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Die schwarze Fledermaus 14: Das nasse Grab

von G. W. Jones (Autor:in)
164 Seiten
Reihe: Die schwarze Fledermaus, Band 14

Zusammenfassung

Aus dem Amerikanischen von Swantje Baumgart. Im Hafenviertel wird gestreikt, auf hoher See werden Schiffe versenkt und Matrosen kaltblütig ermordet. Wer steckt hinter diesen grauenvollen Taten? Niemand rechnet mit dem, was dann passiert. Das Abenteuer Das nasse Grab erschien im Mai 1941 unter dem Titel The Black Bat and the Red Menace in dem amerikanischen Magazin Black Book Detective. Die Printausgabe umfasst 216 Buchseiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis




Kapitel 1 - Mord segelt über das Meer

Der siebentausend Tonnen-Frachter Amber Cross stampfte, beladen mit Erz aus Südamerika, gemütlich dahin. Doch an Bord war es nicht so ruhig wie das Wetter. Intrigen, Mordgerüchte und Hass verbreiteten sich in Windeseile.

Mehr als die Hälfte der Besatzung ging missmutig ihren jeweiligen Tätigkeiten nach. Der Captain, geboren und aufgewachsen auf dem Meer, lief auf der Brücke umher, wobei er sich über den Vulkan, der unter den Decks brodelte, völlig im Klaren war. Drei Männer befanden sich auf der Brigg, Männer, die verlangten, mit den Offizieren zu essen, obwohl den Offizieren und den Männern das gleiche Essen gereicht wurde. Das bereitete dem Kapitän Sorge.

Der stämmige Frank Adams mit dem kühlen Blick wusste über all das Bescheid. Er sorgte sich weniger um sich selbst, sondern vielmehr um seinen jüngeren Bruder Joey, der als assistierender Funker an Bord war. Frank Adams stieg langsam die Niedergangsleiter hinauf und zum Funkraum. Er berührte etwas Feuchtes und sah, dass seine Hand blutverschmiert war. Stirnrunzelnd ging er weiter, während seine Gedanken um Joey kreisten.

Joey hatte sich immer am meisten für den Funkverkehr interessiert, und er hatte monatelang versucht, Arbeit auf einem Schiff zu finden, ehe er schließlich diesen Job bekam. Nun hatte er ihn, und Frank Adams war zutiefst besorgt über seinen kleinen Bruder inmitten dieses Hexenkessels voller Hass. Joey hatte kaum das körperliche ­Stehvermögen, um sich zu behaupten, wenn die menschliche Bombe wie erwartet hochgehen und sie alle bis zum Himmel schießen würde. Joey war knapp eins siebzig groß und wog nicht einmal 54 Kilo, und obwohl die Sonne auf dem Meer seiner Haut eine dunklere Farbe gegeben hatte, sah er weiterhin nicht besonders gesund aus.

Als Frank Adams den Funkraum erreicht hatte, schloss er die Tür und die Luke.

„Joey“, sagte er. „Auf diesem Kahn wird bald einiges los sein. Der erste Steuermann hat sich seit einer Stunde nicht mehr blicken lassen. Auf der Niedergangsleiter habe ich gerade Blut gefunden. Um den Steuermann hat sich jemand gekümmert, in Ordnung. Jetzt hör mir zu. Du und ich, wir hatten unsere Auseinandersetzungen über die Gewerkschaft, der ich mich angeschlossen habe, und in gewisser Weise hattest du vielleicht recht. Ich hätte mehr Fragen stellen sollen, dann hätte ich vermutlich mehr von dem erfahren, was ich jetzt weiß. Dass es eine ausländische Gruppe gibt, die sich in unsere Gewerkschaft eingeschlichen hat und nun mit allen Mitteln versucht, sie zu kontrollieren. Aber der wichtigste Punkt ist, wir sind jetzt auf diesem Kahn, der von diesem Haufen Ausländer praktisch gelenkt wird, und wir sind in Gefahr. So wie jeder gute Mann der Gewerkschaft bald in Gefahr sein wird, wenn er sich von diesen Teufeln nicht herumkommandieren lässt. Und noch schlimmer ist, dass die Männer von der Gewerkschaft zu oft gar keine Chance haben, wenn sie mit denen nicht mitspielen und die infernalischen Ausländer in der Überzahl sind, was auf diesem Frachter der Fall ist. Ich hab das schon oft gesehen, Joey, Männer, die los­segeln und niemals zurückkehren, weil der Frachter, auf dem sie segelten, versenkt wurde. In letzter Zeit verschwinden viel Frachter.“


*


Joey legte seine Kopfhörer auf den Tisch und wandte sich auf seinem Drehstuhl um.

„Das ist der Hauptgrund, warum ich mich geweigert habe, deiner Gewerkschaft beizutreten, Frank“, sagte er ernst. „Ich hatte gute Gründe, mehr über diese Männer in Erfahrung zu bringen, die versuchen, sie zu übernehmen. Kommunisten, roter als der Umhang eines Matadors, haben mit all dem angefangen. Und nun sind die Nazis und die Faschisten zu ihnen gestoßen, und wenn die Männer der amerikanischen Gewerkschaft nicht vernünftig werden und sie rausschmeißen, dann werden sie die gesamte Gewerkschaft der Seefahrt leiten, bevor irgendjemand merkt, was passiert. Ich weiß mehr als vorher über diese Jungs, die die guten Amerikaner gleich ins Meer werfen wollen. Ich weiß das von meinem Boss. Er ist so rot wie Rote Beete. Liest nur die Theorien von Lenin und die Flugblätter, die von diesen durchgeknallten Trotteln ausgegeben werden, die die Welt gemäß einem Plan führen wollen, der noch verrückter ist als sie selbst.“

Frank ging zur Tür und warf einen hastigen Blick nach draußen. Er wusste, dass an Bord mehr spioniert als geschlafen wurde.

„Gut“, sagte er schnell. „Ich habe meine Gewerkschaftskarte bekommen. Und diese Ratten, die vorhaben, auf diesem Schiff die Hölle losbrechen zu lassen, wie sie es schon auf anderen Kähnen getan haben, wissen nicht, ob ich für oder gegen sie bin. So klug war ich zumindest, da ich bis zu unserer Abfahrt nicht wusste, ob wir mit einem Haufen Kommunisten, Nazis oder Faschisten segeln, oder mit Amerikanern. Das war reiner Selbstschutz, weil ... Na ja, ich weiß von mindestens fünf Frachtern, die in den letzten sechs Monaten untergegangen sind. Und jedes Mal ist ein Drittel der Mannschaft mit dem Schiff untergegangen. Diejenigen, die gerettet wurden, gehörten zu diesem radikalen Haufen. Für mich heißt das, dass die Männer von der amerikanischen Gewerkschaft, die petzen könnten, einfach umgebracht wurden.“

Joey schloss die Augen. „Ich schätze, dann bin ich jetzt dran zu gehen“, sagte er mit ruhiger Resignation. „Ich gehöre nicht mal zur Gewerkschaft. Ich bin vermutlich der Erste, der einen draufkriegt. Frank, was glaubst du, wann die Bombe hochgehen soll?“

„Heute Nacht. Wir segeln auf der üblichen Route, ein Rettungsschiff wird also nicht weit sein. Darauf achten diese Ratten immer. Aber Joey, sie werden dich nicht kriegen. Überlass das mir.“

Joey seufzte. „Und ich dachte, ich wollte nichts auf der Welt lieber als Funker sein und zur See fahren. Schiffe sind nichts mehr für echte Amerikaner, Frank. Die sind voll von Abschaum und Lumpenpack. Ausländer, die eingeschleust wurden und alles auf ihre Weise regeln wollen, selbst wenn sie dafür morden, meutern und ihre Schiffe versenken müssen. Ich habe keine Ahnung, was dahintersteckt. Klar, vielleicht denken diese Trottel, dass sie ein neues Zeitalter in der ganzen Welt ins Leben rufen wollen, und führen all das gemäß ihren irren Ideen durch, wie sie sagen. Aber wenn sie weiterhin Menschen umbringen und Schiffe versenken, dann werden nicht genug übrig bleiben, um ihre goldenen Theorien zu beweisen.“

Frank Adams antwortete mit wenigen Worten. „Okay, Kleiner. Ich hab dir das hier vorher nicht gesagt, aber das hier wird ein Entscheidungskampf. Wenn du hier rauskommst und ich nicht, dann schrei es von den Dächern. Sie versuchen, die Vereinigten Staaten an der Wiederbewaffnung zu hindern. Sie helfen Hitler und seinen Gefolgsleuten. Denn wenn er gewinnt, wird die Welt vor die Hunde gehen, und es wird für den Kommunismus und die Achsenmächte viel leichter sein, sie zu übernehmen. Die Befehle kommen direkt aus Moskau und Berlin. Ebenso das Geld, mit dem dieses Teufelswerk finanziert wird. Die See ist nicht bereit für anständige Männer, solange diese Geier darüber kreisen. Jüngere Brüder hören nie auf ihre älteren Brüder, und genauso hätten wir auf Mark hören sollen. Er hatte recht mit dem, was er über die ganze Sache sagte, dass wir uns vor solchen Vögeln in Acht nehmen sollten. Jetzt nimm du dich in Acht, Kleiner. Ich gehe an Deck, um zu sehen, woher der Wind weht.“

Als Frank die Funkkabine verließ, stolzierte ein stämmiger, o-beiniger Matrose auf ihn zu.

„Ich mache einen Kontrollgang“, sagte er. „Wie ich höre, bist du einer von uns, Kumpel. Ist das richtig?“

Frank nickte, und der Matrose senkte seine Stimme.

„Heute Abend, gleich nach Einbruch der Dunkelheit. Rettungsboot Drei, und kein Wort!“


*


Frank ging nach unten. Er inspizierte mehrere Kajüten. In der des zweiten Steuermannes sah es aus, als hätte hier ein heftiger Kampf stattgefunden. In einer Ecke sah er eine verschlossene Truhe und brach sie hastig auf. Im Innern fand er, wonach er gesucht hatte: Eine schwere, geladene Automatik. Er steckte sie unter seinen Gürtel und zog seinen Pullover darüber.

Als der Mond aufging, hörte Frank einen Schrei und mehrere Schüsse. Er rannte an Deck. Der Kapitän hockte zusammengesunken an der Reling, die Augen bereits glasig. Zwei spöttisch lächelnde Männer standen vor ihm, beide hielten rauchende Waffen in der Hand. In der Nähe standen weitere Männer. Frank griff nach seiner eigenen Waffe, doch schnell wurde ihm klar, dass er nicht dreiviertel der Mannschaft würde bekämpfen können. Er hatte bereits herausgefunden, dass die Ausländer absolut in der Überzahl waren.

Widerwillig wich er zurück, doch in den nächsten Minuten beobachtete er weitere ähnliche Szenen. Männer wurden ohne Skrupel niedergeschossen oder mit Schlägen bewusstlos geschlagen, die Schädel spalten konnten.

Es gelang Frank, den Männern auszuweichen, die mit dieser schmutzigen Arbeit betraut waren, indem er sich in die Schatten duckte, während er gleichzeitig wieder zur Funkkabine eilte.

Noch bevor er die Leiter erreichte, wurde Frank gegen die Reling geworfen, weil das Schiff plötzlich Schlagseite bekam. Er konnte das Knacken des gefunkten SOS hören, doch es war nicht Joey, der es sendete. Joey funkte schneller. Wo war Joey?

Wie als Antwort wurde die Tür zum Funkraum aufgestoßen, und Joey wankte hinaus. Blut lief über sein Gesicht, und auch sein Hemd war blutgetränkt.

Der offizielle Funker verließ sein Armaturenbrett für einen Augenblick, trat hinaus aufs Deck und starrte dem davontaumelnden Joey nach. Er hob eine Waffe und zielte.

Frank Adams feuerte aus der Hüfte, zweimal. Der Funker brach lautlos zusammen. Frank wusste, dass man ihn gesehen hatte, wusste um die Konsequenzen, doch er wusste auch, dass das Schiff schnell sinken würde. Er hielt Joey schützend fest und rannte das sich neigende Deck entlang zum Rettungsboot Drei, hob seinen schlaffen und halb bewusstlosen Bruder hinüber und kletterte dann selbst hinein. Während er Joey zum Heck zerrte und sich neben den jungen Funker hockte, richtete er seine Waffe auf die Crewmitglieder, die das Boot herabließen.

„Boot aussetzen!“, schrie Frank kämpferisch. „Oder wollt ihr lieber an Bord bleiben und mit diesen armen Teufeln untergehen, die ihr erschlagen oder erschossen habt?“

„Hör mal, Frank“, protestierte einer der Männer weinerlich. „Du bist einer von uns. Du weißt, was wir getan haben, war für die Sache. Es gibt keinen Grund für dich, jetzt so auszurasten. Wir haben sowieso nur drei Rettungsboote. Die anderen sind zerstört worden, für den Fall, dass ein paar von den Jungs nicht tot sind. Acht von uns müssen mit dir in das Boot.“

„Dann steigt ein“, knurrte Frank. „Auch wenn ich nicht weiß, warum ich mich um Ratten kümmern sollte, die ihr eigenes Schiff versenken. Steigt ein, aber vorher legt ihr eure Waffen ab. Wenn ein Mann eine Waffe auf dieses Boot mitbringt, knalle ich euch alle ab, also helft mir!“

Der Frachter neigte sich gefährlich und begann, mit dem Bug voraus zu sinken. Zum Diskutieren war keine Zeit. Die anderen beiden Rettungsboote waren bereits fort. Die Männer, die in diesem Boot mitfahren sollten, warfen ihre Waffen ins Meer und ließen sich hastig an den Seilen hinab.


*


Frank ruderte nicht. Das überließ er den Mördern. In seiner Sorge um seinen Bruder hatte er nicht einmal Zeit, ihnen seine absolute Verachtung zu zeigen. Joey war schwer verletzt. Wenn sie nicht schnell Hilfe fanden, würde er vielleicht sterben. Franks Augen waren schmal, der Kiefer vorgeschoben, und seine Stimme klang spröde, als er sprach.

„Ich weiß genau, dass wir bald ein Rettungsschiff finden werden. Das SOS wurde gesendet, bevor sich das Schiff zu neigen begann. Aber wenn wir erst mal auf dem Rettungsschiff sind ... Hört ihr? Dann lasst ihr uns in Ruhe! Sagt das auch den anderen. Ich weiß, dass ihr meinen Bruder gerne kaltmachen würdet, weil er ein echter Amerikaner ist, der der ganzen Welt sagen wird, was ihr seefahrenden Wölfe getan habt. Nun, ihr habt einen schweren Fehler begangen. Ich bin eingetragenes Mitglied der Independent Maritime Alliance, aber ich gehöre nicht zu eurem Haufen, die sie auch versenken wollen. Ich bin keiner von euch Kommunisten, die mit Nazispionen gemeinsame Sache machen! Trotzdem weiß ich, was ihr vorhabt. Ihr versucht, die gesamte Handelsflotte der Vereinigten Staaten zu zerstören! Ihr hofft, allen Passagierlinien das Rückgrat zu brechen. Material, das zur Verteidigung der Vereinigten Staaten benötigt wird, wurde versenkt. So wie das Erz, das auf unserem Schiff war. Diese roten Tentakel haben nach Frankreich gegriffen, nach Spanien, nach China! Was kommt dabei heraus? Chaos! Hunger und Zerstörung! Und nun versucht ihr, die größte Nation zu erwürgen, die derzeit auf der Erde existiert. Nun, das schafft ihr nicht, versteht ihr das? Niemand schafft das! Ihr könnt mich und meinen Bruder umbringen, aber wir sind nur zwei von Millionen und Abermillionen!“

„Gut gesprochen“, sagte einer der Männer stirnrunzelnd. „Sehr gut, Freundchen, aber das ist auch dein Todesurteil. Niemand, der weiß, was unsere Gruppe vorhat, verlässt uns ... und überlebt.“

Frank lachte kalt. „Nein? Nun, dann sieh dir die zwei genau an, die genau das tun werden. Ich werde es tun und mein Bruder auch. Da ich diese Waffe habe, wirst du es nicht wagen, mich anzugreifen. Wenn wir an Land sind, werde ich die Dinge regeln, so dass ich niemals belästigt werde. Die Gewerkschaft wird sich freuen, ein paar Dinge zu erfahren, in denen die Bosse sich verbeißen können, soweit es euch betrifft. Ich bin nicht ganz der Dummkopf, für den ihr Vögel mich haltet. Und jetzt fangt an zu rudern, und kommt nicht in Schussweite der anderen Rettungsboote.“



Kapitel 2 - Kreuzfahrt

Auf dem Weg von den Bermuda-Inseln nach New York segelte das Linienschiff durch die ruhige, vom Mondlicht überflutete See. Das einzige Zugeständnis des Kapitäns an den Krieg in Europa bestand in amerikanischen Flaggen, die auf die Seiten des Schiffes gemalt worden waren, und in Suchscheinwerfern, die darüber glitten.

Das Abendessen war gerade vorbei. Ein Tanzorchester spielte lautstark Swingmusik, und die Bar war gut besetzt.

Um diese Uhrzeit hielten sich nur wenige Leute auf den Decks auf. Ein Mann schritt langsam über das Achterdeck, während er sich mit einer Hand fest an die Reling klammerte. In der anderen Hand hatte er einen Stock, den er nach vorn ausgestreckt hielt, so, als erwarte er, auf ein unsichtbares Hindernis zu stoßen. Er war groß, von ­kräftiger Erscheinung und sicher einst ein gutaussehender Mann gewesen. Nun waren seine Züge von tiefen, glänzenden Narben entstellt. Er trug eine dunkle Sonnenbrille, und die Narben verliefen größtenteils um die Augen.

Er packte die Reling, wandte sich langsam zu dem schäumenden Kielwasser des Schiffes um und schien in die Dunkelheit hinaus zu starren. Ein weiterer Mann, der gerade spazieren ging, blieb plötzlich neben ihm an der Reling stehen, ein Mann Mitte vierzig, sorgfältig gekleidet, ein wenig pompös.

Während er langsam an seiner teuren Zigarre zog, betrachtete er den Mann mit der dunklen Sonnenbrille. Auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck. Für gewöhnlich schloss man auf einem Schiff schnell Bekanntschaften, doch dieser Mann mit dem vernarbten Gesicht schien nicht besonders darauf erpicht, neue Freunde zu finden.

„Ich ... äh, hoffe, sie genießen die Fahrt“, sagte der pompöse Mann nun.

Der andere Mann zuckte zusammen, als habe er sich erschreckt. Dann lächelte er milde.

„Das tue ich, selbstverständlich. Es ist friedlich hier, nicht wahr? Man würde niemals denken, dass derselbe Mond, der hier auf uns niederscheint, auch Tod und Zerstörung drüben in Europa beleuchtet.“

Der Mann mit der Zigarre streckte seine Hand aus. „Mein Name ist Gibbons, Brad Gibbons. Sie haben vielleicht schon von mir gehört. Ich bin in der Rüstungsindustrie; Granaten, Schusswaffen, Handgranaten. Natürlich hat der Krieg meinem Geschäft nicht geschadet, aber ich würde lieber Fahrräder herstellen, so wie ich es vor Jahren getan habe.“

Der Mann mit der dunklen Sonnenbrille schenkte der ausgestreckten Hand keine Beachtung. Gibbons lief rot an.

„Ent... entschuldigen Sie“, sagte er. „Ich weiß, dass viele Leute einen Händler des Todes, wie man mich nennt, verabscheuen. Und doch dachte ich ...“

Der andere Mann wandte sich zu Gibbons um. „Sie haben mir Ihre Hand angeboten, nicht wahr? Ich bin der, der sich entschuldigen sollte. Sehen Sie, ich wusste das nicht. Ich bin blind.“

Gibbons schürzte die Lippen, und er begann zu sprechen. „Tut mir schrecklich leid. Aber Sie hier allein ... Gibt es irgendetwas, was ich tun kann?“

„Nein.“ Der blinde Mann lächelte. „Und entschuldigen Sie sich nicht. Mein Assistent sollte jeden Augenblick hier sein. Er wird sich um alles kümmern. Trotzdem danke ... Ich bin Tony Quinn aus New York.“

Gibbons sprach ein paar hastige Worte, dann wandte er sich um und verschwand in einem Niedergang.

Beinahe augenblicklich erschien Silk Kirby, Tony Qinns Diener, Assistent und Freund, an Deck.

„Ich hatte ein wenig Gesellschaft, während du unten warst“, sagte Quinn leise. „Ein Rüstungsproduzent namens Gibbons. Einer von den großen Jungs. Ich frage mich, wie er die Zeit für einen Urlaub findet, angesichts der momentanen Bedingungen. Ich denke, wir gehen ein wenig über das Deck, Silk. Du nimmst besser meinen Arm.“

Sie schlenderten langsam dahin, und als sie den Funk­raum passierten, öffnete sich die Tür, und ein Steward kam herausgerannt. Er sprintete das Deck entlang, wobei er in einer Hand einen Umschlag festhielt.

„Etwas ist geschehen, Silk“, kommentierte Tony Quinn. „Wenn du einen Steward so schnell laufen siehst, dann kannst du darauf wetten, dass die Angelegenheit dringend ist. Er kam aus dem Funkraum, was meine Annahme bestätigen könnte, dass Ärger bevorsteht. Lass uns wieder nach achtern gehen. Vielleicht passiert doch noch etwas, was die Monotonie der Fahrt unterbricht.“

Silk warf Quinn einen neugierigen Blick zu. Er sprach mit leiser Stimme.

„Verzeihung, Sir, es scheint, als wären Sie beinahe sicher, dass etwas geschehen wird. Mir ist auch aufgefallen, dass wir diese Fahrt ziemlich unerwartet angetreten haben. Wissen Sie, dass es irgendwo knallen wird, Sir?“

Quinn lachte leise. „Nein, Silk, ich bin überhaupt nicht sicher. Mir ist jedoch aufgefallen, dass in letzter Zeit einige Schiffe gesunken sind, und sie alle waren an der Beförderung von Materialien beteiligt, die zur Verteidigung benötigt werden. Sie alle sind nahe unserer momentanen Route gesunken. Aus einer reinen Intuition heraus dachte ich mir, dass wir diese kleine Fahrt unternehmen, denn im Augenblick befinden sich mehrere Frachter in der näheren Umgebung, die der Linie gehören, die all diese Verluste erlitten hat. Und wenn der Grund für diese Untergänge zufällig Sabotage sein sollte, dann tragen wir unseren Teil dazu bei, jegliche Verbindungen zwischen den Spionen zusammenbrechen zu lassen, die daran arbeiten, unsere Frachtschifffahrt zu ruinieren.“

Sie näherten sich gerade dem hinteren Teil der Funkerkabine, als ein barhäuptiger junger Mann im Smoking um die Ecke stürmte und Tony Quinn über den Haufen rannte. In einem Gewirr aus Armen und Beinen gingen beide zu Boden. Der junge Mann rappelte sich auf, strich sein glattes, blondes Haar zurück, sah Quinn finster an und machte eine wütende Bemerkung. Plötzlich packte ihn eine Hand am Kragen und riss ihn herum. Silks Augen waren schmal, und er wurde zornig.

„Es ist gefährlich, so um die Ecken zu rennen, du Schwachkopf!“, explodierte Silk. „Dieser Mann, den du umgerannt hast, ist blind. Und du stehst da und beschimpfst ihn.“

Der blonde junge Mann befreite sich aus Silks Griff, legte seinen Handballen auf Silks Brust und stieß ihn fort. Silk stolperte über Quinns Beine und fiel selbst zu Boden. Der junge Mann rannte fort und auf die Brücke zu.

Tony Quinns leises Lachen unterbrach Silks wütendes Gezeter.

„In den letzten paar Stunden sagtest du zehnmal, dass du verrückt wirst, wenn nichts geschieht, Silk“, bemerkte Quinn. „Jetzt geht es los, und bisher ... hast du dich nicht besonders gut angestellt. Hilf mir auf. Weißt du ...“ Mit Silks Hilfe kam Quinn wieder auf die Füße. „Es kommt mir seltsam vor, dass unser blonder, junger Freund es so eilig hat, diesen rasenden Steward einzuholen. Wenn er das gehofft hatte, dann haben wir es erfolgreich verhindert. Lass uns nach achtern gehen.“

Während sie weiter das Deck entlang gingen, strich Quinn über seinen Ärmel, und dann, als er sicher war, dass niemand zusah, nahm er ein blondes Haar auf. Es war kaum hell genug an Deck, um irgendetwas von der Dicke eines Haares zu untersuchen, doch Tony Quinn hob die getönte Brille für einen Moment an, dann verstaute er das einzelne Haar sorgfältig in einem Umschlag in seiner Tasche. Ein kurzer Blick auf das Haar hatte sein Interesse geweckt, denn Tony Quinn war nicht blind, obwohl seine Darstellung eines blinden Mannes absolut fehlerlos war. Es gab jedoch gute Gründe für diese Tarnung, und Tony Quinn hatte lange geübt, denn einst war er monatelang tatsächlich blind gewesen.

„Unser eiliger junger Freund, Silk“, sagte Quinn mit leiser Stimme, „hat blondierte Haare. „Das habe ich entdeckt, als eines seiner Haare in dem Tumult an meinem Mantel hängen blieb. Eigentlich hat er ziemlich dunkles Haar, und er wird bald nachbleichen müssen. Frauen bleichen sich oft das Haar, aber Männer ... Ein Mann tut das nur, wenn er sein wahres Aussehen verdecken will. Vielleicht köchelt an Bord ein hübsches kleines Komplott vor sich hin.“

Quinn warf einen Blick nach oben und stieß Silk an.

„Sieh dir die Schlote an. Wir haben den Kurs geändert. Die Richtung des Rauches hat sich von Süden nach Westen geändert. Außerdem fahren wir mit voller Kraft. Etwas wird passieren, Silk!“


*


Eine ganze Stunde lang fuhr das Schiff direkt Richtung Europa, anstatt der Küstenlinie zu folgen. Und aus irgendeinem Grund, den nur sie selbst genau kannten, hatten die Offiziere des Schiffes die Passagiere nicht darüber informiert, dass sie vom Kurs abgewichen waren.

Dann begann ein großes Suchlicht, sich zu bewegen und glitt eine Meile voraus über das Wasser. Matrosen stiegen in drei Rettungsboote. Weitere standen mit Rettungsgürteln und Seilen bereit. Der Proviantmeister eilte in den Saal und hängte eine Bekanntmachung auf, mit der die Passagiere darüber informiert wurden, dass ein amerikanischer Frachter nach Hilfe gefunkt hatte. Augenblicklich strömten alle an Deck.

„Unser Schiff hat einen SOS-Ruf beantwortet“, sagte Quinn leise. „Und ja ... dort an Steuerbord. Ich kann ein Schiff sehen ... ein Frachter, glaube ich. Das Heck steigt, dann geht es endgültig unter! Ich hoffe nur, dass die Mannschaft von Bord gekommen ist. Ja ... sie sind in den Rettungsbooten!“

Silk dagegen konnte nichts sehen, bis der Strahl des Suchscheinwerfers auf dem sinkenden Schiff verweilte. Tony Quinns Augen, die einst blind gewesen waren, hatten eine beeindruckende Fertigkeit erlangt, als er sein Augenlicht zurückerhalten hatte. Er konnte in der Dunkelheit so gut sehen wie ein durchschnittlicher Mensch bei hellem Tageslicht. Er konnte sogar Farben unterscheiden, wodurch er auch den Unterschied in der Schattierung des einzelnen Haares hatte erkennen können.

Die Überlebenden des Frachters ruderten in ihren Rettungsbooten wie verrückt auf das Linienschiff zu. Leitern wurden heruntergelassen. Matrosen standen bereit. Die erste Bootsladung stieg über die Reling, die Männer wurden schnell in warme Decken gewickelt, und Brandy wurde ihnen gereicht.

Dann wurde auch das letzte Boot entladen. Quinn und Silk, die sich über die Reling beugten, erkannten das Glitzern einer Waffe. Ein großer, kräftiger junger Mann stand aufrecht in dem Rettungsboot, legte die Hände um seinen Mund und schrie nach einem Seil. Ein Mann stieg hinab, und er band es um die leblose Gestalt eines anderen Passagiers in dem Rettungsboot. Dieser Passagier wurde schnell hinaufgezogen, und der bewaffnete Mann stieg über ein Fallreep hinterher. An Deck eilte er zu dem verletzten Mann und blieb mit finsterem Gesicht stehen.

„Dass eines klar ist“, rief er mit heiserer Stimme. „Ich kümmere mich um meinen kleinen Bruder, und keiner außer dem Arzt wird ihn sehen oder mit ihm sprechen. Er ist schwer verletzt, und glaubt mir, das war kein Unfall. Wenn Joey irgendetwas passiert, werde ich singen wie ein Papagei!“

„Der meint‘s ernst, Silk“, sagte Tony Quinn überrascht. „Und er hat diese Worte an seine eigene Mannschaft gerichtet. Schau ... drüben, links von dir. Das ist Brad ­Gibbons, der Rüstungsproduzent. Er sieht sich das alles an, und er wirkt ein wenig zwielichtig. Unser falscher blonder Freund daneben sieht so aus, als hätte er gerade einen Schuss Essig bekommen ... pur. Silk, hier ist viel mehr, als man mit bloßem Auge erkennen kann. Lauf ein wenig herum, und halte Augen und Ohren offen. Wir treffen uns genau hier in einer halben Stunde wieder.“

Während er mit seinem Stock tastete, ging Tony Quinn direkt auf die Gruppe geretteter Matrosen zu, die leise miteinander sprachen und sich verstohlen umschauten. Quinns Gehör, das seit der Zeit seiner Blindheit doppelt so empfindlich war, kam ihm jetzt wieder gut zupass. Er konnte Worte verstehen, die nicht für fremde Ohren bestimmt waren.

„den Großen Hans hat‘s erwischt, als er das letzte Flutventil rausgeschlagen hat. Die Ladung kam ins Rutschen, und er steckte fest.“

Ein weiterer Mann sprach in einem heiseren Flüsterton. „Hör auf, über solche Dinge zu sprechen. Willst du, dass es jemand erfährt? Wir sind sie losgeworden, so wie wir sie loswerden sollten. Alle, bis auf diese zwei Brüder, und auch die kriegen noch, was sie verdienen. Und jetzt halt den Schnabel.“


*


Silk bekam ebenfalls ein paar Informationen.

„Ich würde sagen, Sir“, informierte er Tony Quinn, als er zurückkehrte, „der Frachter wurde versenkt. Ein amerikanisches Schiff, brachte Erz aus Südamerika nach New York. Gehörte zur Flotte der North Freighting Line. Die Mannschaft ist der finsterste Haufen von ausländischen Herumtreibern, den ich jemals gesehen habe. Ich konnte aufschnappen, dass der Kapitän des Schiffs an die Eigner gefunkt hat, dass das Schiff untergegangen sei und dass elf Mitglieder der Mannschaft verloren sind und einundzwanzig gerettet wurden. Aber keines dieser Rettungsboote war voll, Sir, und ein untergehendes Schiff fällt nicht auseinander und tötet die Mannschaft – nicht elf Mann. Mir scheint, als wisse der Kerl, dessen Bruder verletzt wurde, etwas, und das setzt er gegen die anderen aus der Mannschaft ein, damit sie seinen Bruder in Ruhe lassen. Vielleicht sollten wir die Kabine im Augen behalten, die man ihm zugewiesen hat.“

Quinn starrte geradeaus, den Kopf erhoben und bewegungslos, so wie es Blinde tun.

„Du wirst das tun müssen, Silk“, sagte er. „Auf diesem Schiff ist nicht genug Platz, dass ich ordentlich arbeiten kann. Und ... wenn die Schwarze Fledermaus plötzlich auf demselben Schiff auftauchen sollte, auf dem Tony Quinn Passagier ist, dann werden vielleicht Fragen aufkommen. Vor allem von Captain McGrath daheim in New York, der schon jetzt zu mehr als fünfzig Prozent davon überzeugt ist, dass ich die Schwarze Fledermaus bin ... Übernimm du, Silk. Ich bin in unserer Kabine.“



Kapitel 3 - Der lange Arm des Todes

Quinn ging fort, fragte einen Passagier, der mit ihm zusammenstieß, nach dem Weg und erhielt augenblicklich einen Steward, der ihn zu seiner Kabine führte.

„Schrecklicher Unfall, Sir“, sagte der Steward. „Davon gab‘s in letzter Zeit jede Menge. Ich schätze, die machen die Frachter nicht mehr so seetüchtig wie früher. Und die Mannschaften. Ein übles Pack. Hab sie im Hafen getroffen. Ruskies, Krauts und so weiter. Da sind wir, Sir. Wenn Sie mir Ihren Schlüssel geben …“

Quinn bestellte einen Drink, schloss die Tür ab, nachdem der Steward ihm diesen gebracht hatte, setzte sich und nippte an seinem Glas, während er versuchte herauszufinden, was die bisherigen Vorkommnisse zu bedeuten hatten.

Einst ein Bezirksstaatsanwalt, war Quinns aufmerksamer Geist noch immer darauf geschult, Kriminelle zu bekämpfen. Er war im Dienst erblindet. Ganoven, die versucht hatten, Beweise mit Säure zu vernichten, hatten einen Teil der ätzenden Flüssigkeit in Tony Quinns Augen geschüttet. Für ihn waren die Lichter augenblicklich erloschen, und für eine lange, lange Zeit waren sie aus geblieben.

Spezialisten hatten ihm keinerlei Hoffnung gemacht. So wohlhabend Quinn auch war, man hatte ihm versichert, dass kein Geld der Welt ihm sein Augenlicht zurückgeben könnte. Dann, als er auf dem tiefsten Punkt der Verzweiflung angekommen war, war Hoffnung aufgekeimt ... durch ein Mädchen. Ein hübsches Mädchen mit einem Lebensziel. Durch sie hatte Quinn einen Arzt in einer kleinen Stadt im Mittleren Westen kennengelernt. Der Vater des Mädchens, ein Polizeisergeant, der durch die Kugel eines Gangsters gestorben war, hatte Tony Quinn seine Augen gespendet. Die Operation war erfolgreich. Tatsächlich gab sie den Augen von Tony Quinn diese Fähigkeit, in der Dunkelheit zu sehen, was weit über das Sehvermögen eines gewöhnlichen Menschen hinausging.

Das Mädchen, Carol Baldwin, deren Vaters Augen sich nun in Tony Quinns Kopf befanden, war zu einem wesentlichen Bestandteil von Quinns Truppe geworden, deren Aufgabe es war, das Verbrechen zu bekämpfen. Tony Quinn hatte sich in sie verliebt. Nicht nur aufgrund ihrer sanften Schönheit, sondern auch wegen ihrer besonnenen Art, wenngleich sie nur selten über Liebe sprachen.

Zu den anderen beiden, die Quinns private Organisation zur Verbrechensbekämpfung ausmachten, gehörte ­Norton Kirby, besser bekannt als Silk. Er war eine schlanke, fast kahlköpfige Person; einst ein Hochstapler, der von anderen in diesem fragwürdigen Bereich Lobeshymnen erhalten hatte. Er war gekommen, um Tony Quinn auszurauben, und war geblieben, um dessen Diener, Freund und Vertrauter zu werden. Der Dritte im Bunde war Butch ­O‘Leary, plump und bestehend aus zweihundertfünfzig Pfund Knochen und Muskeln. Er war nicht besonders schnell im Kopf, doch seine enorme Kraft war Tony Quinn sehr von Nutzen.

Mit ihnen an seiner Seite kämpfte Tony Quinn verborgen unter dem Deckmantel der Schwarzen Fledermaus gegen das Verbrechen. Unter einer Maske, die seine vernarbten Gesichtszüge verbarg, und eingehüllt in einen Umhang, der mit seiner gerippten Struktur an die Flügel einer großen Fledermaus erinnerte, streunte er durch die Nacht und packte das Verbrechen so konsequent, wie es sich kein Polizist leisten konnte, dies auch nur zu versuchen. Er brach das Gesetz, oft, und wenn es nötig war, tötete er sogar zur Selbstverteidigung. Doch er markierte stets seine Opfer und seine Taten, und zwar mit einem Aufkleber in der Form einer Schwarzen Fledermaus, damit kein anderer beschuldigt wurde.

Insgeheim respektierte die Polizei die Schwarze Fledermaus, würde sogar mit ihm zusammenarbeiten, obwohl sie Anweisung hatten, ihn sofort zu verhaften, sollten sie ihm begegnen. Alle bis auf Captain McGrath, der paradoxerweise durch Fälle zu seinem derzeitigen Posten aufgestiegen war, die die Schwarze Fledermaus gelöst hatte, dessen Ruhm er aber McGrath hatte einstreichen lassen. Doch McGrath hatte geschworen, die Fledermaus hinter Gitter zu bringen, und weil McGrath eine hartnäckige Person war, konnte ihn nichts von diesem Schwur abbringen, obwohl er manchmal einen Waffenstillstand schloss und mit der Fledermaus zusammenarbeitete. Bei anderen Gelegenheiten wiederum machte sich McGrath in den Augen anderer ein wenig lächerlich, denn er glaubte fest daran, dass Tony Quinn nicht so blind war, wie er vorgab, und dass er die Schwarze Fledermaus war.


*


Mit einem Mal wurde Tony Quinn aus seinen Gedanken über all dies gerissen, als ein leises Klopfen an seiner Kabinentür anzeigte, dass Silk zurück war.

„Es geht bald los, Sir!“ sagte der Ex-Hochstapler, noch außer Atem. „Ich habe erfahren, dass der verletzte Mann vermutlich mit einem großen Schraubenschlüssel geschlagen wurde und auf dem sinkenden Schiff zum Sterben zurückgelassen werden sollte. Sein Bruder, der große Bursche, hat ihn gerettet und mit einer gezogenen Waffe beschützt, bis dieses Schiff kam, um die Überlebenden von der Mannschaft des Frachters zu retten. Der große Kerl sitzt jetzt neben dem Bett seines Bruders mit einer Waffe im Schoß. Keiner außer dem Arzt kann zu ihm.“

Quinn stand auf und nahm ein kleines Glas aus seinem Seekoffer. Es war als Rasierschaum ausgewiesen, doch in Wahrheit war es ein weicher Lehm, den er nutzte, um die tiefen Brandnarben der Säure rund um seine Augen aufzufüllen und zu verbergen. Außerdem wechselte er seine Kleidung gegen einen dunklen Anzug und setzte einen breitkrempigen Hut auf, der tief über seine Augen reichte. Ein Überwurf mit hochgeschlagenem Kragen und ein dicker Wollschal schlossen die Bemühungen ab, seine Gesichtszüge zu verbergen.

„Such dir einen Posten, von dem du die Kabine beo­bachten kannst, in der diese Brüder sind“, sagte er zu Silk. „Ich werde sie ebenfalls im Auge behalten, aber wenn irgendetwas passiert, mit dem ich mich beschäftigen muss, bleibst du trotzdem dort.“

Drei Minuten später war Quinn an Deck, lehnte sich gegen die Reling und erweckte den Anschein, als schaue er aufs Meer hinaus. Doch seine Augen huschten ­ununterbrochen umher, und sein beeindruckendes Sehvermögen drang selbst in die dunkelsten Ecken.

Quinn spannte sich an, als ein Mann um die Ecke einer Kabine huschte. Es war schon spät, und die Decks waren nahezu leergefegt. Die schattenhafte Gestalt näherte sich der Kabine. Ebenso Tony Quinn, und er sah, dass der Mann eines der geretteten Mannschaftsmitglieder von dem Frachter war. Der Matrose musste eine offene Fläche überqueren, bevor er die Kabine erreichte, und Tony Quinn wartete in diesem Bereich, verborgen in der Dunkelheit neben der Luke zu einem Niedergang. Als der ­Matrose vorbeirannte, schoss Quinns Fuß hervor. Der Matrose stolperte, begann zu schreien, doch eine große Hand legte sich auf seinen Mund. Er wurde zurück in die Finsternis gezerrt und gegen eine Wand gestoßen.

„Alles klar?“, schnappte Quinn. „Keine Bewegung!“

Quinn bemerkte einen gefährlich aussehenden Dolch, der im Gürtel des Mannes steckte. Den warf er über Bord. Er war sich sehr wohl bewusst, dass die Befragung dieses Mannes ihm vermutlich nicht mehr Informationen ent­locken würde als das Gespräch mit einer Schaufensterpuppe. Vereine, die zuließen, dass gemordet und Schiffe versenkt wurden, hielten ihre Mitglieder mit Angst in Schach. Quinn beschloss, es mit einer Täuschung zu versuchen.

„Du Idiot!“, krächzte er. „Dein Befehl lautete, dich nicht zu zeigen. Weißt du nicht, dass du ein paar Minuten später gefangen worden wärst?“

„Dann ... gehörst du ...?“, fragte der Matrose mit erstickter Stimme.

„Wenn das nicht so wäre, wärst du jetzt tot oder gefangen“, bellte Quinn. „Die Befehle bezüglich dieses Schiffes sind einwandfrei ausgeführt worden, abgesehen von der Anwesenheit dieser zwei Männer in dieser Kabine, die mehr wissen, als gut für sie ist ... oder für uns. Wer hat‘s vermasselt? Warum sind sie nicht getötet worden?“

„Ich ... ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass Frank den Kumpels in seinem Rettungsboot zuvorgekommen ist und sie dazu gebracht hat, ihn und seinen Bruder hierher zu rudern. Ich kam gerade hoch, um mich nach einer gewissen Person umzusehen, die du kennst, und um zu sehen, ob es eine Chance gibt, diese beiden Denunzianten zu erwischen.“

„Nun, die Dinge haben sich geändert“, sagte Quinn. „Ich kümmere mich selbst um die beiden. Geh wieder runter und bleib dort.“


*


Der Matrose tippte sich an die Stirn. „Ja, Sir. Aber wollen Sie nicht, dass ich sämtliche Wachen von der Kajüte abziehe, damit Sie rein können? Das sollte ich tun, falls irgendjemand in der Nähe ist.“

Quinn erschauerte. Vielleicht nutzte der echte Mörder gerade dieses Intermezzo, um in die Kabine einzudringen. Quinn befahl dem Matrosen im Flüsterton zu verschwinden, dann ging er schnell zu der Kabine, die vom Tod heimgesucht wurde.

Ein gelber Lichtstrahl breitete sich auf dem Deck aus, als die betreffende Kabinentür geöffnet wurde. Ein Mann trat hinaus. Er war uniformiert und trug eine Arzttasche. Mit dem Rücken zu Quinn schloss er die Tür. Tony Quinn spürte Erleichterung. Der Schiffsarzt bei einer Routine­untersuchung. Die Anwesenheit des Arztes bedeutete, dass beide Jungs noch immer in Sicherheit waren.

Quinn schaute sich nach Silk um und entdeckte ihn, mit den Schatten verschmolzen und praktisch unsichtbar. Dann sah Quinn noch etwas, etwa fünfzig Fuß das Deck hinunter. Jemand saß in einem Liegestuhl, fest eingehüllt in eine Decke. Ein Arm hing herunter.

Gewöhnliche Augen hätten in der Dunkelheit niemals das Blut gesehen, das in einem dünnen Strom am Hand­gelenk entlanglief. Quinn sah es.

Er vergewisserte sich, dass ihn niemand beobachtete, ging dann schnell zu dem Stuhl und hob die Decke an. Der Mann darunter trug keinen Mantel, nur ein Hemd, das blutverschmiert war. Sein Herz war mit einem Messer durchbohrt worden!

Quinn bemerkte die Uhr am Handgelenk des toten Mannes. Der Sekundenzeiger war größer als die anderen beiden Zeiger, und das Zifferblatt war in Sekunden aufgeteilt. Die Uhr eines Arztes! Eine von denen, die man benutzte, um den Puls eines Patienten zu messen. Quinn betrachtete die Hände des toten Mannes genauer. Die Nägel waren peinlich sauber und ganz kurz geschnitten, wie die eines Arztes.

Quinn ließ die Decke zurückfallen, trat zurück und blieb an die Reling gelehnt stehen. Sein schwerer Ring klopfte heftig darauf. Silk, der sich noch versteckt hielt, entschlüsselte diese Schläge sofort. Ein Fluch wollte aus seiner Kehle, als ihm klar wurde, was Quinn ihm da sagte: Der Arzt des Schiffes war tot. Also war der Mann in der Arztuniform nicht der, für den er sich ausgab.

Silk rannte zur Kabinentür und pochte dagegen. Keine Antwort. Er probierte den Knauf, fand die Tür unverschlossen und stieß sie weit auf. Sein Gesicht wurde blass bei dem Anblick, der sich ihm bot. Der verletzte junge Matrose lag rücklings auf dem Kissen, die Totenblässe ließ sein Gesicht bereits grau erscheinen. Der Bruder saß in einem Stuhl neben dem Bett. Ein Messer war mit so gewaltiger Kraft von hinten in seinen Hals gestoßen worden, dass der Tod ihn ereilte, bevor er eine Chance gehabt hatte, um Hilfe zu rufen.

Der Mörder hatte die Kleidung des toten Mannes durchsucht. Die Taschen waren auf links gezogen.

Silk wusste, dass jede Minute, die er hier länger stand, auch seinen Tod bedeuten konnte, doch er blieb lange genug, um etwas vom Boden aufzuheben und den Türknauf abzuwischen, um seine eigenen Fingerabdrücke zu entfernen. Dann ging er schnell in die Richtung, die auch Quinn genommen hatte.

„Tot“, flüsterte er Tony Quinn zu. „Beide. Der Mörder muss den großen Bruder mit der Arztuniform erfolgreich zum Narren gehalten haben. Er hat mich auch getäuscht, Sir. Ich habe überhaupt keinen Verdacht geschöpft, nicht einmal, als der falsche Arzt zwei Minuten, nachdem er hineingegangen war, wieder herauskam. Ich dachte, er holt nur irgendwelche Medikamente.“

Tony Quinn schüttelte den Kopf.

„Hier wird der Teufel los sein, wenn diese Leichen gefunden werden, Silk. Wir können es uns nicht leisten, damit in Verbindung gebracht zu werden, nicht einmal als unbeteiligte Zuschauer. Wenn wir erst einmal an Land sind, wird das allerdings anders aussehen. Geh jetzt schnell zurück zu unserer Kabine. Silk, diese Schweinerei wird jeden Moment entdeckt werden.“



Kapitel 4 - Die Jagd beginnt

Tony Quinn lag im Bett, Silk saß neben ihm und las ihm vor, als es an ihrer Tür klopfte. Silk schloss die Tür auf, und zwei Schiffsoffiziere traten ein.

„Entschuldigung“, sagte einer von ihnen. „Aber wir halten es für notwendig, jeden Passagier zu fragen, wo er sich in den letzten dreißig Minuten aufgehalten hat. Sie, meine Herren, sollten selbstverständlich kooperieren. Ich versichere Ihnen, dass es sich um eine ernste Angelegenheit handelt.“

Silk deutete mit dem Kopf in Quinns Richtung. „Der Herr ist blind, Sir“, sagte er leise, dann hob er seine Stimme und sagte: „Ich habe den Herrn vor einer Stunde auf einer Runde über das Deck begleitet, Sir. Wir sind vor ungefähr dreißig Minuten in die Kabine zurückgekehrt, und seitdem sind wir hier.“

„Was ist los?“, fragte Quinn gereizt. „Wer ist da?“

„Zwei Schiffsoffiziere, Sir. Sie wollen wissen, wo wir die letzte halbe Stunde gewesen sind.“

„Ja ... ja, ich weiß“, schnappte Quinn. „Ich kann hören, auch wenn ich nicht sehen kann. Was soll das alles? Warum zwingt man uns, ein Alibi zu liefern?“

„Tut mir leid, mein Herr“, sagte einer der Offiziere. „Es ist uns nicht gestattet, darüber zu reden. Aber das Schiff ist sicher. Wir werden am Morgen wie geplant anlegen. Entschuldigen Sie, dass wir Sie belästigt haben.“

Silk schloss die Tür hinter ihnen ab und setzte sich wieder.

„Es muss einen dringenden Grund dafür gegeben haben, die Lippen dieses verletzten Jungen für immer zu schließen und auch seinen Bruder zu töten“, sagte er. „Man ging sogar so weit, den Arzt für seine Uniform zu ermorden.“

Quinn nahm die dunkle Brille ab, doch seine Augen waren blass und kalt. Allem Anschein nach waren es die Augen eines blinden Mannes, doch Quinn konnte all das in Sekundenbruchteilen durch Muskelbewegungen ändern, und dann standen ihm Augen zur Verfügung, mit deren Kraft und Schärfe es kaum einer, vielleicht sogar niemand, aufnehmen konnte.

„Es hat etwas mit dem Untergang dieses Frachters zu tun, Silk“, sagte er. „Wenn er mit Erz beladen war, also mit Metall, das für das Verteidigungsprogramm der Vereinigten Staaten gebraucht wird, dann war es Sabotage. Und dann ist es sehr wahrscheinlich, dass verräterische Mannschaftsmitglieder diejenigen umgebracht haben, die nicht damit einverstanden gewesen wären, den Frachter zu versenken. Dieser junge Bursche stand zweifellos auf der Todesliste, aber sein Bruder hat ihn offensichtlich gerettet und benutzte eine Waffe, um ihn zu schützen. Sie wussten beide etwas, was sie zu einer Gefahr für andere machte, also mussten sie für immer zum Schweigen gebracht werden. Es sollte uns nicht besonders schwer fallen, die Namen und die Adresse der beiden ermordeten Matrosen herauszufinden.“

Silk grinste ein wenig, als er in seiner Tasche grub und eine Brieftasche zutage förderte.

„Die stammt von der Leiche des großen Bruders, Sir. Ich ... hab sie mir geschnappt. Er hieß Frank Adams, ein tüchtiger Seemann. Seine Gewerkschaftskarte sagt, dass er zur Independent Maritime Alliance gehörte. Seine Adresse steht auch darauf, Sir. Hafenviertel. Und, äh, hier ist ein Foto mit drei Männern darauf. Zwei von ihnen sind die ermordeten Matrosen. Keine Ahnung, wer der dritte ist.“

„Ich nehme das Zeug an mich“, sagte Quinn. „Einen blinden Mann werden sie nicht durchsuchen. Alles klar, Silk. Lass uns zurück an Deck gehen und sehen, was wir herausfinden können. Bald wird das ganze Schiff auf den Beinen sein, wenn es das nicht schon ist.“


*


Während sie langsam über das Deck schlenderten, hielt Tony Quinn den Blick stur geradeaus gerichtet, und Silk schien ihn zu führen. An einer Stelle ruckte Quinn vorsichtig an Silks Arm und drehte leicht nach links ab, als Brad Gibbons auf seinem Spaziergang ihren Weg kreuzte, während er an einer seiner riesigen Zigarren zog. Er setzte gerade an, Quinn zuzunicken und zuckte dann mit den Schultern. Wie sollte ein blinder Mann ihn sehen? Er ging weiter.

Silk runzelte die Stirn. „Der ist mir nicht geheuer, Sir. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich daran erinnere: Ich war einst ein Hochstapler mit der Gabe, die Echten von den Falschen zu unterscheiden. Und dieser Gibbons sieht für mich wie ein Schwindler aus. Wenn ich jemanden einnehmen müsste, würde ich niemals auf ihn setzen. Anders gesagt, er wäre ein armseliges Exemplar von einem Hochstapler, dem man all sein Geld und seine hohe Position nicht abnehmen würde.“

Quinn war sich absolut bewusst, dass man Silks angeborene Fähigkeit, einen Menschen einzuschätzen, respektieren sollte. Hochstapler sind immer gut, wenn es um die Beurteilung eines Charakters geht, und Silk war einst einer der Besten in diesem aalglatten Spiel gewesen.

Es war lange nach Mitternacht, als an Bord die Fröhlichkeit der letzten Nacht wieder aufkam. Doch Quinn und Silk saßen in Liegestühlen und hatten andere Dinge im Kopf. Beide waren sicher, dass die Morde an den Adamsbrüdern nur eine kleine Episode in der Entwicklung irgendeiner gewaltigen Maschinerie des Verbrechens war. Der Tod des Schiffsarztes zeigte deutlich, wie wichtig es für die Ganoven gewesen war, diese beiden Brüder zum Schweigen zu bringen.

Quinn war außerdem überzeugt, dass Frank Adams seinen Mörder nicht gekannt hatte. Einem bekannten Feind hätte er es niemals erlaubt, die Kabine zu betreten, denn Frank Adams hatte eindeutig klar gemacht, dass er seinen verletzten Bruder auch mit Waffengewalt zu schützen gedachte.

Was steckte hinter all dem? Warum war ein mit Erz beladenes Schiff versenkt worden? Warum waren so viele Mitglieder der Mannschaft mit dem Schiff untergegangen? Tony Quinn wusste es nicht, doch er war fest entschlossen, es herauszufinden. Das hieß, die Schwarze Fledermaus machte sich bereit, die Flügel erneut auszubreiten.

Am nächsten Tag gegen Mittag, als das Schiff im Hudson River angelegt hatte, führte Silk den blinden Tony Quinn den Landungssteg hinunter. Als sie diesen verließen, berührte ein untersetzter Mann mit kräftigen Kiefern, ordentlichem Schnurrbart und hartem Blick Quinns Schulter. Silk runzelte die Stirn.

„Es ist der geschätzte Captain McGrath, Sir. Wie es aussieht, kann er uns keine Sekunde in Ruhe lassen, sobald wir an Land sind.“

„Aber, Silk.“ Quinn lachte und streckte die Hand dicht neben dem Captain aus. „McGrath heißt uns nur zu Hause willkommen. Wir hatten eine sehr angenehme Reise, Captain. Nur getrübt durch … äh, ein paar unglückliche Vorkommnisse letzte Nacht.“

McGrath nickte. „Ja, ich weiß alles darüber. Hören Sie, Mr Quinn, Sie waren zwei Wochen fort, und die Schwarze Fledermaus ist nicht einmal aufgetaucht. Ich habe mich gefragt, ob die Schwarze Fledermaus zufällig gesehen wurde, wie er letzte Nacht über das Deck dieses Schiffes wanderte. Das würde ihn nicht mit ihnen in Verbindung bringen, nicht besonders jedenfalls. Ich werde es herausfinden.“ Er wollte sich gerade umwenden, sah Quinns noch immer ausgestreckte Hand und lief rot an. Er nahm die Hand und schüttelte sie. „Wie auch immer, ich bin froh, dass Sie wieder da sind.“

Als McGrath davoneilte, erstarb Quinns Lachen in seinem Hals. Seine Augen, die von einer dunklen Brille abgeschirmt wurden, hatten eine geparkte Limousine und ein Mädchen gesehen, das zur Begrüßung winkte. Silk eilte zu dem Wagen.


*


Carol Baldwin, die stets eine Augenweide war, war Quinn noch nie so schön vorgekommen. Er klopfte dem Fahrer auf den Rücken, als er neben Carol auf den Rücksitz kletterte, und auf Butch O‘Learys großem Gesicht zeichnete sich ein breites Grinsen ab. Silk stieg neben Butch ein, und der Wagen fuhr los.

„Wir haben gesehen, dass McGrath auf euch gewartet hat“, sagte Carol zu Tony Quinn. „Also hielten wir uns im Hintergrund ... Tony, wir haben gehört, dass etwas Schreckliches an Bord eures Schiffes passiert ist. Es ist eine Schande, dass eure Reise so ruiniert wurde.“

„Ruiniert?“ Silk drehte sich um. „Ganz im Gegenteil, Miss Carol.“

„Silk meint, die Reise hätte ihn zu Tode gelangweilt.“ Quinn lachte leise. „Aber im Ernst, wir sind vielleicht ­mitten in etwas Großes hineingeraten. Auf jeden Fall werden wir das bald herausfinden. Butch, du wirst deinen dicken Hals noch vor Einbruch der Nacht in ein Wespennest stecken. Vorausgesetzt, dir steht der Sinn nach Aufregung.“

Butch lenkte den Wagen in eine Seitenstraße und fuhr an den Straßenrand.

„Sagen Sie mir nur, wessen Kopf Sie eingeschlagen haben wollen, Boss, und ich kümmere mich drum.“

Quinn und Silk stiegen aus dem Wagen.

„Für den Rest des Weges nehmen wir ein Taxi“, sagte Quinn. „Du und Carol, ihr solltet mich nicht bis zu meinem Haus bringen, Butch, falls McGrath da zufällig jemanden rumlungern lässt. Park den Wagen, und dann kommst du mit Carol umgehend zum Labor.“

Eine halbe Stunde später trug Tony Quinn eine bequeme Hausjacke und Tweedhosen und wanderte müßig durch den Garten seines Grundstücks, während er an seiner Pfeife zog. Sein Stock tippte auf den Weg vor ihm.

Als er zum Haus zurückkehrte, zog Silk die Vorhänge in der geräumigen Bibliothek zu.

Quinn ging direkt weiter zur Westmauer des Zimmers, öffnete eine Tür und betrat ein großes, voll ausgestattetes Labor. Hier befanden sich all die wissenschaftlichen Geräte, die nötig waren, um Verbrecher aufzuspüren. Hier befanden sich Nachschlagewerke, Chemikalien, Erinnerungen an vergangene Fälle ... und Carol. Tony Quinns leere und blind scheinende Augen erwachten zum Leben. Sogar seine Narben schienen weicher zu werden. Er setzte sich neben sie.

Butch war ebenfalls anwesend und wartete auf Befehle.

„Butch“, sagte Quinn sofort. „Du bist genau der Richtige für diese spezielle Aufgabe. Ich will, dass du dich als Hafenarbeiter ausgibst. Ich gebe dir eine Adresse im Hafenviertel. Die beiden Männer, die an Bord des Schiffes ermordet wurden, haben dort gewohnt. Finde über sie und ihre Verbindungen so viel heraus, wie du kannst. Vielleicht kannst du behaupten, du hättest ihnen etwas geliehen, und nun, da sie tot sind, hättest du es gern zurück. Sie gehörten zu der Independent Maritime ­Alliance. Ich will auch darüber so viele Informationen, wie du bekommen kannst, vor allem, ob die Gewerkschaft Ärger mit der Unterwanderung durch unerwünschte Personen hatte, die vielleicht vorhatten, die Kontrolle zu übernehmen. Darüber habe ich in letzter Zeit einiges gehört.“

Butch blinzelte ein paarmal. „Boss, diese Gewerk­schaft muss irgendwie in Schwierigkeiten stecken, weil … einige von denen sind Krauts und Kommies und dreckige Faschisten. Und eine Menge Jungs, die ich kenne, die an den Docks arbeiteten, haben ihren Job geschmissen, damit sie nicht mit diesen Schwindlern rumhängen müssen, die glauben, dass dieser russische Bursche, Stalin, und der Hitler und Mussolini ganz toll sind. Meine Kumpels sagen, die Jungs da unten, die den Kram nach ihren Vorstellungen machen wollen, was immer die Gewerkschaft auch sagt, die stinken einfach nur ziemlich übel.“

Quinn piff überrascht. „Kommunisten! Daher weht also der Wind. Und Nazis und Faschisten auch, natürlich. Das wirft ein ganz anderes Licht auf die Dinge ... Mach weiter mit deinem Job, Butch. Silk, hol unsere archivierten Zeitungen über alle kürzlichen kriminellen Aktivitäten im Hafenviertel. Und sämtliche Auflistungen über Frachter­unglücke in den letzten Monaten.“



Kapitel 5 - Im Hafenviertel

Butch ging hinüber zum gegenüberliegenden Ende des Labors. Ein Teil des Bodens glitt zur Seite und legte eine Leiter frei, die in einen Tunnel führte. Dieser wiederum brachte Butch weit weg von Tony Quinns Haus, wo er in einem kleinen Gartenhaus endete. Nur ein paar Yards trennten das Gartenhaus von einem Tor. Schnell hatte Butch die Straße erreicht und eilte in Richtung seiner Pension ganz in der Nähe. Dort stieg er in ein ramponiertes Coupé und fuhr geradewegs zum Hafenviertel. Einen Block von der Adresse entfernt, die Quinn ihm gegeben hatte, hielt er den Wagen an und drückte kurz darauf die Klingel an einer billigen Pension.

Die Frau, die ihn empfing, war dünn, beinahe ausgemergelt. Sie hatte helle, tiefliegende Augen, und ihr Mund war nur ein schmaler Strich. Butch nahm eine Zeitung aus seiner Tasche. Sie war so gefaltet, dass man die Geschichte über den Mord auf See sehen konnte.

„Ich bin ein Freund von Joey und Frank“, sagte er. „Bevor sie Segel gesetzt haben, hab ich Frank meinen Koffer geliehen. Ich hab acht Mäuse dafür bezahlt und, na ja, ich will ihn zurück. Wenn sie mich zu Franks Zimmer raufgehen lassen, dann find ich ihn ganz leicht.“

Die Frau trat zur Seite und deutete die Treppe hinauf.

„Das letzte Zimmer links, ganz den Gang runter, ist seins. Die Tür ist auf. Ich hab gerade da drinnen geputzt. Tote Männer zahlen keine Miete, also hab ich das Zimmer für jemand anderen fertig gemacht. Nichts für ungut, aber klauen Sie nichts, was nicht Ihnen gehört.“

Butch quälte sich die Treppe hinauf. Ein Mann, der nicht so vertrauensselig war wie Butch, hätte es vielleicht als seltsam empfunden, dass die Vermieterin ihn so bereitwillig in das Zimmer der toten Matrosen gehen ließ, ganz ohne Begleitung. Aber Butch gratulierte sich nur selbst zu der Tatsache, dass alles so glatt lief.

Unten eilte die Vermieterin in die Küche und wählte dort auf einem Wandtelefon eine Nummer.

„Du weißt, wer hier spricht“, gackerte sie, als abgenommen wurde. „Irgend so ein großer Gorilla kam gerade rein und gab mir eine fadenscheinige Ausrede, um sich im Zimmer der Adams-Brüder umzusehen. Sagte, er hätte Frank einen Koffer geliehen. Nun, wenn er das getan hat, dann hat Frank ihn mitgenommen.“

„Halte ihn für mindestens zehn Minuten auf““, sagte ein Mann am anderen Ende der Leitung. „Egal, was du tun musst, halte ihn hin. Bis dahin haben wir dein Haus umzingelt. Wenn er rauskommt, geh mit ihm zur Tür, damit wir wissen, dass er der Richtige ist. Den Rest überlässt du uns.“

„Das kostet dich fünfundzwanzig Dollar“, sagte die Frau. „Der Gorilla ist vielleicht vom FBI. Aber ich checke ihn für dich ab.“

Sie hängte ein, eilte in die Empfangshalle und ging direkt zu dem Zimmer, das die ermordeten Brüder bewohnt hatten. Butch hörte sie kommen und trat leise zum Wandschrank.

„Vielleicht hat er den Koffer mitgenommen, heh?“, fragte Butch die Frau. „Er war braun, ein Riemen war fast durch. Erinnern Sie sich, ob er so einen mitgenommen hat?“

Er hoffte, dass sie die Beule nicht sah, die von einigen Zeitschriften und Flugblättern in seiner Tasche verursacht wurde. Sie waren ihm interessant erschienen. Vielleicht waren sie für Tony Quinn noch interessanter.

Butch ging auf die Tür zu. Die Vermieterin tat einen Schritt, um ihm den Weg abzuschneiden.

„Sie waren mit den Jungs gut befreundet, he? Wie kommt es, dass Sie sie hier nie besucht haben?“

„Na ja, sehen Sie, Lady“, sagte Butch zögernd. „Ich war viel auf See. Ich bin Matrose ... Ich muss jetzt los. Schätze, mein Koffer ist mit dem Schiff untergegangen.“

Die Vermieterin stemmte beide Hände in die Hüften und schaute ihn streitlustig an.

„Ich glaube, Sie haben die Adams-Jungs nicht mal gekannt!“, erklärte sie. „Ich glaube, Sie sind hier, um sie auszurauben. Vielleicht sollte ich die Cops rufen. Tote Männer ausrauben! Was haben Sie mitgenommen?“


*


Butch zuckte die Schultern und hob sie hoch, als sei sie ein Möbelstück, das ihm im Weg stand. In der Mitte des Zimmers setzte er sie ab und ging hinaus. Sie rannte hinter ihm her und brüllte ihn an.

Auf einem kleinen Tisch in der Nähe der Vordertür lagen mehrere Briefe. In einem verzweifelten Versuch, Butch aufzuhalten, nahm die Vermieterin einen davon an sich, packte Butchs Arm und zog ihn von der Tür fort.

„Warten Sie einen Moment!“, rief sie. „Wenn Sie ein Freund der Adams-Jungs sind, dann können Sie vielleicht diesen Brief zurückbringen, der heute Morgen für Frank ankam. Der ist von seiner Familie zu Hause. Vielleicht kennen sie die, he?“

Butch nahm den Brief, und die Vermieterin schluckte. Vielleicht war das ein Fehler. Ihr Befehl lautete, alle Post zurückzuhalten, die an die Adams-Jungs adressiert war. Sie musste ihn zurückbekommen, doch sie musste Butch auch noch ein oder zwei Minuten aufhalten. Im nächsten Augenblick warf sie einen kurzen Blick aus dem kleinen Fenster neben der Tür und sah einen kräftigen Mann mit hartem Gesicht auf der anderen Straßenseite. Sie war so darauf aus, Butch loszuwerden, dass sie in ihrer Aufregung den Brief vergaß.

Sie stieß Butch praktisch aus dem Haus. Als er die Stufen hinunterging, nickte sie heftig mit dem Kopf. Der Mann auf der anderen Straßenseite drehte sich um und folgte Butch.

Einen Augenblick später folgten ihm zwei weitere dunkel gekleidete Männer. Einige Blocks weiter die Straße hinunter gesellte sich ein vierter hinzu.

Während Butch zu den Docks ging, steckte er eine Hand in seine Tasche, um ein Paket Kaugummi herauszuholen. Er packte einen Streifen aus, wandte sich um, um das Papier in einen Mülleimer zu werfen und bemerkte aus dem Augenwinkel die vier Männer, die ihm folgten. Beinahe wären sie so plötzlich stehengeblieben, dass sie sich selbst verraten hätten.

Butch kannte die übliche Sorte Ganoven, doch diese Männer schienen anders zu sein. Noch finsterer. Butch bog um eine Ecke und trat in den erstbesten Hauseingang. Alle vier Männer liefen die Straße hinunter, doch nur einer ging weiter, während die anderen in der Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht verschwanden. Butch saß in der Falle, und das wusste er. Er hatte sie nicht hereinlegen können.

Er fragte sich, ob es leichter wäre, diese Männer nahe heranzulocken, sie zu packen und außer Gefecht zu setzen, oder ihnen zu entkommen. Er entschied, von dem gut besuchten Krämerladen einen Block weiter Tony Quinn anzurufen und ihn zu fragen. Als er aus seinem Versteck trat, sah er, dass zwei der Männer jeden Hauseingang durchsuchten, doch sie sahen ihn nicht, bis er die Ecke beinahe erreicht hatte.

Butch betrat den Krämerladen, entdeckte eine freie Telefonzelle zwischen zweien, die besetzt waren, und trat ein. Er wählte Quinns private Nummer und hörte, wie Silks geschmeidige Stimme antwortete.

„Sag dem Boss“, sagte Butch, so leise er konnte, „dass ich in Schwierigkeiten stecke. Zwei oder drei Trottel sind hinter mir her. Soll ich ihnen eins auf die Schnauze geben oder sie zu einem schönen langen Spaziergang irgendwohin mitnehmen?“

„Führ sie spazieren“, sagte Silk. „Geh an der Ecke ­Whiting und Main Boulevard vorbei, und zwar in genau ...“

„Warte mal“, unterbrach Butch. „Einer der Jungs betritt die gerade freigewordene Telefonzelle neben mir. Kann nicht dahin kommen, wo du sagst ... Zu weit. Ich schreibe eine andere Adresse auf und hefte den Zettel unter die Ablage in der fünften Telefonzelle von der Tür aus gesehen im Elite Krämerladen. Kommt schnell her.“

Butch hängte nicht ein. Er gab vor, mit einem Bekannten zu sprechen, während er einen Treffpunkt auf die Rückseite des Briefes kritzelte, den die Vermieterin ihm gegeben hatte. Mit dem Kaugummi, den er gerade gekaut hatte, klebte er ihn auf die Unterseite der schmalen Ablage. Dann hängte er ein, verließ die Telefonzelle und fragte sich, ob diese Trottel ihn mit ihren Revolvern niederschießen würden, oder ob sie ihm folgen würden, um seine Identität und seine Verbindungen herauszufinden.

Zwei der Männer taten so, als würden sie eine Auslage von Büchern betrachten. Butch drängte sich eilig aus dem Krämerladen und führte die Männer über einen Zick-Zack-Kurs, wie er ihn selten zuvor gelaufen war. Der Weg wand sich um Häuserblöcke herum, und immer wieder hielt Butch an, als würde er seine Meinung darüber ändern, wo er eigentlich hin wollte. Schließlich ging er zu dem verabredeten Treffpunkt, den er gewählt hatte, doch er glaubte, dass es völlig offen war, ob Silk oder Quinn den Brief gefunden hatten, den er in der Telefonzelle zurückgelassen hatte, oder ob er von einem der geheimnisvollen Männer gefunden worden war, die ihm folgten. Nur einer Sache war er sich sicher: seine Erregung stieg mehr und mehr. Und seine großen Pranken ballten sich zu gewaltigen Fäusten, die diesen Männern, die ihn verfolgten, einen Schlag verpassen wollten.

Butch war ungefähr eineinhalb Blocks von dem Ort entfernt, von dem er angegeben hatte, dass er die Männer dorthin führen würde, da geschah es. Als er eine Gasse passierte, sprangen drei seiner Verfolger aus der Dunkelheit hervor. Butch drehte sich um und begrüßte den Angriff mehr als begeistert. Doch gegen den Totschläger, der auf seinen Schädel niedersauste, kam er nicht an. Es folgten weitere heftige Schläge mit dem Totschläger, und Butch ging zu Boden.

Ein Wagen hielt an. Butch wurde hineingezerrt und auf den Rücksitz geworfen. Die Limousine fuhr davon, während Butchs Angreifer fortgingen und mit der Dunkelheit verschmolzen.

Zur selben Zeit überbrachte Silk Butchs Nachricht an Tony Quinn ins Labor. Quinn gab ein paar schnelle Anordnungen.

„Silk, verkleide dich für die Rolle eines Crewmitglieds eines Schiffes. Ein Steward der Gewerkschaft oder ein arbeitsloser Kellner vielleicht. Beeil dich! Wir gehen in zehn Minuten los. Carol, du gehst zum Krämerladen und findest diese geschriebene Nachricht, die Butch dort gelassen hat.“

„Und was wird Tony Quinn tun, während all das geschieht?“, fragte Carol lächelnd.

„Tony Quinn ist nach einer langen Reise sehr müde. Er geht zu Bett, und das Haus wird verschlossen, aber die Schwarze Fledermaus, Carol, ist hellwach und mehr als willig, in die Schlacht zu ziehen. Die Maske, der Umhang und meine Waffen werden sich gut anfühlen. Schlüpf durch den Tunnel, und bring deinen Wagen rüber zum Nebentor. Wir treffen uns dort.“

Nachdem Carol gegangen war, zog Quinn eilig seine Kleider aus und zog schwarze Hosen, schwarze Schuhe mit Kreppsohlen und ein schwarzes Hemd an. Der Umhang, gerippt, so dass er wie die Flügel einer Fledermaus aussah, passte sich seinen Schultern perfekt an. Er zog die alles umhüllende Maske über, untersuchte dann zwei Automatikwaffen und ließ sie in ihre Holster gleiten.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957190147
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Kult Klassiker Krimi Spannung

Autor

  • G. W. Jones (Autor:in)

G. Wayman Jones – hinter diesem Pseudonym verbirgt sich meistens der amerikanische Autor Norman A. Daniels, so auch beim vorliegenden Roman.
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Titel: Die schwarze Fledermaus 14: Das nasse Grab