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Ruf der Geister

von Tanja Bern (Autor:in)
170 Seiten
Reihe: Crime Time, Band 1

Zusammenfassung

Mystischer Ruhrgebiet-Krimi Joshua Benning hat von Kindheit an übersinnliche Fähigkeiten. Vor allem ermordete Opfer scheinen sich ihm zu offenbaren, was ihn schon früh inoffiziell mit der Polizei zusammenbrachte. Erich Salberg, Leiter in den Ermittlungen mehrerer Mordfälle, zieht Joshua schließlich hinzu, doch der hiesige Fall bringt den jungen Mann an seine Grenzen. Wer tötet im Ruhrgebiet und in Joshuas unmittelbarer Nähe junge Frauen? Das erste Mal können ihm auch die Geister nicht helfen. Also begibt er sich mit der Polizistin Lea Schmidt auf die Spur des Mörders. 290 Seiten

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


PROLOG

 

Joshua sah sich unbehaglich um. Er besuchte nie gerne Partys und diese war ihm besonders unangenehm. Die Musik war zu laut, die Menschen zu betrunken und er fürchtete, zwischen den Gästen die zerfaserten Umrisse von Geistern zu sehen. Dieser Ort schien perfekt dafür.

Im Stillen verfluchte er seine hellseherische Gabe. Die Feier fand in einem der alten Fabrikgebäude statt, die man schon lange stillgelegt hatte und seit Jahren für verschiedene Anlässe nutzte. Sein Freund Mark unterhielt sich angeregt mit seinen Kollegen und schien ihn für den Moment vergessen zu haben. Nicht so schlimm, dachte Joshua. Heute fühlte er sich nicht gerade als Stimmungskanone. Er fuhr sich durch das dunkle Haar und suchte den Blick seines Freundes. Dieser schien das zu spüren, denn er sah auf. Joshua verdeutlichte ihm, dass er kurz rausgehen würde.

Die schwere Tür quietschte, als er sie aufstieß und in die klare Nacht hinaustrat. Einige Leute hielten sich im Vorhof auf, doch niemand beachtete sein Auftauchen. Ihm war es recht. Joshua sog die angenehme Luft ein und brauchte einen Augenblick, bis das Dröhnen in seinen Ohren nachließ. Vor ihm lag ein schmaler Trampelpfad und er folgte diesem. Der Kies knirschte unter seinen Schuhen und die letzte Beleuchtung blieb hinter ihm zurück. Manchmal fürchtete Joshua, dass er die Seelen wie ein Magnet anzog. Mit einem unwohlen Gefühl blickte er sich um, aber das Gelände lag ruhig vor ihm. Er lief weiter. Die Musik geriet in den Hintergrund und Joshua hörte sie nur noch wie entferntes Trommeln.

Ein verrostetes Rohr lud zum Sitzen ein und er ließ sich auf dem großen Metallbauteil nieder. Hinter ihm erhob sich ein Zaun, den jemand niedergetreten hatte. Ein Stück Wiese wuchs dahinter und eine einsame Grille zirpte.

„Bist auch alleine, hm?“, murmelte er dem Insekt zu.

Völlig unerwartet tauchte eine Erscheinung vor ihm auf. Joshua erschrak so sehr, dass er fast von seinem Sitzplatz rutschte. Die Frau blieb durchlässig, trotzdem konnte Joshua sie gut erkennen. Sie trug ein helles Kleid, das an der Brust blutverschmiert war. Ihr kurzes Haar schien lieblos abgeschnitten zu sein.

Joshua starrte sie überrascht an, erhob sich, da er nicht zu dem Geist aufschauen wollte.

Wortlos wandte sie sich um, lief ein Stück voraus und drehte sich wieder zu ihm. Ihr Gesichtsausdruck schien so furchtbar traurig zu sein – zerbrochen wie ein Stück Porzellan. „Was möchtest du von mir?“, flüsterte er.

Komm

Für einen Augenblick existierte für Joshua nur die Seele der Verstorbenen. Wie in Trance folgte er ihr. Sie führte ihn an den alten Industriegebäuden vorbei. Der Untergrund des Weges wechselte zwischen geplatztem Asphalt und ausgetrockneter Erde. Die Klänge der Party verebbten, hallten nur noch als fernes Echo über den Platz. Dunkelheit legte sich über die verlassene Fabrik und der Geist schimmerte als blasser Schemen vor ihm.

„Warum bist du hier?“, fragte Joshua leise.

Sie antwortete nicht, bedeutete ihm nur, dass er mitkommen solle. Die Finsternis kam Joshua allumfassend vor. Keine Laterne beleuchtete hier die Umgebung, nicht einmal der Mond schien auf das Gelände, war von Wolken verhüllt. Um sich zu orientieren, kramte er sein Smartphone aus der Jackentasche und schaltete die Leucht-Applikation ein. Der einsame Strahl erhellte nur einen Streifen des Weges, aber Joshua würde zumindest nicht stolpern. Trotz der unnatürlichen Lichtquelle konnte er den Geist klar erkennen. Die Verstorbene verharrte an einem Zugang und zeigte auf den Metalldeckel. „Ich soll da rein? Das ist nicht dein Ernst!“

Bitte …

„Bist … bist du da drin?“

Sie nickte unmerklich.

Eine Leiche hat mir jetzt noch gefehlt, dachte Joshua ironisch.

Er kämpfte mit sich. Einerseits wollte er dieser Situation entfliehen. Andererseits fiel es ihm schwer, sich dem Sog des Geistes zu entziehen. Die Frau wirkte so hilflos und zerbrechlich. Was mochte ihr zugestoßen sein? Ob er Erich alarmieren sollte?

Nein, nicht um diese Uhrzeit. Wenn Joshua etwas fand, müsste er den Kommissar früh genug aus dem Bett klingeln.

Mit einem tiefen Seufzer klemmte er das Handy in einen Mauerspalt und zog an dem Deckel. Das rostige Teil öffnete sich mit einem Ächzen. Joshua nahm das Smartphone wieder an sich und spähte mit dessen Licht hinein. Eine Eisenleiter führte in die Tiefe. Weiter unten konnte Joshua schmale Gänge ausmachen. War dies ein Notzugang zu ehemaligen Lagerräumen? Die durchscheinende Geisterfrau schaute ausdruckslos in die Schwärze der Tunnel. Wie erstarrt verharrte sie vor der Öffnung.

„Wie ist dein Name?“, fragte Joshua behutsam.

Langsam hob sie den Blick. Andrea …

Joshua schaute in die düsteren Räume unter ihm. Was würde ihn erwarten? Das Herz klopfte schnell in seiner Brust und ein Gefühl ballte sich in seinem Magen zusammen, das wie ein feuriger Stein in ihm wütete. Trotzdem stieg er vorsichtig die rostige Leiter herunter. Unten hatte sich Wasser am Boden gesammelt und Joshua fühlte, wie die Feuchtigkeit durch seine Schuhe sickerte. Nun wagte sich auch der Geist herunter und schwebte mit angstgeweitetem Blick vor ihm. „Was ist mit dir geschehen?“

Sie antwortete nicht.

„Dann zeig mir, wo du … gestorben bist.“

Sie blickte sich mit einem unbehaglichen Ausdruck im Gesicht um, aber sie führte ihn durch die Schächte. Also folgte Joshua seinem Instinkt, schaltete das Handylicht wieder ein und tauchte tief in die untere Ebene der verlassenen Fabrik ein. Die Kälte hier unten kroch in seine Kleidung und er begann zu frösteln.

Ein Rascheln ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Fast hätte er sein Smartphone fallen gelassen. Im kargen Licht des Mobiltelefons sah er eine Ratte davonhuschen.

Und wenn ihr Mörder noch hier ist? Der Gedanke fuhr wie ein eisiger Schauer in sein Inneres. Die Geisterfrau ließ alle Türen unbeachtet. Jede Abzweigung nahm sie sicher und ohne zu überlegen. Oh Gott, hoffentlich finde ich hier wieder raus!

Plötzlich begann ihre Gestalt zu flackern. Pure Angst malte sich auf ihren Zügen ab und sie zeigte auf eine Metalltür. Diese war mit einem Vorhängeschloss abgesperrt. Der Rost hatte sich in das Eisen gefressen, sodass Joshua nur einmal heftig mit einer Stange, die er am Boden fand, auf das Schloss schlagen musste. Aufgewühlt öffnete er die Tür. In der Dunkelheit hallte ihr Knirschen seltsam durch die Räume.

Der Lichtstrahl des Handys beleuchtete eine grauenhafte Szene. Joshua erschrak so heftig, dass er mit einem leisen Aufschrei zurückwich.

In dem kargen Raum stand ein Stuhl, an dem eine verweste Leiche gefesselt war. Die bleichen Knochen stachen unnatürlich hervor, ihr Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet.

Joshuas Herz trommelte gegen seinen Brustkorb und er konnte seine Gefühle kaum unter Kontrolle bringen. „So eine Scheiße“, flüsterte er. Ein letztes Mal leuchtete er in das Zimmer, in dem noch vergessene Dinge lagerten. Am Boden lag Andreas zerfetzte Kleidung, durchweicht von der Feuchtigkeit. In einer Pfütze schwamm blondes Haar, das ebenso angefangen hatte, sich zu zersetzen.

Ich muss hier raus!, brüllte alles in ihm. Joshua sah sich um.

Der Geist war fort!

„Nein, verdammt! Du musst mich wieder rausführen!“

Stille umgab ihn, nur einige Wassertropfen plätscherten irgendwo. Am Rande der Panik sah er auf sein Handy, als dessen Licht flackerte. Der Akku würde nicht mehr lange halten. Joshua rannte den Weg zurück, den er als den Richtigen vermutete. Doch die Eisenleiter tauchte nirgendwo auf. Er rannte durch die schmalen Flure. Das Wasser wurde tiefer und ging ihm mittlerweile bis zum Knöchel. Gehetzt sah er sich in dem Zwielicht um, dann piepte das Smartphone auf, das Licht erlosch und nur die Notbeleuchtung des Displays funktionierte noch. Joshua verharrte geschockt in der Finsternis. Das Wasser ist hier zu hoch, dachte er und tastete sich den Weg zurück. Er horchte auf. Erleichterung umspülte ihn, denn draußen rief jemand nach ihm!

Mark!

„Ich bin hier, Mark!“, schrie er.

Joshua vernahm eine gedämpfte Antwort. „Verdammt, wo bist du, Josh?!“

„Unter dir! Wo stehst du?“

„Wo ich …? Rechts neben dem Eingang.“

Dann war er viel zu weit von dem ursprünglichen Weg abgekommen. Joshua drängte seine Ängste in den Hintergrund und versuchte sich zu orientieren, was ihm nicht wirklich gelang. „Wo sind Geister, wenn man sie braucht?!“, schnauzte er in die Finsternis. Als hätte dies Andreas Geist gerufen, erschien sie vor ihm und Joshua wäre vor Schreck fast in das brackige Wasser gefallen.

„Bring mich hier wieder raus!“, blaffte er die Erscheinung an.

„Joshua? Alles klar bei dir?“, rief Mark von draußen.

„Ja! Warte, ich komme zu dir.“ Er wandte sich an Andrea. „Du zeigst mir doch den Weg nach draußen, oder?“

Der Geist nickte und wies ihm den Weg zurück zu der metallenen Leiter. Atemlos hetzte er die Sprossen hinauf und rannte zurück zum Eingang der Fabrik, wo die Party noch in vollem Gange war. Mark stand unter einer Straßenlaterne und hielt besorgt Ausschau nach ihm. Ihre Blicke begegneten sich und beide Freunde atmeten erleichtert auf. „Du lieber Himmel, Josh, wo warst du?!“

„Mark, das glaubst du mir nicht! Kann ich mal dein Handy haben? Bei mir ist der Akku leer. Ich muss Erich anrufen.“

„Den Kommissar?“, fragte Mark erstaunt, zückte aber sofort sein Telefon und reichte es Joshua, der rasch die Nummer von Erich Salberg eintippte.

 

*

 

Kommissar Salberg stand ein wenig fassungslos vor dem Raum, den Joshua ihm und seinen Kollegen gezeigt hatte. Er strich sich durch seinen kurzen Bart und linste zu Joshua hinüber. „Und … ihr Geist hat dir das gezeigt?“

„Nein, die Party war so langweilig und da dachte ich, dass man auch hier unten feiern könne.“ Joshua schaute ihn vielsagend an.

„Ha ha ha.“

„Ja, genau. Glaub mir, mich hätten keine zehn Pferde hier runter gekriegt, aber ich konnte mich ihr nicht entziehen.“

Erich, ein enger Freund seines Vaters, wusste von seiner Gabe. Joshua half dem Kommissar auch nicht das erste Mal, eher regelmäßig. Trotzdem schien es ihn manches Mal zu schocken.

Die Spurensicherung hatte die Fabrik-Katakomben mit Scheinwerfern erhellt. Mehrere Leute durchsuchten behutsam die Umgebung, alle bekleidet in Schutzanzügen. Der Pathologe Dr. Stein erreichte den Tatort und blickte sie verschlafen an. Mürrisch nickte er ihnen zur Begrüßung zu und starrte dann in den Raum. Er sah sich um, dann ging er zu dem Opfer.

„Und sie hieß Andrea?“, hakte Erich noch einmal nach.

„Ja, das sagte sie mir.“

„Ich ahne, wer es ist“, murmelte der Kommissar leise. Er legte Joshua eine Hand auf die Schulter. „Fahr nach Hause, Joshua. Mark wartet ja oben auf dich.“

„Okay …“ Langsam schritt Joshua erneut über den feuchten Boden, ignorierte dieses Mal die geisterhafte Gestalt und stieg die Leiter hinauf. Er befürchtete, dass es für ihn in dieser Nacht keinen Schlaf geben würde.

 

*

 

Fast zwei Wochen waren vergangen, seit Joshua Andreas Seele begegnet war. In seiner Wohnung duldete er keine Geister, aber sobald er nach draußen kam, wartete sie bereits auf ihn. Auch wenn sie sich zurückhielt, so blieb sie dennoch präsent. Mittlerweile wusste Joshua, wer sie zu Lebzeiten gewesen war. Die Reporter prügelten sich fast um Neuigkeiten zum Fund ihrer Leiche, denn Andrea galt fast ein Jahr als vermisst. Erich hatte ihn zum Glück aus allem herausgehalten, so rätselten die Boulevardblätter noch immer, wer die Leiche entdeckt hatte. Andrea hatte ihm den Mörder gezeigt, aber die Suche nach dem Mann dauerte noch an.

Nun saß Joshua auf einer Parkbank, nahe eines Spielplatzes. Die Sonne schien warm auf die Kinder herab und der leichte Wind wehte den Geruch von Bratwurst zu ihnen herüber. Schräg neben Joshua saß Patrick. Dessen sechsjähriger Sohn spielte im Sandkasten und ließ seinen Plastik-Lkw über eine selbst gebaute Straße fahren. Andrea schaute sehnsüchtig auf ihren Sohn, den sie nie wieder in die Arme würde nehmen können.

Bitte …, flehte sie Joshua an.

Joshua sah zu dem fremden Mann, stand auf und setzte sich neben ihn. Patricks Blick vertiefte sich in ein Foto, das in seiner Geldbörse klebte. Auf dem Bild sah seine Frau Andrea dem Betrachter mit einem fröhlichen Lachen entgegen, ihr blondes Haar wehte im Wind. Joshua sah unsicher zu dem Geist. Liebevoll betrachtete sie ihren Mann – sie hatte Joshua von Patrick erzählt.

„Wissen Sie“, begann Joshua. „Ich glaube, sie ist jetzt … erlöst.“

Patrick sah verdutzt auf. „Woher wissen Sie …“ Der Mann schwieg unerwartet, schien eine Erkenntnis zu haben. Er sah sich um. „Sie ist hier, ich spüre sie“, flüsterte er traurig.

Joshua sah, wie ihre Gestalt verblasste – auf ihren Lippen lag ein Lächeln.

Patrick blickte Joshua ernst an. „Ich kenne Sie nicht, aber ich schaue in Ihre Augen und vertraue Ihnen. Warum?“

„Ich habe sie gefunden“, wagte Joshua zu sagen. „Sie hat mir den Lagerraum gezeigt.“

Patrick nickte verstehend. „Sie war oft bei uns. Bücher fielen von den Regalen. Die Gardine bewegte sich trotz geschlossenem Fenster. Der Bilderrahmen mit ihrem Foto fiel immer um.“ Eine Träne stahl sich aus seinem Auge und Patrick wischte sie fort. „Ich wusste, dass sie tot ist.“ Er schluchzte leise.

Joshua legte ihm tröstend einen Arm um die Schultern. „Aber nun ist sie frei.“

 

 


 

MÖRDER AUF PAPIER

 

Wolken verhüllten den Mond. Die Dunkelheit war kaum zu durchdringen, nur die Umrisse hoher Bäume hoben sich wie ein schwarzer Scherenschnitt von der Umgebung ab. Tief in seinem Inneren hörte Joshua ein Lied, das von dunklen Schatten erzählte. Ein Schrei durchbrach die Stille. Seine Beine schienen wie festgefroren.

Der Umriss eines Mannes näherte sich und eine Fremde erschien vor ihm, ihr Gesicht war gezeichnet von Schrecken und Angst. Überall war Blut! Die Augen der Frau schauten ihn an, sie streckte Hilfe suchend die Hand nach ihm aus. Joshua konnte sie nicht erreichen und der Song war erschreckend real zu hören. Die Sängerin sang von einem Weg ohne Wiederkehr …

 

Joshua schreckte aus dem Schlaf und bemerkte, dass sein Handy rücksichtslos das Lied Für immer der Band Eisblume spielte. Verschlafen griff er zum Telefon.

„Was is‘ denn?“, nuschelte er.

„Josh? Hier ist Erich. Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, aber wenn es nicht so dringend wäre …“

„Schon gut.“

„Kannst du nach Duisburg kommen?“

Sein Blick fiel auf die Uhr, es war 3:57. „Jetzt?“

„Wenn möglich. Wir können die Leiche nicht länger hier liegen lassen.“

„Oh … okay. Wo?“

„Komm zum Hauptbahnhof. Wir sind nicht zu übersehen.“

„Ja, gut.“ Joshua legte das Handy beiseite. Auf eine Art war er dankbar, dass Erich ihn aus seinem düsteren Albtraum geholt hatte, andererseits schien ein neuer in Duisburg auf ihn zu warten. Warum ließ er sich nur immer wieder darauf ein? Aber Erich war ein langjähriger Freund seines Vaters und Joshua wusste, dass er dem Kommissar helfen konnte, auch wenn dies eigentlich nicht seine Aufgabe war.

Die Stimme der Sängerin Ria Schenk ging ihm nicht aus dem Kopf. Gedanklich hörte er noch immer die Zeilen, die vom Weg ohne Wiederkehr erzählten. Fröstelnd kroch er aus dem Bett und tastete sich durch das dunkle Zimmer. Er hasste Licht, wenn er noch nicht wach war. Erst die gedämpfte Lampe im Bad vertrieb die Finsternis in der Wohnung. Joshua sah in den Spiegel. Seine rechte Gesichtshälfte sah regelrecht zerknittert aus, da er auf einigen Falten im Kissen gelegen hatte.

Er schaute auf sein welliges Haar. „Ich seh‘ aus wie’n Wischmopp“, murrte er. Die hinteren Strähnen hingen ihm fast bis auf die Schultern, dennoch konnte er sich nicht zu einem Friseurbesuch aufraffen. Mit einem Seufzen schlüpfte er aus seinem Schlafanzug und ging unter die Dusche.

Eingemummt in einen dicken Wintermantel, stieg er später in seinen Opel Corsa und fuhr Richtung Duisburg. Auf der Autobahn befanden sich nur vereinzelte Fahrzeuge, denn der Berufsverkehr startete noch nicht so früh. Die Heizung blies ihm kalte Luft ins Gesicht und Joshua fröstelte. Genervt schob er die Lüftungsschlitze nach oben und wartete sehnsüchtig, dass endlich der Motor warm wurde und die Klimaanlage griff.

Was würde ihn dieses Mal erwarten?

Natürlich eine Leiche, dachte er spöttisch.

Nach einer Weile bog er in die Ausfahrt nach Duisburg und hielt sich an die Schilder, die ihn zum Bahnhof führen würden. Er parkte schließlich direkt davor. Zwei Streifenwagen blockierten den Haupteingang und das Blaulicht flackerte über den Platz. Mit einem mulmigen Gefühl stieg Joshua aus und steuerte die Pforte an.

Der Polizist sah ihm entgegen und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, der Bahnhof ist gesperrt.“

„Ich weiß, Kommissar Salberg wartet auf mich“, erwiderte Joshua.

„Herr Benning?“

Joshua nickte und hielt ihm in weiser Voraussicht seinen Personalausweis vor die Nase.

„Gehen Sie durch. Sie können den Tatort nicht verfehlen.“

Im Bahnhof fielen ihm die rot-weißen Absperrbänder auf. Zwei Polizisten standen zusammen und unterhielten sich mit einem Passanten, der kreidebleich an einer Wand lehnte. Joshuas Herz begann, wild gegen seine Brust zu schlagen. Als er das Blut sah, verharrte er, sein Inneres weigerte sich weiterzugehen. Wie in dem Traum schienen seine Beine ihm nicht zu gehorchen. Aber das mussten sie auch nicht …

Der Geist der ermordeten Frau stand vor ihm. Wut und Angst strömten Joshua entgegen und er konnte nicht anders, als auf all das Blut zu starren, das sich auf ihrer Kleidung ausgebreitet hatte. Ihre Kehle war aufgeschlitzt, trotzdem sah sie ihn mit lebendigen blauen Augen an. Der Bahnhof schien im Nebel zu verschwimmen.

Joshua realisierte nur noch den Geist. Im Bruchteil einer Sekunde blitzten ihre letzten Erinnerungen durch ihn. Er zuckte zusammen. Das Bild des Mannes, der sich über sie beugte und ihr das Messer an die Kehle setzte, brannte sich in seine Gedanken. Als er ihren Schmerz spürte, wich er mit einem Schrei zurück.

„Geh!“, zischte er.

„Hilf mir!“, schrie sie verzweifelt in seine Gedanken.

Doch Joshua war nicht Melinda Gordon aus der Fernsehserie „Ghost Whisperer“.

„Ich … ich kann nicht.“

Er sah, wie jemand neben der Frau erschien. Eine Gestalt, deren Gesicht er nicht ausmachen konnte. Dann war sie fort.

„Josh? – Himmel, Joshua!“

Wie angewurzelt stand Joshua da und hielt sich die Kehle. Er blinzelte und bemerkte den besorgten Blick des Kommissars.

„Ich muss wohl nicht fragen, ob du sie gesehen hast?“

Joshua verspürte Übelkeit, er musste aus diesem Bahnhof raus. „Erich … ich muss hier weg. Ich hab gesehen, wie er aussieht, ich … ich zeichne es dir auf, wie immer, ja?“

Das Gesicht des Kommissars war von tiefer Sorge gezeichnet. „In Ordnung. Tut mir leid, dass ich dich da reingezogen hab.“

Joshua winkte ab und flüchtete aus dem Bahnhof. Er blieb eine Weile in seinem Wagen sitzen, um sich zu beruhigen. Mit beiden Händen fuhr er sich über das Gesicht, nahm einen Kaugummi und schaltete das Radio ein, um auf andere Gedanken zu kommen.

Zurück in seiner Wohnung konnte er nicht anders und griff zu Block und Bleistift. Er hatte das Zeichnen nie gelernt, konnte es trotzdem recht gut, auch wenn sich sein Talent auf Porträts beschränkte. Am liebsten hätte er sich ein großes Glas Wein eingegossen, doch er musste in einer Stunde im Büro sein. Also versuchte er, das Bild des Mörders ohne Alkohol heraufzubeschwören.

Ihm lief ein Schauer über die Haut, als er sich in die Erinnerung fallen ließ und das Messer, das der Frau die Kehle aufgeschlitzt hatte, an seiner eigenen spürte. Er wischte das Gefühl fort und griff nach seinem Stift. Mit sicheren Handgriffen zeichnete Joshua das Gesicht des Mannes und fürchtete sich hinterher selbst vor dessen grausamen Ausdruck. Rasch scannte er das Blatt ein und schickte Erich die Zeichnung per Mail. Das Original trug er in die Küche, hielt es über den Spülstein und zündete es an.

Insgeheim dachte er, dass man den Mann genauso brennen lassen sollte, gleichzeitig erschrak er über seine Gedanken. Joshua starrte auf das züngelnde Blatt. Er hatte den Mörder auf Papier gebannt und nun besaß er die Macht, ihn zu vernichten – wenigstens auf diese Art.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er keine Zeit mehr für ein Frühstück hatte. Rasch zündete er sich eine Zigarette an, um seine zerrütteten Nerven zu beruhigen. Er rauchte nicht regelmäßig, aber in diesem Moment brauchte er das Nikotin. Alles andere musste warten.

 

 

IM AUGE DES TODES

 

Zwei Tage später stand Joshua mit seinem besten Freund Mark am Grab von dessen Mutter. Er wagte kaum etwas zu sagen, denn Mark schien für den Moment gebrochen zu sein. Es flossen keine Tränen, aber er sah es an dem Gesichtsausdruck seines Freundes. Dessen Schwester Nadja, elegant wie immer, stand in einiger Entfernung, und starrte eher gelangweilt auf die Bäume des Friedhofs. Joshua begleitete Mark, als er das letzte Mal auf den Sarg seiner Mutter sah.

Nadja warf Rosen ins Grab und wandte sich dann ab. Sie schien genervt zu sein. Ihr Bruder sah sie für einen Augenblick ärgerlich an.

„Dieser scheiß Krebs!“, zischte er Joshua zu. „Und Nadja hat ihr das Leben zusätzlich zur Hölle gemacht.“

Mark fuhr sich durch das blonde Haar, das heute gegen seine Gewohnheit nicht modern mit Gel frisiert war, sondern locker um sein Gesicht fiel, was ihn sehr viel jünger erscheinen ließ. Als Joshua sah, wie sein Freund begann, nervös an seiner Jacke zu nesteln, ergriff er ihn am Arm, zog ihn fort.

„Komm, wir fahren zum Restaurant. Sollen wir deinen Vater mitnehmen?“

Mark schüttelte den Kopf. „Der fährt mit Nadja.“

 

*

 

Die beiden Stunden im Restaurant, wo das Kaffeetrinken nach der Beerdigung stattfand, waren eine frostige Angelegenheit. Nadja unterhielt sich angeregt mit einigen Leuten und brüstete sich mit ihrem Job als leitende Angestellte einer Bank. Ihr Vater sagte nichts und starrte trübsinnig vor sich hin.

„Man könnte meinen, wir wären auf einem Geburtstag“, ätzte Mark, als er das Verhalten seiner Schwester beobachtete.

„Vielleicht ist das ja ihre …“, begann Joshua zu schlichten, wurde jedoch von Mark unterbrochen.

„Mann, Josh! Wenn du mir jetzt erzählen willst, dass das ihre Art ist zu trauern, hau ich dir eine runter.“

„Du hast ja recht. Da hilft kein Schönreden. Sie ist ein Biest“, bemerkte Joshua trocken.

„Nadja hat Mama jegliche Hoffnung auf Besserung genommen. Ständig hat sie ihr gesagt, dass es für sie besser wäre, wenn sie erlöst würde und so ein Zeug. Sie hat ihr indirekt die Schuld für den Krebs gegeben, weil Mama so unzufrieden mit sich war.“

„Was? Wie meinst du das?“

Als er bemerkte, dass Nadja zu ihnen herübersah, senkte Mark die Stimme. „Sie steht auf diesen Esoterikkram. Alles Halbwissen. Sie wollte Mama einreden, dass sich ihre Unzufriedenheit schließlich im Krebs manifestiert hat und sie selbst schuld an ihrer Krankheit sei.“

„Selbst wenn es so war, kann man das doch so nicht sagen“, entfuhr es Joshua erschrocken.

„Tja, das ist Nadja …“ Mark wand sich ein wenig. „Hast du … ich mein … hast du Mama …“

„Gesehen?“ Joshua schüttelte den Kopf. „Nein, sie ist nicht mehr hier, Mark.“

„Dann ist sie zu Hause, wie sie es sich gewünscht hat“, murmelte Mark leise.

Joshua nahm sich noch ein Kuchenstück, das dritte, und goss sich die vierte Tasse Kaffee ein.

„Menno, wo lässt du das bloß? Ich werde schon dick, wenn ich Kuchen nur anseh‘, obwohl ich mich viermal in der Woche beim Sport abrackere“, sagte Mark gefrustet.

Probleme mit seiner Figur plagten Joshua für gewöhnlich nicht.

„Vielleicht hab ich ’nen besseren Stoffwechsel? Dafür siehst du aus wie’n Model und ich wie ein Wischmopp auf Reisen.“

Mark gluckste leise und spähte auf Joshuas dunkle Haare. „Ach, die Frauen steh’n auf so was, Josh, glaub mir.“

Die Freunde verstummten, als sich Nadja näherte.

„Ich bring Papa nach Hause.“ Sie legte einige Geldscheine vor Mark hin. „Du verdienst mit deinem Grafikzeug ja nicht so viel. Bezahl das hier bitte.“

Abrupt stand Mark auf, sein Stuhl kippte nach hinten. Joshua konnte ihn gerade noch auffangen.

„Nimm dein Geld zurück! Ich bezahl alles.“

Mit einem Schulterzucken langte sie nach den Scheinen, steckte sie provozierend langsam in ihre Geldbörse und wandte sich wortlos ab. Erst als Nadja den Raum verließ, winkte Mark die Kellnerin heran und bezahlte die Rechnung.

„Nur weil ich in letzter Zeit nicht so viele Aufträge bekomme, muss sie wieder drauf rumreiten“, sagte er sichtlich verärgert beim Verlassen des Lokals.

„Sie hat doch keine Ahnung von Grafikdesign.“

„Klar hat sie das, Josh. Sie weiß genau, was ich mache.“

Joshua schwieg eine Weile. Als sie am Auto waren, lud er Mark zu sich ein. Er wollte seinen Freund an diesem Tag nicht alleinlassen.

 

*

 

Am nächsten Morgen saß Joshua in seinem Büro und erledigte lästige PC-Arbeit. Er liebte es, als Streetworker die Jugendlichen zu betreuen. Es weckte seine Lebensgeister und schenkte ihm ein gutes Gefühl. Wenn nur all der Bürokram nicht wäre. Joshua hatte sich angewöhnt, seine Dossiers sofort in den Computer einzugeben, auch wenn er sich nicht für diese Tätigkeit begeistern konnte.

„Ich brauch ‘ne Sekretärin“, beschwerte er sich bei seiner jungen Kollegin Hannah Dorkas, die ungeduldig etwas in den Büroschränken suchte. Ihr strohblondes Haar war in einen Zopf gezwängt und sie trug aufwendige Schminke, die ihr etwas Verwegenes verlieh.

„Ha, ha, ha, die brauchen wir alle“, motzte Hannah. „Hast du die Akte von dem kleinen Tim gesehen?“

„Tim Geork?“

„Ja, genau den.“

„Warte mal, die ist mir gestern irgendwo unter die Augen gekommen. Habt ihr ihn endlich rausgenommen?“

„Ja, heute Morgen. Nachdem Maddie seine Mutter und ihren neuen Freund alkoholisiert auf der Couch gefunden hat, während der Kleine in seiner Scheiße saß, allein in einem Zimmer eingeschlossen, hat Maddie ihn direkt mitgenommen.“

„Hat er denn schon ‘ne Pflegefamilie?“

„Ja, sozusagen im Eilverfahren organisiert.“

„Hier, ich hab sie. Maddie hat sie wohl gestern hier liegen gelassen.“

„Ich muss die doofen Akten endlich in den PC eingeben. Wie war das doch gleich mit der Sekretärin?“

Joshua zwinkerte seiner Kollegin zu. Seit er das Bild des Mörders verbrannt hatte, ging es ihm besser. Es schien wie ausgelöscht zu sein. Er holte sich einen großen Pott Kaffee und machte sich an die Arbeit. Da klingelte sein Handy.

„Ja?“

„Josh?“, sagte eine schwache Stimme.

„Lisbeth? Bist du das?“

„Ja … ich … Josh … mach’s gut, ja?“

Ihm kroch es eiskalt den Rücken hinunter. „Lisbeth, was ist los?“

„Ich mach Schluss. Danke … für alles.“

„Lisbeth, wo bist du?“

„Is‘ doch egal …“

„Lisbeth, bitte! Wo bist du?“

„Da, wo ich meistens bin, das weißt du doch, Josh …“

Das Gespräch brach ab. Joshua geriet in Panik.

„Hannah, schick einen Rettungswagen zum alten Bauhausgelände!“

„Was ist passiert?“

„Tu’s einfach! Ein Selbstmordversuch!“

Ohne zu zögern schnappte sich Joshua seine Jacke vom Haken und stürmte zu seinem Auto. Er trotzte jeglichen Verkehrsregeln und war binnen kurzer Zeit an dem Gelände, auf dem das baufällige Gebäude eines verlassenen Baumarktes stand. Mit quietschenden Reifen hielt er vor dem Eingang und zwängte sich durch zerborstenes Glas ins Innere.

„LISBETH!“

Er rannte durch die leere Halle auf ihr geheimes Lager zu – ihr persönliches Reich.

Lisbeth saß zusammengesunken an der Wand. Ihre schwarzen Haarsträhnen klebten wie feuchte Algen an ihrem Kopf. Aus ihrem linken Arm floss in pulsierenden Strömen das Blut.

Dies war kein Hilferuf gewesen, dies war ein Abschied. Sie hatte sich den Arm der Länge nach aufgeschnitten. Joshua sah im Augenwinkel das Drogenbesteck, das neben ihr lag.

„Lisbeth!“, brachte er nur geschockt heraus. Aus weiter Ferne näherten sich Sirenen. Er zog sich seine Jacke aus und presste sie auf die Blutung. Lisbeths Gesicht war kalkweiß.

„Bitte nicht …“, flüsterte er. „Komm, Kleines, halt noch ein wenig durch.“

Glas zerbrach, als sich die Feuerwehr einen Weg in das Gebäude bahnte.

„HIERHER!“, brüllte Joshua.

Nur Augenblicke später waren zwei Rettungssanitäter bei ihm und Joshua trat beiseite. Er hob den Blick. Tränen schossen ihm in die Augen. Es war zu spät. Lisbeth stand mit einem traurigen Lächeln vor ihm. Die Wunde am Arm war verschwunden.

Danke, Josh, hörte er sie tief in sich flüstern.

Lisbeth war fort.

Joshua sackte an einem baufälligen Regal zusammen. Wie in Zeitlupe sah er zu, wie die Rettungskräfte versuchten, das Mädchen zu retten.

„Herr Benning?“

Rasch wischte sich Joshua über die Augen und schaute auf.

„Sie waren ihr Sozialarbeiter, oder?“

Hannah musste den Rettungskräften alles mitgeteilt haben.

„Ja.“

„Es tut mir leid, aber das Mädchen …“

„Ich weiß!“ Der Typ sollte es nicht aussprechen. Das ließ es so real erscheinen.

„Kann man jemanden benachrichtigen?“

„Ich kümmere mich um alles.“

Der Mann nickte.

Joshuas Blick fiel auf ihre Spritze und er griff danach, doch im gleichen Augenblick hielt er inne. Er sammelte die Spritzen seiner Verlorenen, um sie nicht zu vergessen, aber er wusste auch, dass die Polizei sie zuerst untersuchen musste.

Mechanisch wählte er Erich Salbergs Nummer und der Kommissar meldete sich.

„Erich, kannst du mit ein paar Leuten zum alten Bauhausgelände kommen?“

„Was ist passiert, Joshua?“

„Lisbeth hat sich umgebracht.“

„Ich komme! Warte dort auf mich.“

Joshua raffte sich auf und ging hinaus auf den ehemaligen Parkplatz. Die Splitter der Scheiben erschienen ihm wie ein Spiegel seines Gemütszustandes.

Erich fuhr wenig später die Auffahrt hinauf. Ein weiteres Auto folgte ihm. Die Beamten blickten ihn fragend an und Joshua zeigte in Richtung des Gebäudes. Die Polizisten verschwanden im Inneren.

Erich kam langsam auf ihn zu. „Es tut mir sehr leid, Josh. Ich weiß, wie du um sie gekämpft hast. Wie hat sie …?“

„Lisbeth wollte sichergehen“, antwortete Joshua leise, „hat sich wohl erst einen Schuss gesetzt und sich dann die Pulsadern aufgeschlitzt. Sie rief mich an, wollte sich verabschieden, aber … ich kam zu spät.“

Erich legte eine Hand auf Joshuas Schulter und senkte die Stimme. „Ich weiß, dass du … na ja, wenn wir die Spritze auf Fingerabdrücke untersucht haben, lasse ich sie dir zukommen − inoffiziell.“

„Danke.“

Mit einer mitfühlenden Geste verabschiedete sich Erich und folgte seinen Kollegen in das verlassene Gebäude. Joshua fiel es schwer, sich von dem Anblick der zersplitterten Scheiben zu lösen. Abrupt riss er sich los und fuhr wie gelähmt zurück zum Jugendamt. Es musste ein Bericht geschrieben und die Akte geschlossen werden. Außerdem würde er die Eltern benachrichtigen müssen.

 

*

 

Als er in sein Büro stürmen wollte, hielt Hannah ihn auf. Joshua schüttelte nur den Kopf und sie seufzte betroffen. 

„Josh, wir wussten, dass Lisbeth labil ist. Du hast so viel für sie getan.“

Nicht genug, dachte er.

„Ich sag es den Eltern. Das musst du dir wirklich nicht antun.“

„Es wird sie eh nicht interessieren, Hannah.“

„Ich weiß.“

Joshua stolperte in sein Büro und zündete sich trotz Rauchverbot eine Zigarette an. Langsam setzte er sich vor den PC und schrieb seinen Bericht über den Vorfall. Die Leere, die sich wie eisige Kälte in seinem Inneren ausgebreitet hatte, wollte nicht weichen, schien ihn zu erdrücken.

Die Tür ging leise auf, Joshua sah nicht hoch.

„Josh?“ Sein Chef Jörn Kusack stand vor ihm. „Geh nach Hause.“

„Ich muss noch …“

„Josh, geh nach Hause. Du kannst das morgen erledigen.“

„Jemand muss nach Julian sehen. Er hat heute um drei den Besichtigungstermin wegen der Wohngemeinschaft.“

„Ich mach das.“

Joshua gab sich geschlagen und nickte. Langsam erhob er sich, zog schweigend seine Jacke an und verließ das Amt. Draußen verharrte er und starrte auf die vorbeifahrenden Autos. Passanten liefen eilig die Hauptstraße entlang und an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen. Ein Kind trotzte, weil es seinen Willen nicht bekam, und eine Taube flatterte vor ihm auf. Aber niemand beachtete ihn. Alles ging seinen gewohnten Gang – so unbegreiflich es ihm erscheinen mochte.

Lisbeth würde im Frühling keine Bäume erblühen sehen, obwohl sie die Kirschblüte so geliebt hatte. Sie würde nie wieder am Berger See die Vögel beobachten, nie wieder sein Handy verstellen, nie wieder …

Joshua schluchzte auf und hielt sich die Hand vor den Mund. Niemand sollte seinen Schmerz sehen, er gehörte ihm allein.

Rasch lief er zu seinem Auto und fuhr zurück nach Gelsenkirchen-Erle. Den Wagen parkte er vor seiner Wohnung, die sich im Zweifamilienhaus einer ruhigen Seitenstraße der Siedlung befand. Er ging jedoch nicht ins Haus, sondern lief durch einen schmalen Weg, der zu dem kleinen Spaziergebiet führte, das er so mochte. Einige Hundehalter liefen über die kiesbestreuten Wege und grüßten ihn. Kaninchen huschten zurück in die Gebüsche, als er an ihnen vorbeiging.

Joshua steuerte den Spielplatz an und nahm erleichtert zur Kenntnis, dass sich dort nur ein Kind aufhielt. Das Mädchen war allein und spielte gedankenversunken im Sand. Zunächst beachtete er es nicht und setzte sich auf die Kinderschaukel. Es war im egal, was die Spaziergänger von ihm dachten. Er war einfach gern hier.

Sacht ließ er die Schaukel hin und her schwingen.

Lisbeth war nicht aus seinen Gedanken zu verbannen. Innerlich sah er ihr trauriges Lächeln, ihr blasses Gesicht. Drei Jahre hatte er versucht, ihr zu helfen, in der letzten Zeit sogar die Hoffnung gehegt, dass sie es schaffen könne, ein normales Leben zu führen.

Joshua hatte Lisbeth zu einer Therapie überredet, sie dorthin begleitet. Er besorgte ihr Decken und Medikamente, war ständig für sie da – ihre Eltern hatten das Mädchen zerstört. Lisbeth war Ballast für sie gewesen, flüchtete mit fünfzehn und fand in der verlassenen Halle des Baumarktes einen heimlichen Unterschlupf, wo sie aber auch stets mit dem Risiko lebte, von dem Besitzer des Gebäudes entdeckt zu werden.

Wie oft Joshua versucht hatte, sie in einer betreuten Wohngemeinschaft unterzubringen, wusste er nicht mehr genau.

Ein Kribbeln im Nacken ließ ihn aufschauen. Eine alte Frau stand neben dem Mädchen, sah voller Sehnsucht auf es hinunter. Die Kleine würde die Frau nicht sehen können, das war Joshua augenblicklich klar. Als der Geist aufsah, lächelte Joshua ihr zu. Vielleicht war es die verstorbene Oma?

Seine Gedanken schweiften zurück zu seinem Schützling. Abrupt stand er auf und ging schnellen Schrittes über die Wiese.

Ich muss Lisbeth loslassen, dachte Joshua resigniert.

An dem kleinen Bach auf der anderen Seite des Weges saß ein Junge. Mit einem Stock stocherte er im Wasser. Seine Haut war blass und er blickte auf, als er registrierte, dass Joshua ihn erkennen konnte. Die Konturen des Kindes waren verschwommen.

Schluss jetzt!, brüllte Joshua innerlich. Er musste seine Gabe ausblenden, sonst würde er noch wahnsinnig werden. Er konzentrierte sich, suchte nach seinem inneren ›Knopf‹ und schaltete alle Geister auf unsichtbar. Schon vor Jahren hatte er dies gelernt, aber es gelang ihm stets nur für kurze Zeit.

Joshua wollte nur noch fortlaufen. Er atmete tief ein und rannte über die Ebene.

 

 

KALTE ZEITEN

 

„Du gibst mir das jetzt!“

„Aber ich wollte mir doch …“

„Du willst dir nur doofe Sticker kaufen“, blaffte das Mädchen.

Der Junge duckte sich und gab ihr sein Taschengeld. Tränen standen in seinen Augen. Er rannte über den Schulhof in eine verschwiegene Ecke, damit seine Freunde nicht sahen, wie er weinte.

Warum kreuzte seine Schwester auch hier auf? Sie hatte in der Grundschule nichts zu suchen. Er wünschte sich, dass er einfach in einem dunklen Abgrund verschwinden könne – nie wieder hervorkommen.

Später stocherte er zu Hause in seinem Mittagessen herum. Jeglicher Appetit war ihm vergangen. Er hörte die freundlichen Ermahnungen seiner Eltern nur halb, war mit seinen Gedanken weit weg.

„Ich hab keinen Hunger“, murmelte er schließlich und schob den Teller von sich. Der Junge schlurfte in das Zimmer, das er sich mit seiner Schwester teilte.

Diese kam herein, ließ sich auf ihr Bett fallen und nahm sich ein Buch.

„Hol mir mal was zu trinken.“

Der Junge schüttelte den Kopf und versuchte, sie zu ignorieren.

„Du holst mir jetzt was zu trinken!“

„Hol dir das doch selbst“, wagte der Kleine zu rebellieren.

Seine Schwester fuhr auf, der Junge wich zurück. Sie stieß ihn an die Wand, ihre Hand klammerte sich um seine Kehle.

„Du holst mir was!“

Panik stieg in dem Jungen auf. Er bekam keine Luft!

Nach für ihn endlosen Sekunden ließ sie von ihm ab, sah ihn drohend an. Der Junge lief aus dem Raum und besorgte ihr eine Cola.

Nie mehr hervorkommen, dachte er und verbarg sich in seinem Bett.

 

*

 

Am nächsten Morgen schleppte sich Joshua schlaftrunken zu seinem Briefkasten, um die Zeitung zu holen. Ein brauner Umschlag fand sich zwischen einigen Werbezetteln. Nur sein Name stand darauf. Ein Stich fuhr ihm in die Brust und seine Hände zitterten leicht, als er Erichs Schrift erkannte. Er nahm alles an sich und ging langsam die Treppe zu seiner Wohnung hinauf.

In dem gepolsterten Brief lagen Lisbeths Spritze und eine Notiz.

 

Hallo Josh,

auf der Spritze sind nur Lisbeths Abdrücke, deshalb war es kein Problem, sie Dir zukommen zu lassen. Die Ermittlungen sind abgeschlossen. Es war Selbstmord. Ich meld‘ mich.

Erich

 

Joshua wagte noch nicht die Spritze herauszuholen und öffnete die Dose mit Instantkaffee, wartete auf den Wasserkocher, der Geräusche von sich gab, als würde sich ein Sturm nähern. Lisbeth wollte sich nicht aus seinen Gedanken verdrängen lassen und Joshua rieb sich über das Gesicht, als könne er sie so vertreiben, was ihm nicht gelang. Mit einem bitteren Geschmack im Mund holte er die Spritze hervor, schrieb mit einem Marker Lisbeths Namen darauf und ging in den Flur.

Joshua holte aus der Kommode ein Holzkästchen hervor. Mit versteinerter Miene öffnete er es. Zwei Spritzen lagen darin. Auf jede war ein Name gekritzelt. Lisbeths war die dritte.

„Ich hoffe, du findest, was du suchst, Kleines“, flüsterte er. „Ich werde dich nicht vergessen.“

Als Joshua spürte, wie sich eine Träne aus seinem Auge stahl, wischte er sie fort. Betrübt lief er zurück in die Küche und füllte das Granulat seines lebensnotwendigen Morgengetränks in seine Tasse. Der Kocher hatte sich mittlerweile selbst ausgeschaltet und das Wasser verwandelte das trockene Zeug in das wunderbare schwarze Gebräu, das Joshua auf irgendeine Art immer tröstete.

Der Toast hüpfte nach oben und er nahm ihn aus dem Toaster, verbrannte sich an dem heißen Metall des Gerätes fast die Finger. Zischend sog er die Luft ein und ließ die Brotscheibe auf seinen Frühstücksteller fallen. Wirklich Appetit verspürte er nicht, aber er vermutete, dass ihm im Verlauf des Tages nicht viel Zeit zum Essen blieb, darum strich er Marmelade auf den Toast und aß, ohne das Brot wirklich zu genießen.

Sein Handy gab ein Blubb von sich und er schaute auf das Display des Smartphones. Eine SMS von Jörn? Mit gerunzelter Stirn öffnete er die Nachricht: Hey Josh, Julian kam gestern nicht zu der WG. Bevor Du ins Büro kommst, schau nach ihm. Danke.

Joshua seufzte. Die Wohngemeinschaft wäre perfekt für Julian gewesen. Warum musste der Junge nur so stur sein? Er hoffte, dass er ihn nicht wieder auf dem Strich fand, würde aber dennoch zuerst dort nach ihm suchen. Julian nahm zwar keine Drogen, doch er weigerte sich, Hilfe anzunehmen.

 

*

 

Kurze Zeit danach fuhr Joshua die Hauptstraße in Richtung Herten entlang und bog in einen kleinen Waldparkplatz ein, aber Julian war nicht da.

Abends würde er ihn sicher dort finden. Jetzt vermutete er ihn in seinem Lieblingsversteck. Er nahm eine Decke aus dem Kofferraum, schloss sein Auto ab und marschierte in den Resser Wald.

Vor einer abgesperrten Halde hielt er. Seit einigen Jahren versuchte man verstärkt, das Ruhrgebiet wieder grüner zu gestalten. Die alten Steinhalden der Zechen wurden mit Mutterboden aufgestockt und bepflanzt. Diese hier war schon mit Gras bewachsen. Julian saß auf einem Vorsprung und schaute auf die Felder, die sich vor ihm ausbreiteten.

Joshua kletterte über den niedrigen Metallzaun und stieg die Anhöhe hinauf.

„War ja klar, dass du mich findest“, begrüßte ihn Julian.

„Allzu schwer war es nicht“, antwortete Joshua schmunzelnd. „Was ist mit deinem Gesicht passiert?“

Julian wandte den Kopf zur Seite. „Nichts …“

Das rechte Auge des Jungen war bläulich verfärbt und an der Lippe war eine Verletzung zu erkennen.

Joshua legte die Decke um Julian. „Ist verdammt kalt, was?“

„Mmh.“ Der Junge nahm seine Gabe gerne an und kuschelte sich tief in die warme Wolldecke.

„Hast du schon gegessen?“

Julian schüttelte den Kopf und Joshua holte einen Schokoriegel aus seiner Jackentasche. „Ich hoffe, er ist nicht eingefroren.“

Julian lachte kläglich und nahm die Süßigkeit. „Und wenn, is‘ egal.“ Mit zitternden Fingern zerriss er das Papier und biss gierig in den Riegel.

„Josh?“

“Ja?“

„Findest … findest du es schlimm, dass ich … na ja … dass ich schwul bin?“

„Nein, warum sollte ich?“

„Manchmal hab ich Angst, dass dir das unangenehm ist.“

Tröstend legte Joshua einen Arm um den Jungen. „Klar, und weil es mir so unangenehm ist, sitz ich hier neben dir und frier mir den Hintern ab.“

Julian grinste. „Ich sag dir, dein Hintern ist nicht von schlechten Eltern.“

„Und ich dachte schon, keinem würde das je auffallen“, sagte Joshua amüsiert.

Mit einem leisen Schniefen wischte sich Julian mit dem Ärmel über die Nase. „Das mit dem Gesicht war so’n Scheißkerl, der wusste, dass ich schwul bin. Der ist einfach auf mich los.“

„Bist du deshalb nicht zu der WG gegangen?“

„Mmh.“

Joshua stand auf. „Komm, wir gehen bei McDonalds frühstücken. Mir ist hier echt zu kalt.“

„Okay.“

Sie kletterten die Halde hinunter, stiegen über den Zaun und liefen eilig zum Wagen. Julian seufzte, als die Autoheizung warme Luft zu ihm blies.

„Wo schläfst du zurzeit, Jul?“

Der Junge zuckte mit den Schultern. „Mal hier, mal dort.“

„Und das heißt?“

„Och Mann, Joshua, du kannst einen so löchern.“

„Ich weiß, ist ’ne schlechte Angewohnheit von mir.“

„Gestern hab ich mich in den Bahnhof gemogelt. Hab mir ein schönes Versteck gesucht.“

Das hatte Joshua befürchtet. Hätten die Sicherheitsleute ihn erwischt, wäre er draußen vielleicht erfroren. Manche Wachleute waren bei Minusgraden gnädig, andere …

„Willst du ein paar Tage mit zu mir kommen?“

Julian schüttelte den Kopf. „Das darfst du doch wahrscheinlich sowieso nicht.“

„Mir wäre das lieber, als dich erfroren auf ’ner Parkbank zu finden.“

„Josh … lass uns was essen, ja?“

„Okay.“ Man konnte Julian zu nichts drängen. Tat man es dennoch, verlor man ihn.

Später saßen sie in dem Schnellrestaurant und Joshua sah zu, wie Julian das Frühstück in sich hineinschlang. Er selbst trank nur Kaffee.

„Was ist mit der WG, Jul?“

Verlegen kratzte sich Julian am Kopf und sah auf. „Die woll’n sowieso keinen Schwulen.“

„Unsinn! Ich hab das doch mit dir besprochen. Das sind zwei Mädels, die sich freuen, einen Mann ins Haus zu bekommen, der ihnen nicht an die Wäsche will.“

Julian verschluckte sich fast an seinem Croissant. Er hustete und lachte dann laut auf. „Ich überleg’s mir, Josh.“

 

*

Joshua hängte Schal und Mantel an den Kleiderhaken und schlenderte zu Hannah in ihr gemeinsames Büro.

„Kommst spät“, begrüßte sie ihn.

„Jörn hat mir ’ne SMS geschickt. Ich musste noch zu Julian.“

„Haste ihn gefunden?“

„Klar.“

„Du bist wie ein Spürhund. Niemand findet seine Kinder so gut wie du.“

„Er ist so stur.“ Joshua seufzte und setzte sich auf die Kante von Hannahs Schreibtisch. „Die Wohngemeinschaft wäre so perfekt. Ich hätte sogar ’ne Halbtagsstelle für ihn. Die nehmen aber nur Kids, die nicht auf der Straße leben.“

Hannah griff nach ihrer Blümchentasse, aus der immer noch ein Teebeutel baumelte, und schlürfte an dem heißen Getränk. „Wo war er heut‘ Nacht? Es war minus acht Grad.“

„Im Bahnhof.“

Hannah murrte etwas Unverständliches.

„Ist denn mit dem kleinen Tim alles geregelt?“, erkundigte sich Joshua und stibitzte Hannah einen ihrer Kekse.

Gutmütig schob sie ihm den Teller mit Gebäck näher heran. „Die Talbachs sind echt gut. Wahrscheinlich kann er dort bleiben.“

„Gute Pflegeeltern sind wirklich Gold wert.“

Hannah beugte sich vor und fuhr ihm durch die Haare. „Du bist von der Mütze ganz zerzaust.“

Unverhohlen grinste Joshua sie an und dachte an Marks Worte: Ach, die Frauen steh’n auf so was, Josh, glaub mir. Vielleicht sollte er den Friseurbesuch tatsächlich noch hinauszögern.

Hannah klopfte auf eine Akte, die auf ihrem Tisch lag. „Ist vielleicht was für dich. Eine Sechzehnjährige, die schwanger ist. Die Eltern haben sie rausgeschmissen.“

Stirnrunzelnd schaute er seine Kollegin an. „Weil sie schwanger ist?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Wie würde Michael Mittermeier sagen? Arschlocheltern.“

Joshua schnaubte belustigt und sah die Akte durch. Das Mädchen hieß Claudia und war im sechsten Monat.

„Hat sie sich selbst an uns gewandt?“

„Ihre Tante rief uns an. Sie ist dort untergekommen.“

„Ich fahr morgen mal hin. Vielleicht wäre ja das Mutter-Kind-Haus in Duisburg was für sie.“ Joshua erhob sich und ging zu seinem Schreibtisch, setzte sich mit gemischten Gefühlen an seinen Arbeitsplatz.

„Ich hol dir mal einen Kaffee.“ Hannah verschwand in den kleinen Aufenthaltsraum.

Lisbeths Akte musste bearbeitet werden und Joshua schaltete seinen PC an. Den aufkeimenden Schmerz versuchte er auszublenden, aber es gelang ihm nicht besonders gut.

Nur kurz sah Hannah auf seine Arbeit, dann stellte sie wortlos einen Kaffee auf Joshuas Schreibtisch und ließ ihn in Ruhe.

Mit den Geschehnissen des gestrigen Tages schloss er die Akte. Ein seltsames Gefühl schnürte ihm die Brust ein und er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, starrte an die beige gestrichene Wand.

„Weißt du, wer Lisbeths Beerdigung organisiert?“

„So wie ich gehört habe, wird sie von ihren Eltern beerdigt – anonym.“

Wut keimte in Joshua auf. Das Mädchen hätte ein anständiges Grab verdient. Ein Ort, an dem man Blumen niederlegen konnte.

„Ich geh mal eine rauchen.“

„Seit wann rauchst du denn, Josh?“

Joshua zuckte mit den Schultern. „Nur manchmal …“

Er war gerade dabei, sich seine Jacke anzuziehen, als Jörn zu ihm kam. „Joshua, ein Kommissar Salberg ist vorne. Ist was passiert?“

Sein Herz machte einen Satz. Keiner seiner Kollegen wusste, dass er Geister wahrnehmen konnte. Und sie ahnten auch nicht, dass er Erich manchmal bei Mordfällen half.

„Ähm, nein, Erich ist ein Freund meines Vaters. Ich geh kurz raus mit ihm, okay?“

„Ja sicher, kein Problem.“

Eine Erinnerung ließ Joshua innehalten.

 

Der Mann mit dem dunklen Haar stand vor ihm in der Küche. Joshua schrak zurück. Noch nie zuvor hatte er einen Geist innerhalb der Wohnung gesehen. Sein Gesicht wirkte eingefallen, er schien verstört zu sein. Seltsame Schlieren tanzten um seine Gestalt.

„Wer bist du?“, wisperte Joshua und wich ängstlich zurück.

Der Fremde antwortete nicht. Aber Joshua wurde von inneren Bildern überfallen. Ein Jugendlicher mit weizenblonden Haaren hielt eine Pistole an den Kopf des Mannes. Joshua schrie auf, als der Schuss in seinem Inneren widerhallte.

Sein Vater stürmte in den Raum, begleitet von seinem Freund Erich, dem Kommissar. „Josh? – Joshua, was ist los?“

„Mach, dass er verschwindet!“, schluchzte er verzweifelt.

„Wer soll verschwinden, Junge?“

Doch Joshua antwortete nicht, denn der Geist und die unheimlichen Bilder waren fort.

Wachsam sah sich Erich um. „Joshua, was hast du gesehen? Ist jemand in die Wohnung eingedrungen? Während wir hier waren?“, fragte er besorgt.

„Erich, lass mal, es ist … na ja, Joshua sieht manchmal Dinge, die …“, er warf seinem Sohn einen Blick zu und umarmte ihn, „… die andere nicht sehen.“

Stets fürchtete sein Vater, er würde fantasieren, auch wenn er es ihm zuliebe nun anders ausdrückte.

„Ich hab ihn gesehen, Papa! Da war ein blonder Junge, der dem Mann einfach in den Kopf geschossen hat“, sagte er bestimmt und unter Tränen.

„Was sagst du da?“ Erich war hellhörig geworden. „Wie sahen die Männer aus, Joshua?“

„Der eine hatte fast schwarzes Haar und trug so einen Anzug. Der andere war noch jung und hatte blonde Haare.“

Verwundert sah Erich den Jungen an. „Anzug?“ Er eilte in das Wohnzimmer zu seiner Tasche und holte ein Foto hervor, das einen lächelnden Mann zeigte, der ein kleines Mädchen auf dem Arm trug.

„Ist das der Mann, der getötet wurde, Josh?“

Joshua nickte nur.

„Würdest du den anderen wiedererkennen?“ Erich wirkte aufgeregt.

„Ich … ich glaube schon.“

„Erich, was soll das werden?“

„Dein Sohn hat gerade das Mordopfer beschrieben und identifiziert.“

„Ach, hör doch auf!

Das Streitgespräch wollte Joshua nicht mit anhören und flüchtete in sein Zimmer.

 

Um die Gedanken zu vertreiben, schüttelte Joshua den Kopf. Er war schließlich doch mit Erich aufs Präsidium gegangen und hatte den Jugendlichen auf einem Foto identifizieren können. Durch Joshuas Hilfe konnte ihm der Mord nachgewiesen werden, weil alle Beweise schließlich gegen ihn sprachen. Seitdem half er Erich, auch wenn sein Vater das nicht immer guthieß. 

Zumindest bestritt seither keiner von beiden mehr seine besonderen Sehfähigkeiten.

Der Kommissar wartete vorne am Eingang und Joshua begrüßte ihn freundlich.

„Willst du ’ne Zigarette?“

Dankbar nahm Erich das Angebot an. „Seit wann rauchst du?“

„Hannah hat mich gerade dasselbe gefragt“, antwortete Joshua. „Ich bin nur Gelegenheitsraucher.“

„Dann geht’s dir nicht gut, mh?“

Joshua begegnete Erichs Blick. Die gütigen Augen sahen ihn offen an und ihm fiel auf, dass der Bart seines väterlichen Freundes ungewöhnlich lang war. „Du scheinst auch im Stress zu sein.“

Der Kommissar lachte unglücklich. „Das kann man wohl sagen. Es gab schon wieder einen Mord.“

„Ich hatte es fast befürchtet. Sonst wärst du nicht hier.“

„Glaub mir, Joshua. Als ich vorgestern gesehen hab, wie dich das wieder mitnahm, wollte ich dich komplett raushalten. Aber jetzt haben wir eine Leiche auf dem Betriebsgelände der Zeche Ewald gefunden.“

Sprachlos starrte Joshua ihn an. Der neue Tatort war nur zehn Minuten Autofahrt von seinem Zuhause entfernt.

„Es ist wieder eine Prostituierte und ich hab Verstärkung aus Recklinghausen bekommen. Ein Ermittler, der Täterprofile erstellt, kommt nachher zum Tatort.“

„Echt? Ein Profiler?“

Erich seufzte leise. „Denkst du, dein Chef würde dir mal für ‘ne Stunde freigeben?“

Joshua zog an seiner Zigarette und fror trotz seiner Winterjacke. Die beißende Kälte schien durch jegliche Kleidung zu schlüpfen. „Erfreut wird er nicht sein, aber das krieg ich schon hin.“

„Das Opfer muss wegen der eisigen Temperaturen sowieso erst einmal in der Gerichtsmedizin aufgetaut werden“, murmelte Erich.

Seufzend trat Joshua seine Zigarette aus, hob sie auf und warf sie in den Mülleimer. „Ich werde sehen, was ich tun kann.“

Er ging zurück in die Büroräume und klopfte bei Jörn Kusack an. Als sich niemand meldete, lugte Joshua in das Zimmer.

Jörn war nicht da. Also suchte er ihn im Aufenthaltsraum. Sein Vorgesetzter stand mit Hannah vor der Kaffeemaschine. Hannah schien genervt zu sein und Jörn war dabei, das Gerät auseinanderzuschrauben.

„Hat das alte Ding den Geist aufgegeben?“, erkundigte sich Joshua.

„Mal wieder“, murrte Hannah.

„Nimm mein Granulat“, bot er an.

„Bäh! Ekelkaffee.“

Joshua verkniff sich ein Lachen und wandte sich an seinen Chef. „Jörn?“

„Mh?“ Sein Vorgesetzter sah kurz auf.

„Wäre es möglich, dass ich Erich mal kurz zu einem Fall begleite? Ich wäre so in ‘ner Stunde wieder da.“

Jörn hielt in seiner Arbeit inne. „Zu einem Fall? Ist was mit einem deiner Kids?“

„Nein, zum Glück nicht. Aber …“ Verdammt! Wie sollte er das jetzt erklären? „Ich … na ja, ich helfe Erich manchmal. Hab da für gewisse Dinge ein gutes Gespür und er weiß das.“

„Ein gutes Gespür?“

Joshua zuckte mit den Schultern. Mehr würde er nicht preisgeben.

„Also, wenn du der Polizei hilfst … klar, ist okay.“ Jörn grinste. „Kannst die Stunde ja hinten dranhängen.“

„Ich muss wahrscheinlich eh noch nach Julian sehen. Das passt“, sagte Joshua frech.

Jörn verzog das Gesicht. „Immer eine Antwort parat“, brummte er, konnte aber sein Lächeln nicht verbergen.

„Ich bring euch auch morgen eine Kaffeemaschine mit. Ich hab noch eine zu Hause, die ich nicht brauche, weil ich eh immer meinen Ekelkaffee trinke.“

„Das ist Bestechung“, feixte Jörn.

Nun lachte Hannah laut los und schlenderte zurück in ihr Büro.

„Jetzt mal im Ernst, Jörn. Ist es okay?“

„Ja, geh nur. – Und vergiss die Kaffeemaschine morgen nicht.“

Joshua grinste belustigt und kehrte zu Erich in die Kälte zurück.

 

 


Ein Bild, das Gebäude, Himmel, draußen, Ziegelstein enthält. Automatisch generierte Beschreibung 

 

EINGEFRORENE LEICHE

 

Das alte Fördergerüst der Zeche Ewald ragte in die Höhe und Joshua überkamen nostalgische Gefühle. Sein Großvater hatte hier gearbeitet und so manche Geschichten über die Gruben erzählt. Heute war das alte Industriegelände ein Kulturort. Im vorderen Bereich war ein Café errichtet worden. Die historischen Gebäude waren denkmalgeschützt und dienten nun als Büros und Theaterräume. Dahinter erstreckte sich der Landschaftspark Hoheward mit seinen begrünten Halden.

Es war schon einige Zeit her, dass er diese Hügel bestiegen hatte. Früher, als der Hund seiner Eltern noch lebte, war er fast dreimal in der Woche dort gewandert. Jetzt blieb er zumeist in den Gelsenkirchener Wäldern, wenn er Sehnsucht zur Natur verspürte.

„Sie liegt im Malakow-Turm“, bemerkte Erich.

Die abgesperrte Ruine des Turmes stand ebenfalls unter Denkmalschutz und Joshua starrte auf die rötlich-braunen Backsteinmauern, die sich vor ihm erhoben.

„Wer hat sie denn entdeckt?“

„Jugendliche, die sich dort herumgetrieben haben.“

„Hab ich mir schon fast gedacht.“

Sie kamen dem Förderturm näher und Joshua spürte sofort die Anwesenheit eines Geistes. Ein für ihn unverkennbares Gefühl entwickelte sich tief in seinem Inneren. Hitze und Kälte gleichermaßen sammelten sich in seiner Brust, um als Schauer über seine Haut zu rieseln. Er fröstelte. Sehr viel Wut und Angst lagen in der Luft.

Wortlos führte Erich ihn durch die Metallabsperrung in den Turm hinein. Die Leiche lag im hinteren Bereich zwischen Unrat. Joshua konnte kaum atmen. Es fiel ihm schwer, den Blick von der toten Frau abzuwenden.

Ihre Augen waren weit aufgerissen. Das braune Haar breitete sich wie ein Fächer um ihren Kopf aus. Ihre Glieder waren verdreht, sie musste bis zuletzt gekämpft haben. Eis hatte sich auf ihrer Haut gebildet und sie ähnelte einer Wachsfigur.

„Wie lange liegt sie schon hier?“, krächzte Joshua und musste die Worte regelrecht hervorwürgen.

„Der Gerichtsmediziner schätzt so etwa zwei Tage. Wegen der Kälte ist es aber hier schwer zu bestimmen.“ Mit einem seltsamen Blick sah Erich ihn an. „Ist sie … noch hier, Josh?“, fragte er dann leise.

Joshua konnte nur nicken. „Die Frage ist nur, wo verbirgt sie sich? Ich spüre ihre Angst, sehe sie aber nicht“, wisperte er zurück und richtete den Blick instinktiv nach oben.

Dann blendete er die Stimmen um sich herum aus und vertiefte sich in die Betrachtung der alten Ruine, die aus seiner Perspektive bizarr wirkte und von vergangenen Zeiten erzählte. Sie erschien ihm wie das Skelett eines riesigen Tieres. Für einen Augenblick hielt er die Luft an, weil das Gebäude scheinbar atmete. Die Mauern zogen sich zusammen, weiteten sich, zogen sich wieder zusammen …

Dann geschah alles sehr schnell. Der Geist der Frau erschien über ihm und schoss auf ihn zu. Joshua wich mit einem Aufschrei zurück und stieß gegen einen weichen Körper. Er stolperte, fiel der Länge nach auf den Boden und hörte rechts von sich einen derben Fluch. Sein Blick schweifte nach oben, aber der Geist war fort. Er fühlte seine Präsenz, aber die Frau zeigte sich nicht mehr.

„Sagt man nicht Entschuldigung oder so?“

Betreten sah Joshua zu der jungen Frau, die er angerempelt hatte, und begegnete Augen, die so grün waren, dass er sich fragte, ob sie Kontaktlinsen trug. Feine Sommersprossen sprenkelten ihr ausgesprochen hübsches Gesicht, das von brünetten Locken umrahmt war. Joshua war ein wenig sprachlos.

„Du lieber Himmel!“, sagte sie mit einem Lachen. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

Mit einem schiefen Grinsen richtete sich Joshua auf. „Das hab ich“, rutschte ihm heraus.

Sie starrte ihn einen Augenblick verdutzt an. „Dann bist du …“

„Joshua Benning.“ Er streckte ihr die Hand entgegen, die sie sofort ergriff.

„Der Geisterjunge“, sagte sie schmunzelnd.

„Nennt Erich mich so?“

„Manchmal. Irgendwie dachte ich, du wärst jünger.“

Die Frau sah zu Erich Salberg und beobachtete, wie er sich mit dem Gerichtsmediziner beriet.

„Und du bist?“

„Oh! Lea Schmidt von der Kripo.“

„Muss ich dich jetzt siezen?“

„Was? Warum?“

Joshua lächelte verlegen. „Sollte ein Scherz sein. Ich meine, weil du bei der Kripo bist.“

Sie prustete leise. „Nee, lass mal. Ist schon gut. Wir arbeiten hier ja quasi zusammen.“

Plötzlich fühlte Joshua, wie sich ihm etwas näherte. Wie ein lauerndes Tier kroch die Präsenz auf ihn zu – kalt wie Eis. Für kurze Zeit hatte er seine Aufgabe vergessen, jetzt holte ihn die Wirklichkeit zurück und er besann sich. Er sah, wie Lea fröstelte, ihr Gesichtsausdruck wurde ernst. Spürte sie es auch oder sah sie ihm an, dass etwas nicht stimmte?

„Lea, ich muss … ich … sag Erich, ich bin kurz draußen auf dem Gelände.“

Er musste den Geist fortlocken. Zu viele Gefühle wüteten in der Frau und das konnte Konsequenzen haben. Joshua hatte schon erlebt, dass Dinge herunterfielen, wenn sich eine Seele von ihren Empfindungen beeinflussen ließ. Die Balken und Träger der Ruine sahen nicht sehr stabil aus, eher wie Mahnmale, die jemanden leicht erschlagen konnten, wenn man dem Gebäude nicht genug Respekt zollte. Er wollte nicht ausprobieren, ob sie einem wütenden Geist standhielten.

Konzentriert hielt er Ausschau nach der Verstorbenen. Sie erschien wieder über ihm, nah an den Backsteinmauern. Ihr Aussehen faserte auseinander, als wäre sie im Begriff sich aufzulösen.

„Komm mit!“, rief er ihr stumm zu.

Es war für Geister sehr verführerisch, jemandem nahe zu sein, der sie wahrnahm. Die Frauengestalt löste sich von der Ruine und folgte ihm. Er ging rasch hinaus, zwängte sich durch die Absperrung und lief ein Stück auf die Halde zu. Lea sollte nicht in der Nähe dieser Seele sein.

Sorgte er sich etwa um die junge Polizistin?

Verwirrt schüttelte Joshua den Kopf und schob jegliche Gefühle in den Hintergrund, als der Geist vor ihm sichtbar wurde. Er wich nicht zurück.

„Wer hat dir das angetan?“, flüsterte er.

Sie antwortete nicht, doch er sah Bilder, die mit Macht durch sein Inneres rauschten.

 

Sie stand frierend an der Straße. Ihr Minirock war viel zu kurz und ihre Füße schienen schon seit Stunden taub zu sein. Endlich ein Auto, das auf den Parkplatz fuhr. Mit gekonntem Hüftschwung lief sie dem Fahrer entgegen.

Die Szene wechselte unerwartet, nun war sie im Auto, nestelte an der Hose ihres Kunden.

Dann ein Bruch. Plötzlich wurde sie unsanft über einen Platz geschleift. Steine zerkratzten ihre Haut. Sie war zu geschockt, konnte nicht einmal schreien.

Der Turm – so bedrohlich in der Nacht.

Sie bekam keine Luft!

 

Ihr Schrei hallte so laut in Joshuas Gedanken, dass er sich instinktiv die Ohren zuhielt.

Zeig mir sein Gesicht!

Aber das Antlitz ihres Mörders war in Dunkel gehüllt …

„Hey, alles klar?“

Erschrocken zuckte Joshua zusammen. Mit besorgter Miene stand Lea vor ihm. Langsam nahm er die Hände herunter und sah über den Platz. Der Geist der Frau war fort.

Erich kam mit einem Fremden aus dem Turm und Joshua sah, dass man die Leiche abtransportierte. Wie lange hatte er hier in der Kälte gestanden? Er zitterte – innerlich und äußerlich. Lea schien da wie ein wärmender Ofen zu sein. Sie lächelte ihm zu.

„Joshua? Das ist Robert Dornfeldt“, stellte Erich seinen Begleiter vor.

Dies war also der Profiler aus Recklinghausen. Der Mann war mit einem Wollmantel bekleidet und Joshua sah, dass er darunter eine graue Anzugjacke mit einem weißen Hemd trug. Sein kurzes Haar wirkte so dunkel, als bestünde es aus Kohle.

Mit einem misstrauischen Gesichtsausdruck reichte er Joshua die Hand. „Ich habe schon viel von Ihren rühmlichen Fähigkeiten gehört“, sagte er nur.

Meinte er dies nun ernst oder abfällig? Es fiel Joshua schwer, ihn einzuordnen. Der Mann strahlte solch eine Kraft und Beherrschtheit aus, dass er sich in seiner Gegenwart unsicher fühlte.

„Dieses Mal sind sie nicht so rühmlich.“ Joshua wandte sich an Erich. „Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Es war wie von einem dunklen Schleier verhüllt.“

Dornfeldt sagte nichts, aber Erich seufzte leise.

„Kein Anhaltspunkt?“

Joshua schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur, dass sie auf dem Pendlerparkplatz an der Münsterstraße aufgegabelt wurde.“

„Das Auto?“

Daran hatte Joshua nicht gedacht. Hatte er das Auto erkennen können? Nein, es war dunkel und er hatte bei der Flut der Bilder nicht weiter darauf geachtet.

„Erzählen Sie mir mehr von den Morden“, forderte der Profiler und wandte sich von Joshua ab. Schnell waren die Polizisten in ein leises Gespräch vertieft. Sie entfernten sich etwas.

„Mach dir nichts draus“, raunte Lea. „Robert Dornfeldt ist Übersinnlichem gegenüber nicht gerade aufgeschlossen.“

„Du kennst ihn?“

„Ich habe früher in Recklinghausen unter ihm gearbeitet. Jetzt bin ich in Gelsenkirchen eingesetzt.“

Verwundert fragte sich Joshua, wieso sie so vertraut miteinander umgingen.

„Er traut mir nicht, oder?“

„Dornfeldt ist vorsichtig. Das ist er immer. Auch mag er es nicht, wenn Zivilisten eingebunden werden.“

„Warum?“

„Man sieht einem die Bösartigkeit oft nicht an, und einige Mörder genießen es, bei der Aufklärung ihrer eigenen Morden zu helfen.“

„Das ist pervers.“

„Ja, allerdings.“

Joshua registrierte, wie ein Beamter der Schutzpolizei zu ihnen herüberwinkte.

„Ich muss gehen, Joshua. Schön, dass ich den Geisterjungen mal kennenlernen durfte.“

Lea ging zu dem Mann hinüber und Joshua wandte sich ab. Er sagte Erich, dass er zurück zur Arbeit müsse und stieg in sein Auto. Die junge Polizistin blieb noch lange in seinen Gedanken haften.

 


 

COFFEE-TO-GO

 

Nachdenklich fuhr Joshua ins Büro zurück. In sich gekehrt erledigte er seine Arbeit, sah erneut die Akte des schwangeren Mädchens durch und fragte im Mutter-Kind-Haus nach, ob ein Platz zur Verfügung stehen würde. Als er eine positive Antwort bekam, vereinbarte er mit der Kleinen und ihrer Tante einen Termin am nächsten Mittag.

Am Abend begab sich Joshua besorgt auf die Suche nach Julian. Der Junge war unauffindbar. Zweimal meinte er, Lea Schmidt in einem Auto gesehen zu haben und schüttelte über sich selbst den Kopf. Da er den Tag über kaum etwas gegessen hatte, hielt er bei einem Italiener und bestellte sich überbackene Nudeln, die er mit nach Hause nehmen wollte.

Als er aus der Pizzeria kam, runzelte er verdutzt die Stirn. Plagten ihn jetzt schon Halluzinationen? Er war sich fast hundertprozentig sicher, dass Lea erneut an ihm vorbeigefahren war. Verwundert schaute Joshua dem Audi hinterher und schreckte im gleichen Augenblick zusammen, als er ein Kind mitten auf der Straße sitzen sah. Sein Schrei blieb ihm im Hals stecken, als das heranfahrende Auto einfach durch die kleine Gestalt hindurchraste. Joshuas Herz klopfte hart und schnell gegen seine Brust, und sein Essen wäre ihm fast aus den Händen gerutscht.

Mann, komm von der Straße weg, fuhr er das Mädchen in Gedanken an. Ihr Kopf ruckte hoch und Erstaunen regte sich in ihren Zügen, als sie begriff, dass Joshua sie sehen konnte. Langsam richtete sie sich auf und wich zurück. Sein Auto stand auf der gegenüberliegenden Seite und er folgte ihr.

„Die Straße ist kein guter Ort. Auch nicht für ein Geistermädchen“, zischte er und die Kleine verblasste.

Im gleichen Augenblick wurde ihm bewusst, wie albern er sich benahm. Die Kleine könnte bis zum Jüngsten Tag auf der Straße hocken, ihr würde dort nichts mehr geschehen.

Die Geister erschienen Joshua so real, dass er zuweilen völlig instinktiv handelte und so ein junges Ding einfach nur beschützen wollte.

Er kämpfte darum, seine Gabe im Alltag auszublenden, aber er fühlte sich geschwächt, dann funktionierte es einfach nicht. Zu viele Seelen, die mitten unter ihnen weilten, offenbarten sich ihm im Laufe eines Tages. Etliche schienen bei den Menschen helfend einzugreifen, manche wirkten verwirrt.

Mit einem tiefen Seufzen dachte er an seinen Feierabend. Er wollte nur noch nach Hause. Seine Wohnung war eine Zuflucht, in die niemand gegen seinen Willen eindringen konnte. Er wusste nicht genau wieso, aber Joshua hatte erkannt, dass er in seinem eigenen kleinen Reich die Macht besaß, zu bestimmen, wer dort sein durfte und wer nicht. Es gab Seelen, die ihn dort besuchten, aber diese waren ihm einst nah gewesen. Er vertraute ihnen und hatte sie auf verschiedene Weise geliebt.

Zu Hause ließ er seinen Schlüsselbund auf die Kommode fallen, jonglierte die Nudeln auf den Tisch und schmiss seinen Mantel achtlos auf die Couch. Ein Kratzen an der Tür ließ ihn lächeln. Er öffnete sie wieder und ein getigerter Kater stolzierte in die Wohnung.

„Na, Sam? Ist Luise einkaufen und du willst dir deinen kleinen Hintern nicht abfrieren?“

Sam miaute und hüpfte auf den Tisch – dem Geruch der Nudeln folgend.

„Oh nein, Bürschchen, das ist mein Abendessen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783948592035
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Spuk Übersinnliches Zeche Geister Krimi Spannung Mystery Ruhrgebiet Historisch Urban Fantasy Thriller

Autor

  • Tanja Bern (Autor:in)

Tanja Bern lebt mit ihrer Familie in Gelsenkirchen und ist dem Ruhrgebiet immer treu geblieben. Sie liebt die nordischen Länder und verweilt gerne am Meer oder im Wald, was sich in ihren Büchern widerspiegelt. Ihr Debüt wurde 2008 veröffentlicht. Seitdem arbeitet die Autorin in unterschiedlichen Genres. Die Romance ist dabei ein fester Bestandteil ihrer Geschichten, die oft phantastisch oder historisch sind.
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Titel: Ruf der Geister