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Wenn Apfelbäume sprechen könnten

von Lisa Torberg (Autor:in)
264 Seiten
Reihe: Die Apfelbäume, Band 1

Zusammenfassung

Ein Roman, so bunt wie Südtirol und so liebenswert wie seine Menschen – von Bestsellerautorin Lisa Torberg. Liesi Thaler lebt mit ihrer neunzigjährigen Großmutter Filomena auf dem Apfelhof. Wie schon die Frauen vor ihr führt sie das Erbe ihrer Familie fort. Ihr Heimatort unweit von Meran ist ein beschauliches Fleckchen, seine Einwohner freundlich, das Leben von gegenseitigem Respekt geprägt. Doch dann kommt es zu eigenartigen Vorkommnissen auf ihren Apfelwiesen. Die Ernte, und somit ihre Existenz, steht auf dem Spiel. So geht sie auf den Vorschlag des Bürgermeisters ein und stellt ihren Hof als Drehort für einen Film zur Verfügung. Der Regisseur entpuppt sich jedoch als gewalttätiger Säufer, und Bertl, ihr bester Freund seit Kindertagen, meldet plötzlich Besitzansprüche auf sie an. Schließlich tritt auch noch der Filmproduzent Chris Bergmann in ihr Leben, der Interesse an ihrem Hof und im Besonderen an den drei uralten Apfelbäumen vor dem Haus zu haben scheint. Weshalb interessiert er sich für die Geschichte ihrer Familie? Je näher Liesi dem attraktiven Mann kommt, umso verwirrter ist sie. Welches Geheimnis verbirgt er?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


EINLEITUNG

Mela ist ein bezaubernder Ort im Etschtal, geprägt von seinen Apfelwiesen und Weinbergen und dem historischen Ortszentrum. Der Hausberg, auf dessen Abhang das mittelalterliche Schloss (im Bild) über der Felsschlucht und dem Fluss thront, ist ebenso Teil der Idylle wie die Menschen, die dort leben. Ich liebe dieses Fleckchen Erde, seitdem ich zum ersten Mal meinen Fuß darauf gesetzt habe. Niemals hätte ich mir vorstellen können, damals, als ich aus beruflichen Gründen für einige Zeit nach Südtirol zog, hier eine weitere Heimat zu finden. Doch genau das ist geschehen. Mittlerweile sind mehrere Jahre vergangen, in denen ich Mela dieselben Gefühle entgegenbringe wie London, Rom und Sizilien, aber auch denjenigen, die ich kennenlernen durfte und die mir Freunde wurden. Ihnen widme ich diesen Roman und löse mein Versprechen ein, sie in den Personen der Geschichte auf die eine oder andere Art zu verewigen. Doch konnte ich in diesem Buch nur einen Teil von dem unterbringen, was mir am Herzen liegt – und so wird dies sicher nicht mein letzter Südtirol-Roman bleiben.

Sollten Sie nun Mela auf der Karte suchen, so muss ich Sie enttäuschen, denn Sie werden es nicht finden. Mela ist das italienische Wort für Apfel und war somit die naheliegende Wahl für den Namen des Handlungsorts, was sich Ihnen beim Lesen erschließen wird. Die Beschreibungen der ortstypischen Merkmale stimmen nicht hundertprozentig mit der Realität überein – aber wer das wahre Mela kennt, wird unschwer erraten, wo sich der meiner Fantasie entsprungene Apfelhof befindet.

Schlussendlich weise ich mit Nachdruck darauf hin, dass keine der in diesem Roman erwähnten Personen einer real existierenden nachempfunden ist und ihre Charakterzüge, physischen Merkmale und ihre Handlungen meiner Fantasie entsprungen sind.

Bleibt mir nur noch, zu hoffen, dass ich Ihnen mit dieser Südtiroler Geschichte kurzweilige, intensive und zugleich entspannende Lesestunden bereiten kann. Falls Sie sich zwischen den Zeilen in diesen wundervollen Ort und den Apfelhof verlieben sollten und mehr wissen wollen, so können Sie mir jederzeit schreiben. Gefällt Ihnen der Roman, empfehlen Sie ihn bitte weiter. Gern auch in Form einer Rezension, die das Salz in der Suppe eines jeden Autors und anderen Lesern ein Hinweis sind.

 

Viel Freude bei der Lektüre wünscht Ihre Lisa Torberg.

KAPITEL 1

»Jetzt gib schon her!« Liesi streckte den Arm aus und ergriff ungeduldig den Schläger, den ihr der Caddie reichte. Sie wog ihn nachdenklich in der Hand, während ihr Blick in die Ferne schweifte. Dann stellte sie sich mit leicht gegrätschten Beinen in Position, schob den Schirm ihres Käppis ein wenig höher auf die Stirn, umfasste den Griff und schaute konzentriert nach unten. Vorsichtig, fast zärtlich, berührte sie den kleinen weißen Ball. Schließlich bewegte sie den Schläger wie ein Pendel vor und zurück, holte schwungvoll aus – und traf den Bertl zwischen den Beinen.

Er schrie auf und fiel nach hinten.

»Idiot!«, rief sie aus und sah auf das gestandene Mannsbild, das rücklings auf dem weichen Abschlag der fünften Bahn lag und nach Luft rang.

Jeder hätte jetzt in ihr eine unsensible Person vermutet, eine der Frauen, die sich um nichts und niemanden als sich selbst kümmerten. Davon gab es im Ort einige; aber wenn eine nicht dazugehörte, dann die Liesi Thaler. Nur zeigte sie ihre sensible Seite nicht. Nicht, weil sie nicht wollte, sondern da sie von klein auf gelernt hatte, dass sie mit einem Panzer besser dran war und problemloser durchs Leben kam. In diesem besonderen Moment jedoch, weil sie es nicht durfte.

Sie seufzte genervt, ließ den Schläger zu Boden fallen und streckte dem Bertl den Arm entgegen.

»Jetzt stell dich nicht so an. Steh auf!«

Wie ein Hirschkäfer lag er auf dem Rücken, eine Hand schützend über den Hosenstall haltend, kniff die Augen zusammen – er würde doch nicht weinen! – und presste die Lippen fest aufeinander. Dann schüttelte er den Kopf.

»Du bisch a Depp!«, zischte sie und wandte sich ab.

Der Caddie hielt ihr den Griff des Schlägers hin. Seine Anwesenheit war absolut überflüssig, aber zumindest war mittlerweile klar, dass er einfach nur den Mund halten und die Statistenrolle spielen sollte, für die er bezahlt wurde. Der Ball lag immer noch auf seinem Platz und wartete darauf, abgeschlagen zu werden. Trotzdem bückte sie sich, hob ihn an, legte ihn zurück und richtete sich wieder auf. Dabei fühlte sie sich schrecklich. Und lächerlich.

Je rascher sie vorankam, desto früher konnte sie diese Farce, die ihr der Bürgermeister aufs Auge gedrückt hatte, beenden.

Wie vorgesehen schaute sie kurz nach rechts, um sicherzugehen, dass sich nicht noch irgendein Mann an sie herangetraut hatte, holte aus – und schlug ab. Ihr Blick folgte dem Ball. Sie vermied es, sich irgendetwas anmerken zu lassen, und fingerte die Sonnenbrille aus dem freizügigen Ausschnitt, der ihr Dekolleté kaum verbarg, und setzte sie auf. Erst als ihre Augen hinter den verspiegelten Gläsern verschwunden waren und ihr Gesicht im Schatten des Käppi-Schirms lag, erlaubte sie sich ein ganz privates Schmunzeln, das die Fältchen in ihren Augenwinkeln vertiefte. Allerdings achtete sie peinlichst darauf, dass es ihre Mundwinkel nicht erreichte. Sie musste professionell bleiben, bis der Ball im Loch und somit ihre Aufgabe erledigt war.

Dieser blinde Abschlag der fünften Bahn verlangte jedem Spieler einiges an Präzision ab und war alles andere als einfach. Doch sie hatte es geschafft. Wie so oft, murmelte ihr Unterbewusstsein. Ja, ihr Abschlag war gut gewesen – trotz der absurden Umstände. Aber sie fühlte sich nur mies in dieser Aufmachung. Zudem spürte sie die Blicke auf ihren nackten Beinen und sorgte sich überdies um den Bertl, auch wenn man ihr vorher versichert hatte, dass sie ihn nicht ernsthaft verletzen konnte. Am liebsten würde sie kurz unterbrechen und sich vergewissern, dass es ihm gut ging – aber sie musste tun, was man von ihr erwartete, und nicht das, was sie wollte. Sie senkte den Kopf und betete sich vor, dass sie es machte, weil sie einen Batzen Geld dafür bekam. Und jeden einzelnen Euro davon brauchte sie dringend – für den Apfelhof.

Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging sie los. Sie wusste ohnehin, dass ihr alle folgten wie die Gläubigen dem Pfarrer bei der Palmsonntagsprozession. Innerlich stöhnte sie bei dem Gedanken, dass es genau das war, worauf ihre Freundinnen neidisch waren. Sie hingegen würde im Moment fast alles geben, wenn sie mit der Traudl und der Gitti tauschen könnte.

»Dort!« Der Caddie, ein langer Lulatsch mit riesigen Füßen, der vierzigtausend Follower auf Instagram und YouTube hatte – weshalb, hatte sie nicht begriffen –, streckte seinen Arm aus und deutete auf den Ball, den sie schon längst gesehen hatte. Er war so perfekt gefallen, als ob sie ihn persönlich dorthin getragen und abgelegt hätte. Sie beschleunigte ihre Schritte.

In den gut zwanzig Jahren seit dem Bestehen des Clubs hatte sie die neun Golfbahnen so oft gespielt, dass sie irgendwann mit dem Zählen aufgehört hatte. Früher war sie in jeder freien Minute hier gewesen, aber seitdem die Probleme immer mehr wurden, spielte sie viel seltener. Doch vergessen hatte sie nichts. Damals, mit dreizehn, hatte sie die Lektionen mit dem englischen Golftrainer verinnerlicht und hielt sich bis heute an alles, was er ihr beigebracht hatte. Der zweite Schlag auf dieser Bahn war nicht einfacher als der erste – und sie war unter Druck. Liesi spürte, wie das unangenehme Gefühl wieder von ihr Besitz nahm. Hinter sich hörte sie zwar keine Stimmen, aber das leise Summen der Elektromotoren der Golfcarts. Die Präsenz der Menschen, die ihr folgten und immer näher kamen, war erdrückend.

Sie warf einen Blick zum Himmel über dem Grün, wo ein paar harmlose Schönwetterwolken Richtung Bozen davonzogen. Rechts, etliche hundert Meter weiter oben, prangte die trutzige Burgruine – und vor ihr lag, etwas erhöht, das verheißungsvolle Stück Rasen mit der Fahne, die das Loch markierte.

Das Wetter war perfekt, und wenn alles glattging, konnte sie die Bahn vielleicht wirklich in den idealen vier Schlägen spielen. Sie straffte die Schultern. Um diesen Quatsch so rasch wie möglich zu beenden, musste sie riskieren.

Sie schaute zum Caddie, der mit der Hand bereits einen Schläger aus ihrem Golfbag zog. »Nein, geben Sie mir das 7er-Eisen.«

»Aber ...«

Sie nahm die Sonnenbrille ab und warf dem Kerl, der sie einen guten Kopf überragte, einen eiskalten Blick zu. Das hätte sie auch getan, wenn es nicht im Drehbuch vorgesehen wäre. Der Typ ging ihr schrecklich auf die Nerven. Sie fixierte ihn also, während sie die Brille zusammenklappte und mit einem Bügel in den tiefen Ausschnitt hängte.

Im Normalfall beriet sich ein Caddie mit dem Spieler und gab ihm Tipps – aber zum Glück war das in diesem Fall nicht vorgesehen. Dieser angebliche Caddie wirkte mit seiner schlaksigen Figur, den schmalen Schultern und dem Schlafzimmerblick wie einer, der nicht die geringste Ahnung vom Golfen hatte. Und das entsprach ja den Tatsachen. Liesi schob den Schirm ihres Käppis ein wenig nach oben und streckte wortlos den Arm aus.

Sobald sie das Eisen in der Hand hielt, ging alles blitzschnell.

Sie blickte auf den Ball, grätschte leicht die Beine, korrigierte ein wenig ihren linken Fuß und holte aus. Kraftvoll schwang der Schläger zurück – diesmal ohne von einem Hindernis gebremst zu werden. Der Schlägerkopf sauste auf den Ball zu und traf ihn. Liesi verhielt in der typischen Nach-dem-Abschlag-Position, in der Golfer und Schläger in Symbiose waren und alles rundum vergaßen. Das Einzige, was in diesem Moment zählte, war der Ball. Sie beobachtete, wie das kleine, weiße Geschoss auf das Grün zuflog und darauf landete. Wo genau, sah sie erst, als sie mit weit ausholenden Schritten über den Fairway laufend endlich auf der erhöhten Fläche ankam.

Hinter sich hörte sie das Summen der Carts, die die leichte Steigung nach oben kamen. Sie vernahm ein Keuchen, wahrscheinlich kam es von dem Dicken, der heute Morgen bereits im Ruhezustand geschwitzt hatte. Der Caddie war ihr zwar mit seinen langen Beinen überlegen, aber trotzdem war sie diejenige, die noch vor ihm ein paar Schritte vor dem Ball zu stehen kam und zweimal blinzeln musste, um zu begreifen. Er lag nur einen knappen Meter vom Loch entfernt.

Diesmal musste sie nicht einmal aufschauen, sondern nur den Arm ausstrecken. Endlich wusste der improvisierte Caddie, was er zu tun hatte. Sie hatte ihm die Schläger ja auch vor dem Clubhaus eine halbe Stunde lang erklärt. Er reichte ihr den Putter.

Sie packte ihn, legte beide Hände um den Griff und stieß den Ball an. Sanft und doch kräftig genug, um ihm den richtig dosierten Schub zu geben.

Er rollte ins Loch – ein Schlag unter Par.

Der Jubel brach los.

»Birdie!«, schrie irgendwer.

»Meisterleistung«, kam es von einer anderen Seite.

Das stand im Drehbuch, und die Statisten hätten es auch gerufen, wenn sie erst nach zehn Bällen eingelocht hätte. Aber sie war gut gewesen – und doch war es ihr komplett egal. Sie drückte dem Caddie den Schläger in die Hand und rannte auf den Bertl zu, ruckte das Kinn in die Höhe und fragte atemlos: »Hab ich dir vorhin wehgetan?«

»Halb so schlimm, die haben mich doch da unten ausgestopft.« Er grinste und zwinkerte ihr zu.

»Gott sei ...«

»Frau Thaler!« Die tiefe, verärgerte Stimme ging ihr durch Mark und Bein und sie erstarrte. »Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass Sie sich an die Regieanweisungen halten sollen. Danke, das wars! Sie erinnern sich? Haben Sie den Satz vielleicht in Ihrem Hirn vernommen, obwohl ich ihn nicht ausgesprochen habe?«

Liesi spürte, wie sie die Wut übermannte.

»Verflixt und zuagnaht!«, schrie sie und stemmte die Arme in ihre Hüften. Dabei ging sie auf den Regisseur zu, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, ihm nicht noch einmal zu nahe zu kommen. »Sie sollten froh sein, dass ich bei diesem Blödsinn mitgespielt habe. Schaun’S mi doch an!«

Sie griff mit beiden Händen an die pinkfarbene Schürze, die zu dem gelb-rosa karierten Dirndl aus glänzendem Stoff gehörte, und hob sie hoch.

»Glauben’S, dass irgend a normale Frau mit an so an Kladl golfen gehn tat? Mir taten so was ned amoi anziehn, wann uns wer was dafür zohlt. Außer beim Benefizturnier, oba des wor ja scho.«

Der Mann, der schon am Morgen wie eine Schnapsdestillerie gestunken hatte, kam einen Schritt auf sie zu und sein säuerlicher Schweißgeruch waberte in einer Wolke auf sie zu. Sie rümpfte die Nase und hielt die Luft an.

»Ich habe zwar nur jedes dritte Wort von dem verstanden, was Sie von sich gegeben haben, doch denke ich, Sie sprachen von Geld. Berichtigen Sie mich, falls ich mich irren sollte, aber wenn ich mich recht erinnere, Frau Thaler, werden Sie großzügig dafür bezahlt!«

Sie starrte ihn an und versuchte zu begreifen, ob seine buschigen Augenbrauen zwei waren, die mittig ineinander übergingen, oder aber ein einziger Balken oberhalb seiner Augen wuchs. Und was machte er, während sie abgelenkt war? Er streckte die Hand aus und griff an den aufgebauschten Puffärmel ihrer Bluse.

»Und das hier ist allerfeinste Brüsseler Spitze.« Bei den Worten beugte er auch noch seinen Kopf vor. »Sie sollten froh sein, dieses teure Designerstück tragen zu dürfen!«

Liesi war sich plötzlich sicher, dass in der Eineinhalbliterplastikflasche, die ihm einer der Assistenten ständig hinterhertrug, kein Wasser, sondern Wodka war. Sein Atem vernebelte auch ihr die Sinne. Wahrscheinlich würde sie nicht mehr mit dem Auto heimfahren können, denn falls sie in eine Verkehrskontrolle kam und blasen musste, würde ihr Alkoholwert weit über der erlaubten Promillegrenze liegen.

Sie schlug ihm auf die Hand, mit der er immer noch den Puffärmel festhielt, und machte einen Satz zurück. Dabei erinnerte sie sich daran, dass nicht nur er, der auf den absurden Namen Ummo Tütken hörte, sie nicht verstand, sondern ein Teil der Filmcrew ebenfalls aus Norddeutschland kam. Und so wechselte sie zu Hochdeutsch.

»Wissen Sie was? Meinetwegen können Sie Ihre Landsleute mit Falschinformationen vollstopfen, aber ich mache da nicht mehr mit. Sie scheuchen mich in einem Barbie-Dirndl über den Golfplatz, damit man im Ausland denkt, dass wir Südtiroler sogar in Lederhosen und Dirndlkleidern ins Bett gehen. Dabei sind wir viel normaler, als Sie es sind, Herr Tütken. Oder glauben Sie, dass wir uns hier schon ab dem frühen Morgen mit Wodka besaufen, wie Sie es tun?«

Der Regisseur, der angeblich in seiner Heimat eine ziemlich große Nummer war, wie ihr der Bürgermeister gesagt hatte, schnappte nach Luft. Seine Augen wurden tellerrund und sein Brustkorb blähte sich auf. Liesi stand wie erstarrt da, vernahm das Raunen rundum, merkte aber erst, dass der Tütken sich auf sie stürzte, als seine Hände sich um ihren Hals legten.

Sie keuchte auf, hob reflexartig die Arme und umklammerte seine Handgelenke. Im selben Moment hörte sie einen Schrei, der dem Gebrüll eines wütenden Braunbären ähnelte. Der stinkende Mann vor ihr würgte sie immer noch, aber er wankte. Sein Kopf bewegte sich vor ihrem verschwommenen Gesichtsfeld, driftete nach links, wackelte – und verschwand.

»Du verdammt’s Arschloch, du!«

Liesi erkannte Bertls tiefe, dröhnende Stimme und der Griff um ihren Hals lockerte sich. Sie hustete, fasste sich an die Kehle, atmete hektisch Luft ein. Irgendjemand packte sie sanft an den Schultern und zog sie weg. Zu ihren Füßen rollte sich der Bertl mit dem Regisseur auf dem perfekt gestutzten Rasen des Grüns. Ihr bester Freund bekam den anderen unter sich und hockte sich breitbeinig auf seine Oberschenkel. Dabei hämmerte er wie verrückt mit beiden Fäusten auf den Brustkorb und das Gesicht des deutschen Regisseurs ein. Dessen Kopf wurde nach links und rechts geschleudert wie ein Punchingball.

»Aufhören!«, schrie sie, aber das, was aus ihrer malträtierten Kehle kam, war nur ein Krächzen.

Sie stürzte sich auf den Bertl, umklammerte seine breiten Schultern und brachte ihren Mund an sein Ohr.

»Hör auf, Bertl«, keuchte sie, »du bringst ihn noch um!«

Plötzlich erstarrte er. Seine Arme sanken kraftlos nach unten auf seine Oberschenkel. Langsam wandte er den Kopf und schaute sie an.

»Dieses Schwein hat dich verletzt!«

Sie legte ihre Hände an sein Gesicht und sagte: »Nicht mehr als ich dich vorhin.« Sie versuchte sich in einem Lächeln.

»Dass du oba a immer über oalls an Witz reißen muasst!«

Liesi brachte kein Wort heraus. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie hustete, spürte die Tränen, die ihr dabei in die Augen traten, und schüttelte hektisch den Kopf.

»Sie müssen zum Arzt, Frau Thaler. Kommen Sie bitte mit, und Sie auch, Herr Kofler«, hörte sie einen Mann der Filmcrew sagen. Es war der, der immer mit dem Clipboard, an dem ein Kugelschreiber befestigt war, herumlief und auf dem Notizblock Anmerkungen niederschrieb. An seinen Namen konnte sie sich nicht erinnern.

Sie reagierte nicht auf das, was er sagte, stand nur mit hängenden Schultern da. Ihr Kopf war leer, ihre Augen tränenblind. Die Geräusche um sie herum klangen dumpf. Das Nächste, was sie spürte, waren Bertls starke Arme um ihren Körper, als er sie hochhob. Sie wusste sofort, dass er es war, auch, dass sie jede physische Nähe mit ihm vermeiden sollte, weil er dann wieder etwas Falsches hineininterpretierte. Nur war sie zu schwach, um zu protestieren, und im Moment fühlte es sich richtig gut an und so ließ sie es geschehen. Er stieg mit ihr neben den Mann in ein Golfcart und hielt sie einfach nur fest. Als der Golf-Buggy einen Halbkreis zog, um Richtung Clubhaus zu fahren, sah sie eine Gruppe von Menschen, die um den Regisseur herumstand, der immer noch auf dem kurz geschorenen Rasen lag. Was sie aber nicht sehen konnte, war der Kameramann, der nach wie vor filmte. Ummo Tütken hatte vergessen, »Danke, das wars!« zu rufen.

KAPITEL 2

Christian Bergmann – von der Presse, Kollegen und Freunden ausnahmslos nur Chris genannt – saß seit gut zwei Stunden auf der sonnenbeschienenen Terrasse des Clubrestaurants. Er hatte die Jacke ausgezogen, sich auf dem Stuhl zurückgelehnt, die langen Beine weit von sich gestreckt und genoss die überraschend warmen Sonnenstrahlen. Die Stimmen der Menschen um ihn herum hatte er ausgeblendet, hörte hingegen das Summen der Bienen und das Zwitschern der Vögel. Vor sich konnte er den Fairway der ersten Bahn sehen, weiter vorn die Fahne, die das Loch in der Mitte des Grüns markierte. Der Golfplatz von Mela fügte sich so perfekt in das Etschtal ein wie die Apfelwiesen und Weinreben, die den Talboden bedeckten, soweit man sehen konnte. Er musste jedoch nur den Kopf ein wenig nach rechts drehen und mit dem Blick dem über einige Kilometer leicht ansteigenden Gelände folgen, wo dieser plötzlich vom hoch aufragenden Eisberg gebremst wurde. Die hohen Pfeiler in der Waldschneise waren selbst von hier erkennbar, und sobald die beiden Gondeln sich auf halber Strecke kreuzten, blitzten Glas und Metall im Sonnenlicht auf – so wie jetzt. Es war, als ob der reflektierte Strahl sich trotz der Distanz direkt in seine Brust bohren wollte. Chris streckte den Arm nach der Apfelschorle aus, nahm einen Schluck und tippte seine Sonnenbrille mittig an, sodass sie wieder perfekt auf der Nasenwurzel saß.

Konnte man Heimweh nach einem Ort verspüren, an dem man nie gewesen war? Er war noch nicht geboren, als seine Eltern von hier fortgingen und in den hohen, flachen Norden gezogen waren, wie seine Mutter Hamburg und die Küste immer genannt hatte.

Wie konnte es also sein, dass er das Gefühl hatte, genau zu wissen, wo der Apfelhof lag, nämlich links vom Hausberg und der Seilbahn, oberhalb der Stelle, wo der Eisbach aus der Schlucht ins Ortsgebiet drängt?

Und was um Himmels willen hatte ihn dazu gebracht, sich ausgerechnet für Mela zu entscheiden? Der Locationscout hatte drei weitere Orte vorgeschlagen. Und er war derjenige, der die finale Entscheidung traf. Warum also ...

Sein Handy begann zu klingeln und ein Ruck ging durch seinen Körper.

Seitdem er angekommen war, hatte man ihn nicht gestört, und fast hatte es sich angefühlt wie Urlaub. In der Firma wusste niemand, wo er war, und er hatte klare Anweisungen gegeben, dass sie ihn nur im Notfall ...

Er musste den Satz nicht weiterdenken.

Chris Bergmann löste den Rücken von der Lehne, über der die Jacke hing, und fischte das Telefon aus der Innentasche. Sobald er den Namen auf dem Display las, ahnte er, dass seine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden waren.

KAPITEL 3

Während der Mann der Filmcrew das Golfcart zum Clubhaus und daran vorbei Richtung Parkplatz lenkte, besprach er sich leise mit dem Bertl. Liesi verstand kein Wort und schloss wieder die Augen. Plötzlich hörte sie das typische Geräusch, wenn eine Fahrzeugtür entriegelt wurde, und blinzelte. Bertl bugsierte sie gerade auf den Beifahrersitz seines Autos und griff nach dem Gurt, um ihn ihr anzulegen. Sie stieß seine Hand weg und erledigte das selbst, bevor er sich über sie beugen konnte.

Er starrte sie entgeistert an, und sie widerstand dem Wunsch, ihren Blick zu senken. Stattdessen sagte sie mit Nachdruck: »Ich brauche mein Golfbag. Und meine Tasche ist auch noch ...«

»Die Tasche ist hier und bis auf einen Arzt brauchst du sonst gar nix«, schnitt er ihr das Wort ab und knallte die Beifahrertür von außen zu.

 

Eine Viertelstunde später, in der zwischen Bertl und ihr eisiges Schweigen herrschte, lag sie auf der Untersuchungsliege in der Hausarztpraxis ihrer Freundin Traudl. Es war immer noch die von ihrem Vater, die sie ebenso übernommen hatte, wie das Messingschild vor der Tür, auf dem Dr. E. Gruber zu lesen war. Der alte Hausarzt hieß Erwin und ihr einziges Kind hatten seine Frau und er »der Einfachheit halber« Edeltraud getauft, wie er gern erzählte. Als ob der damals schon gewusst hätte, dass seine Tochter in seine Fußstapfen treten würde. Aber sie hatte es wirklich getan, und er hatte ihr zum dreißigsten Geburtstag den Schlüssel zur Praxis überreicht und war seither mit Traudls Mutter fast ständig auf Reisen.

»Du musst ihn anzeigen«, sagte ihre Freundin jetzt mit ernster Miene und wickelte eine Haarsträhne um den Finger.

»Und was soll das bringen?« Liesi setzte sich auf und schob eine ihrer störrisch-vorwitzigen blonden Locken hinters Ohr. Ihre Stimme klang heiser und kratzig, als ob sie eine ganze Nacht lang gesoffen und Zigarren geraucht hätte.

»So was Blödes kannst auch nur du fragen!« Bertl, der sich bisher ruhig verhalten hatte, stand plötzlich vor der Liege und deutete auf ihren Hals. »Man kanns nicht nur hören, sondern auch sehen, dass dir dieser Piefke wehgetan hat.«

»Das schaut schlimmer aus, als es ist«, beruhigte Traudl jetzt den Freund.

»Und du meinst, dass du das beurteilen kannst«, meinte er geringschätzig.

Die beiden Frauen lachten auf und er sah betreten zu Boden.

»Meine Approbation sagt genau das aus, Bertl.« Wie so oft sprach sie mit ihm wie mit einem Kleinkind. Nicht, dass er dumm war, ganz und gar nicht, aber seine Anschauungen waren von seinem Vater geprägt worden – und den hatte er eben nicht mehr, seitdem er elf war. Seine kleine, überschaubare Welt war in gewisser Hinsicht damals stehen geblieben und die Rollen der Menschen waren klar definiert. Die Männer brachten das Geld heim und die Frauen studierten nicht. Schon gar nicht wurden sie Ärzte.

»Ich kann dir versichern, dass die Liesi in ein paar Tagen wieder ganz die Alte sein wird«, fuhr sie ruhig fort. »Die Hämatome brauchen ein bisserl, bis sie verschwinden, mit der Stimme geht das rascher. Aber«, sie hob mahnend einen Zeigefinger und wandte sich ihrer Freundin zu, »wärst du jetzt in der Notaufnahme in Meran im Krankenhaus, dann würden die Kollegen die Polizei verständigen.«

»Eben!«, rief der Bertl laut.

»Schrei doch nicht herum, sonst glauben die Leute im Wartezimmer weiß Gott was!«, wies ihn die Ärztin zurecht.

»Das tun sie sowieso«, murmelte er.

»Ja, weil du mich auf den Armen hereingetragen hast, als ob ich bewusstlos gewesen wär!«, meckerte Liesi.

»Kinder, es nutzt niemandem was, wenn ihr beide euch auch deswegen streitet, ihr kriegts euch ohnehin ständig in die Haare.« Traudl ging hinüber zu ihrem Schreibtisch und beugte sich über die Tastatur. »Ich verschreibe dir jetzt die Salbe, die du dreimal täglich auf die blauen Flecken schmierst. Und trink viel heißen Tee, am besten aus Eibischwurzeln oder Malve.«

Der Drucker spuckte das Rezept aus, sie nahm es und kam auf Liesi zu, die sich mittlerweile aufgesetzt hatte und ihre nackten Beine schaukeln ließ. Traudl blieb vor ihr stehen und ließ ihren Blick von ihrem Gesicht bis zu den Zehenspitzen gleiten.

»Und als Freundin verordne ich dir, dringend aus diesem lächerlichen Dirndl rauszukommen und wieder Hosen anzuziehen. Diese nackerten Waden passen einfach nicht zu dir.«

»Sag jetzt nicht, dass ich keine schönen Beine habe«, meinte Liesi grinsend.

»Die schönsten«, brummte Bertl, woraufhin die beiden Frauen sich einen einvernehmlichen Blick zuwarfen und sich Liesis Kehle ein tiefer Seufzer entrang.

»Du musst es ihm sagen«, formulierte Traudl wortlos – und wie immer zuckte Liesi zur Antwort mit den Achseln und verdrehte die Augen.

»Ich muss jetzt den Nächsten rufen«, fuhr die Ärztin daraufhin laut fort. »Ich weiß nicht, ob es sich zeitlich ausgeht, aber vielleicht komme ich morgen bei dir vorbei. Wann wirst du daheim sein?«

»Ich habe ehrlich gesagt nicht vor, das Haus zu verlassen, bis diese Flecken nicht verschwunden sind, und wenn, dann fahre ich nur die Apfelwiesen kontrollieren.« Liesi sprang von der Liege und griff nach dem Golfkäppi, das sie vorhin abgenommen hatte. Jetzt setzte sie es wieder auf und die Sonnenbrille ebenfalls.

»Das sind Würgemale, Liesi, keine Knutschflecken. Dafür brauchst du dich nicht zu genieren.« Traudl stupste sie unter dem Kinn an, sodass sie aufsah.

»Das tu ich nicht. Aber ich brauch damit auch nicht herumzulaufen. Die Leute reden ohnehin viel zu viel.«

»Und was machst du mit dem Film? Die haben dir doch schon einen Vorschuss gezahlt.«

Liesi schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Der wird nach der Golfplatzszene überwiesen, also wahrscheinlich morgen. Und sobald ich das Geld habe, schreibe ich denen eine Mail, dass sie sich einen anderen Drehort suchen sollen.«

»Aber du hast einen Vertrag unterschrieben. Vielleicht solltest du mit dem Bürgermeister ...«

»Lass den Bürgermeister aus dem Spiel«, unterbrach Bertl die Ärztin und legte schützend einen Arm um Liesis Schultern. »Die Sache ist erledigt, wie du gehört hast. Schluss. Aus. Ende. Und wenn die Liesi den Regisseur nicht anzeigen will, dann können wir sie nicht dazu zwingen. Aber ich hab vorhin eh schon mit dem Handy Fotos von den Abdrücken gemacht, die seine verdammten Griffel auf Liesis Hals hinterlassen haben. Sobald die Produzenten die sehen, werden sie sicher nicht auf die Einhaltung des Vertrags bestehen.«

»Damit hast du auch wieder recht«, pflichtete ihm Traudl bei.

In Liesis Kopf hingegen hatten die Worte ihres besten Freundes einen stechenden Schmerz ausgelöst – wie schon so oft. Sie duckte sich unter seinem Arm weg, sodass dieser nicht mehr auf ihrer Schulter lag, und griff in die versteckte Einschubtasche im Dirndlrock. Zum Glück hatte sie ihren Autoschlüssel dort und nicht in der Tasche. Liesi umschloss ihn und beugte sich vor, bis ihr Mund nur noch wenig von Traudls Ohr entfernt war.

»Kannst du später mit der Gitti mein Auto vom Golfplatz holen und mir bringen?«

Sie schob den Schlüssel in Traudls Hand, sodass der Bertl ihn nicht sehen konnte. Ihre Freundin verstand sofort.

»Ja, natürlich, liebe Frau Thaler«, sagte sie mit lauter Stimme, die den Patienten im Wartezimmer galt. Von dem Autoschlüssel war nichts mehr zu sehen, als sie die Tür öffnete. »Wir sehen uns dann wieder in ein paar Tagen zur Kontrolle.« Sie streckte die Hand aus, um sowohl ihre Freundin als auch Bertl zu verabschieden. Der stapfte wortlos davon.

»Bis später«, formulierte Traudl stumm und wandte sich der alten Dame zu, die bereits aufgestanden war.

Der Blick, den sie auf Liesis Hals oberhalb des weit ausgeschnittenen Dirndls warf, ließ sie den Kopf senken und mit einem gemurmelten Gruß verschwinden.

KAPITEL 4

Von wegen Urlaubsgefühle! Chris Bergmann starrte auf Ummo Tütken und fragte sich, wie seine Vorgänger es in all den Jahren geschafft hatten, mit ihm zusammenzuarbeiten.

Tütken hatte bei einem einzigen Film Regie geführt, der von der Kritik gelobt und vom Publikum geliebt wurde. Was objektiv betrachtet nicht auf seine herausragende Leistung zurückzuführen war. Filme mit Tieren, die vermenschlicht werden und denen man eine Stimme gibt, zogen selbst in der heutigen Zeit der überragenden Spezialeffekte, vor allem wenn die Story auf die Tränendrüsen drückt. Der Mischlingshund, der sein Herrchen zuerst aus dem brennenden Haus rettete und nach dessen Tod aufgrund der schweren Rauchgasvergiftung wochenlang an seinem Grab saß, bis er dort von einem kleinen Jungen im Rollstuhl entdeckt wurde, war der deutsche Kassenschlager gewesen. Anfang der Neunzigerjahre. Seither war viel Zeit vergangen und aus dem Alt-Hippie, den sein Agent als Alternativen und Umweltschützer verkauft hatte, war ein Säufer geworden, der nur deshalb nicht komplett gestrandet war, weil er mit Alkohol im Blut in seinem Job wirklich gut war.

Chris wusste, dass es Besessene gab, die einfach nichts anderes tun wollten, als irgendwelche Filme zu drehen, egal ob vor oder hinter der Kamera. Sein Vater war so einer gewesen. Er, der begeisterte Alpinkletterer und Fotograf aus Hamburg, war rastlos über zwei Jahrzehnte durch die Welt gereist, bevor er in den Südtiroler Bergen seine Wahlheimat und die Liebe zu einer viel jüngeren Frau gefunden hatte. Bis er beim Abstieg aus der Adang-Führe, in der Südostwand des Sas Ciampac in den Dolomiten, einem anderen Kletterer zu Hilfe kam und mit ihm so unglücklich aus der Wand flog, dass sein Bein mehrmals brach. Es dauerte Monate, bis er wieder ohne Krücken gehen konnte, und so erlebte er die Geburt seines einzigen Sohnes in einem Zustand, der zwischen tiefster Verzweiflung und großer Freude schwankte. »Du hast damals seinem weiteren Leben Sinn gegeben«, sagte seine Mutter immer, wenn sie von ihm sprach. Der Traum vom Bergsteigen war nach dem Unfall ausgeträumt und mit ihm der Grund verschwunden, weshalb der Flachländler nach Südtirol gezogen war. Er nahm seine schwangere Frau mit in seine Heimatstadt und verlegte seine sportlichen Aktivitäten ins Wasser. Genauer gesagt in die Elbe, über die er anfangs in einem Kanu paddelte und dann auf den Kajak umstieg. »Dabei brauche ich das Bein nur bedingt«, meinte er, als ihn Journalisten fragten, warum er sich dafür entschieden hatte. Zu der Zeit, vor etwa vier Jahrzehnten, tauschte er nämlich seinen Fotoapparat gegen einen dieser neuen Camcorder und nahm Kontakt zur Filmakademie in Berlin auf. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, das Filmen professionell zu erlernen – und er tat es. Bald drehte er einen ersten Naturfilm über das Vogelparadies in der Vorpommerschen Boddenlandschaft, erhielt dafür sogar einen Filmpreis, aber das Paddeln auf der Ostsee und der Elbe war ihm nicht aufregend genug. Immer öfter zog es ihn in den Süden des Landes, wo unzählige Gebirgsbäche auf ihn, seine Kamera und den Wildwasserkajak warteten, den er sich zulegte.

Kein Wunder, dass Chris anstatt in Hamburg in München eingeschult wurde, wo er offiziell bis heute lebte, obwohl er die vergangenen zwanzig Jahre berufsbedingt mehr Zeit in L. A. verbracht hatte als in Deutschland. Sein Vater hatte ihm die Liebe für das Filmen in die Wiege gelegt, nur hatte er sich auf ein anderes Genre spezialisiert und führte seltener Regie, als er produzierte. Er liebte die Natur, doch stellte er die Menschen in den Mittelpunkt und gab somit den zwischenmenschlichen Beziehungen den Vorzug. Das Dumme war nur, dass man, wenn man Geschichten verfilmte, nicht um Schauspieler und Schauspielerinnen herumkam. Eine von diesen war ihm zum Verhängnis geworden, und er bezahlte immer noch dafür, dass er sich auf sie eingelassen hatte.

Deshalb hatte er es auch eine gute und nicht nur vom Wunsch, seiner Mutter nahe sein zu wollen, diktierte Idee gefunden, zurückzukommen und die Produktionsfirma, die sein Vater vor Jahrzehnten mit einem jüngeren Freund gegründet hatte, selbst zu führen. Sein alter Herr war schon lange tot und sein Geschäftspartner hatte sich mit siebzig aus dem Berufsleben zurückgezogen und das Schicksal des Unternehmens in die Hände eines Geschäftsführers gelegt. Der hatte es innerhalb eines Jahres geschafft, den Umsatz zu halbieren und mit den noch verbliebenen durchaus ansehnlichen Gewinnen die Löcher zu stopfen, die sich rundum auftaten. Eines dieser Black Holes, die Unsummen verschlangen, war Ummo Tütken. Und ebendieser hing jetzt wie ein nasser Sack auf einem geblümten Sofa im sogenannten Kaminzimmer der Ferienpension, die seine Produktionsfirma für den Zeitraum des gesamten Filmdrehs komplett angemietet hatte. Tütkens Augen waren blutunterlaufen, das Gesicht aufgedunsen, und es hätte nicht der halb leeren Wodkaflasche in seiner Hand bedurft, um seinen Zustand zu erklären. Er stank aus jeder Pore nach dem billigen Fusel, der sicher nicht aus Getreide, sondern Melasse hergestellt wurde und den er kartonweise bei irgendeinem Discounter kaufte.

»Ich weiß nisch, wasch du willsch, Chris«, nuschelte er jetzt, hob die Flasche, die er an ihrem Hals hielt, an und nahm einen weiteren Schluck. Dann rülpste er – und plötzlich sprach er ganz normal. »Diese golfspielende Bäuerin ist eine von denen, die glauben, dass sie wichtig sind, nur weil sie in einem Film mitspielen, in dem ich Regie führe. Was auch immer sie dir erzählt hat, es stimmt nicht. Sie soll froh sein, dass wir die Szene im Kasten haben. Noch einmal würde ich mit der Verrückten nicht drehen und dann würde sie keinen Cent bekommen.«

Chris, der des größtmöglichen Abstands wegen an der Wand neben dem Kamin lehnte, verschränkte die Arme vor der Brust, um sich nicht auf diesen Idioten zu stürzen. Sollte er ihm sagen, dass der Kameramann alles mitgefilmt hatte, weil er das berühmte »Danke, das wars!«, auf das er so viel Wert legte, nicht ausgesprochen hatte? Oder dass Heidelinde Wagner, die Produktionsassistentin, genau im richtigen Moment ihr Handy gezückt und aufgenommen hatte, wie er der Liesi Thaler die Hände um den Hals gelegt hatte, bevor man die Frau vom Grün der fünften Bahn weggebracht hatte?

Ummo Tütken hatte vor ewigen Zeiten den Bezug zur Realität verloren. Er war ein Pegelsäufer, der erst ab eins Komma irgendwas Promille als Regisseur funktionierte, als Mensch jedoch schon längst nicht mehr. Weder auf dem Set noch in den Resten seines Privatlebens, in dem keine seiner Frauen oder Kinder eine Rolle spielten. Deren einziges Interesse lag darin, sich von seinem nicht unbeträchtlichen Gehalt jeden Monat den höchstmöglichen Anteil zu holen, nachdem sie sich bereits um sein Vermögen gestritten und es untereinander aufgeteilt hatten.

Rein menschlich gesehen konnte ihm dieses Wrack, das schon wieder an der Wodkaflasche nuckelte wie ein Neugeborenes an Mutters Brust, leidtun. Subjektiv sah die Sache jedoch ganz anders aus. Der Mann, der mit seinem Vater und dessen Partner vor Jahrzehnten einen ersten gemeinsamen Film gedreht und daher von ihnen einen, für einen Regisseur ungewöhnlichen, Vertrag mit Festanstellung erhalten hatte, kostete die Firma ein Vermögen – und erbrachte als Gegenleistung nur Probleme. Zwar war ausgerechnet dieser Film in seiner Konzeption eine absolute Neuheit und passte perfekt zu Tütkens Erfahrung, aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Er musste ihn loswerden, bevor noch größerer Schaden entstand. Sepp Gamper, der Bürgermeister, hatte ihm zwar am Telefon versichert, dass er mit Frau Thaler reden würde und die Produktionsfirma nichts zu befürchten hatte, doch es gab absolut keine Sicherheit, dass der rund um die Uhr besoffene Ummo Tütken nicht jemand anderen beleidigte oder verletzte und angezeigt wurde. Chris hatte viel Geld in das Projekt investiert und konnte nicht riskieren, dass es irgendjemand in den Sand setzte. Sollte das passieren, riskierte jeder einzelne Mitarbeiter seiner Firma den Job.

Jetzt ließ er die Arme neben den Körper sinken, stieß sich von der Wand ab und ging auf das geblümte Sofa zu. Obwohl im Kaminzimmer kein Licht brannte und es draußen bereits dämmerte, schien er einen Schatten zu werfen, denn Ummo schaute zu ihm auf. Wenn er seine Entscheidung nicht schon getroffen gehabt hätte, dann würde er es jetzt tun. Der Gestank nach Alkohol und Schweiß, der von dem Mann ausging, erzeugte in seinem Magen eine Welle der Übelkeit.

»Du bist entlassen, Ummo, und ab sofort freigestellt. Selbstverständlich werde ich die gesetzlich geregelten Zeiten einhalten und dir bis dahin dein Gehalt auszahlen, aber ich will dich nicht mehr sehen.«

Tütken riss die Augen und den Mund auf, schien nach Worten zu suchen. Chris hob warnend die Hand und sprach weiter.

»Da du offensichtlich im Moment nicht in der Lage bist, dein Zeug zusammenzupacken, kannst du heute Nacht noch hierbleiben, aber morgen Früh um acht bist du verschwunden.«

»Das kannsch ... kannsch du nicht tun!«, lallte und stotterte das menschliche Wrack.

»Falsch. Ich hätte es bereits tun müssen, als ich aus Amerika zurückkam und die Firma übernahm. Meine Buchprüfer waren vor dem Kauf der zweiten Hälfte der Anteile ganz klar gewesen und haben mich auf die Ursachen und Gründe der katastrophalen Bilanz hingewiesen. Eine davon warst und bist du. Leider habe ich denselben Fehler gemacht wie schon mein Vater und sein Partner in der Vergangenheit. Um der alten Zeiten willen habe ich dich behalten und mitgeschleppt, auch wenn die zwei von dir seither gedrehten Kurzfilme jeder Abgänger der Akademie zumindest gleichwertig zustande gebracht hätte.«

»Aber den hier kann keiner außer mir drehen!«

Plötzlich schien der Regisseur wieder nüchterner, nur das dümmlich-überhebliche Lächeln drückte etwas anderes aus.

»Doch, Ummo, ich kann«, erwiderte Chris schneidend. »Und ich werde.«

Mit diesen Worten ging er zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und hob warnend den Zeigefinger.

»Morgen um acht bin ich hier. Wenn du nicht weg bist, zeige ich dich persönlich wegen Körperverletzung an Frau Thaler an, und dann kannst du dir die Abfertigung abschminken, die dir laut Arbeitsvertrag zusteht.«

Ohne eine mehr oder minder gelallte Erwiderung abzuwarten, lief Chris durch den Flur nach draußen und sprang in sein Auto. Er wendete und verließ mit durchdrehenden Reifen den Vorplatz des Hauses, sodass Steine und Erde aufwirbelten. Erst dreihundert Meter später, an einer Stelle, wo sich die Straße verbreiterte, fuhr er rechts ran. Er machte den Motor aus, umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen und schlug mit der Stirn dagegen.

 

Er hätte nicht herkommen sollen. Wäre er nicht ausgerechnet heute in Mela gewesen, hätte er von dem Vorfall zwar genauso erfahren, aber er wäre sicher nicht in den Wagen gesprungen und hergekommen. Zumindest nicht sofort. Er hätte darüber geschlafen und morgen eine Entscheidung getroffen und diese Ummo Tütken vom Firmenanwalt mitteilen lassen. Oder vom Leiter der Personalabteilung. Auf jeden Fall in schriftlicher Form. Insbesondere aber hätte er den Regisseur nicht sofort freigestellt. Egal, wie er sich von Tütken getrennt hätte, alles wäre besser gewesen als die Situation, in der er sich jetzt befand.

Er steckte in der Scheiße. Nicht nur knietief, nein, er saß darin. Und wenn er nicht aufpasste, würde sie ihm bald bis zum Hals stehen.

Chris Bergmann rammte mit der Stirn noch zweimal das Lenkrad, bevor er es losließ, den Kopf hob und durch die Windschutzscheibe schaute.

Vor ihm zeichnete sich in der Dämmerung der Umriss des Eisbergs gegen den blassblauen Himmel ab. In manchen Häusern brannten bereits Lichter, und ihm wurde klar, dass er sich um eine Unterkunft kümmern musste, wollte er nicht in einem anonymen Hotel oder mit der Filmcrew in der gemieteten Ferienpension landen. Zwar war es noch Nachmittag, aber zu dieser Jahreszeit wurde es abends früh dunkel und kühl. Und das, was er jetzt brauchte, war ein heißes Bad. Das half immer, wenn er den Kopf freibekommen wollte.

Er hatte Entscheidungen zu treffen, unter anderem die, wer denn nun an Tütkens Stelle Regie führen sollte. Denn dass er selbst es nicht tun konnte, nicht ausgerechnet hier, stand außer Frage – was ihn sofort an den Grund erinnerte, aus dem er hergekommen war. Sein Blick ging zum Rückspiegel, als ob er darin den Inhalt des Kofferraums sehen könnte. Aber das musste er nicht, denn er wusste genau, was er im Gepäck hatte.

Mit einem tiefen Seufzer holte er Luft und stieß sie lautstark wieder aus.

Besser.

Er würde Zeit schinden und die Szenen, in denen Menschen zum Einsatz kamen, im Drehplan nach hinten verschieben. Das war kein Problem, nicht bei diesem Bürgermeister, der in Apfelblüten im Regen in erster Linie einen Imagefilm für Mela sah und ihm und dem Team jedes noch so kleine Steinchen aus dem Weg räumte. Die einheimischen Statisten liefen ihm nicht weg, und bis die Protagonisten anreisten, die ohnehin erst bei beständigerem Wetter drehen würden, konnte Marcus Wagner, der Regieassistent, den Ummo Tütken nur für Handlangerdienste verwendet hatte, die Landschaftsaufnahmen umsetzen. Bis dann Flüsse und Berge, Apfelwiesen und Weinreben, die Seilbahn und das Ortszentrum zu jeder nur möglichen Tageszeit und auch nachts und all das bei verschiedenen Wetterbedingungen im Kasten waren, hatte er die Lösung – sicher. Und vielleicht steckte in dem jungen Mann mit dem Faible für Naturfilme ein größeres Talent, als er selbst glaubte, und er konnte ihm noch mehr Verantwortung übertragen.

Eine Spur zuversichtlicher fischte er das Handy aus der inneren Jackentasche und griff mit der anderen Hand in die Vertiefung der Mittelkonsole, wo die Münzen für die italienische Maut bereitlagen. Mit einem zufriedenen Seufzer hob er die Visitenkarte hoch, die er im Tourismusbüro eingesteckt hatte, bevor er zum Golfplatz gefahren war. Das Foto dieses Bauernhofs mit Zimmervermietung hatte ihn angesprochen. Er wählte die Telefonnummer, die darauf angegeben war. Erst nach dem fünften Klingeln antwortete eine piepsige Stimme, die ihm erklärte, dass ihre Eltern nicht da seien. Er konnte die Kinder von heute altersmäßig ohnehin schwer schätzen, am Telefon noch weniger. Während er überlegte, was er tun sollte, drang ein energisches Räuspern an sein Ohr.

»Wollten Sie ein Zimmer?«, fragte ihn die Kleine mit überraschend kräftiger Stimme.

»Ja, eigentlich schon.«

»Eigentlich oder uneigentlich?«, kam es schnippisch zurück.

»Na ja, wenn ich mit deinen Eltern reden könnte ...«, begann Chris und wurde sofort unterbrochen.

»Sie haben hier angerufen, und egal, wer sich bei uns Guflers meldet, kann Ihnen ein Zimmer vermieten. Falls eins frei ist, natürlich. Also, ab wann wollen Sie es und wie lange?«

Zwei Minuten später war Chris auf dem Weg zum Guflerhof, wo ihn die kleine Annie Gufler höchstpersönlich erwartete.

KAPITEL 5

Abwägendes Überlegen war nicht Gitti Guflers Stärke. Handeln hingegen schon.

Sie war als Älteste von acht Geschwistern auf einem Bergbauernhof oberhalb von Mela zur Welt gekommen und zwischen Kälbern, Schafen, Ziegen und Hühnern aufgewachsen. Während ihr Vater oben am Pass Holz für das Sägewerk fällte und die Baumstämme zu improvisierten Flößen zusammengebunden mit seinen Kollegen über den Eisfluss an ihren Bestimmungsort transportierte, half sie ihrer Mutter. Mit vier molk sie Schafe und Ziegen, mit sechs die Kühe. Sie wusste, wie man Käse herstellte, bevor sie das Alphabet kannte. Und da ihre Eltern offenbar nur einem Zeitvertreib nachgingen, wenn ihr Vater nach Wochen im Hochtal heimkehrte, wechselte sie die Windeln ihrer in kurzen Abständen geborenen Brüder und Schwestern mit schlafwandlerischer Sicherheit, während Gleichaltrige mit Bauklötzen und Puppen spielten. Für sie hatte nie in Frage gestanden, was sie einmal werden wollte. »Mutter«, hatte sie bereits in der ersten Klasse der Grundschule der Lehrerin geantwortet – und sich gleich den Vater dazu ausgesucht. Der Leon Gufler saß aufgrund seiner Größe in der letzten Reihe, während sie ganz vorn sitzen musste, weil die anderen Kinder ihr sonst die Sicht auf die Schiefertafel nahmen. Natürlich konnte sie sich nicht umdrehen, aber das war auch nicht nötig. Sie wusste ohnehin, dass er ständig auf ihre schwarzen Zöpfe starrte. Neun Jahre lang, bis zum Ende der Schulpflicht, war sie selbst bei starkem Schneefall nach unten in den Ort zur Schule gerodelt und hatte sich dann durch die hohen Schneewehen wieder zurückgekämpft, um ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Die Konkurrenz war groß, weil der Leon einfach der Schönste, Humorvollste und Beliebteste von allen war. Mit seinen dunkelblonden Haaren, an die er nur einmal im Jahr – zu Weihnachten – die Schere ranließ, schaute er genau so aus, wie sein Name versprach. Er war ein Löwe, während all die anderen Burschen aussahen wie spitzzahnige Murmeltiere, zerrupfte Spatzen oder verschlagene Füchse. Gitti wusste schon mit vierzehn, dass sie ein hübsches Gesicht hatte, ihr Körper aber nicht dem eines schlanken Rehs, sondern eher einem Kälbchen ähnelte und sie nur eine Chance hatte, bevor sie sich aus den Augen verloren. Deshalb schnappte sie ihn sich am Tag des Abschlusszeugnisses. Es war heiß und der Eisfluss versprach Abkühlung, und weiter hinten in der Schlucht, dort, wo die Felsen steil direkt aus dem Wasser ragten und ein natürliches Becken bildeten, war der richtige Ort dafür. Sie warf ihren ramponierten Rucksack mit dem Zeugnis unter einen Kastanienbaum, die Kleider obendrauf und sprang nur mit dem Höschen bekleidet in den Fluss. Eine halbe Stunde später hatte sie nicht nur den Slip, sondern auch ihre Unschuld verloren. Drei Monate darauf wusste sie, dass sie schwanger war. Seither waren fast zweiundzwanzig Jahre vergangen. Ihr Erstgeborener, der Peter, war in Deutschland und studierte im vierten Semester Forstwirtschaft in Freising, während die beiden Mädchen zu Hause lebten. Susi war mit siebzehn sehr verantwortungsbewusst und erwachsen, in der Hotelfachschule eine der Besten ihrer Klasse und kellnerte abends, an den Wochenenden und im Sommer. Sobald sie die Matura, die staatliche Abschlussprüfung, in der Tasche hatte, würde auch sie ins Ausland gehen, um Erfahrung in der gehobenen Hotellerie zu sammeln. Blieb also bald nur noch die zehnjährige Annie, die sie bemuttern konnte. Und die anderen Menschen, die sie gernhatte und die in Reichweite waren. Allen voran die Traudl und die Liesi, ihre allerbesten Freundinnen seit der Schulzeit.

Deshalb hatte sie auch nicht nachdenken müssen, als die Traudl sie angerufen und gebeten hatte, Liesis Auto vom Golfplatz abzuholen und zu ihr auf den Apfelhof zu bringen. »Das Wartezimmer füllt sich immer mehr. Das ist das letzte Aufbäumen der Grippewelle vor dem Sommer«, hatte sie gemeint und hinzugefügt: »Wenn wir das gemeinsam machen wollen, wird es sicher spät, und dafür muss man zu zweit sein. Vielleicht ist der Leon ...?« Ihre Freundin musste nicht weitersprechen. Ihr Mann war genauso immer für alle Freunde da wie sie selbst – und außerdem machten sie sich beide Sorgen.

Der Vorfall mit dem besoffenen Regisseur, der die Liesi am Golfplatz gewürgt hatte, hatte sich nämlich innerhalb kurzer Zeit wie ein Lauffeuer von dort über das gesamte Gemeindegebiet bis hinauf zum Eisberg ausgebreitet. Ganz Mela war schockiert und der Bürgermeister würde alle Hände voll damit zu tun haben, seine Mitbürger einerseits zu beruhigen und andererseits diejenigen, die ihre Teilnahme an dem Filmprojekt zugesagt hatten, bei der Stange zu halten. Aber das war im Moment unwichtig. Das Einzige, was zählte, war Liesi.

 

Jetzt ließ Gitti den Schlüssel von Liesis Auto auf den Küchentisch im Apfelhof fallen und legte beide Hände auf die Schultern ihrer Freundin. Die hatte natürlich nicht mehr das Dirndl an, das ebenso sehr im Ort in aller Munde war wie sie selbst, sondern Jeans und eine baumwollene Bluse mit Stehkragen. Außerdem hatte sie sich ein Tuch um den Hals gewickelt, das Gitti mit ihrem Blick zu durchbohren versuchte.

»Lass mich schauen«, sagte ihre Freundin jetzt und öffnete mit einer Hand den Knoten. Sie erstarrte, als sie die dunkelroten breitflächigen Würgemale sah.

»Den Scheißkerl bring i um«, knurrte Leon hinter seiner Frau.

»Das will der Bertl auch machen«, seufzte Liesi. »Aber ihr Mannsbilder werdet das schön bleiben lassen.« Sie griff nach dem Seidentuch und wickelte es wieder um ihren Hals.

»Warum sollten wir?«

Leon, der fast zwei Köpfe größer als seine Frau war und die Liesi ebenfalls um mehr als einen überragte, trat einen Schritt auf sie zu.

»Weil viel zu viel für den Ort auf dem Spiel steht.«

»Scheiß auf den Ort, Liesi!« Er ballte eine Hand zur Faust und schlug damit auf den Küchentisch. »Dieses Arschloch hat sich an dir vergriffen, und das fühlt sich an, als ob er mit seinen Griffeln jeden von uns gewürgt hätte.«

»Nix da, Leon.« Sie schaute zu ihrem Jugendfreund auf und deutete auf einen Küchenstuhl. »Setz dich, sonst krieg ich auch noch Nackenschmerzen.«

Dann drehte sie sich um, ließ einen Glaskrug mit Wasser volllaufen, nahm eine Flasche von dem selbst gemachten Apfelsaft aus dem Kühlschrank und platzierte beides mit Gläsern auf dem Tisch, bevor sie sich setzte.

»Ich will von der ganzen Filmsache vorläufig nichts wissen«, begann sie. »Es brennt ja auch nicht, weil die hier auf dem Hof ohnehin erst in drei Wochen drehen werden. Und falls dann kein schönes Wetter ist, verschiebt sich das noch ein paar Tage.«

»Du hast also vor, mit diesem Menschen zusammenzuarbeiten und so zu tun, als ob nichts gewesen wäre?«

Gittis dunkle Augen versprühten wütende Funken und Liesi fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare und verschränkte die Hände an ihrem Hinterkopf. Dann steckte sie ihre Beine unter dem Tisch aus und grinste.

»Ihr müsst mich für ganz schön blöd halten. Nein, das hab ich natürlich nicht vor. Dieser brutale Säufer mit dem unmöglichen Namen setzt keinen Fuß auf den Apfelhof, das hab ich dem Bürgermeister gleich gesagt, wie er hier aufgetaucht ist.«

»Der Sepp war schon hier?« Leon zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

»Hast du dir was anderes erwartet?« Seine Frau verdrehte die Augen. »Der ist doch immer und überall, wie der Schnittlauch auf der Suppe.«

»In diesem Fall war es aber richtig, dass er gekommen ist.«

Gitti starrte ihre Freundin entgeistert an. »Seit wann verteidigst du ihn denn?«

»Tu ich ja nicht.« Liesi nahm die Hände vom Kopf und trank einen Schluck von ihrem Apfelsaft, bevor sie weitersprach.

»Der Bertl hatte mich heimgebracht und war noch keine halbe Stunde weg, da ist er gekommen. Er war fuchsteufelswild und wollte wissen, warum ich nicht Anzeige erstattet habe.«

»Auf dich war er wütend?«

»Aber nein, auf diesen Ummo Tütken. Er hat gesagt, wenn er die Möglichkeit hätte, jemanden aus Mela zu verbannen, würde er es sofort tun. Und dann hat er gemeint, dass ihm dazu zwar die Mittel fehlen, doch er wird mit dem Chef der Produktionsfirma reden und ihm klarmachen, dass kein Melaner Bürger mit diesem Regisseur drehen wird und auch die Drehorte im Gemeindegebiet für diesen gewalttätigen Säufer tabu sind.«

»Wie bitte?«, antwortete Gitti. »So viel Rückgrat hätt ich dem Schlappschwanz gar nicht zugetraut.«

»Und für dich ist der Fall damit erledigt?«, fragte Leon, ohne auf den Kommentar seiner Frau einzugehen.

Liesi zuckte mit den Schultern.

»Die Filomena sagt immer, dass nix so heiß gegessen wie gekocht wird. Ich warte also erst einmal ab.«

Gitti warf Leon einen Blick zu, der klar ausdrückte, dass er jetzt nichts mehr erwidern sollte. Sie kannte ihn, und normalerweise hätte sie auch selbst weitergebohrt, aber das war nicht der richtige Moment. Liesi hatte heute schon genug erlebt.

»Wo ist sie denn eigentlich?«, fragte sie stattdessen ihre Freundin.

»Die Filomena?«

Ein Lächeln umspielte Liesis Lippen. Es war dasselbe, das Gitti immer hatte, wenn sie von ihren Kindern sprach oder an sie dachte. Nur war Filomena mittlerweile neunzig und Liesis Großmutter.

Gitti nickte bejahend.

»Sie steht mit den Hühnern auf und geht mit ihnen ins Bett.«

»Aber es ist doch noch gar nicht ...«

Gittis Blick fiel nach draußen und sie unterbrach sich mitten im Satz. Durch die viergeteilten Holzfenster war der weiter unten liegende alte Ortskern von Mela zu sehen, der unmittelbar hinter der Eisflussbrücke begann. Die Straßenbeleuchtung zeichnete ein goldgelb glänzendes Muster in die Abenddämmerung.

»Wir sollten heimfahren«, kam ihr Leon zuvor.

»Allerdings, das solltet ihr«, bestätigte ihn Liesi. »Ist die Annie allein daheim?«

Sie warf Gitti einen fragenden Blick zu.

»Wie immer, wenn wir fort sind. Die Susi ist doch jetzt in der vierten jeden Tag bis zum späten Nachmittag in der Schule und fährt dann direkt kellnern.«

»Die Annie ist erst zehn«, sagte Liesi leise.

Gitti zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Ihre Freundin musste es nicht aussprechen, sie wussten es alle. Als ihre Eltern starben, war sie elf, nur ein bisschen älter als Gittis und Leons jüngste Tochter jetzt. Und auch wenn seither fast ein Vierteljahrhundert vergangen war, war der schreckliche Unfall ein Teil von ihnen.

»Sag ihr, dass es mir leidtut, dass ihr wegen mir weg wart.«

Gitti legte eine Hand auf Liesis Arm.

»Das braucht dir nicht leidzutun. Sie wollte sogar selber mitkommen, aber sie musste noch für die Italienisch-Schularbeit lernen, hat sie gesagt.«

»In Wahrheit will sie die beiden Lämmer nicht allein lassen, dabei sind die bei ihren Müttern bestens aufgehoben«, erklärte Leon und stand auf.

Er war nicht so breit gebaut wie der Bertl, aber ein paar Zentimeter größer und muskulös. Liesi schaute zu ihm auf, und plötzlich fragte sie sich, wie es sich anfühlen könnte, einen Mann im Haus zu haben. Manchmal beneidete sie die Gitti ein bisschen. Sie war ja schon ewig mit Filomena allein, kannte es nicht anders. Aber seit ein paar Jahren überraschte sie sich immer öfter bei diesem Gedanken, der sie verwirrte. Dann spürte sie eine Sehnsucht, die keiner ihrer Freunde und Bekannten jemals stillen könnte.

»Kann ich noch irgendwas für dich tun, Liesi?«

Leon schaute sie nachdenklich an. Sie schüttelte den Kopf.

»Fahrt heim und grüßt mir die Annie ganz lieb. Und danke, dass ihr mir das Auto gebracht habt.«

Er beugte sich runter und gab ihr die drei obligatorischen Wangenküsschen, dann zog Gitti sie in ihre Arme und hielt sie ein paar Sekunden lang fest.

»Was immer du brauchst, wir sind für dich da. Und wenn du reden willst ...«

Worüber denn, dachte Liesi wenig später. Dass ihre finanziellen Probleme so groß waren, dass sie keine Luft bekam, und sich nachts schlaflos im Bett herumdrehte, ging nur sie allein etwas an. »Jeder hat sein Binkerl zu tragen«, sagte Filomena immer, und genau so war es. Es gab niemanden, der keine Probleme hatte, nur waren eben manche Lasten schwerer als andere. Liesi schaute gedankenverloren den Rücklichtern des Wagens ihrer Freunde nach, der zuerst abwärts fast bis zum Fluss und an der Abzweigung vor der Brücke wieder aufwärts bis zum Guflerhof fuhr. In Luftlinie waren sie ganz nah, nur über die Straße dauerte es etwas länger, um von dem einen zum andren Hof zu kommen. Aber das Leben, das sich da und dort abspielte, konnte unterschiedlicher nicht sein.

Drüben, bei den Guflers, spürte man Leichtigkeit und die Liebe einer Familie, und das war nicht nur Gitti zu verdanken. Die kleine mollige Schwarzhaarige hatte zwar mehr Energie und Lebensfreude als jeder andere Mensch, den Liesi kannte, aber das war es nicht. Vielmehr lag es an dem, was hier auf dem Apfelhof fehlte, was die beiden naheliegenden Gehöfte so unterschiedlich machte. Drüben würde die jüngere Generation irgendwann die ältere ablösen und ihrerseits Kinder zur Welt bringen. Hier hingegen lebten nur zwei Frauen, von denen die eine so alt war, dass sie jeden Tag genoss, als ob es der letzte wäre, und sie selbst ...

Ein kalter Luftzug wehte über sie hinweg und ein Schauer floss von ihrem Nacken über die Wirbelsäule durch ihren Körper. Fröstelnd umschlang Liesi ihren Oberkörper mit den Armen, drehte sich um und ging hinein ins Haus. Das erste Mal seit langer Zeit verhielt ihr Blick dabei nicht auf den drei riesigen, alten Apfelbäumen, die ihr sonst allein mit ihrer Anwesenheit Trost spendeten.

Sie verzichtete auf das Abendessen, nahm die Treppe nach oben, wusch sich und zog den Pyjama an. Wenig später lag sie im Bett und fragte sich, weshalb – und vor allem für wen – sie eigentlich so sehr darum kämpfte, den Apfelhof und das dazugehörige Land zusammenzuhalten. Ihre Augen fielen zu, und der Schlaf übermannte sie, bevor sie eine Antwort fand.

KAPITEL 6

Filomena Pinker stand am Fenster ihres unbeleuchteten Zimmers und schaute dem Wagen von Gitti und Leon nach. Sie war hellwach und sie trug ihre Brille nicht. Wenn sie allein war, musste sie niemandem vorspielen, eine alte Frau zu sein. Wobei sie mit neunzig ja wirklich nicht mehr zu den jungen Leuten gehörte. Nur wusste keiner, auch die Liesi nicht, dass ihre Sehkraft für die Ferne immer noch die eines Adlers war, der seine Beute von hoch oben in den Lüften erspähte und erjagte. Nicht, dass sie es auf jemanden abgesehen hätte, nur hatte sie gern alles unter Kontrolle, mit ihren Augen und mit ihren Ohren. Der liebe Gott meinte es nämlich auch in dieser Hinsicht gut mit ihr – nur die Zähne waren nicht mehr ihre eigenen. Vorhin, als die Liesi sagte, dass sie mit den Hühnern schlafen ging und wieder aufstand, hatte sie die Hand auf den Mund gepresst, um nicht laut zu lachen. Das Kind war vor fünfunddreißig Jahren zur Welt gekommen und seither lebten sie zusammen, und trotzdem wusste sie von ihr so manches nicht. Und vom Apfelhof ebenso wenig. Die Frau, mit der alles begonnen hatte, hatte dieses geräumige Zimmer oberhalb des Eingangs des Bauernhauses für sich errichten lassen, und mit ihm die doppelten Wände und die verborgenen Türen zu den schmalen Gängen, über die man ungesehen nach draußen gelangte und die ausgesprochen hellhörig waren. Erzsebet Pinkasz, ihre Großmutter, war eine eigenwillige, starke und für ihre Generation höchst ungewöhnliche Person gewesen, und ihre Ururenkelin Liesi Thaler stand ihr in nichts nach.

Oktober 1889

Immer noch träumte Erzsebet jede Nacht von der riesigen Dampflokomotive und dem Rauch, den diese ausstieß, als sie sich von Innsbruck kommend auf den Brennerpass hinaufquälte, und das, obwohl seither fast fünf Wochen vergangen waren. Nie hätte sie sich träumen lassen, als sie mit vierzehn zum ersten Mal die Küchen der kaiserlichen Hofburg in Wien betreten hatte, dass sie mit dem Gefolge der Kaiserin nach Meran reisen würde. Schon gar nicht jetzt. Es waren erst acht Monate seit dem entsetzlichen Vorfall im Jagdschloss in Mayerling vergangen, bei dem der Kronprinz Rudolf sich das Leben – und Ihrer Majestät, seiner Mutter, auch den letzten Funken Leichtigkeit geraubt hatte. Und eben das war es, was sie so traurig stimmte und wünschen ließ, das Schloss Trauttmansdorff zumindest für ein paar Stunden verlassen zu können.

So schön die Unterkunft, so mild das Wetter und so wundervoll die exotischen Gärten rundum waren, sie kam sich vor wie in einem Gefängnis. Einem, das sie und all die anderen mit der schwarzen Frau, wie Sissi aufgrund ihrer Trauerkleidung genannt wurde, teilten. Die Kaiserin war ohnehin immer rastlos und schwermütig, erzählten die Zofen hinter vorgehaltener Hand, aber seit dem Selbstmord ihres Sohnes wirkte sie wie ein kohlschwarzer Rabe und ihre Melancholie zog durch die Zimmer und Gänge bis zu den Dienstbotenräumen. Selbst in der kleinen Dachkammer, die sie sich mit zwei anderen Ungarinnen teilte, gab es keine leisen Gespräche vor dem Einschlafen – nur absolute Stille. Schlimmer noch, all die, die früher bei der Arbeit fröhliche Lieder vor sich hin summten oder pfiffen, waren verstummt. Dennoch war alles irgendwie erträglich gewesen – bis vor drei Tagen der Kaiser angereist war und sich die Stimmung im Schloss von melancholisch in unerträglich gewandelt hatte. Erzsebet interessierte es nicht, ob der Franz Joseph und seine Gemahlin miteinander redeten oder sich anschwiegen, solange nur sie nicht darunter zu leiden hatte. Das tat sie jedoch, und deshalb musste sie ein paar Stunden raus aus dieser alles erdrückenden Traurigkeit.

»Bitte, darf ich mit dem Karl zu dem Bauernhof fahren? Der versteht doch nichts von der Käsereifung. Nicht, dass er etwas von minderer Qualität mitbringt.«

Der Hofkoch, für den sie seit drei Jahren Gemüse putzte, Kartoffeln schälte und die Käselaibe mit Salzlake wusch, damit sie keinen Schimmel ansetzten, warf ihr einen erstaunten Blick zu. Das lag sicher nicht daran, dass sie etwas gesagt hatte, denn sie war nicht gerade für ihre Schweigsamkeit berühmt. Nein, es lag wohl an ihrer Ausdrucksweise. Die anderen Dienstboten, egal, aus welcher Ecke des Kaiserreichs sie stammten, verwendeten keine komplizierten Wörter, schon gar nicht, wenn das Deutsche nicht ihre Muttersprache war. Aber sie verbrachte ihre freie Zeit eben nicht mit dem Sticken wie einige der anderen Frauen in ihrem Alter, die an ihrer Aussteuer arbeiteten. So etwas würde sie nie brauchen, weil sie nicht im Traum daran dachte, sich von einem Ehemann abhängig zu machen, nachdem sie es geschafft hatte, ihrem Elternhaus den Rücken zu kehren. Deshalb las sie alles, was ihr unter die Finger kam. Sogar die langweiligen Aufzeichnungen in den Büchern, in denen die Einkäufe von Waren und Lebensmitteln vermerkt wurden – und dabei lernte sie.

»Also, darf ich mitfahren?«, drängte sie den Koch jetzt, weil sie den Karl draußen pfeifen hörte. Sie wusste, dass er das tat, bevor er die Kutschenbremse löste und die Peitsche hob, um den Pferden das Zeichen zur Abfahrt zu geben.

»In Gottes Namen, fahr mit, Erzsebet. Aber pass auf deine Tugend auf, der Karl ist ein Hallodri.«

»Ich weiß genau, was ich zu tun hab, wenn er mir zu nah kommt«, flüsterte sie leise und löste dabei ihren rechten Fuß vom Boden. »Dann ramme ich ihm das Knie zwischen ...«

Der Hofkoch hob abwehrend beide Hände, machte einen Schritt zurück und eines der zu diesen Zeiten seltenen Lächeln umspielte seinen Mund.

»Du musst es mir nicht anschaulich machen, Erzsebet. Und jetzt lauf!«

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie lief an dem Küchentürhüter vorbei und sprang genau in dem Moment neben Karl auf die Kutschbank, in dem die Pferde anzogen und sich die Räder zu drehen begannen.

Als sie an dem Abend endlich in ihrem Bett lag, starrte sie an die nur vom Mond beschienene Zimmerdecke und biss sich fest auf die Lippe, um sich nicht vor lauter Freude zu verraten. Sie hatte sich verliebt. Nicht nur in den kleinen Ort namens Mela, sondern vor allem in die Wiese mit dem windschiefen Stall, in dem die Schafe des alten Bauern überwinterten. Als sie das Stückchen Erde oberhalb des Flusses gesehen hatte, war ihr plötzlich richtig warm geworden und sie hatte ihren Herzschlag im Hals gespürt. In dem Moment hatte sie einen Entschluss gefasst: Sie würde nicht mit dem Gefolge der Kaiserin reisen, sobald diese nach dem Winter aus Meran abreiste. Sie würde hierbleiben.

Filomena hörte die Schritte auf der Treppe, raffte ihr Flanellnachthemd zusammen und huschte eilig zum Bett. Als sich die Tür öffnete und ihre Enkelin den Kopf hereinsteckte, lag sie seitlich und ihre schlohweißen Haare bedeckten ihr Gesicht. Sie vernahm das leise Tapsen, spürte die sanfte Berührung an ihrer Schulter und Liesis Atem an ihrem Ohr, als diese »Alles wird gut, Großmutter« flüsterte.

O ja, das würde es. Die starken Frauen, die Erzsebet Pinkasz’ Erbe in sich trugen, würden sich nicht unterkriegen lassen. Auch nicht von Hagelschlag, Schädlingen und Frostschäden. Niemals.

KAPITEL 7

Chris Bergmann konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt derart tief und gut geschlafen hatte, vor allem aber traumlos. Der Sonnenstrahl, der durch die hellblauen Vorhänge mit den zartgrünen Streifen fiel, die sich auch auf dem Sofa und der gepolsterten Sitzfläche des Stuhls vor dem Schreibtisch wiederfanden, tanzte auf seiner Nase. Er blinzelte, rollte sich auf den Rücken und hob die Arme weit über den Kopf, um sich zu strecken. Mit den Fingerspitzen berührte er den Holzrahmen des einfachen bäuerlichen Betts, das perfekt zur restlichen Einrichtung passte. Dabei glitt sein Blick zu dem aufrecht stehenden schwarzen eierähnlichen Keramikgegenstand mit der rauen Oberfläche und den silbrig glitzernden Einschlüssen. Er hatte die Urne gestern aus dem Koffer genommen und auf das Fensterbrett gestellt, als ob es Sinn machte und seine Mutter nach draußen sehen könnte. Andererseits ... Viele Jahre lang trennten sie ein Ozean und ein ganzer Kontinent, und aus diesem Grund trafen sie sich nur selten. Er wusste, dass es Unsinn war, sich schuldig zu fühlen, denn sie hatte seinen Vorschlag, zu ihm nach Kalifornien zu ziehen, abgelehnt. »Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr, und hier bin ich Sven nahe«, waren ihre Worte gewesen. Die Absurdität ihrer Aussage stand vor seinen Augen: Seinen Vater hatten sie auf dem Waldfriedhof in München begraben, als er mit achtzig am Ende eines langen, erfüllten Lebens friedlich eingeschlafen war, und jetzt, im Tod, würden er und seine Mutter nicht vereint sein. Aber sie hatte es so gewollt, ihn in den immer selteneren klaren Momenten, die ihrem Tod vorangegangen waren, stets eindringlich darum ersucht, ihre Asche in die alte Heimat zu bringen. Nur fühlte es sich irgendwie falsch für ihn an. Doch ihr Wunsch war der Grund, weshalb er nach Südtirol gekommen war. Wofür denn sonst?

Sicher nicht, um Ummo Tütken und die Filmcrew zu kontrollieren und sich die ausgewählten Drehorte aus der Nähe anzusehen, wie er gestern Abend Gitti und Leon Gufler gesagt hatte. Diesbezüglich vertraute er seiner Produktionsassistentin. Das war nur die offizielle Erklärung, die er auch seinen Mitarbeitern in München und vor Ort erzählt hatte.

Als ob er mit seinen Gedanken an seine Gastgeber ein Signal gegeben hätte, drang der Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee unter der Zimmertür hindurch und ließ ihn tief einatmen. Welch wundervolle Familie, dachte er und erinnerte sich an die Worte der resoluten, kleinen Frau. »Wann immer Sie aufstehen, Herr Bergmann, das beste Frühstück von ganz Südtirol wird auf Sie warten.«

Er sprang aus dem Bett und direkt unter die Dusche in dem ausnehmend geräumigen Bad. Während er sich rasierte, stieg die Wärme der Fußbodenheizung von seinen nackten Sohlen aufwärts und erwärmte ihn von innen. Entgegen seiner Gewohnheit zog er eine Multifunktionshose aus dem Koffer, wie er sie in München oder L. A., wo geschäftliche Treffen sein Alltagsleben bestimmten, niemals anziehen würde. Als er wenig später die knarzende Holztreppe nach unten ging, fuhr er sich mit der rechten Hand durch die feuchten Haare und schob sie aus der Stirn.

»Guten Morgen, Herr Bergmann.« Gitti Gufler erschien in der offenen Küchentür und wischte sich in der Schürze ab, die sie über einem Dirndlkleid trug. »Hat Sie der Kaffee aus den Federn geholt?«

Ihr Lächeln war ansteckend.

»Das kann man wohl sagen, Frau Gufler. Außerdem haben Sie mir gestern das beste Frühstück Südtirols versprochen, da muss ich doch überprüfen, ob Sie mich angeschwindelt haben.«

»Na, dann kommen’S herein und tun Sie das«, erwiderte die mollige Frau schmunzelnd und gab den Weg frei. Sie hatte etwas an sich, was ihn an seine Mutter erinnerte. Vielleicht waren es die schwarzen Haare, die ihr bis zur Schulter fielen und die sie mit einem Haarreif aus Horn zurückhielt. Oder aber die perfekten Rundungen, an die sich die kleine Annie gestern geschmiegt hatte, als ihre Eltern heimgekommen waren?

»Ist Ihre Tochter schon in der Schule?«

Er nahm auf der Eckbank an dem riesigen Küchentisch Platz, sodass er sowohl zu seiner Gastgeberin, die soeben eine gusseiserne Pfanne auf den Herd stellte, als auch aus dem Fenster schauen konnte.

»Beide sind Sie schon weg. Meine Susi, die Große, ist eigentlich nur noch zum Schlafen daheim. Sie ist auf der Hotelfachschule in Meran und im kommenden Jahr, nach der Matura, geht sie dann ins Ausland wie ihr Bruder.«

Überrascht legte er die Stirn in Falten.

»Ich will Ihnen nicht zu nahetreten, Frau Gufler, aber sind Sie nicht viel zu jung für erwachsene Kinder?«

»Eigentlich schon.« Sie zwinkerte ihm zu und schlug zwei Eier in die Pfanne, in der bereits Speck brutzelte. »Nur konnte ich mir den Leon doch nicht entwischen lassen, und so sind wir mit fünfzehn Eltern geworden.«

Chris versuchte gar nicht, gegen das aufkommende Lachen anzukämpfen. Diese Frau war ein Unikat – und ihr Mann, den er auf den ersten Blick in die Kategorie Schürzenjäger eingeordnet hatte, offenbar alles andere als das.

»Wissen’S, Herr Bergmann, ich mag zwar klein sein und keine von diesen redegewandten Weibern, die den Mannsbildern den Kopf verdrehen, aber dumm bin ich nicht. Wenn ich was will, krieg ich es, und wenn irgendwer einem Menschen, den ich gernhab, was antun will, dann muss er erst an mir vorbei. Und damit meine ich nicht nur meine Familie, sondern auch meine Freunde wie die Liesi.«

Ihr Tonfall war locker und humorvoll, während sie ihm einen Teller mit Spiegeleiern und gebratenen Speckstreifen hinstellte, aber er konnte die Warnung zwischen den Zeilen heraushören. Denn wenn Chris eines nicht war, dann unsensibel.

»Ich nehme an, Sie reden von meinem Regisseur, Frau Gufler?«

Sie füllte Kaffee und Milch in zwei hohe Keramiktassen und setzte sich neben ihn.

»Nennen’S mich einfach Gitti«, sagte sie und hielt eine Schüssel mit frisch geschlagener Sahne hoch, in der sie einen Löffel versenkte. »Wollen’S auch einen?«

»Zwei, bitte«, er widerte er, »aber dann müssen Sie mich Chris nennen.«

Sie verpasste seinem Kaffee einen Gupf aus Schlagsahne, deutete auf seinen Teller und schob ihm das Brotkörbchen vor die Nase.

»Vinschgerl oder Semmel?«

Er griff nach dem flachen, dunkleren Brötchen, brach es in der Mitte auseinander und roch daran. Er liebte den Geruch von Kümmel und seinen Geschmack im Brot, seitdem er mit fünfzehn mit seinem Vater in den Dolomiten gewesen war. Sein erstes und bisher einziges Mal in Südtirol, weil seine Mutter es ablehnte, auch nur einen Fuß über die österreichisch-italienische Grenze am Brennerpass zu setzen.

»Sie haben mir noch nicht geantwortet, Gitti.«

Er schob eine Gabel mit Speck und dem dunkelgelben Dotter in den Mund, ein Stück Brot hinterher und schloss kurz die Augen. Herrlich.

»Wär vielleicht besser gewesen, wenn Sie uns nicht gesagt hätten, dass Sie der Produzent von dem Film sind, Chris. Der Leon hat gemeint, dass ich nicht ruhig bleib und Sie vergraule nach dieser ekligen Geschichte gestern.«

Er senkte die Hand mit der Gabel und suchte ihren Blick.

»Glauben Sie mir, ich kann Sie mehr als nur verstehen. Als ich davon erfahren und den Regisseur zur Rede gestellt habe, hätte ich ihn gern so gewürgt, wie er es bei der Frau Thaler getan hat.«

»Das hätten’S vielleicht tun sollen.«

»Ich habe ihn stattdessen fristlos entlassen.«

Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht.

»Dann kann die Liesi ja beruhigt sein.«

»Sie meinen Frau Thaler? Kennen Sie sich gut?«

»Wir waren immer unzertrennlich und ab dem ersten Schultag in derselben Klasse. Nicht nur die Liesi und ich, sondern auch die Traudl, der Bertl und der Leon. Mit vierzehn haben wir zwar verschiedene Wege eingeschlagen, aber wir sind bis heute allerbeste Freundinnen. Und außerdem sind wir in einem gewissen Sinn Nachbarinnen.« Sie streckte den Arm aus und deutete zum Fenster. »Sehen’S den Bauernhof da drüben mit den großen Bäumen davor? Das ist der Apfelhof, und dort wohnt die Liesi.«

Er folgte ihrem ausgestreckten Finger und sah dasselbe Panorama wie aus seinem Zimmer im oberen Stockwerk. Die drei mit Blüten übersäten Bäume mit ihren weit ausladenden Ästen waren trotz der Entfernung klar zu erkennen. Des Ausblicks wegen hatte er sich den Raum ausgesucht, als ihm die kleine Annie alle Gästezimmer zeigte, da außer ihm zurzeit keine Gäste auf dem Guflerhof waren. Die Urne mit der Asche seiner Mutter hatte er auf das Fensterbrett gestellt, weil es ihr einziger Wunsch gewesen war, auf dem Apfelhof ihre letzte Ruhe zu finden.

Chris schluckte. Plötzlich war der Geschmack von Ei, Speck und Kaffee in seinem Mund bitter. Er war keiner, der an Geister aus dem Jenseits und sonstigen esoterischen Kram glaubte, und wenn jemand von schicksalhaften Wendungen sprach, die ein Leben verändert hatten, winkte er immer ab. Normalerweise. Denn das, was gestern geschehen war, und dass er ausgerechnet hier auf dem Guflerhof gelandet war, schien ihm plötzlich die Luft abzuschnüren.

»Haben’S keinen Appetit mehr? Oder wollen’S lieber ein Marmeladebrot?«

Gittis Stimme holte ihn wieder in die heimelige Küche und an den Tisch zurück. Wie war es passiert, dass er in einem Ort mit über zehntausend Einwohnern und unzähligen Ferienunterkünften ausgerechnet hier gelandet war? Er hatte doch noch nicht einmal all die Bruchstücke aus verwirrenden Sätzen, die seine Mutter im letzten Lebensjahr gesagt hatte, so weit zusammengefügt, dass er verstand, was sie von ihrer Heimat ein Leben lang ferngehalten hatte. Und jetzt ...

»Lieber Erdbeere oder Marille?«

Chris hatte gar nicht bemerkt, dass seine Gastgeberin aufgestanden war. Aber nun stand sie vor ihm und hielt zwei Gläser mit Marmelade in den Händen. Er rang sich ein Lächeln ab.

»Beide, allerdings erst, wenn ich damit fertig bin.«

Er deutete auf den letzten Rest von seinem Spiegelei und schob es mit einem Stück Brot auf die Gabel.

Eine halbe Stunde später winkte ihm Gitti von der Haustür nach, als er mit dem Wagen vom Hof fuhr. Sie hatte es geschafft, ihn von seinen Grübeleien abzubringen – und er hatte genug zu tun, um sich bis zum Abend nicht mehr darin zu verlieren. Zuallererst musste er sichergehen, dass Ummo Tütken die gemietete Unterkunft der Filmcrew verlassen hatte, und dann würde er das gesamte Team versammeln, um die zeitlichen Abläufe der Aufnahmen für die nächsten Wochen umzuplanen.

KAPITEL 8

»Du wirst ein Mal tun, was ich dir sage, Liesi!«

Hubert Kofler, kurz Bertl, war einerseits das, was man ein gestandenes Mannsbild nannte, andererseits jedoch auch der liebenswürdigste und sanfteste unter all seinen Melaner Altersgenossen. Und sie wusste genau, wovon sie redete, immerhin hatte Liesi ihr ganzes Leben in Mela verbracht. Aber jetzt schaute er sie so bös an, dass sie ihren Blick senkte.

»Dass i des no omol erlebn derf«, nuschelte Filomena kichernd. Ihre Zähne hatte sie zwar im Mund, nur waren die Dinger wahrscheinlich ein bisserl verrutscht.

»Misch dich nicht ein«, fuhr Liesi ihre Großmutter unwirsch an. »Und überhaupt ...«

»Wos moansch denn mit überhaupt?«

Ein dichtes Netz kleiner Falten durchfurchte ihr Gesicht, das von schlohweißen Haaren umrahmt wurde, die sie wie immer zu einem Zopf geflochten und am Hinterkopf zu einer Art Schnecke zusammengerollt und aufgesteckt hatte. Der farbliche Kontrast ließ ihre vom Alter und der Sonne braun gegerbte Haut noch dunkler erscheinen, als sie war. Nur die erstaunlich wachen, nahezu farblosen wasserblauen Iriden stachen daraus hervor.

»Ja, genau, was meinst du mit überhaupt?«, wiederholte Bertl, der an der Kredenz lehnte, die Worte der alten Frau.

Liesi rollte mit den Augen, zog die Beine auf die Bank und umschlang sie mit ihren Armen. Von klein auf hatte sie das immer getan, wenn sie sich angegriffen fühlte. Sie kam sich geschützt und sicher vor, sobald sie das Kinn auf die Knie abstützte und ihr Gegenüber von unten herauf ansah.

»Wir brauchen das Geld«, sagte sie trotzig.

»Ich hab dir schon hundertmal gesagt, dass ich dir helfe.«

Bertl verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust und der Stoff seines wie immer karierten Hemds – heute blau und weiß – spannte sich über seinen Oberarmen. Wann war er eigentlich so ... imposant geworden, überlegte sie. Bis zur dritten Klasse der Mittelschule war er mit seinen viel zu langen Armen und den dünnen Beinen stets von allen Grischpl genannt worden. Zu Recht, war er doch kleiner als die meisten anderen Buben gewesen. Aber jetzt ...

»Ich will dein Geld nicht, Bertl!« Sie funkelte ihn an.

»Mir scheint, du magst gar nix von mir.«

Er starrte auf seine Füße, die in den schweren Bergschuhen steckten, die er nur am Sonntag gegen andere tauschte.

»Fangst jetzt schon wieder damit an?«

Liesi umklammerte ihre angezogenen Beine noch fester und presste das Kinn so stark auf die Knie, dass ihr der Kiefer wehtat.

»Womit denn?«, murrte er.

Filomena begann in ihrer Ecke zu kichern und Liesi sah zu ihr.

Das dunkle Kruzifix mit dem geschnitzten Jesus aus Zirbelkieferholz schwebte über ihr, und Liesi hatte immer schon gedacht, dass der Gekreuzigte über der alten Frau wachte und alle anderen am Küchentisch aufmerksam ansah. Vielleicht aber wollte er sie auch auffordern, endlich einmal zu sagen, was zu sagen war?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752141610
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
romantisch Landleben liebevoll herzlich Familie Urlaub Berge verliebt Humor Italien Kinderbuch Jugendbuch

Autor

  • Lisa Torberg (Autor:in)

Lisa Torberg ist mehrsprachig aufgewachsen, studierte Wirtschaft in Paris und verbrachte einige Jahrzehnte in Ländern dreier Kontinente, bevor sie sich ausnahmslos für das Schreiben entschied. Heute lebt die Journalistin und Schriftstellerin in ihrer italienischen Heimat. 2012 veröffentlichte sie ihren ersten deutschsprachigen Roman im Genre Liebe. Seit 2015 schreibt sie als MONICA BELLINI sinnliche Liebesromane. 2023 erschien ihr erster Roman unter dem Pseudonym RIEKE ROTHBERG.
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Titel: Wenn Apfelbäume sprechen könnten