer Oma auf der Tasche gelegen und wagte es jetzt, von oben auf sie herabzuschauen. Was für eine verkehrte Welt. Lotte hatte gute Lust, die beiden Frauen anzuschreien, aber das brächte sie nicht weiter. Um sie loszuwerden, brauchte es subtilere Mittel. Außerdem hatte sie Hunger und freute sich auf Annikas Kaffee und das Frühstück.

Torben kam wenige Momente später hinzu, als Patrick ein Stockwerk höher gerade zu spielen anfing. Christoph erschien als Letzter. Kurz begegnete er Lottes Blick, dann nahm er den Platz mit dem weitesten Abstand zu ihr ein.

Er ist der Schlüssel, dachte Lotte. Der Schlüssel, die Wahrheit herauszufinden. Falls er kein Theater spielte, war er der labilste der Kommune. Omas Liebhaber, der um sie trauerte. Konnte das wirklich sein?

Dann war da noch das mysteriöse Buch aus dem Kuvert, das gelesen werden sollte. Lotte wollte noch heute damit anfangen. Am besten am Strand, um wenigstens ein bisschen Urlaubsfeeling zu erzwingen. Hoffentlich würde sich auch Torben auf einen gemächlicheren Gang einlassen. Im Moment machte es durchaus den Anschein. Er saß schon fast zehn Minuten am Tisch und hatte noch keinen Streit angefangen.

„Die Marmelade ist also von Oma, wie?“, fragte er Annika.

Die nickte. „Schmeckt’s dir?“

Torben antwortete nicht, aber aß er Annikas geschmierte Brötchen unübersehbar mit Appetit.

„Unsere Oma hat auch Fotos gemacht?“, warf Lotte ein. „Wo finden wir die? Auf einem Rechner?“

„Nicht doch“, entgegnete Annika, die zweifellos die Umgänglichste am Tisch war. „Luise hat immer eine klassische Kamera benutzt, keine Digicam. Das war ihr zu banal. Ihre Kamera müsste sich in eurem Schlafzimmer befinden. Einen Rechner hatte sie nicht.“

„Ich habe aber zwei Laptops im Haus gesehen.“

„Es gibt sogar drei. Der im Wohnzimmer gehört Marcel, der oben gehört Christoph und Patrick und ich haben auch einen für unsere Aufnahmen.“

Christoph streifte kurz ihren Blick, trug aber nichts zum Gespräch bei.

„Und wo sind nun Omas Fotos?“, fragte Torben.

„Im Wohnzimmerbüffet liegen einige Alben“, antwortete Ursula. „In ihrem Schlafzimmer dürften sich weitere befinden.“

Obwohl das sein Stichwort gewesen wäre, hielt Christoph erneut die Klappe und aß weiter, als befände er sich fern dieser Unterhaltung.

„Wir würden die Fotos gern sehen“, sprach Lotte nun überdeutlich in Christophs Richtung.

„Das steht euch wohl zu“, raunte er seine Kaffeetasse an.

„Ich trage euch zusammen, was ich finden kann“, versprach Ursula. „Als Gegenleistung könntet ihr euch heute um das Mittagessen kümmern. Euren Einstand geben.“

„Einstand geben? Übertreibt es besser nicht“, murmelte Torben düster. „Ihr wohnt in unserem Haus. Wir sind euch nichts schuldig.“

„Doch, ich denke schon“, entgegnete Ursula unbeeindruckt. „Schnaps, Steaks, Kaffee und Brötchen fallen nicht vom Himmel. Schon der Anstand sollte euch gebieten, etwas zu unserem Zusammenleben beizutragen.“

„Jetzt reicht’s aber!“ Torben fuhr hoch, doch Lotte packte ihn am Ärmel.

„Bleib sitzen, Torben.“ Im Grunde stimmte sie vollauf mit ihm überein. Es war eine geradezu dreiste Unverschämtheit, von den Eigentümern des Hauses, das sie besetzten, auch noch Tribut zu verlangen. Dennoch taten sie gut daran, ruhig zu bleiben. Lotte hegte den Verdacht, dass die Bande es darauf anlegte, sie zu provozieren. Sie durften ihnen nicht in die Hände spielen.

Nach dem Frühstück hielten Lotte und Torben an ihrem Wagen erneut Kriegsrat. Auf Severins Anweisung hin hatte Lotte ihn auf einem groben Pflasterplatz neben dem Nachbarhaus geparkt.

„Wer wohnt da eigentlich?“, hatte sie Severin gefragt.

„Das ist ein Ferienhaus, das immer wieder neu vermietet wird“, hatte er geantwortet.

„Also, was machen wir jetzt?“, fragte Torben verbissen.

„Lass dir von Ursula die Fotoalben zeigen. Ich nehme mir diesen Christoph vor.“

Torben formte ein grimmiges Grinsen. „Glaubst du, der und Oma haben tatsächlich gevögelt? Die machen uns doch nur was vor.“

„Abwarten. Wir werden es herausfinden.“

Lotte vernahm leise, schleppende Musik aus dem Inneren. Sie klopfte behutsam an die Tür. Im Zimmer gegenüber zupfte Patrick auf seiner Gitarre.

„Ja?“, rief jemand aus Omas Schlafzimmer, der nur Christoph sein konnte.

„Hier ist Lotte. Kann ich reinkommen?“

Momente später öffnete Christoph die Tür, eine Mischung aus Gram und unterdrückter Wut im unrasierten Gesicht. „Was willst du?“, fragte er, breitbeinig unter dem Türrahmen stehend.

„Mit dir reden. Über unsere Oma.“

„Hast du es auf ihre Fotos abgesehen?“

„Ja, die würde ich echt gern sehen. Viel lieber würde ich aber mit dir über sie reden.“

Christoph musterte sie skeptisch. „Das ist kein guter Zeitpunkt.“

Lotte zuckte wie gleichgültig mit den Schultern. „Gut, dann halt später. Kommst du mit? Ich bräuchte jemanden, der mir die Gegend zeigt.“

„Ich bleibe lieber hier.“

„Den ganzen Tag? Es ist schönstes Sommerwetter.“

„Na und?“

„Warum sperrst du dich hier ein? Was ist hier?“

„Musik. Und Erinnerungen.“

Lotte ließ es darauf ankommen. „Kann ich reinkommen?“

„Wozu?“

„Um daran teilzuhaben.“

Christoph zögerte und schien durch ihre Augen tief in sie hineinzuschauen. Dann trat er beiseite und gab den Weg frei.

Zum zweiten Mal betrat Lotte das Schlafzimmer ihrer Oma. Die Luft war verbraucht, das große Bett ungemacht und auch in dem offen stehenden Kleiderschrank herrschte nicht gerade Ordnung. Lotte eilte erst mal zu dem großen Gaubenfenster und riss es auf.

„Hey, was soll das?“, protestierte Christoph. „Ich will nicht, dass die Tageshitze reinzieht!“

„Und ich will nicht ersticken“, erwiderte Lotte ungerührt.

Ihr Blick fiel auf den Laptop auf der Kommode. Zwei Musikboxen waren daran angeschlossen und füllten den Raum mit einem Teppich schwerer elektrischer Gitarrenklänge, begleitet von einer traurigen, fast wehklagenden Melodie. Trommeln und rauer, unaufdringlicher Gesang rundeten die seltsame Musik ab.

„Was ist das?“, fragte sie.

„The White Tower von Summoning.“

„Kenn ich nicht.“

„Habe ich auch nicht erwartet.“

„Darf ich mich setzen?“ Lotte wies auf den Sessel, in dem sie Christoph gestern liegen gesehen hatte.

„Ist doch euer Haus, oder?“, gab der lakonisch zurück.

Lotte ahnte, dass dieser Umstand der alleinige Grund war, warum er sie hatte eintreten lassen. Er wollte allein sein. Lotte aber brauchte Antworten.

„Was ist das für Musik? Und worum geht es?“

„Worum es geht?“

„Na, worüber die singen …“

„Tolkien-Themen. Vertonen Gedichte von ihm. Du kennst Tolkien?“

Lotte nickte und war froh, einen Gesprächseinstieg gefunden zu haben. „Herr der Ringe. Habe die Filme gesehen. Fand ich ziemlich gut. Und darüber singen und spielen die? Über was denn genau?“

„Das ist Musik und keine Gebrauchsanweisung. Man nimmt die Textbausteine auf und überlässt der eigenen Fantasie den Rest. Eine Frage der Interpretation. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.“

Lotte verstand. „Willst du mir sagen, wie deine Interpretation dieses Liedes lautet?“

Christoph ließ sich auf Omas Bett nieder und begutachtete Lotte abermals, so als müsse er erst herausfinden, ob sie eine Antwort wert war, bevor er sich zu einer herabließ. Sein Blick war unverwandt starr. „Ich denke bei dem Lied an Turgon und seinen Turm in Gondolin.“

Lotte hatte die Filmreihe wieder vor ihrem geistigen Auge. „Ah, der Turm mit dem weißen Zauberer?“

„Nein.“ Christoph schüttelte den Kopf. „Von Turgon findest du nichts in den Filmen. Dazu müsstest du das Silmarillion lesen. Er war Fingolfins zweiter Sohn und der Erbauer und spätere König von Gondolin, der schönsten und gewaltigsten Stadt, die es je in Mittelerde gegeben hat.“

„Aha. Und was hat es mit seinem Turm auf sich?“

„Der Turm war sein Rückzugsort. Und auch der Platz, an dem er starb, als die Stadt von Orks, Balrogs und Drachen überrannt wurde und der Turm einstürzte.“

Lotte ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Keine Fotos prangten an den Wänden, nur einige Gestecke und ein Ölgemälde, das ein goldenes Kornfeld im Wind zeigte. „Und dieses Zimmer hier“, sagte sie, „ist das dein Turm?“

Christophs Blick wanderte schlagartig von ihr fort, so als hätte sie ihn bei einer Schandtat erwischt und bloßgestellt. Lotte durchschaute, dass ihre Worte ihn tatsächlich getroffen hatten. „Das hier ist dein Rückzugsort, nicht wahr? Und mein Bruder und ich sind die Orks, die eure Stadt einnehmen wollen.“

Nun erfasste Christoph sie wieder mit seinen strengen Augen. „Blödsinn.“

„Was sind wir dann für euch?“

„Zwei verwöhnte Yuppies, die keinen Schimmer haben, was für eine großartige Frau ihre Oma war.“

„Dann erzähl mir von ihr.“

Christoph schüttelte den Kopf. „Ihr würdet es sowieso nicht begreifen. Mir wäre es recht, du würdest jetzt gehen.“

Lotte erhob sich widerspruchslos. „Klar doch“, sagte sie und schritt zur Tür. „Bleib nur hier. Allein in deinem Turm. Und wundere dich nicht, wenn es dir wie diesem Turko ergeht.“

Den weiteren Vormittag verbrachte Lotte am Strand. Ob sie für die Kommune kochen wollte, hatte sie noch nicht entschieden. Auf ihrer Decke in der ungetrübten Sonne liegend las sie in dem Buch, das ihre Oma ihnen auf so obskure Art hatte zukommen lassen. Von den Künstlern war zum Glück keiner in der Nähe. Bis auf einige kleinere Grüppchen weiter nördlich, schon nahe am Naturschutzgebiet, gehörte ihr der Strandabschnitt vollkommen alleine.

Das Buch entpuppte sich weniger als Tagebuch, sondern mehr als ein Poesiealbum. Oma hatte zwar auch einige kryptische Notizen festgehalten, doch meistens waren es Gedichte oder flüchtige Lebensweisheiten ohne Verfasserangaben. Lotte hatte nicht die geringste Ahnung, was sie und Torben damit anfangen sollten. Sie blätterte weiter nach hinten, in der Hoffnung, vielleicht Anweisungen, Hinweise oder gar Hilferufe zu finden, doch dergleichen gab es nicht. Das Buch enthielt überwiegend Verse, mal reimend, mal nicht, mal hochtrabend formuliert, mal schlicht. Meistens ging es um das Meer, um den Strand, um die Möwen und das Dünengras. Lotte sah ein, dass sie so nicht weiterkam. Eine oberflächliche Sondierung brachte nichts. Wahrscheinlich musste sie sich tiefer einlesen. Nach einem erfrischenden Bad im Meer wollte sie sich daranmachen.

Viele Einlassungen in dem Buch waren romantischer Natur, wie Lotte aufging. Auch schwante ihr zunehmend, dass niemand anderes als ihre Oma die Verfasserin dieser Gedichte war. Wer, wenn nicht sie selbst, würde ein handgeschriebenes Poesiealbum anfertigen, mit Meeres- und Strandbeschreibungen, die sich zum Teil unzweifelhaft auf diesen Strandabschnitt konzentrierten? Mit dem Gewundenen Pfad musste der kurze Abstieg von der missglückten Straße zu den Dünen gemeint sein. Die Ruhende Faust war vermutlich ein südwärts gelegener Steinbrocken am Ende eines Felszuges. Ungesiebten Sand gab es hier überall, und auch ein Felsenkreuz ließe sich wahrscheinlich irgendwo finden. Etwas schwieriger war ein Zuckermeer zu lokalisieren. Es gab nur ein Meer, und das war nicht aus Zucker, wie Lotte vorhin überprüft hatte.

Auch ein Liebhaber tauchte immerfort in Omas Gedichten auf. Meistens nur am Rande, doch er war fast immer dabei. Ob damit Christoph gemeint war? Lotte blätterte zurück. Die erste Erwähnung dieses Liebhabers war fast zwanzig Jahre zurückdatiert. Damals hatte Opa noch gelebt, er und Oma hatten noch im Emsland gewohnt, und Christoph hatte wahrscheinlich gerade im Kindergarten irgendwelchen Spielsachen nachgeweint. Dieser Liebhaber war demnach eher imaginär zu verstehen. So wie auch das Zuckermeer.

Christoph spukte noch in Lottes Kopf herum, als sie ihn tatsächlich und leibhaftig vor Augen hatte. In Boxershorts und T-Shirt und mit einem Handtuch unterm Arm schlenderte er über den allmählich glühend heißen Sand auf sie zu. Bevor er irgendetwas sagte, breitete er sein Handtuch neben ihrer Decke aus und ließ sich nieder. Er hatte sich sauber rasiert, wie unschwer zu übersehen war. „Ich habe meinen Turm gerade verlassen.“

Lotte, die auf ihrem Bauch lag, klappte das Buch zu und legte es beiseite. „Was hat dich dazu bewogen?“

„Eigentlich warst du es.“

„Ich oder dieser Wie-hieß-er-noch?“

„Du. Du willst über Luise sprechen? Nun gut. Was willst du wissen?“

So unmittelbar und direkt darauf angesprochen, fiel Lotte keine Frage ein. Sie setzte sich erst mal auf. „Ihr zwei hattet also ein Verhältnis?“, rutschte ihr geradewegs über die Lippen.

Christoph nickte nach kurzem Zögern und richtete den Blick aufs Wasser. Es ging kaum Wind, aber das Meer warf temperamentvoll Wellen die Dünen hinauf. „Wenn du es so nennen willst.“

„Wie sollte ich es sonst nennen?“, fragte Lotte. „Eine Liebesaffäre?“

Christoph schüttelte sacht den Kopf. „Ich weiß nicht, ob Luise mich geliebt hat. Ich glaube nicht.“

Nun wurde es interessant. Oma hatte ihn nicht geliebt, er sie aber schon, oder wie war das zu verstehen? „Wie kommst du darauf?“

„Sie hat einen anderen geliebt“, antwortete Christoph trocken. „Jemanden, den ich nicht kenne.“

„Unseren verstorbenen Opa“, schloss Lotte mit Gewissheit. „Er ist gestorben, als wir noch klein waren. Krebs.“

Christoph kommentierte das nicht und schaute weiter auf das bilderbuchblaue Meer hinaus. Lotte spürte, dass dazu noch nicht alles gesagt war. „Aber du hast sie geliebt?“

Nach kurzem Zögern nickte Christoph. „Sie hat mich beflügelt, in allem, was ich tat und schrieb. Sie war meine Muse. Sie war die offene Tür, wann immer ich eingesperrt gewesen bin. Sie war der Ausgang aus den Labyrinthen, in denen ich mich verfranst hatte. Sie hat meine Hand genommen, wann immer ich in Sackgassen gesteckt habe.“

Lotte schloss sich seinen sehnsuchtsvollen Blicken aufs Meer hinaus an. „Ist Oma hier gefunden worden?“

Christoph hob einen Arm und deutete auf einen kaum kniehohen Felszug zu ihrer Linken, der ein paar Meter weit ins Wasser stach und die Wellen brach und teilte. „Dort haben wir sie gefunden.“

„Ihr habt sie gefunden?“ Dieser Umstand war Lotte neu.

Christoph nickte. „Nachdem sie um Mitternacht noch immer nicht zurück war, bin ich zum Strand hinuntergelaufen. Aber da war sie nicht. Ich bin auf und ab gerannt und habe nach ihr gerufen. Und erhielt keine Antwort. Ich hatte bereits eine Ahnung, aber ich habe mir eingeredet, sie wäre spazieren gegangen. Das tat sie häufig, wenn sie für sich sein wollte. Am nächsten Morgen hat mich Annika geweckt. Luise lag nicht neben mir. Annikas Blick sagte alles.“

„War Oma … traurig? Ich meine, war sie melancholisch?“

„Ja, manchmal schon“, bestätigte Christoph. „Aber sie war auch lebenslustig. Leidenschaftlich. Aber ja, an manchen Tagen war sie traurig. Da war sie allein. Da konnte keiner zu ihr durchdringen.“

„Und deshalb glaubt ihr, dass sie sich umgebracht hat?“

„Das glauben vielleicht die anderen, aber so einfach ist das nicht.“

Lotte musterte ihn von der Seite. „Was willst du damit sagen?“

„Luise war keine Selbstmörderin.“ Christoph drehte sich Lotte zu, senkte seinen Blick kurz auf ihre Brüste und fand wieder zu ihren Augen. „Aber ich denke, sie hat den Tod bereitwillig in Kauf genommen, als sie in dieser Nacht hinausgeschwommen ist.“

„Und wofür?“

Christoph schaute wieder aufs Meer hinaus. „Um Antworten zu bekommen.“

„Antworten worauf?“

„Auf keine Fragen, die man mit Worten ausformulieren könnte.“

„Verdammt noch mal, wovon redest du?“

Christoph ließ sich Zeit mit einer Erwiderung. „Hattest du je das dringliche Gefühl, irgendetwas erledigen zu müssen, ohne zu wissen, was es ist?“

„Klar“, entgegnete Lotte. „Manchmal spürt man, dass man etwas vergessen hat, weiß aber nicht mehr, was es war.“

„Das meine ich nicht“, wiegelte Christoph mit einem abwehrenden Kopfschütteln ab. „Was ich meine, geht viel tiefer. Eine innere Unruhe, die du dir nicht erklären kannst. Eine Sehnsucht, die du niemals stillen kannst. Eine Suche, die keinen Anfang und kein Ende kennt.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“

„Genau das ist das Problem. Wir reden von Gefühlen, für die es keinen Namen gibt. Von Empfindungen, die nicht greifbar sind, weil sie sich auf Intuition begründen. Von Wahrheiten, die man nicht beweisen kann.“

„Sag mir doch einfach konkret, was Oma deiner Meinung nach gesucht hat, als sie in jener Nacht rausgeschwommen ist.“

„Ich würde es dir sagen, wenn ich es wüsste. Vielleicht findest du in diesem Buch die Antwort.“

„Du kennst es?“

„Natürlich.“ Christoph wandte sich ihr wieder zu. „Abends hat sie oft darin gelesen. Manchmal auch etwas reingeschrieben. Lesen durfte ich es nicht. Aber sie hat mir dann und wann daraus vorgelesen.“

„Die Gedichte?“

Christoph nickte.

„Etliche sind Liebesgedichte, oder?“, sagte Lotte. „Wenn sie sie dir vorgelesen hat, muss sie dich sehr gern gehabt haben.“

„Gern gehabt, ja“, pflichtete Christoph bei. „Aber nicht geliebt. Ihre Liebe gehörte einem anderen.“

„Unserem Opa“, meinte Lotte zu wissen.

„Hat sie den hier kennengelernt?“, fragte Christoph. „Hier an der Ostsee?“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783948592042
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Meer Künstler Liebesroman Romantik Sommer Kommune Strand New Adult

Autor

  • Thomas Neumeier (Autor:in)

Thomas Neumeier geboren in Neumarkt in der Oberpfalz, lebt als freiberuflicher Publizist und Bürokaufmann im schönen Beilngries im Altmühltal. Sein Roman-Debüt „Alorndora – Die Erde im Meer der Sterne“ erschien 2010 in der Edition Octopus. Diesem folgten etliche Romane in Klein- und Großverlagen in den unterschiedlichsten Genres.
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Titel: Zuckermeer