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Lernschwierigkeiten als pädagogische Herausforderung in der Institution Schule

von Ayse Batra (Autor:in)
113 Seiten

Zusammenfassung

"Warum haben einige Schüler*innen Schwierigkeiten beim Lernen, aber einige nicht?". Fakt ist, dass mehrere Faktoren für das erfolgreiche Lernen eine Rolle spielen. Sowohl Lehrende, als auch Eltern, Freunde und sogar Lernende selbst können etwas tun, um das Lernen zu unterstützen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Eine Einleitung: Lernschwierigkeiten in der Schule

Dass in der Schule gelernt wird oder gelernt werden sollte, gehört zu den Grundannahmen unserer Gesellschaft und wird nicht infrage gestellt. Die Schule sei schließlich dazu da, um zu lehren und lernen zu lassen. Jedoch machen wir uns wenig Gedanken darüber, was passieren würde, wenn beim Lernen Schwierigkeiten aufkommen. Wer sollte sich dabei angesprochen fühlen? Wer sollte handeln? Wer ist der*die Verantwortliche? Ist es der*die Lernende selbst oder liegt die Ursache bei der Schule, den Freunden, den Mitschüler*innen der betroffenen Person oder sogar bei den Eltern? Möglicherweise schildert genau diese Herangehensweise das Problem: Nämlich, dass eine Schuldzuweisung stattfindet, um möglichst wenig Verantwortung übernehmen zu müssen. Dies ist jedoch kontraproduktiv, da jede Person, Gruppe und die Institution Schule eine bedeutsame Rolle im Leben eines Lernenden darstellt und diese Aspekte miteinander verflochten sind. Demnach sind bei dem Lernprozess nicht nur die Lehrkräfte und die Schüler*innen involviert, sondern auch die Personen im Leben des lernenden Individuums.

Allerdings werden in der vorliegenden theoretischen Arbeit mögliche Ursachen bezüglich der Personen, Gruppen und der Institution Schule herangeführt, indem sie zugleich als Unterstützer des Lernprozesses verstanden werden, die miteinander agierend handeln und somit gegen Lernschwierigkeiten gemeinsam auftreten sollen. Daher werden ebenfalls Herangehensweisen dargestellt, die jede der Bezugspersonen des lernenden Individuums heranziehen können.

Wie können Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten im schulischen Zusammenhang gefördert werden? Das ist die Leitfrage, die der vorliegenden theoretischen Arbeit zugrunde liegt. Ziel der Arbeit ist es, Wege zu finden, um nicht nur Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten ein Wegweiser zu sein und interventive Maßnahmen zu ergreifen, sondern auch präventiv mit diesem Thema umzugehen, sodass erst Lernschwierigkeiten nicht auftauchen können. Diese Arbeit stellt jedoch nicht nur eine Hilfe für Lehrkräfte dar, die mit Lernschwierigkeiten von Schüler*innen konfrontiert sind, sondern beinhaltet ebenfalls Ansätze für Eltern, Peers und Schule.

Als Fachbereich hat sich die Pädagogik die Aufgabe gemacht, die Prozesse des Lernens und Unterstützung dieser zu untersuchen und zu begreifen.1 1 Demnach sieht sich auch die Pädagogik als Ansprechpartner, wenn es um die Entgegenwirkung von Lernschwierigkeiten der Schüler*innen geht. Aus diesem Grund betrachtet die vorliegende Arbeit Lernschwierigkeiten als eine pädagogische Herausforderung. Lernschwierigkeiten werden als eine Herausforderung dargestellt, da mehrere Sichtweisen berücksichtigt werden sollen und es sich in der Institution Schule um mehrere manchmal sogar unterschiedlichen Interessen handelt, die ebenfalls Einfluss auf das Lernen von Schüler*innen haben. Jeden Aspekt zu berücksichtigen, ist verständlicherweise nicht simpel und daher eine Herausforderung für alle Beteiligten. Aus pädagogischer Sicht soll nicht das Lernen an sich erklärt werden, sondern „[…] menschliches Lernen in seiner Besonderheit und im Zusammenhang mit der Praxis menschlicher Lernunterstützung […] verstehen.“2 Infolgedessen werden im Folgenden Lernschwierigkeiten im Zusammenhang mit der Schule als Praxis menschlicher Lernunterstützung bearbeitet.

Ferner interessieren sich viele verschiedene Wissenschaftszweige neben der Pädagogik für das Thema des Lernens. Das Lernen wird unter anderem in den Fachbereichen der Pädagogik, Psychologie, Neurobiologie, Philosophie, Phänomenologie, Kulturtheorie und Biographieforschung diskutiert.3 Demzufolge handelt es sich um ein wichtiges und sich stets weiterentwickelndes Thema, das immer wieder neu aufgegriffen und diskutiert wird. Auch die Lernschwierigkeiten werden noch heute in all diesen Bereichen untersucht und diskutiert. In jedem Fachbereich werden diese anderweitig erklärt und aufgefasst. Unter anderem haben sich im Bereich der Pädagogischen Psychologie Werner Zielinski und Andreas Gold mit dem Thema der Lernschwierigkeiten beschäftigt. Diese Ansätze sind somit relevant für die vorliegende Arbeit. Die Untersuchungen beinhalten sowohl Ursachen und Diagnostik als auch Prä- und Interventionen.

Im Kontext meiner theoretischen Arbeit wende ich mich den Aspekten des Lernens und dadurch dem Versuch, mich dem Lernen als Phänomen anzunähern. Hinzukommend werde ich mich durch drei Zugänge zum Lernen

intensiver mit den Perspektiven des Lernens als Konditionierung, als Kognition und als Konstrukt beschäftigen und diese unteranderem auf die Ursachen für die schulischen Lernschwierigkeiten sowie auf die Prä- und Interventionsmaßnahmen beziehen. Da die Schule eine pädagogische Einrichtung darstellt, sind schulische Anwendungs- und Umgangsmethoden mit Lernschwierigkeiten inbegriffen. Ziel dieser Arbeit ist es, (angehende) Lehrkräfte und pädagogische Einrichtungen auf diese Methoden aufmerksam zu machen und diese mehr in die pädagogische Arbeit einzubringen. Weiterhin soll dadurch die Aufmerksamkeit der Elternteile bzw. Erziehungsberechtigte auf dieses Thema geweckt werden, damit sie erfahren, dass auch sie etwas zum Lernverhalten von Kindern und Jugendlichen beitragen können und daher sich bemühen sollten.

Ausgewählte Lerntheorien

Lernen hängt mit Verhaltensänderungen zusammen. Aus diesem Grund werden Lerntheorien ebenfalls Verhaltenstheorien genannt. Lerntheorien versuchen Lernprozesse zu erklären, diese zu systematisieren und zusammenzufassen. Weiterhin beschreiben Lerntheorien Bedingungen, unter welchen sich Prozesse des Lernens vollziehen können.4

Von einem Reiz-Reaktions- und einem kognitiven Theoretiker würde man in Bezug auf das Lernen unterschiedliche Aussagen erfahren. Der Reiz-Reaktions- Theoretiker würde meinen, dass Gewohnheiten gelernt werden. Dagegen würde die Behauptung des Kognitivisten lauten, dass kognitive Strukturen gelernt werden.5 Diese werden in diesem Kapitel beschrieben, um dem Phänomen Lernen näher zu kommen und im nächsten Schritt die Lernschwierigkeiten beschreiben zu können.

Selbstverständlich sind zahlreiche Lerntheorien vorhanden, die auf die eigene Art und Weise versuchen, den Lernprozess zu erklären und zu definieren. Jedoch werden für die vorliegende Arbeit insbesondere die Theorien herangeführt, die mit dem schulischen Lernen in Verbindung gesetzt werden können. Für den Umgang mit Lernschwierigkeiten bieten diese Lerntheorien hilfreiche Ansatzpunkte, welche im Laufe dieser Arbeit zum Untersuchungsgegenstand werden. Denn nicht alle Lerntheorien sind zur Erklärung und Findung des idealen Lernens an Schulen geeignet und können daher in dieser Arbeit Verwendung finden. Weiterhin lässt sich nicht jede Lerntheorie mit herangeführten Ursachen und Methoden erklären. Im Folgenden wird versucht, drei Perspektiven auf das Lernen zu beschreiben und diese im schulischen Kontext mit Lernschwierigkeiten von Schüler*innen zu verknüpfen.

Die theoretischen Zugänge zum Lernen sollten Lehrkräfte kennen, um diese individuell an die eigenen Schüler*innen gerichtet anwenden und das Lernen im Idealfall selbst interpretieren zu können. Hierzu eignet sich das Modelllernen gut, denn in der Schule ist kein Individuum alleine. Somit muss das Lernen sozial stattfinden und kann nicht alleine geschehen. In der Schule findet grundsätzlich Modelllernen statt, sei es die Lehrkraft, die Mitschüler*innen oder

andere Beteiligte der Schule als Modell. Da somit die Tauglichkeit dieser Lerntheorie vorhanden ist, wird dieser im Vergleich vertieft auch in darauffolgenden Kapiteln vorkommen.

Bei den folgenden Lerntheorien werden darüber hinaus nur die wichtigsten Informationen beschrieben. Auf eine detaillierte Darstellung einzelner Lerntheorien und den Modellen wird aus Gründen der Darstellungsökonomie verzichtet. Die genaue Historie und andere Zweigen der Lerntheorien (wie beispielsweise der Radikale Konstruktivimus) wird zudem für diese Arbeit nicht in Betracht gezogen.

Anhand dieses Kapitels soll des Weiteren die Frage beantwortet werden, ob die dargestellten Lerntheorien dafür geeignet sind, die Lerntheorie des idealen Lernens zu verkörpern. Denn um gegen Lernschwierigkeiten angehen zu können, sei es als Individuum selbst, Lehrkraft oder Elternteil, soll man das Ziel kennen, das erreicht werden soll. Man sollte somit wissen, was das ideale Lernen darstellt und wie man dafür vorgehen kann.

Lernen als Konditionierung

Das Lernen ist kein Phänomen, das erst heute untersucht wird. Auch früher beschäftigten sich zahlreiche Theoretiker und Wissenschaftler mit dem Lernbegriff sowie dem Prozess in seinen Einzelheiten. Der Lernbegriff des 20. Jahrhunderts wurde primär vom Behaviorismus geprägt.6 Dieses ist eine Theorie:

„[…], die menschliches Verhalten als naturwissenschaftlich untersuchbar und erklärbar ansieht, es in Reiz-Reaktions- bzw. (Re-) Aktions-Konsequenz-Ketten zu zerlegen sucht und auf die Heranziehung innerpsychischer Vorgänge zur Erklärung von Verhalten verzichtet.“7

Abgeleitet vom englischen Terminus ‚behavior‘ (=Verhalten) wird in der Theorie des Behaviorismus das beobachtbare Verhalten erforscht.8 Somit befasst sich das Behaviorismus mit den objektiven und äußerlich beobachtbaren Komponenten des menschlichen Verhaltens, also mit Reiz- und

Reaktionsvorgängen des Menschen.9 Konditionierung stellt dabei das Lernen durch gepaarte Erfahrungen dar.10

Im Folgenden werden die zwei Grundkategorien der Konditionierung, die klassische und operante Konditionierung, näher beschrieben.

Unter der klassischen Konditionierung versteht man Lernprozesse, die „[…] durch eine Koppelung von vorhergehenden Bedingungen mit nachfolgenden Reizen entstehen.“11 Die wichtigsten Vertreter dieser Theorie sind Iwan Pawlow (1849-1936) und John Broadus Watson (1878-1958).12

Iwan Pawlow beobachtete in experimentellen und künstlichen Situationen, dass Hunde beim Anblick oder Geruch von Futter Speichel absonderten, das dem natürlichen Reflex gleichzusetzen ist. Er konnte feststellen, dass auf den natürlichen (unkonditionierten = nicht gelernten) Reiz ‚Futter(-geruch)‘ die natürliche (unkonditionierte) Reaktion ‚Speichelfluss‘ erfolgte.13 Im nächsten Schritt wurde versucht, dieselbe Reaktion auszulösen, indem der natürliche Reiz mit einem zusätzlichen neutralen Reiz (z.B. Glockenton) dargeboten wurde.14 Nach mehreren Wiederholungen dieses Verlaufes wurde ein neuer Reiz allein angeboten, wobei dieser bereits die Funktion eines Signalreizes erworben hatte, der die Reaktion (Speichelfluss) allein auslöste.15 Hierbei ist es interessant, dass der neutrale Reiz ein beliebiger sein kann.16 Demzufolge geschieht hier das Lernen durch die Reizsubstitution, einer Ersetzung des Reizes.17 Ausschlaggebend seien an dieser Stelle die Koppelung beider Reize und die richtige zeitliche Aufeinanderfolge der Darbietung.18 Demnach werden die Reize generalisiert verstanden.

Das Individuum verallgemeinert die Reize und reagiert demnach gleich. Die Generalisierung hat sowohl positive als auch negative Bedeutung für den Menschen:

„Die positive Bedeutung der Generalisierung ist in einer erhöhten Anpassungsleistung des Organismus an die Umwelt zu sehen, da er sich nicht ständig auf kleine Schwankungen auf die Reizseite einstellen muss.“19

Die negative Bedeutung besteht darin, dass sich Reaktionen, wie beispielsweise Angst, unkontrollierbar ausbreiten und dadurch das Verhalten blockieren können.20 Für den Zusammenhang mit den Lernschwierigkeiten bedeutet dies, dass durch die Generalisierung eines Reizes (z.B.: Tadel, schlechte Noten etc.) Lernblockaden entstehen können, die den Lernenden vom Lernen abhalten können. Weiterhin zu beachten ist, dass das lernende Individuum keine Kontrolle weder über den Reiz noch über die Reaktion hat. Das Verhalten des Individuums wird hier nämlich als Antwortverhalten (=response) auf einen bestimmten Reiz verstanden. Somit werde das Individuum durch den Reiz kontrolliert.21 Aus diesem Grund nennt man das Lernen in dieser Lerntheorie ebenfalls Reiz-Reaktions-Lernen.22

An dieser Lerntheorie kann der Einwand folgen, dass das lernende Individuum passiv ist und somit ein reines Objekt von äußeren Reizen darstellt.23 Das Individuum als eine problemlösende und denkende Gestalt ist in dieser Theorie nicht vertreten. Im Schulalltag können auch Strukturen der klassischen Konditionierung beobachtet werden:

„Zum Beispiel kann ein neutrales Schulfach (NS) an Attraktivität gewinnen, sofern die Lehrkraft den Unterricht spannend und abwechslungsreich gestaltet. Die positiven Emotionen, die durch die Lehrkraft kommuniziert werden, können sich mit dem Schulfach koppeln, wodurch schließlich das Schulfach alleine positive Gefühle auslöst und so einen Anstieg der Motivation bewirkt.“24

Im Kapitel 4.3 wird die Bedeutung des Motivationsaspekts für das Lernen näher beschrieben und verdeutlicht. Daher wird an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen und mit der operanten Konditionierung fortgeführt.

Die Anfänge der operanten Konditionierung gehen auf den Psychologen Edward Lee Thorndike (1874-1949) und seine „trial and error“-Theorie (=Versuch und

Irrtum) zurück.25 Dabei wurde seine Theorie später von Burrhus Frederic Skinner weitergeführt (1904-1990).26 Mit der Theorie von Thorndike trat der Zusammenhang zwischen Verhalten und seinen Konsequenzen in den Vordergrund.27 Skinner betont in der Erweiterung der Theorie, dass ein Verhalten nicht nur von Reizen gesteuert wird, sondern dass es ebenfalls spontan auftreten kann, und demnach nicht ausgelöst werden muss.28

Dabei verstehe man unter operante Konditionierung die Erhöhung oder Senkung der Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens aufgrund von darauffolgenden Konsequenzen.29 Der Begriff ‚operant‘ bezeichnet dabei das spontane Verhalten des Individuums, um eine Operation auszuführen.30 Das Assoziationslernen, das in dieser Lerntheorie inbegriffen ist, stellt eine notwendige Bedingung für das Lernen dar. Denn ohne ein zeitliches und/oder räumliches Zusammentreffen zweier Ereignisse sei neurologisch gesehen Lernen kaum möglich.31

Der Grundgedanke bei der operanten Konditionierung lautet, dass wenn ein Teil des Verhaltens die Folge hat (=Verstärkung), werde dieser Teil mit einiger Wahrscheinlichkeit erneut auftreten:

„Ein positiver Verstärker fördert jedes Verhalten, das er hervorruft. […] Ein negativer Verstärker fördert jedes Verhalten, das ihn in seiner Wirkung herabsetzt oder einschränkt.“32

Ein positiver Verstärker hat etwas Angenehmes als Konsequenz (z.B.: Lob, Bestätigung etc.), wobei ein negativer Verstärker als (positive) Konsequenz durch die Entfernung von etwas Unangenehmem (z.B.: Entfernung eines üblen Geruchs etc.) geschieht.33 Dabei sei das operante Verhalten nicht primär von einem auslösenden, sondern insbesondere von den nachfolgenden Reizen (Konsequenzen) bestimmt.34

Ferner sind nach dieser Theorie die Klassen von Konsequenzen ausschlaggebend für die Reaktion des Individuums. Man kann zwischen zwei Klassen von Konsequenzen unterscheiden: die angenehmen (appetitiven) und die unangenehmen (aversiven) Reaktionen.35 Wenn eine angenehme, somit appetitive, Konsequenz nach einem Verhalten folgt, steigt nach dieser Lerntheorie die Auftretenswahrscheinlichkeit dieses Verhaltens (Verstärkung).36 Umgekehrt sinke die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens aufgrund einer negativen aversiven Konsequenz (Betrafung).37 „Dies geschieht durch die Entfernung eines angenehmen Reizes oder durch die Darbietung eines unangenehmen Reizes.“38

Dahingegen solle man, wenn die Auftretenswahrscheinlichkeit eines bestimmten Verhaltens verringert werden soll, zwei Arten von Bestrafungen folgen: direkte oder indirekte Bestrafung.39 Bei einer direkten Bestrafung wird das Individuum unangenehmen Reizen ausgesetzt (z.B.: Lärm, Schläge, Anschreien etc.), wobei bei einer indirekten Bestrafung dem Individuum etwas Angenehmes (z.B.: Essen, Beachtung etc.) entzogen wird.40 Man kann selbstverständlich auch die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens dadurch reduzieren, indem es ignoriert und somit nicht mehr belohnt wird (=Löschung). Hierbei wird eine bisher bestandene Verbindung zwischen einem Verhalten und einer als angenehm erlebten Konsequenz gelöscht.41

In diesem Ansatz werden die Ursachen für Lernschwierigkeiten in der Vergangenheit gesucht, als in der Gegenwart. Denn man geht davon aus, dass:

„[…] der Lernende seine aus der Vergangenheit stammenden und auf das neue Problem anwendbaren Gewohnheiten nutzbar macht, indem er entsprechend reagiert, und zwar auf jene Elemente, die das neue Problem mit bekannten Problemen gemeinsam hat, oder gemäß Aspekten der neuen Situationen ähnelt.“42

Demzufolge neigt man nach dieser Lerntheorie, auch die Lösungsbedingungen in der Vergangenheit der lernenden Person zu suchen.43 Im Zusammenhang zu schulischen Lernschwierigkeiten ist diese Denkweise eher kontraproduktiv, da die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als mit der Gegenwart und der Zukunft wenig Lösungsansätze anbietet und somit nicht zum gewünschten Ziel führen kann.

Bezogen auf das Individuum kann es durch die operante Konditionierung einen großen Machtzuwachs erzielen und den Wunsch seiner Überlegenheit erfüllen.44 Denn dabei können Individuen beeinflusst und in eine Richtung gelenkt werden. Dies gilt auch für den schulischen Kontext, wobei dieser Machtzuwachs auch genutzt wird, um die Rollenverteilung und die Hierarchie aufrechterhalten zu können.

Darüber hinaus beobachtet man in der Schule sowohl direkte als auch indirekte Bestrafungen. Beispielsweise kommt es im Unterricht vor, dass Schüler*innen nicht aufpassen und mehrmals ermahnt werden, damit das unerwünschte Verhalten untersagt wird. Schließlich wird die Lehrkraft ungeduldiger und schreit diese Person an (direkte Bestrafung). Weiterhin tritt in heutigen Klassenzimmern folgende Situation auf: Während des Unterrichts spielt der*die Schüler*in an seinem*ihrem Smartphone. Diese Person wird von der Lehrkraft erwischt und das Smartphone wird dem Lernenden weggenommen (indirekte Bestrafung).

Weiterhin war Skinner der Meinung, dass eine Bestrafung kontraproduktiv für das Lernen sei, da sie „[…] zwar schmerzhaft, aber uninformativ ist.“45 Eine Bestrafung übermittelt demnach wenig Informationen und kann sogar ungewollt als Belohnung missverstanden werden, wie beispielsweise im folgenden Fall: Ein Schüler redet während des Unterrichts mit seinem Sitznachbarn und stört seine Mitschüler*innen. Daraufhin wird er des Öfteren von der Lehrerin ermahnt. Selbst eine Ermahnung kann bekräftigend wirken, wenn der Schüler Aufmerksamkeit benötigt. Diese erhält er auch mit der Ermahnung seitens Lehrkraft und die Bestrafung wird somit als Belohnung vom Schüler missverstanden.

Im schulischen Alltag ist das Prinzip der operanten Konditionierung durch Schulnoten, Zeugnisse und Lob präsent. All dies soll die Schüler*innen motivieren, sich mit den Lerngegenständen näher auseinanderzusetzen. Die positiven Reaktionen auf richtige Antworten und erwünschte Verhaltensmuster seitens Lehrkraft stellen gleicherweise Erfahrungen von operanter Konditionierung dar.46

Im erzieherischen und auch schulischen Kontext sollte der Fokus auf positiven Verstärkungsprozessen liegen (z.B. Lob und Anerkennung) statt auf negativen Verstärkungen (z.B. Bestrafung).47 Dadurch kann das Klassen- bzw. Kursklima und gleicherweise das Lernklima positiv beeinflusst werden. Selbstverständlich kann man negative Verstärkungen auch im schulischen Alltag nicht vermeiden. Jedoch sollten negative Konsequenzen nicht nach Bauchgefühl stattfinden, sondern stets durchdacht sein. Als Lehrkraft solle man darauf achten, dass negative Verstärkungen:

„[…] einen inhaltlichen und/oder zeitlichen Bezug zu dem vorausgegangenen Verhalten haben, sie müssen berechenbar (vorhersehbar) sein, in einem angemessenen Verhältnis stehen; sie dürfen nicht zu oft angewendet werden und die Gefahr einer generalisierenden Wirkung […] ist stets im Auge zu behalten.“48

Als Beschreibung von passivem Subjekt erfüllt der Behaviorismus nicht die Kriterien des idealen Lernens, da es das Individuum als untätig bei seinem eigenen Lernprozess beschreibt. Dahingegen sollte doch das Individuum als das lernende Wesen etwas dem eigenen Lernen beitragen können. Besonders in der Schule wäre diese Sichtweise deplatziert. Für die Schüler*innen wäre es nämlich von Anfang an selbstverständlich: Sie brauchen nicht zu handeln, da sie sowieso nichts dem eigenen Lernprozess beisteuern können und daher auch keine Anstrengung zu versuchen brauchen. Demnach ist diese Theorie nicht dazu geeignet, das ideale Lernen zu erklären und auf diese Weise gegen Lernschwierigkeiten anzutreten. Aus diesem Grund folgt bei der Suche danach die Lerntheorie des Kognitivismus.

Lernen als Kognition

Lernen als Konditionierung beschäftigte sich mit dem beobachtbaren Verhalten. Lernen als Kognition hingegen vertritt an dieser Stelle eine andere Meinung: Hier werden Phänomene aufgegriffen, die nicht direkt beobachtbar sind (z.B. das Verstehen von Sinnzusammenhängen).49 Diese Sichtweise entstand in der sogenannten ‚kognitiven Wende‘ (zwischen Mitte der 1950er und Ende der 1960er Jahre).50 Während das Lernen aus behavioristischer Perspektive als Verhaltenserwerb verstanden wurde, wurde diese Sichtweise vom Kognitivismus abgelöst. Hier geht es hauptsächlich um Wissenserwerb. In dieser Theorie wird dem Lernenden eine aktive Rolle zugesprochen. Demnach wird die behavioristische Auffassung, dass das lernende Individuum weitgehend oder sogar vollständig von Umwelteinflüssen dirigiert wird, abgelöst.

Nach der zuvor beschriebenen behavioristischen Auffassung ging man davon aus, dass Lernprozesse durch äußere Bedingungen gesteuert werden. Jedoch wurde aufgrund der Tatsache, dass gleiche äußere Bedingungen zu unterschiedlichen Lernergebnissen führen, erkannt, dass Lernende den Lernprozess aktiv mitgestalten und nicht lediglich passiv auf die Umweltereignisse reagieren.51 Das lernende Individuum kann demzufolge sein Lernen selbst gestalten und beeinflussen. Folglich zeichnet sich die Lerntheorie des Kognitivismus dadurch aus, dass dem lernenden Individuum beim Wissenserwerb eine aktive Rolle zugesprochen wird.52 Darüber hinaus versuchen kognitive Lerntheorien das Zustandekommen von verschiedenen Lernprodukten zu erklären.53 Das Individuum wird als ein Wesen verstanden, das Informationen aufnimmt, diese verarbeitet und als Wissen abspeichert.54

Im Gegensatz zur operanten Konditionierung wird hinsichtlich der Lösungsvoraussetzungen auf die aktuelle Strukturierung des Problems geachtet.55 Der Begriff der Kognition wird als die Prozesse verstanden, „[…] die

daran beteiligt sind, Erkenntnisse über sich selbst und über die Umwelt zu gewinnen und zu nutzen.“56 Zu diesen Prozessen gehören Aufmerksamkeit, Wahrnehmen, Denken, Urteilen, Entscheiden, Gedächtnis und Sprache.57

Zu einem solchen Lernmodell kann das Modelllernen von Albert Bandura untergeordnet werden. Dabei gehört das Modelllernen zum Kognitivismus, da Lernen nach dieser Auffassung einen kognitiven Prozess darstellt, bei dem ein Organismus durch das Beobachten von Handlungen anderer Personen und der nachfolgenden Konsequenzen neue Verhaltensweisen lernt oder bestehende verändert.58 Mit neuen Verhaltensweisen sind die Verhaltensweisen gemeint, die das Individuum in der Vergangenheit noch nicht aufgezeigt hat und diesen erst durch das Erleben der Beobachtung eines Modells erlernt und übernimmt.

Das Lernen am Modell stellt eine erklärungsstarke Lerntheorie für die vorliegende Arbeit dar, da man im schulischen Alltag ständig von Modellen umgeben ist und somit nie alleine lernt. Das Lernen am Modell kennzeichnet eine Verkürzung der zuvor vorgestellten Lernformen, da hierbei die Verstärkung oder die Ausprobierphase umgangen wird.59

Das Lernen, insbesondere das schulische, muss ebenfalls als ein soziales Phänomen verstanden werden. Diese Perspektive wird von der sozial-kognitiven Lerntheorie Albert Banduras, dem Modelllernen, berücksichtigt:

„Menschen beobachten das Verhalten anderer und ziehen daraus prognostische Schlüsse über eigene Verhaltenskonsequenzen, der Beobachtete wirkt als Modell eigenen Handelns, die beobachteten Konsequenzen haben informierende Funktion und Voraussagewert für die zu erwartenden Auswirkungen gleichen Verhaltens.“60

Für die Schule bedeutet dies, dass Schüler*innen Handlungsstrategien von Mitschüler*innen übernehmen, die für sie erfolgsversprechend sind und aus diesem Grund diese nachahmen.61 Selbstverständlich stellen ebenfalls Lehrkräfte, Erziehungsberechtigte, Geschwister und andere Personen aus dem sozialen Leben der Heranwachsenden Rollenmodelle dar. Dies legt nahe, das

schulische Lernen verstärkt im Zusammenhang mit sozialen Wirkmechanismen zu betrachten.62

Nach Albert Banduras Auffassung sind die Handlungen anderer Menschen die wichtigsten prognostischen Stimuli und somit die bedeutendste Quelle der persönlichen Handlungsregulation:

„Die Fähigkeit des Menschen, durch die Beobachtung zu lernen, setzt ihn in die Lage, komplexe Verhaltensmuster zu erwerben, indem er die Ausführung dieser Verhaltensweisen durch Modellpersonen beobachtet. Dies gilt auch für das Herausbilden emotionaler Reaktionen gegenüber Orten, Personen und Dingen.“63

Nach dieser Ansicht, sollte das Lernen als einen sozialen Prozess verstanden werden. Um Lernschwierigkeiten zu vermeiden, sollte stets auf gute Rollenmodelle und soziale Kontakte geachtet werden. Denn die beobachtende Person kann durch Beobachtungsmodelle neue und bisher noch nicht erworbene Verhaltensmuster erwerben und im Nachhinein diese reproduzieren.64

„Erstens können Beobachter […] durch Beobachtung neue Verhaltensmuster erwerben. Eine zweite bedeutende Funktion der Modellierungseinflüsse liegt darin, die Hemmungen von Verhaltensweisen, die die Beobachter vorher gelernt haben, zu verstärken oder zu schwächen. […] Die Verhaltensweisen anderer dienen drittens als soziale Anreize, die ähnliches Verhalten bei den Beobachtern fördern.“65

Das Lernen am Modell geschieht zwar häufig implizit. Demzufolge braucht es keiner Diskussion oder Verteidigung einer Verhaltensweise. Dies geschieht schließlich durch sozialen Kontakt (z.B.: Mimik, Gestik etc.).66 Jedoch sollte bedacht werden, dass das Individuum hier nicht als rein passiv angesehen wird, sondern als ein Wesen, das sich an seinem eigenen Lernprozess mit beteiligt und dieses aktiv mitgestalten kann:

„Beobachtungslernen ist nicht ein passiv rezeptiver Prozeß, in dessen Verlauf die Menschen einfach die riesige Menge der Modelle in sich aufnehmen, denen sie in ihren täglichen Interaktionen begegnen.“67

Demgemäß sind Schüler*innen selbst für das eigene Lernen mitverantwortlich. Lernen wird zudem als etwas gesehen, das im Kopf des Individuums, somit kognitiv, passiert und nicht automatisch stattfinden kann:

„[…] [W]ährend des Beobachtens […] finden mentale Prozesse statt: die Modellreize werden erkannt, bewertet, eingeordnet, modifiziert, abstrahiert – und irgendwann wird ein entsprechendes ähnliches oder auch ziemlich verändertes Verhalten gezeigt.“68

Demzufolge ist es allgemein so, dass wir von Modellen lernen. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass nicht jedes Verhaltensmuster blind übernommen wird, sondern nur diejenigen, von denen man positive Ergebnisse erwartet. Leitet man dieses Ergebnis auf das schulische Lernen und Lernschwierigkeiten bei Schüler*innen, bedeutet dies, dass das Lernen Sinn für Lernende ergeben muss. Ansonsten haben Schüler*innen Schwierigkeiten beim Lernen. Demnach muss das Individuum hinter dem beobachteten Verhalten einen Sinn erkennen, um dieses nachzuahmen und dieses Verhalten zu übernehmen. Denn menschliches Handeln hänge mehr von erwarteten als von erfolgten Konsequenzen ab, da der Mensch vor der Ausführung einer Handlung überlegt, welche Vorteile diese Handlung mit sich bringt. Denn ohne eine erwartete positive Konsequenz führe der Mensch keine Handlungen aus. Dies gelte sowohl für externe, als auch für interne Konsequenzen.69 Somit werden in dieser Lerntheorie dem Lernenden zwar eine aktive Rolle zugesprochen, jedoch werde der Mensch auch stark von seinem Umfeld mitbestimmt.

Als Beschreibung von teilweise aktivem Subjekt kommt die kognitive Lerntheorie, insbesondere die Theorie des Modelllernens, bezüglich des schulischen Lernens dem idealen Lernen näher. Das Individuum kann sich dabei aktiv für oder gegen Modelle entscheiden. Allerdings übernimmt es Modelle ebenfalls unbewusst.

Lernen als Konstrukt

Wie bereits festgehalten, spricht das Lernen als Konditionierung dem Lernenden eine passive, wohingegen Lernen als Kognition dem Lernenden eine teils aktive Rolle zu. Im Folgenden kommt eine weitere Sichtweise hinzu: Das Lernen als Konstrukt. Wir haben im bisherigen Verlauf festgestellt, dass das Lernen zuerst als Konditionierung verstanden wurde. Das Individuum als das passive Wesen, das auf die äußeren Gegebenheiten reagiert und dadurch lernt. Lernen als Kognition verstand dahingegen den Menschen im Lernprozess als ein teils aktives und teils passives Wesen, das über die äußeren Modelle und seine Umwelt nachdenkt und dadurch lernt, aber auch Modelle unbewusst übernehmen kann.

Im nächsten Schritt wird das Lernen als Konstrukt beschrieben. Um das Lernen in diesem Zusammenhang beschreiben und dieses im Kontext der Lernschwierigkeiten veranschaulichen zu können, benötigen wir die Definition des Terminus Konstrukt: Ein Konstrukt bezeichnet in der psychologischen Forschung ein gedankliches Hilfsobjekt für eine Variable oder ein Merkmal, die bzw. das nicht direkt beobachtbar ist (z.B. Angst).70 Seit Anfang der 1990er Jahre entwickelte sich der Konstruktivismus zu einer zentralen Lerntheorie.71 Der Konstruktivismus beschäftigt sich mit den mentalen Vorgängen beim Lernen. Eine entscheidende Rolle wird an dieser Stelle den Denk- und Verstehensprozessen der Lernenden zugesprochen.72

Die Lerntheorie des Konstruktivismus beschreibt die individuelle Konstruktion von Wissen „[…] infolge des Entdeckens, Transformierens und Interpretierens komplexer Informationen durch den Lernenden selbst […].“73 Lernen aus konstruktivistischer Sicht betrachtet den Lernprozess, als etwas, das nicht automatisch erfolgt, sondern eine aktive Beteiligung seitens Lernenden erfordert. Die Bereitschaft und Fähigkeit zu lernen sei jedoch von den individuellen Merkmalen des lernenden Individuums abhängig.74

In dieser Lerntheorie wird der Lernende als einen aktiven Teilhaber wahrgenommen, der äußere Reize aktiv und selbstständig verarbeitet. Das

Lernen ist demzufolge ein Vorgang, bei dem Informationen eigenständig verarbeitet werden.75 Das menschliche Gehirn wird hierbei als eine Art Computer gesehen, als ein Apparat, das Informationen verarbeitet.76

In der Lerntheorie des Kognitivismus geht man davon aus, dass ein extern und objektiv existierendes Wissen vorhanden ist, wobei das Lernen als eine Wechselwirkung des externen Wissens (z.B.: hier durch die Lehrkraft) und der internen Struktur (z.B.: hier Schüler*in) verstanden wird.77 Übertragen auf den schulischen Kontext hat dies zur Folge, dass die Lehrkraft (=Sender) Informationen an die Schüler*innen (=Empfänger) weitergibt. Die an die Lernenden weitergegebenen Informationen werden basierend auf das Vorwissen und die internen Schemata der Schüler*innen entsprechend decodiert.78 Bezieht man diese Theorie auf den Bereich der Lernschwierigkeiten im schulischen Zusammenhang, wird bewusst, dass Lernschwierigkeiten auf fehlerhafte Information, inadäquate Medien oder gestörte Informationsaufnahme zurückzuführen sind.79 Somit sollten nach konstruktivistischer Perspektive diese Aspekte an erster Linie untersucht werden, wenn gegen Lernschwierigkeiten gehandelt werden soll.

Aus konstruktivistischer Betrachtung ist das Individuum ein informell geschlossenes System. Das bedeutet, dass das lernende Individuum sein Lernprozess individuell gestaltet und repräsentiert. Das erfolgreiche Lernen hänge demnach an erster Stelle vom Lernenden selbst und seinen eigenen Erfahrungen ab, und weniger von äußeren Einflüssen. Äußere Einflüsse werden zwar vom Individuum so wahrgenommen, wie sie dargeboten werden, jedoch werden diese Informationen von jedem Individuum individuell weiterverarbeitet. Somit entsteht in jedem Menschen ein anderes Wissensprodukt: „Das Hauptgewicht der Wechselwirkung liegt allerdings beim Lernenden, in seinen Schemata und seiner selbständigen [sic!] Verarbeitungsfähigkeit.“80 Als Lehrkraft hat man nach dieser Hypothese nicht die Aufgabe einer Wissensvermittlung, sondern Unterstützung der Lernenden

beim Konstruieren des individuellen Lernprozesses. Essentiell ist dabei das eigenständige Entdecken von Lerninhalten seitens Schüler*innen selbst.

Das Lernen wird von den Konstruktivisten auch als ein sozialer Prozess interpretiert. Vertreten ist hier zwar die Meinung, dass das Wissen vom Individuum selbst konstruiert wird und somit individuell bestimmt ist. Jedoch finde sie in sozialen Prozessen und Zusammenhängen statt und werde dadurch beeinflusst.81 Daraus folgt, dass das Lernen ebenfalls einen kommunikativen Vorgang und somit eine Parallele zum Kognitivismus darstellt.82 Der wesentliche Unterschied besteht jedoch darin, dass aus kognitivistischer Sicht das Lernen als Informationsverarbeitung aufgefasst wird, während Konstruktivismus besagt, dass der Mensch ein informell geschlossenes System ist.83 Demnach ist das Lernen aus konstruktivistischer Perspektive kein Informationsverarbeitungsprozess, sondern ein Konstruktionsprozess.84

Wissen lässt sich nach der konstruktivistischen Lerntheorie nicht durch Lehre übernehmen, sondern werde eigenständig vom Individuum selbst aufgebaut. Eine Frage, die sich stellen lässt, ist hier die Sinnhaftigkeit der Schule. Welchen Sinn hätte nämlich die Schule, wenn das Wissen sowieso nicht durch die Lehre übernommen werden kann, sondern lediglich selbstständig vom Individuum aufgebaut wird? Man mag hier vielleicht antworten, dass Schule als ein sozialer Ort gilt, der das Zusammentreffen mit Menschen darstellt, und woraus er sein Wissen aufbaut. Jedoch würden dann die Lehrkräfte fehl am Platz sein. Wie der Name einer Lehrperson, Lehrkraft oder Lehrer*in bereits besagt: Diese Personen sind dafür ausgebildet (die Kritik zu Lehrausbildung kann hier erstmal außer Acht gelassen werden), um zu lehren und demnach Wissen weiterzugeben. Aus diesem Grund kann diese Theorie zwar Anhaltspunkte darlegen, dass das Individuum selbst durch die eigene Wahrheit sein eigenes Wissen konstruiert. Allerdings ist das Individuum nicht ausschließlich für sein Lernverhalten verantwortlich. Denn Umwelteinflüsse spielen ebenfalls im Lernprozess eine tragende Rolle.

Wir haben festgestellt, dass alle Lerntheorien eine Sichtweise gemeinsam haben: Das Lernen ist ein sozialer Prozess; sei es, dass es von Modellen lernt, auf Reize reagiert oder äußere Reize wahrnimmt und dementsprechend sich die eigene Wahrheit, das eigene Wissen konstruiert. Bei all diesen Meinungen lernt das Individuum in sozialen Verhältnissen. Die Schule bietet an dieser Stelle daher sehr gute Möglichkeiten und den passenden Raum, um voneinander und somit sozial lernen zu können.

In dieser Entwicklung bemerken wir, dass sich die Sicht zum Lernprozess des Menschen vom passiven zum aktiven verändert hat. Weiterhin ging man zuerst vom Lernen als etwas Beobachtbares aus, wobei später das Lernen als etwas nicht Beobachtbares beschrieben wurde, das im Kopf des Individuums stattfindet.

Bezogen auf die Institution Schule und auf die dort lernenden Schüler*innen bedeutet dies, dass das Lernen nicht unbedingt beobachtbar sein muss, damit es stattfinden muss. Jedoch bezwingt die Institution Schule durch die Noten und Zeugnisse eine Vergleichbarkeit und somit die Beobachtbarkeit des Lernens. Selbstverständlich muss das Lernen ebenfalls sichtbar sein, in Form von Verhaltensänderungen. Denn wir geben das wieder, was in unserem Kopf geschieht. Auch wenn wir Modelle übernehmen oder unsere Wahrheit selbst konstruieren, spiegelt sich dies in unserem Verhalten wider. Für die Lehrkräfte heißt es demnach, aufmerksam zu sein. Denn wenn ein*e Schüler*in immer dieselben Qualitäten im Laufe der Schullaufbahn und keine Veränderungen aufzeigt, auch wenn diese guten oder durchschnittlichen Leistungen sind, sollte über den Lernprozess der lernenden Person nachgedacht werden. Für einen guten Unterricht sollten sich die Lernenden aktiv beteiligen.85 Also kann im schulischen Kontext kein ausschließlich passives Lernen stattfinden. Man kann jedoch festhalten, dass man sich nicht auf eine einzige Lerntheorie einschränken sollte, um das Lernen verstehen und in unser Alltag integrieren zu können. Es können verschiedene schulische Lernsituationen anhand von allen Lerntheorien erklärt werden. Eine einseitige Sichtweise sollte vermieden werden, denn für die Erklärung und Verdeutlichung der Individuen und ihren Lernsituationen reicht eine einzige Lerntheorie nicht aus. Aus diesem Grund sollten mehrere

Lerntheorien angeeignet und situationsbedingt und individuell herangezogen werden.

Kritisch anzusehen ist ebenfalls, das Auftauchen von Schwierigkeiten und Problemen beim Lernen in der Praxis lediglich durch theoretische Perspektiven beheben zu wollen. Es benötigt an Praxiserfahrungen, damit Lehrkräfte mit der Zeit lernen, mit dem Thema der Lernschwierigkeiten professionell umzugehen.

Das Phänomen Lernen

‚Lernen‘ – ein Begriff, dem wir im täglichen Umgang begegnen. Bereits für Kleinkinder wird dieser Begriff verwendet, wie beispielsweise in Bezug auf das

‚Laufen-Lernen‘. Selbst das Essen und Trinken, das für uns Erwachsene selbstverständlich ist, musste am Anfang erlernt werden. Bis zum Kindergarten- und spätestens zum Schulalter wird ‚Lernen‘ jedoch nicht als ein aktiver Prozess wahrgenommen, sondern als etwas, das inaktiv und nebenbei geschieht. Zunächst muss der Lernbegriff definiert werden, um die Leitfrage der vorliegenden Arbeit beantworten zu können, da eine Lehrkraft, die kein Wissen darüber verfügt, was das Lernen darstellt, den Lernschwierigkeiten der Schüler*innen gewiss kaum oder nicht entgegenwirken kann.

Die Verbindung des Lernbegriffs mit dem Fachbereich der Pädagogik besteht darin, dass dieser etymologisch ist und als gemeinsamen Ursprung aus dem gotischen „laisjan“ mit dem Lehrbegriff verwandt ist. Dies unterstreicht somit seine Affinität zur pädagogischen Praxis.86 Ein weiteres Merkmal kommt dem Lernen in der pädagogischen Praxis zu. Aus pädagogischer Sicht ist Lernen auch der erfahrungsreflexive, auf den Lernenden sich auswirkende Prozess der Gewinnung von spezifischem Wissen und Können.87

Das Lernen stellt eine Verhaltensänderung eines Individuums dar. In der wissenschaftlichen Definition heißt es bezüglich des Lernens, dass es „[…] die relativ dauerhafte Änderung von Verhalten aufgrund von Erfahrung, d.h. von Interaktionen eines Organismus mit seiner Umwelt […]“ darstellt.88 Hierbei geht es um unterschiedliche Klassen von Verhaltensweisen: sowie das kognitive und

motorische, als auch das verbale Verhalten.89 Gleichermaßen ist das Aneignen von kulturellem, sozialem und intellektuellem Wissen als Verhaltenserwerb zu sehen.90 Dies bedeutet, dass das Lernen aus der Außenperspektive beobachtbar ist. Hierzu gehört auch das Lernergebnis, das als eine Verhaltensänderung verstanden werden kann. Damit sind jedoch keine Verhaltensänderungen gemeint, die durch genetisch programmierte Entwicklungsschritte (Reifung) und durch vorübergehende Zustände (z.B.: Ermüdung oder Rausch) stattfinden.91 Außerdem wird dem Lernen nur relativ dauerhafte Verhaltensänderungen, die über längere Zeit hinweg in der gleichen Situation immer wieder beobachtet werden können, untergeordnet.92 Diese Kenntnis ist entscheidend für eine Lehrkraft, um erkennen zu können, ob ein*e Schüler*in gelernt hat oder nicht und folglich eine Lernschwierigkeit besitzt. Folglich müssen Lehrkräfte Lernschwierigkeiten bei Schüler*innen erkennen, da das Lernen mit Verhaltensänderungen gekennzeichnet und somit sichtbar sind.

Folgend darauf bedeutet das Lernen ebenfalls, dass beim Lernprozess Wissen und Können erworben wird und somit hier auch eine Änderung vorliegen muss. Mit dem Begriff des Erwerbs ist hier ein „Besitzwechsel“ gemeint.93 Beim Lernen ändern sich das Wissen und Können der lernenden Person. Der Lernende weiß demzufolge in diesem Zeitpunkt mehr oder anderes als im früheren Zeitpunkt.94 Schließlich umfasse das Lernen die Aneignung von Informationen.95 An dieser Stelle wird die Beobachtbarkeit durch das Vorhandensein einer Verhaltensänderung beim Lernerfolg bestätigt.

Außerdem wird das Lernen in der Pädagogik als etwas verstanden, das im sozialen Zusammenhang und nicht ausschließlich im Individuum selbst stattfindet. Denn Lernen entstehe durch eine Wechselwirkung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt und sei somit ein Interaktionsprozess.96

Wenn vom Lernen die Rede ist, wird meistens darunter das Lernen im schulischen Rahmen verstanden. Denn im alltäglichen Sprachgebrauch wird

meist unter dem Begriff des Lernens die aktive Aneignung von Wissen durch eine Instruktion oder Schulung verstanden.97 Jedoch wird auch in vielen Situationen unbewusst gelernt, von denen wir nicht im Voraus geplant haben, uns ein Lerngegenstand anzueignen. Demnach ist Lernen nicht etwas, das nur

„[…] in engumschriebenen Situationen auftritt, wie etwa im Schulunterricht, bei Prüfungsvorbereitungen oder dem Training bestimmter Bewegungsabläufe.“98 Es findet auch außerschulisch statt. Denn nach dem Bildungsabgang wird weitergelernt. Man kann sagen, dass das Individuum lebenslang lernt.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752127942
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Schule Lernschwierigkeiten Lehrer pädagogisch Lernprobleme Herausforderung Institution Lernen Lerntheorien Bildung

Autor

  • Ayse Batra (Autor:in)

Ayse Batra arbeitet als junge Lehrerin mit Migrationshintergrund gerne mit Schüler*innen mit unterschiedlichsten Hintergründen. Aus mehrjähriger Praxiserfahrung an verschiedenen Schulen, auch in sozialen Brennpunkten, weiß sie, dass Schwierigkeiten in mehreren Bereichen in der Schule vorhanden sind.
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Titel: Lernschwierigkeiten als pädagogische Herausforderung in der Institution Schule