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Wer Wind erntet

Turbinenkiller

von Nick Stein (Autor:in)
180 Seiten
Reihe: Lukas-Jansen-Reihe, Band 8

Zusammenfassung

Gerade seinen Mördern im Watt entronnen, steht LKA-Kommissar Lukas Jansen vor seiner nächsten Herausforderung. Eine Gruppe namens AFDP hat direkt vor dem Upstalsboom, dem Wahrzeichen Ostfrieslands, eine Leiche abgelegt. Ein paar Tage vorher war ein Mann vor seinem Haus erschossen worden. Beide Toten arbeiten in der Windkraftindustrie, die Tat scheint von Windkraftgegnern begangen worden zu sein. Lukas gerät schnell wieder mit seinem Vorgesetzten aneinander und auch sofort wieder selbst in Lebensgefahr, als er auf einer einsamen Vogelinsel unter Beschuss kommt und erst im Krankenhaus wieder aufwacht. Der Fall erhält eine besondere Brisanz durch das Verwandtschaftsverhältnis seines Kollegen Hinnerk zu einem der mutmaßlichen Täter. Kann Lukas ohne die Hilfe seiner Frau Lisa, die weiter in einem Safe House im Atlantik ausharrt, den Fall lösen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Es war dunkel, als ich am Hundestrand von Norddeich auf allen vieren über den vereisten Boden auf die Lichter der Stadt zu rutschte. Ich hatte drei frostklirrende Stunden hinter mir, die mich meine letzten Kraftreserven gekostet hatten.

Hundertachtzig endlose Minuten über Eisschollen, bei minus zehn bis zwölf Grad. Zum Schluss, nahe am Strand, wo es wärmer war als draußen im Watt, war ich zum Überfluss noch zweimal ins dünne Eis über einem Priel eingebrochen.

Meine Beine hatten bis zum Hintern im Wasser gesteckt, das meine Jeans sofort in Eisröhren verwandelt hatte, nachdem ich mich mit schon gar nicht mehr vorhanden geglaubten Restkräften aus dem splitternden Eis gehievt hatte.

Ich spürte meine Beine und Füße nicht mehr. Sie waren kaum bewegliche Stelzen aus holzigem Eis, weshalb ich bald darauf nur noch langsam vor mich hin kroch. Die Knie konnte ich nicht mehr richtig beugen, ich stakste erst, wankte dann, fiel hin und zog mich schließlich nur noch mit den Armen und Ellbogen übers Eis.

Ich betete, dass mir die Ärzte die Beine nicht abnehmen mussten, die ich kraftlos hinter mir herzog.

Wenn ich das hier überhaupt überlebte und einen Arzt fand.

Mir war immer noch nicht ganz klar, wie ich hierhergekommen war. Klar, die letzten Kilometer über das gefrorene Watt, da konnte ich mich an jeden mühsamen Tritt, jeden schweren Meter komplett erinnern. Nur die Zeit davor war ein schwarzes Loch.

Mich hatten zwei Leute in Südwestern mit einem Sportboot im Watt ausgesetzt, genau an der Stelle, wo vorher ein Rocker aus meinem letzten Fall tot aufgefunden worden war. Angeblich, weil ich dort ermitteln sollte. Das hatte ihnen jemand als Auftrag mitgegeben.

In Wirklichkeit hatte ich dort in der aufkommenden unbarmherzigen Flut umkommen sollen, der Kälte und den steigenden Wassern schutzlos ausgesetzt.

Ausgerechnet die erbärmliche Kälte hatte dafür gesorgt, dass ich nicht gleich umgekommen war. Die Flut der Nordsee hatte sich mit schmutzigen Schollen bedeckt, ein glitschiges, tückisch knirschendes Terrain. Bei jedem Schritt hatte ich geglaubt, dass es mein letzter sein würde. Die Schollenbildung in der eisigen Kälte hatte mich vorerst gerettet.

Ich blieb entkräftet am Spülsaum des gefrorenen Strandes liegen, einen Meter vor einem großen Haufen vereister Hundescheiße.

Mein eigener Hund Jackie war bei meinen Eltern. Wenigstens er war in Sicherheit.

Meine Frau Lisa und unsere beiden Zwillinge, die zwei Jahre alten Ella und Onno, waren inzwischen auf den Kapverdischen Inseln, in Santa Maria auf der Insel Sal, in einem neuen Safehouse. Das hoffte ich zumindest.

Das LKA hatte sie anfangs auf der Ilha do Fogo auf den Kapverden in einem vermeintlich sicheren Haus untergebracht, weil wir alle massiv bedroht worden waren. Von Leuten, die wir nicht kannten, Drahtziehern, denen ich auf der Spur gewesen war. Denen meine Ermittlungen zu weit gegangen waren und denen ich meinen Aufenthalt hier im Eis zu verdanken hatte.

Lisa und die Kleinen waren dort in einer Pension untergebracht worden, Pipi’s Guest House.

Dann hatte ich nachts einen Anruf erhalten, von jemandem, der mir Fotos der drei auf mein Handy aufgespielt hatte. Was eigentlich gar nicht ging. Und was zeigte, wie technisch versiert diese Leute waren. Und dass sie an meiner Familie dran waren, entgegen aller Behauptungen des Landeskriminalamtes, dass meine drei Süßen in Sicherheit waren. Sie waren dann auf eigene Faust auf die Insel Sal umgezogen, ohne irgendjemandem zu verraten, wo sie genau waren; mir hatte sie ihren neuen Ort leicht verschlüsselt über eine Bierwebseite mitgeteilt. Die genaue Adresse hatte ich allerdings noch nicht.

Diese Bedrohung hatte mir gezeigt, dass das LKA einen Maulwurf in seinen Reihen haben musste, einen Informanten der Leute, die meine Frau und Kinder bedrohten. Woher sonst hatten sie die Adresse auf den Kapverden erhalten? Es war zum Verzweifeln, wenn nicht einmal kleine Kinder in Sicherheit sein konnten.

Sie würden meine Familie nur dann in Ruhe lassen, wenn ich mich stellte, hatten diese Leute mir gesagt, denen eigentlich ich auf den Fersen sein sollte. Stattdessen hatten sie mich in der Hand gehabt.

Ich hatte getan, was sie von mir verlangten, ich hatte mich gestellt. Sie hatten mich betäubt, unter Drogen hypnotisiert und ausgefragt. Mir selbst fehlten dabei viele Stunden. Was hatten die noch mit mir gemacht? Und was hatte ich alles ausgeplaudert?

Und hatte ich womöglich etwas Wichtiges für immer vergessen, durch den Drogencocktail induziert?

Am nächsten Tag hatten mich diese Unbekannten anderen, vermutlich unbescholtenen und für den Job gut bezahlten Leuten übergeben, die mich im Watt ausgesetzt hatten. Die beiden Männer in ihren Südwestern gingen davon aus, dass mich ihre Auftraggeber selbst wieder abholen würden, was die allerdings nie vorgehabt hatten. Die wollten mich im wahrsten Wortsinn kaltstellen.

Ausgerechnet der tödliche Frost, der mich hatte umbringen sollen, hatte mich vor dem mir zugedachten Ende gerettet. Und dann doch noch fertiggemacht.

Waren Lisa, Onno und Ella in Sicherheit? Oder waren sie auch an ihrem neuen Ort in Gefahr geraten?

Das war der Gedanke gewesen, der mich gerade so am Leben erhalten hatte. Ich war zweimal kurz davor gewesen, aufzugeben und herauszufinden, ob einem beim Erfrieren wirklich warm und einem alles egal wurde. Wie es zum Schluss noch mal so richtig schön kuschelig im Eis wurde.

So wie ich hier am Strand lag, unfähig, mich zu entschließen, ob ich um den Hundehaufen herum oder über ihn hinweg kriechen und ob ich überhaupt noch weiterkriechen sollte, zuckte kurz die Ironie meiner Lage durch mein Gehirn.

Das Gehirn, das immer noch unter dem Einfluss irgendwelcher Drogen stand, Wahrheitsdrogen oder was das auch immer gewesen war. Auch im Kopf war ich sterbensmüde.

Der wohlige Gedanke, dass ich es geschafft hatte, am Strand anzukommen, dem Norddeicher Hundestrand, ließ mich die Glieder strecken. Ich hatte das Festland erreicht. Wunderbar!

Mir war auch nicht mehr kalt. Der vereiste Strand war weich wie ein Bett. Warm genug für ein ganz kurzes erholsames Nickerchen, dachte ich.

Etwas Heißes fuhr über mein Gesicht, ein gekochter Waschlappen.

Eines meiner Augen öffnete sich einen Spalt.

Der Rottweiler war das Letzte, was ich an diesem Wintertag noch sehen sollte.

Ich war mit einer extremen Unterkühlung ins Krankenhaus eingeliefert worden, wie ich am übernächsten Tag erfuhr. Ich hatte über dreißig Stunden geschlafen; jetzt war mir unerträglich heiß unter der Bettdecke eines Krankenbettes in der Dr. Becker Klinik in Norddeich, einem Krankenhaus für orthopädische und psychosomatische Rehabilitation.

Eine Schwester sang einem Kind in meinem Nachbarbett etwas vor; davon war ich zum zweiten Mal aufgewacht.

Die Ärzte hatten mich langsam ins Leben zurückgeholt. Anfangs in einer Kühlkammer, weil meine Kerntemperatur bereits bedrohlich abgesunken war und eine rasche Erwärmung mich umgebracht hätte, dann in zunehmend wärmeren Räumen.

Jetzt sollte ich mich nur noch erholen. Stress würde mir schaden, hatte die Chefärztin gesagt, und aus diesem Grund waren auch weder Telefon noch Fernseher in meiner Nähe.

Das Einzige, was ich tun konnte, war daliegen und denken.

Wusste Lisa, wo ich war? Meine Eltern? Ich hatte keine Ahnung. Mit Lisa hatte ich eine Vereinbarung gehabt; auf einer unverdächtigen Blogseite über Bier hatten wir miteinander abgesprochene Nachrichten abgesetzt, um uns zu versichern, dass alles in Ordnung war. Oder auch nicht in Ordnung.

Sie machte sich bestimmt die größten Sorgen um mich.

Und ich mir um sie und die beiden Kurzen. Denn meine Entführer hatten mir nur versprochen, sie in Ruhe zu lassen, wenn ich mich ergab. Ob sie sich daran gehalten hatten? Den Bösen glaubte ich grundsätzlich nicht.

Als ich das erste Mal hier aufgewacht war, hatten Ärzte um mich herumgestanden und etwas mit mir gemacht, mir Sonden aufgeklebt, einen Infusionsschlauch gelegt, mir ein Thermometer eingeschoben und andere Dinge mehr.

Ich als Mensch hatte sie kaum interessiert.

Später hatte eine Schwester meinen Namen aufgenommen und meinen Dienstrang. Polizeikommissar beim LKA Niedersachsen, für die Fachgebiete Umweltkriminalität und Organisiertes Verbrechen, im Bereich ostfriesische Küste.

Meine nächsten Angehörigen hatte ich auch nennen müssen; stand es wirklich so schlimm um mich?

Ich hatte ohne nachzudenken Lisa und unsere Adresse in Burmönken bei Wittmund angegeben, die Schwester war mit dieser Information davongeschwebt.

Natürlich hatte sie dort niemanden erreicht. Ich hätte meine Dienststelle oder meine Eltern angeben sollen, dachte ich im Nachhinein. Dann wäre schon jemand hiergewesen, der mir helfen konnte.

»Ich bin Polizist«, hatte ich der übermüdeten Schwester erzählt. »Rufen Sie bitte in meiner Dienststelle in Wittmund an. Die Nummer steht im Telefonbuch.«

Drei Stunden später stand jemand vor meinem Bett, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ein großer Mann in Uniform, mit einer schwarzen Igelfrisur, auf der seine Mütze kaum Halt fand. Einhundertzwanzig Kilo freudestrahlendes Lebendgewicht.

Mein alter Kumpel Onno, der mir in Eutin das Autofahren beigebracht hatte. Das richtige Fahren. Mit angezogener Handbremse, Powerslide und hundert um die Kurve, für den Anfang. Onno, der Namenspate meines Sohnes.

»Alter, was machst du für Sachen?«, fragte er mich. »Schickst mich elektronisch nach Afrika? Als endlich jemand ranging, redete der auf irgendeiner merkwürdigen Sprache auf mich ein. Da war mir klar, da ist was faul im Staate Dänemark.«

»Das war das Signal von meinem Handy, Onno. Das hatten mir die Bösen abgenommen und auf die Reise geschickt, nach Genua«, erklärte ich ihm und atmete erleichtert aus. »Und von dort wird es wohl nach Afrika gereist sein. Was für ein tolles Gerät, dass es noch so lange Saft hatte. Mensch, und jetzt ist es weg.«

Mein Handy war mein letzter Hilferuf gewesen, den ich in den wenigen Minuten abgesetzt hatte, die mir meine Entführer gegönnt hatten. Ich hatte Onno gebeten, meinen Standort damit zu verfolgen. Aber den Trick kannten diese Leute auch. Sie hatten dafür gesorgt, dass es woandershin reiste als ich. Und den GPS-Sender, den ich zusätzlich verschluckt hatte, hatten sie mir aus dem Magen gepumpt und zusammen mit dem Handy auf die Reise auf einen vorbeifahrenden Lastwagen geworfen.

»Mensch, gut dass du da bist«, sagte ich zu ihm. »Ich wusste schon nicht mehr, ob ich noch echt bin, mal wieder in einem Krankenbett, mehr tot als lebendig. Habe ich langsam genug von. Wie hast du mich gefunden? Über meine Dienststelle?«

»Halb erfrorener Mann am Strand in Norddeich gefunden, wie es in der Zeitung stand, da war mir klar, das kannst nur du sein«, grinste er. »Nachdem dein Signal nach Afrika gereist war und du nicht zu erreichen warst. Dann habe ich die Kliniken durchgeklingelt und nachgefragt. Und Bingo. Bin sofort hergekommen.«

Er zog die Linke, die er die ganze Zeit hinter seinem Rücken verborgen gehalten hatte, nach vorn und streckte sie mir entgegen. Ich sah das neueste Modell meiner Handymarke vor mir.

»Ich dachte mir, du brauchst bestimmt ein neues Gerät, wenn dein altes verreist ist. Ist sogar schon alles drauf, was auf dem alten Handy drauf war, Lucky Luke. Ich musste dazu dein Cloud-Backup hacken, aber hör mal. Liselon2020, da habe ich schon bessere Passwörter geknackt. Lisa, Ella, Onno. Ich habe dir ein sicheres aufgespielt, klebt hinten drauf. Entsperrung über Gesichtserkennung, auch von deinem alten Modell übernommen.«

Er hielt mir das neuste Modell der Handyfirma mit dem angebissenen Stück Obst als Logo hin. »Hier, Alter. Was war denn los?«

»Gleich.« Ich hörte ihm kaum noch zu. Ein Handy mit allen Nummern drauf! Ich war Onno nicht mal böse, dass er meine Accounts geknackt hatte. Wenn das einer durfte, dann er.

Ich probierte sofort die Nummer eines Billig-Handys aus, die wir für absolute Notfälle vereinbart hatten. Lisa hatte das auf den Kapverden erworben und noch nicht aktiv benutzt.

Die Nummer war tot.

»Mann, Alter, hör mir doch erst mal zu«, ermahnte mich mein Freund. »Ich habe auch beim LKA angerufen und mich schlaugemacht. Lisa ist nicht mehr am selben Ort, sie ist auf eigenen Wunsch umgezogen, Handy hat sie auch keins mehr. Sie und die Kurzen bleiben noch ein paar Tage zur Sicherheit dort, wo auch immer sie gerade sind, dann werden sie zurückgeflogen. Dein Fall ist gelöst, sie erholen sich von dem Stress und sind bald wieder hier.«

Hatte ich einen Fall gehabt? Das war alles in weite Ferne gerückt, obwohl es doch erst zwei, drei Tage her sein konnte. So richtig hatte ich meine Erinnerungen noch nicht wieder sortiert. Wenn ich noch echte Erinnerungen hatte. Und wenn es meine eigenen waren und die mir nichts anderes eingepflanzt hatten.

Ach ja. Ich wusste noch, worum es gegangen war. Zwei Gruppen hatten sich um die riesigen Gaslager unter Etzel gestritten, hier oben in Ostfriesland, wo die größten strategischen Öl- und Gasreserven der Bundesrepublik lagerten.

Eine russische Gruppe, die dafür sorgen wollte, dass das Gas aus Nordstream 2 dort hingelangen würde, und eine amerikanische, die das Flüssiggas LPG in Wilhelmshaven anlanden und unter Etzel speichern wollte. Es hatte einige Tote gegeben, bis eine dritte Macht den Streit geschlichtet hatte. Dieselben Leute, die alle Informationen aus mir rausgeholt hatten und die veranlasst hatten, dass ich in der Kälte im Watt ausgesetzt wurde. Die hatten dafür gesorgt, dass der Streit zwischen den beiden Großmächten beigelegt worden war.

Wohlerzogene Leute, höfliche Menschen, die mich unter Drogen hypnotisiert hatten.

Diese Leute, von denen ich immer noch keinen blassen Schimmer hatte, wer sie waren, hatten hinter sich aufgeräumt. Wer waren sie? Das BKA, der BND? Agenten der Wirtschaft? Von einer Versicherung, wie Hinnerk gemeint hatte, als Sorgenträger der Wirtschaft? Ich hatte null Ahnung.

»Onno, der Fall ist nicht gelöst. Da hat nur jemand geschlichtet und anschließend alles unter den Teppich gekehrt. Die haben für eine Einigung zwischen den Russen und den Amis gesorgt. Aber die Morde an den jeweiligen Killern sind trotzdem nicht aufgeklärt worden. Oder etwa doch? Während meiner Abwesenheit?«

»Ich weiß nur, was im Fernsehen kam und in der Zeitung stand, Alter. Alles aufgeklärt, Fall abgeschlossen.«

Ich schloss kurz die Augen.

»Stimmt nicht. Wir waren an einem Adrian Holzner aus Bremen dran, wenn das sein echter Name war. Und der war mit großer Wahrscheinlichkeit der Mörder von McDeath, das ist das Pseudonym eines russischen Profikillers, in Esens. Oder ist der Holzner verhaftet worden?«

Onno dachte nach. »Nichts von gehört.«

»Und in McPomm gab es einen Mord an einem John Ross. Nicht mein Gebiet, aber bestimmt auch nicht aufgeklärt.« So viel an Informationen hatte mein Schädel doch noch bereitgestellt.

Die beiden Mordopfer waren diejenigen gewesen, die für ihre jeweilige Seite missliebige Zeugen und Überläufer beseitigt hatten. Denn sowohl die Russen als auch die Amis wollten der Alleinlieferant der Bundesrepublik für Erdgas werden und hatten dabei Handlanger eingesetzt, die das mit Gewalttaten gegen die andere Seite dick unterstrichen hatten.

Trump wollte Nordstream II auf jeden Fall verhindern und hatte sogar schon Häfen deshalb verklagt, in denen Material für die Pipeline lagerte. Und die Russen hatten Anlagen sabotiert, durch die das amerikanische Flüssiggas fließen sollte.

Die Leidtragenden waren wieder einmal wir Ostfriesen gewesen, mindestens eines der Gaslager unter Etzel war uns um die Ohren geflogen, Menschen waren gestorben.

Enno kratzte sich seinen Igel.

»Lass mal lieber die Finger davon, Lucky Luke, sonst ist es mit deinem Glück eines Tages vorbei«, warnte er mich. »Oder geh doch gleich zum BKA, dann sitzt du an der Quelle. Wir brauchen dich noch, Alter, und Lisa und die Kurzen ganz besonders.«

Womit er Recht hatte. Ich musste mir wirklich nicht alle Schuhe anziehen, die lose in der Gegend herumstanden. Dennoch wurmten mich ungelöste Fälle.

»Wo steckt Lisa denn jetzt?«, fragte ich Onno.

»Keine Ahnung. Woanders, das LKA durfte mir das nicht sagen. Ich glaube, die wussten es selbst nicht.«

Ich griff zum Handy. »Hast du alles übertragen? Auch die Buchmarken und alles aus dem Browser?«

Onno runzelte die Stirn. »Alles, was auf dem Backup in der Cloud war, Alter. Sieh doch mal nach.«

Ich suchte im Browser nach einer Seite über das deutsche Reinheitsgebot, musste die Adresse dann aber doch per Hand eingeben und mir mein Passwort wieder einfallen lassen.

Ach ja, ich wusste es noch. Eine Kombination aus dem Pils aus der Heimat und den Sprachgewohnheiten der Piraten aus Asterix.

Friesisch_’erb!

Auf dem entsprechenden Blog war ein Eintrag von Hiltrud Hammerstein, Lisas Codenamen.

»Eins von den dreißig Bierchen gestern war wohl schlecht«, hatte sie am Vortag eingegeben. »Heute wieder gut. Frische Luft tut gut.«

Also wusste sie, dass sie in Gefahr geschwebt hatte. Und frische Luft stand wohl für einen neuen Ort. Ich war beruhigt. Den Rest würde ich noch erfahren.

»So ein frisches Pils hätte ich jetzt auch gern. Gilt das Reinheitsgebot eigentlich auch für die Luft?«, schrieb ich als Kommentar dazu.

Habe Sehnsucht nach dir, und ist die Luft rein?, sollte das in etwa bedeuten.

Die Antwort kam postwendend.

»Jau. Prost.«

Onno sah mich fragend an. »Alles in grünen Tüchern«, sagte ich ihm und wischte mir etwas salzige Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln. Reste vom Meerwasser vermutlich.

»Kannst du mal nachsehen, ob mein Hausschlüssel noch in der Hosentasche steckt? Die müsste da im Schrank liegen.«

Onno folgte meinem Fingerzeig und sah nach. »Ja. Alles da, selbst dein Geldbeutel.« Er sah mich fragend an.

»Willst du dich etwa selbst entlassen?«

»Na ja, ich war ja nur unterkühlt, nicht krank oder tot. Versuch doch draußen mal einen Arzt zu finden. Ich brauche auf jeden Fall einen Entlassungsschein. Das letzte Mal, als ich mich selbst entlassen habe, glaubten die Leute, ich wäre ein Zombie.«

Ich war vor einem halben Jahr mit bandagiertem und blutigem Kopf und in den Klamotten eines toten Nazis durch die Gegend gerast, um diejenigen zu finden, die meine Wunden verursacht hatten. Die Urlaubskiller, die ich schließlich zur Strecke gebracht hatte.

Während Onno draußen war, dachte ich über meine Optionen nach.

Ich konnte aufgeben und mich ausschließlich um die Familie kümmern. Lisa verdiente als Ärztin und Rechtsmedizinerin genug.

Ich konnte weitermachen und trotz aller Warnungen und Verbote nach den noch verbliebenen Mördern in der Kette der Gewalt suchen. Und damit in einen Brotkorb langen, der vier Stockwerke über meinem hing, auf die Gefahr hin, dabei draufzugehen. Das durfte ich meiner Familie nicht antun. Oder doch? Weil die Gerechtigkeit um jeden Preis siegen musste?

Vielleicht sollte ich die Einladung wahrnehmen, zum BKA zu gehen. Damit war ich brotkorbmäßig schon näher dran an dem Fall und seinen Tätern. Musste ich dann nach Karlsruhe oder Berlin umziehen? Ich wollte hier nicht weg. Das konnte ich meiner Familie auch nicht antun. Ich musste prüfen, was das bedeuten würde.

Oder ich ließ alles sacken, vertraute den Weisungen meiner Chefs und Ratgeber und kümmerte mich ausschließlich um das, was in meinen Bereich fiel. Dienst nach Vorschrift. Ostfriesentorte und Tee, Jever Pilsener und Klönschnack, langsam dicker werden.

Das konnte ich meiner Familie ebenfalls nicht antun.

Mein erster Impuls vor einiger Zeit wäre gewesen, ach was, scheiß der Hund drauf, ich mache weiter und finde die Schurken. Am Schluss werden mir alle dankbar sein.

Inzwischen war ich etwas gelassener geworden. Wie ich mein Glück oder Unglück kannte, würde die Lösung schon auf mich zukommen. Ich würde Dienst nach Vorschrift schieben und vor allem dafür sorgen, dass die Familie wieder komplett und gesund zu Hause war. Alles andere durfte getrost warten. Denken und ein ganz klein wenig recherchieren durfte ich ja wohl.

»Ich verstehe schon, dass du gleich wieder aus der Klinik rauswillst, Alter«, druckste Onno herum. »Vor allem wegen dieser neuen Umwelt-Geschichte hier unten bei euch.«

Unten war gut. Ich empfand Ostfriesland immer als ganz oben in Deutschland. Aber Onno kam aus Kiel, das war noch weiter nördlich. Für ihn war Ostfriesland schon fast Sizilien.

»Hä?« Ich sah ihn stirnrunzelnd an. »Was meinst du?«

Er sah sich nach einem Stuhl um, unterzog ihn einer optischen Prüfung und ließ sich dann vorsichtig mit seinem Lebendgewicht darauf nieder.

»Denk mal an deinen ersten Fall, Lukas«, erinnerte er mich. »Als du noch klein warst, das hast du mir mal erzählt. Da hatte einer bei Wittmund einen Baum mit einem Adlerhorst darauf abgesägt. Du hattest noch die Küken gefunden.«

Das stimmte. Ich hatte die beiden kleinen Federbälle in Gießharz gebettet bei mir auf dem Schreibtisch stehen.

»Und?« Ich war mir nicht sicher, worauf er hinauswollte. »Mach doch mal das Fenster auf, mir ist immer noch viel zu heiß hier drin.«

»Ich finde es eher kalt«, fand er, stand aber doch auf und stellte eines der Fenster auf Kipp.

»Also«, sagte er, von mir abgewandt. »Das ist schon wieder passiert. Im Ammerland hat einer eine hundert Jahre alte Eiche umgelegt, auf der ein Adlerpärchen ein Nest angelegt hatte. Das war wohl der neuen Autobahn im Wege, und ein Windpark sollte dort in der Nähe auch entstehen. Und Anglervereine gibt es da ebenfalls zuhauf, die mögen das nicht, wenn ihnen ein Adler die Fische wegschnappt.«

Genau wie im Adlerkiller, dachte ich. So hatte ich meinen ersten Fall genannt. Da hatte ein Bauer Adler vergiftet und einen Horstbaum umgelegt. Allerdings nicht für die Windkraftplaner, wie ich anfangs gedacht hatte, sondern aus ganz anderen Gründen. Der Bauer war selbst dabei draufgegangen. Mein erster Toter. Lange her.

»Schiet«, sagte ich. »Haben die Kollegen schon jemanden geschnappt?«

Er schüttelte den Kopf und setzte sich wieder. »Da hat keiner was gesehen, gehört oder gerochen. Man kann nur vermuten, was da passiert ist.« Er schnaubte. »Das ist jetzt schon ein paar Tage her, finde ich merkwürdig, dass du das nicht mitgekriegt hast. Aber …«

»Aber was?« Mir schwante nichts Gutes.

»Das hat vielleicht was mit diesem anderen Fall zu tun, dachte ich.«

»Du redest in Rätseln, Kumpel«, meckerte ich. »Welcher andere Fall?«

»Es hat einen Mordfall bei euch in der Gegend gegeben. Keine Ahnung, ob das tatsächlich zusammenhängt.«

Ich versuchte, mich aufzurichten, und merkte dabei, wie schwach ich noch war.

»Wie jetzt? Und wieso weiß ich nichts davon?«, fragte ich ihn.

Dazu sagte er nichts. »Du, ich muss wieder«, erklärte er mir. »Brauchst du noch was? Handy hast du ja nun wieder, Wohnungsschlüssel auch. Weißt du was?«

Er stand auf und machte einen Schritt zur Tür.

»Ich werde mal mit dem Arzt reden. Vielleicht kann er dir was zur Stärkung geben und dich dann nach Haus bringen lassen.«

Er sah auf seine Sportuhr. »Ich bin eigentlich im Dienst. Sag, wenn du noch was brauchst, Alter.«

»Ne Stärkung wär schon gut«, krächzte ich. »Lange möchte ich hier nicht das Bett hüten.«

»Ich lass dir eine Kiste nach Haus liefern«, versprach er. »Für morgen. Schlaf dich aus.«

Er stand bereits in der geöffneten Tür. »Bis die Tage, Lukas.«

Ich nickte nur.

Eine halbe Stunde später hielt ich es nicht mehr aus. Ich musste wissen, was los war. Ich hatte versucht zu schlafen, aber das funktionierte nicht. Außerdem würde es bald Abendbrot geben.

Ich rief Svantje an, meine lange und dürre Kollegin mit dem roten Afro, die bekanntlich auch als Leuchtturm einen ordentlichen Job gemacht hätte.

»Lukas?«, staunte sie statt des üblichen »Moin«. »Ich dachte, du wärst erfroren? Sozusagen tot? Kam vor ein paar Tagen über den Notruf. Warst du das gar nicht?«

»Hör ich mich so an?«, fragte ich zurück. »Ich war knapp davor. Erfrieren ist übrigens ganz angenehm, falls dir mal was Ähnliches passiert. Das war ein Mordversuch, Svantje. Irgendjemand wollte mich aus dem Verkehr ziehen und auf Eis legen. Sieht man mir zwar so direkt nicht an, aber ich wusste wohl zu viel.«

»Boah«, sagte sie. »Hätte ich nie gedacht.«

»Sag mal«, fragte ich sie beiläufig. »Bei uns ist schon wieder was passiert, höre ich. Was war denn los?«

Sie machte einen Ton, der wie hng klang. »Bist du überhaupt schon wieder im Dienst, Lukas?«

»Ein Polizist ist immer im Dienst, Svantje.«

»Echt jetzt? Ich habe in drei Stunden frei, da kümmert mich dann nicht wirklich mehr was«, gestand sie.

»Was war denn jetzt? Kannst du mir das sagen?«, insistierte ich. »Hatte das was mit unserem letzten Fall zu tun?«

»Nö«, hörte ich sie lächeln. »Ganz alltäglicher Mord. In Eversmeer ist heute Morgen ein Mann vor seinem Auto erschossen worden, als er gerade einsteigen wollte.«

»Und das findest du normal? Komm, erzähl mir mal mehr darüber.«

»Ach, hier wird doch täglich gemordet, Lukas«, fand sie. »Steht doch fast jeden Tag in irgendwelchen Büchern, das weißt du doch. Da schreiben die sogar Krimis drüber. Also dieser Fall, der hat mit Verbrechen gegen die Umwelt eher nichts zu tun, Lukas«, meinte sie. Denn meine kleine Abteilung des LKA Niedersachsen, der außer mir und Svantje noch Hinnerk Tjaden angehörte, ein erfahrener Analyst, war für Umweltverbrechen und den Kampf gegen die organisierte Kriminalität im Großbereich Ostfriesland zuständig. Gewöhnlicher Mord war Sache der Kripo Wittmund. Und die behandelte das gern selbst.

Ich überlegte, wie man eigentlich Würmer in die Nase bekommen konnte, und was hinter dem Spruch steckte. Ich kam mir komisch vor, als ich ihn aufsagte. »Muss ich dir denn alle Informationen einzeln wie Würmer aus der Nase ziehen, Svantje? Erzähl mir einfach alles, was du darüber weißt. Ich liege hier nämlich im Bett in der Klinik und langweile mich. Fernsehen habe ich auch nicht, nicht mal eine Zeitung. Und auch keins von diesen Büchern. Schieß los, bitte.«

»Tja«, sagte sie gedehnt. »Also. Der Typ war ein ehemaliger Mitarbeiter der Uni Oldenburg, aber seit sechs Jahren selbständig. Studiert hat er dort auch, später auch noch an der Bundeswehr-Hochschule in Hamburg. Er war vier Jahre beim Bund. Die Kollegen hier vermuten, dass der Mord damit zusammenhängt. Er ist nämlich mit einem Nato-Gewehr, einem G 36, erschossen worden. Einzelner Schuss aus der Distanz in den Kopf. Volltreffer. Ein Profi am Werk, ein Scharfschütze. Vermutlich eine Racheaktion für irgendwas.«

Sie atmete aus und kratzte sich die rote Afromatte, wie es klang. Mein Hund Jackie machte einen ähnlichen Sound, wenn er durch eine vertrocknete Hecke sprang.

»Ach ja, der Typ war unverheiratet und wohnte allein. War nicht oft zu Haus, viel unterwegs. Ein Jan Mertens.«

»Eine Racheaktion von einem alten Kameraden?«, vermutete ich ins Blaue. »Weißt du, ob da mal was war? Eine Frauengeschichte, ein Zwischenfall? Wenn der studiert hat, war der vermutlich Offizier. Vielleicht war er ja ein Schleifer, oder er hat einen anderen Soldaten in Afghanistan oder Mali in der Scheiße hängen lassen. Gibt es da was zu?«

»Jenseits meiner Hutschnur«, seufzte Svantje. »Was ganz anderes. Wann wirst du entlassen? Soll ich dir eine Torte backen, für deine Rückkehr ins Revier?«

Svantje wusste, worauf es im Leben ankam.

»Aber sicher. Mit viel Rum und vielen Rosinen, Svantje.«

Sie sagte zu und versprach mir eine Überraschung, ich bedankte mich und legte auf.

Nach einer Weile stand ich auf, in Krankenhausklamotten, und machte ein paar Übungen, Kniebeugen, Liegestütze und Situps, obwohl mir immer noch viel zu heiß war.

Das Kind im Nachbarbett, ein Junge, wie ich jetzt an seiner Stimme hörte, fand das lustig. Ich nicht; ich musste wieder in Form kommen. Schließlich war ich nur unterkühlt gewesen, und sind wir Ostfriesen das nicht schließlich alle? Also konnte ich auch wieder raus und ran an den Speck.

Warum ich dabei an Lisa dachte, war mir selbst schleierhaft. Ich vermisste sie, das war es.

Nach dem drögen Abendessen kam der Chefarzt zu mir und erzählte mir, dass er mich eigentlich noch eine Woche zur Beobachtung hierbehalten müsste. So einen interessanten Fall hätten sie hier lange nicht mehr gehabt. Vor Jahren hätte auch mal einer im Winter in Norddeich in den Dünen gelegen und überlebt. Der hätte aber so viel Alkohol im Blut gehabt, dass das wie ein Frostschutzmittel gewirkt hätte. Heute würde er sehr erfolgreich Kühlschränke verkaufen.

»Herr Doktor, schön und gut«, ließ ich ihn wissen. »Den Tipp muss ich mir merken, danke. Aber ich habe einen Mord aufzuklären. Ich bin beim LKA, die Kriminellen hier oben sind leider nicht eingefroren, sondern machen Ostfriesland unsicher. Geben Sie mir was zur Stärkung, und dann möchte ich hier raus.«

Er sah mich stirnrunzelnd an.

»Bitte«, schickte ich hinterher.

Er sah auf meine Krankenakte und meine Kasseninfo. Er sah aus dem Fenster, es war immer noch Winter. Keine Touristen, wenig los im Krankenhaus. Ich konnte den Buchhalter hinter seiner Stirn rechnen sehen.

»Eigentlich entlassen wir Patienten höchst ungern, wenn die Heilung noch nicht genügend fortgeschritten ist«, murmelte er. »Auf Ihre eigene Verantwortung, Herr Jansen. Sie bekommen noch etwas. Die Schwester bringt Ihnen später die Entlassungspapiere. Wenn Sie dann draußen zusammenbrechen und tatsächlich erfrieren, täte mir das sehr leid.«

Er verließ kopfschüttelnd den Raum, nachdem er mir erklärt hatte, was ich mir in meinem Zustand alles einfangen konnte. Pest, Cholera und andere unschöne Todesarten.

Zwanzig Minuten später stand ein Tablett mit Obst und Fruchtsäften vor mir; die versprochene Stärkung. Ich aß trotzdem alles auf und leerte die Säfte bis auf den letzten Tropfen. Man wusste ja nie, wozu es gut war.

Zwanzig Minuten später bekam ich meine Papiere. Nach einer weiteren Stunde hatte mich ein Krankenwagen nach Haus gebracht.

Den Kasten Jever, der gut gekühlt vor der Haustür stand, die versprochene Stärkung von Onno dem Älteren, brachte ich in den Keller. Die Kleinen konnten draußen erfrieren und platzen, das hatten selbst Flaschen nicht verdient.

Ich machte die Heizung an, obwohl mir immer noch zu warm war, selbst in unserem Haus, wo es nur zehn Grad über null waren, wärmte mir eine Pizza auf und holte eines der noch kalten Biere aus dem Keller zurück. Es sollte nicht länger einsam sein.

Um zehn Uhr abends, ohne Lisa und die Kurzen, ohne Jackie, mit dem ich ums Moor ziehen konnte, ließ ich mich ins Bett fallen.

Morgen würde ich jemandem ganz gewaltig den Arsch aufreißen, nahm ich mir vor. Ich wusste nur noch nicht, wem. Ich hatte die leise Befürchtung, dass ich selbst derjenige sein konnte, dem das passierte. Mit diesem beunruhigenden Gedanken schlief ich schließlich ein.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen fühlte ich mich wieder fit. Ich machte mich fertig, frühstückte ausgiebig und fuhr um neun aufs Revier.

Erika Meier, die Erste Hauptkommissarin der Wittmunder Kripo, sah mich erstaunt an. »Was wollen Sie denn hier, Jansen?«, fragte sie, die Fäuste in die Hüften gestemmt. »Sie sind doch krankgeschrieben. Außerdem ist kaum was los bei uns hier oben. Warum fahren Sie nicht wieder nach Haus?«

»Mir liegt der letzte Fall noch im Magen«, erklärte ich. »Da läuft noch ein Mörder frei rum, den jemand beauftragt hat. Und dieser Jemand hat vor ein paar Tagen versucht, mich im Watt sterben zu lassen. Hat was Persönliches, Frau Meier. Ich mag das nicht so, wenn mich einer umbringen will.«

Sie lachte ihr tiefes Glöckchenlachen. »Schon wieder ganz der Alte, was? Aber da dürfen wir nicht ran, das liegt beim BKA, die ermitteln und werden Sie schon informieren, wenn sie die Täter haben, Jansen. Lassen Sie die Finger davon. Das nächste Mal werden Sie vielleicht nicht mehr überleben. Ich würde das ernstnehmen.«

Das liegt beim BKA. Diese Aussage ließ mich einen Moment nachdenken. Ich hatte Freunde dort. Die wollten mich in ihren Diensten sehen. Sollte ich? Aber noch war ich hier in Ostfriesland. Und da war noch was.

»Soweit ich weiß, gab’s hier oben bei uns einen Mord. In Eversmeer. Ein Mann ist auf offener Straße erschossen worden. So viel zu kaum was los, Frau Meier.«

Sie überschlug ihre Arme vor der Brust. Eine Geste, bei der man sich dem Gegenüber verschließt. Sie mochte den Gedanken nicht.

»Wollen Sie mir erklären, wie ich meinen Job zu tun habe, Jansen? Das ist immer noch mein Gebiet. Es sei denn, Sie weisen mir nach, dass der Mord organisierte Kriminalität war. Sieht nicht so aus, wenn Sie mich fragen. Oder wenn es ein Verbrechen gegen die Umwelt war. Dafür reicht ein bisschen Blut auf dem Gehweg wohl nicht aus. Mit anderen Worten: nicht Ihr Fall, Jansen. Ruhen Sie sich ein paar Tage aus. Oder fliegen Sie zu Ihrer Familie, wo immer die steckt. Urlaub. Schon mal gehört?«

Ich sah sie entgeistert an. Auf den Gedanken war ich noch gar nicht gekommen, weil das Rachevirus noch in meinen Adern kreiste.

»Vielleicht keine schlechte Idee«, gab ich zu. »Okay, dann sehen wir uns in ein paar Tagen wieder. Viel Erfolg bei der Aufklärung.«

Ich ging zurück zu meinem Büro. Lukas Jansen und einen Fall freiwillig sausen lassen, wo gab es das denn?

Auf meinem Schreibtisch stand eine grünlich aussehende Torte. Mit drei Tellern und Besteck. Daneben stand eine blauweiße Kanne, deren Tülle der Duft von Ostfriesentee entströmte. Tassen aus dem gleichen Porzellan, in denen jeweils ein großer Kluntje lag. Ein Kännchen Sahne.

Zweites Frühstück.

Svantje und Hinnerk hatten mich gehört und kamen in mein Zimmer, wo vor meinem Schreibtisch ein runder Besprechungstisch stand. Und der diente meist für unsere Rituale. Ostfriesentee und Ostfriesentorte. Es gab keine Fälle, die damit nicht gelöst werden konnten.

Hinnerk hing seine kalte Pfeife im Mund. »Moin«, quetschte er dazwischen hervor, bevor er sie rausnahm und sich setzte.

Svantje verzichtete auf die Begrüßung und kam zur Sache. »Minze, Lukas, nicht, was du denkst«, sagte sie und zeigte auf die Torte.

Sie verteilte die Tortenstücke, ich goss Tee ein, Hinnerk stopfte seine Pfeife. Anschließend ging das Sahnekännchen rum.

»Früher war das alles ganz anders«, erinnerte sich Hinnerk. »Da ging immer die Pfeife rum, die Minze war im Tee, die Torten waren draußen, dafür aber erste Sahne.«

Svantje schüttelte nur den Kopf. »Chauvi«, sagte sie. »Ich wusste doch schon immer, dass da früher was nicht in Ordnung war.«

Nach der ersten Tasse und dem ersten Stück und viel Lob an unseren Leuchtturm Svantje konnten wir zur Sache kommen.

Hinnerk klopfte sich mit dem Pfeifenkopf in die Handfläche der Rechten, nachdem ich meinen Bericht beendet hatte. »Also. Da wird also gewaltig was vertuscht, und du warst so nahe dran, dass sie dich auf die kalte Tour beseitigen wollten. Heiß.«

Eher saukalt, dachte ich, aber Svantje kam mir mit einer Antwort zuvor. »Die wollen das auf Eis legen«, analysierte sie. »Genau wie dich. Die Amis und die Russen haben sich geeinigt, oder jemand hat sie zu einem Waffenstillstand gebracht. Könnte eine Versicherungsgruppe gewesen sein, wie du glaubst. Der Wirtschaft wird das zu teuer mit den Kollateralschäden, die brauchen das Gas aus Nordstream 2 und auch das LPG dringend und ohne Störungen. Könnte auch jemand über uns gewesen sein. BND, BKA. Fall ist bereinigt, das Gas fließt, das Leben geht weiter, die Toten bleiben tot, Klappe zu, Affe tot. Du hast da nur gestört, Lukas.«

»Okay, kann alles so sein. Mich umbringen zu lassen, passt mir trotzdem irgendwie nicht in den Kram.«

Diesmal antwortete Hinnerk, der sich gerade vorsichtig ein zweites Stück Torte auflud. »Sieh das mal so, Lukas. Du hast es überlebt. Wenn du die Füße stillhältst, passiert dir auch nichts mehr, denke ich. Lass es ruhen. Vielleicht kannst du später über deine Freunde beim BKA rausfinden, was los war. In einer stillen Stunde, nicht offiziell, beim Bier. Und ruh dich erstmal aus, Mann. Flieg runter zu deinen Süßen und häng ein paar Tage ab.«

»Ich backe dir auch welche von meinen Spezialkeksen zum Mitnehmen«, schlug Svantje vor.

Das war ein Angebot, das ich nicht ausschlagen konnte. Außerdem hatte ich Sehnsucht nach meiner kleinen Familie; es schien Monate her zu sein, dass wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Dazwischen war so viel passiert, ich war fast gestorben, Lisa und die Zwillinge waren ebenfalls in großer Gefahr gewesen.

Und wenn ich nicht weiterwusste, war es doch immer Lisa gewesen, meine anschmiegsame Frau mit den klugen graublauen Augen, die mir weitergeholfen hatte.

»Gut, das werde ich machen«, gab ich bekannt. »Aber da ist noch was. Geht uns zwar nichts an, aber ich habe das Gefühl, das könnte ein Umweltthema sein. Ich denke an den Mordfall Jan Mertens, bei Eversmeer. Onno meinte, das wäre doch mein Fall. Wo doch ein paar Tage vorher gerade wieder eine Eiche umgesägt worden ist, auf der ein Seeadler nisten wollte.«

Svantje schloss die Augen. Nicht schon wieder so eine Sache, die uns nichts angeht, las ich aus ihrer Mimik. Hinnerk hatte die Lippen zusammengekniffen und schüttelte sachte das weise weiße Haupt.

»Ich will ja nur, dass ihr in meiner Abwesenheit mal ein wenig aushelft«, schob ich nach. »Sonst haben wir ja nichts zu tun. Sammelt doch einfach mal ein paar Informationen. Svantje, du kannst doch gut mit Sinja, oder?«

Ich sah Hinnerk an. »Oder sprecht doch mal mit Werner Reemtsma von der Spurensicherung. Ich meine ja nur, falls sich da doch ein Fall für uns ergibt, wissen wir schon mal Bescheid.«

»Ja, ja«, murmelte Svantje. Was hier bei uns so viel wie »Klei mi an Mors« hieß. Leck mich am Arsch, auf Hochdeutsch.

»Na, na!«, ermahnte ich sie. »Gib dir ruhig mal ein wenig Mühe.«

»Aushelfen finde ich in Ordnung«, fand Hinnerk. »Du leihst uns dann praktisch an Erika Meier aus. Finde ich in Ordnung.«

Ich wusste, dass er die Erste Hauptkommissarin einfach gernhatte, was nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie war verheiratet, aber das schien ihn nicht zu stören.

»Gut. Wenn das geklärt ist, brauche ich ein Ticket auf die Kapverden, Holzklasse, ist ja privat. Kannst du mir was Günstiges raussuchen, Svantje?«

Sie setzte sich an ihren Computer, während Hinnerk und ich uns über die vergebens geleistete Arbeit in unserem Fall unterhielten. Wir brauchten nicht lange, bevor Hinnerk sich bereiterklärte, mal in Bremen unauffällig bei dem Mordverdächtigen von unserem letzten Fall vorbeizuschauen, um mehr über ihn herauszufinden.

Und ich nahm mir vor, Werner Heim und Klaus Brunner anzurufen. Sie hatten mir angeboten, zum BKA zu kommen, weil sie meine Hartnäckigkeit schätzten. Vielleicht konnte ich sie ja dazu bewegen, mir etwas mehr über den letzten Fall mitzuteilen. Ob ich ihr Angebot annehmen würde, musste ich mir noch reiflich überlegen.

Svantje hatte etwas gefunden.

»Du kannst über London und Lissabon nach Praia fliegen, Lukas«, berichtete sie. »Unter sechshundert Flocken. Allerdings hast du ein paar Stunden Aufenthalt in London. Wolltest du da nicht sowieso …?«

Wollte ich? Was meinte sie? Dann fiel es mir wieder ein. Viele der bedeutenden Banken, Versicherungen und Rückversicherungen Europas hatten dort Standorte, wegen des weitaus lockeren Regelwerks. Von dort aus steuerten sie die Geldflüsse und regelten, was zu regeln war. Zum Beispiel, dass das Erdgas aus Russland weiter floss und auch die Amis besänftigt wurden, ohne sich bei uns in Ostfriesland einen Privatkrieg leisten zu müssen.

Sie regulierten das auf ihre eigene stille Weise. Sie hatten die Killer beider Seiten aus dem Verkehr gezogen. Aber auch ein Mord an einem Mörder bleibt eine Straftat, und bei so etwas bin ich kein bisschen nachgiebig. Ist ja nicht so schlimm oder so, es hat ja die Richtigen getroffen, ist doch gut so. Nicht mit mir, Leute.

Klar, das waren alles nur Vermutungen, dass das große Geld hinter dieser Aufräumaktion steckte. Da würde ich nie rankommen, das war mir klar. Trotzdem, es war jemand beauftragt und wahrscheinlich bezahlt worden, um die Attentäter beider Seiten aus dem Verkehr zu ziehen. Den konnten wir kriegen und vernehmen. Wir würden schon sehen, was und wer dahintersteckte.

Etwas in meinem Inneren warnte mich. Lukas, das ist etliche Nummern zu groß für dich, sagte sie. Du greifst da die wichtigsten funktionierenden Rädchen des gesamten Wirtschaftssystems an, die doch nur für Ordnung gesorgt haben. Übernimm dich nicht. Alle warnen dich. Schiebe eine ruhige Kugel, trink Tee und kümmre dich um deine Familie, Lukas.

Ich schluckte. Bei alledem blieb das doch ein Skandal. Wir waren doch keine Bananenrepublik.

Wollte ich etwas in London? Eher nicht, sagte mir mein Gewissen. Und in ein paar Stunden konnte ich sowieso nichts ausrichten. Außer mir die Stadt und die alten Pubs anzusehen, von denen ich schon viel gehört hatte.

»Okay, kauf das Ticket, Svantje«, bestätigte ich trotzdem. »Dann sehe ich mir die Stadt an. Wenn die mich noch reinlassen. Ist ja nicht mehr EU.«

»Du musst sowieso umsteigen, von Stansted nach Heathrow, das dauert. Passt schon«, fand sie. »Und du müsstest in drei Stunden in Bremen am Airport sein, ist ein Last-Minute-Flug.«

»Wow«, staunte ich. »Gut, dann fahre ich jetzt nach Haus und packe ein paar Sachen ein. Mann, ich kann es gar nicht fassen, dass ich meine Familie noch mal wiedersehen darf, und so schnell. Danke, Svantje.«

»Ich schicke dir das Ticket auf dein Handy«, teilte sie mir mit. »Musst du nur vorzeigen. Nimm für London besser deinen Pass mit, man weiß nie, nach dem Brexit. Die Kapverden gehören zur EU, da reicht dein Personalausweis. Guten Flug und viel Spaß. Ich freu mich schon auf deine Kleinen.«

Hinnerk war mit seiner fertig gestopften Pfeife ans Fenster getreten. »Ich werde bei eurer Rückkehr deinen Hund bei deinen Eltern abholen, wenn dir das recht ist, Lukas«, schlug er vor. »Dann holen wir euch mit einem Bus vom Flughafen ab und bringen euch nach Haus. Lass dein Auto zu Haus stehen, ich hole dich dort ab und bringe dich nach Bremen, sonst ist dein Stromer leer, wenn du zurück bist. Während du packst, bin ich hiermit fertig.«

Er winkte mit seiner Pfeife. Er wollte mich langsam dazu erziehen, dass er in diesen Räumen rauchen durfte, dachte ich.

»Super, Hinnerk, machen wir so«, antwortete ich ihm. »Aber geraucht wird draußen.«

Ich hatte irgendetwas vergessen. Etwas Wichtiges.

»Ach ja, Svantje. Dann wird das mit deinen Keksen wohl nichts mehr.«

Sie grinste. »Kriegst du, wenn du wieder hier bist. Musst ja einen Grund haben, wieder herzukommen, wenn deine Familie wieder zu Haus ist, oder?«

Wir trafen uns bei mir zu Haus, wo ich mein Auto stehenließ, Hinnerk brachte mich zum Flughafen. Anderthalb Stunden später saß ich bereits im Flieger nach Stansted. Nicht London. Die City war von Stansted gefühlt so weit entfernt wie Burmönken von Hamburg. Es gab einen Bus, und der zockelte gemütlich durch die Dörfer. Mit dem Pub-Besuch, auf den ich mich gefreut hatte, würde es nicht viel werden.

Ich verbrachte die restliche Wartezeit in Heathrow, weil ich am falschen Terminal angekommen war und das richtige nicht gleich fand. Ein wenig Zeit hatte ich noch; ich rief Werner Heim an.

»Ach nee«, sagte er, als er den Anruf angenommen hatte. »Lukas Jansen. Ich hatte gehört, Sie wären erfroren.«

»Sehen Sie, Heim«, antwortete ich. »Das ist genau der Punkt, weshalb ich anrufe. Sie wissen das alles bestimmt schon lange. Die Typen, die alles unter den Teppich kehren wollen, haben mich zum Sterben im Watt ausgesetzt. Ich hab’s trotzdem überlebt. Sie können mir glauben, dass mir das nicht egal ist, auch wenn ich mich offiziell nicht mehr um die Flammenkiller in Ost und West kümmern darf.«

Heim lachte. »So kenne ich Sie. Aber vertun Sie sich nicht. Wenn jemand in der Lage ist, die ökonomischen Interessen von Putin und Trump unter einen Hut zu kriegen, wird dem nicht gut Kirschen essen sein, wenn Sie dem an den Karren fahren. Ich hatte Ihnen schon länger dazu geraten, die Finger davon zu lassen, Jansen.«

Er war wieder ernster geworden und meinte es wohl auch so.

»Sie hatten auch mal angedeutet, das BKA könnte jemanden wie mich gebrauchen. Jung, unverbraucht, spontan, einfallsreich, nicht totzukriegen, ein Stehaufmännchen, das bisher noch jeden gekriegt hat.«

Er lachte kurz und trocken. »Sie meinen aber nicht sich selbst, oder?«

»Dann könnte ich mehr unternehmen, um zumindest die direkten Täter zur Strecke zu bringen, Heim. Nicht die Hintermänner, das könnte nicht mal die Kanzlerin, aber wer bei uns in Ostfriesland Leute umlegt, kommt mir nicht ungeschoren davon. Selbst wenn er in London sitzt, bei einer Firma, die über Billionen gebietet. Niemand steht über dem Gesetz.«

»Da haben Sie natürlich recht«, pflichtete er mir bei. »Ich denke nur an Ihre Gesundheit. Und an Ihre Familie. Um die sollten Sie sich jetzt kümmern, Jansen, wo alles vorbei ist.«

Den letzten Halbsatz überhörte ich mal geflissentlich.

»Ich bin auf dem Weg dorthin. Ich habe Zeit. Und ich wollte wissen, ob Ihr Angebot noch steht. Ihr Kollege Brunner hatte übrigens eine ähnliche Meinung. Dass ich zum BKA wechseln und dickere Fische als nur Wattwürmer angeln sollte. Und da wir seit dem letzten Zwischenfall nicht mehr miteinander gesprochen hatten, dachte ich, melde dich mal, Lukas. Frag den Heim, ob du auch in Ostfriesland bleiben kannst, wenn du für das BKA arbeitest.«

Heim zögerte einen Moment. »Falls Sie sich wirklich bei uns bewerben wollen, kann ich Ihnen gern eine gute Referenz schreiben. Ich kann Ihnen auch sagen, an wen Sie sich am besten wenden, Jansen. Entscheiden kann ich darüber nicht. Meine Unterstützung hätten Sie, aber wo Sie dann was machen dürfen, das entzieht sich meiner Kompetenz.«

Heim war schon bei mehreren Fällen so etwas wie eine väterliche Eminenz und mein Fürsprecher oben im Apparat gewesen. Dass er diesmal so ausweichend antwortete, gab mir zu denken. Befürchtete er, dass ich tatsächlich nur am letzten Fall weiterarbeiten wollte?

»Okay, dann schreiben Sie mir das mal«, schlug ich vor. »Ich denke dann drüber nach. Kann ich Ihnen eine schöne Flasche Whisky mitbringen? Oder sonst etwas aus England?«

»Mehr als eine Flasche kriegen Sie nach dem Brexit nicht mehr durch den Zoll, Jansen«, erinnerte er mich. »Lassen Sie mal. Ich trinke auch kaum noch was, trotzdem vielen Dank.« Ich hörte ihn nachdenklich atmen. Da kam noch was.

»Ich denke, Sie haben jetzt nach der zum Glück überstandenen Affäre mit den Gaslieferanten genug mit ihren Turbinenkillern zu tun, oben in Ostfriesland. Fällt doch in den Bereich organisiertes Verbrechen, denke ich«, fuhr er fort.

»Turbinenkiller? Bitte nichts mit meinem Flugzeug, oder? Darf ich jetzt überhaupt in einen Flieger steigen? Was ist da los? Ich weiß von nichts. Heim?«

Er lachte. »Machen Sie sich keine Sorgen, Jansen. Um Flugzeugturbinen geht es nicht, sondern um Windturbinen. Ich dachte, Sie wüssten das. Da sind doch jetzt zwei Leute umgebracht worden, in Ostfriesland und Umgebung. War doch gestern im Fernsehen.«

»Ich bin in England unterwegs. Auf dem Weg zu meiner Familie, sagte ich doch schon. Kein Fernsehen, meistens kein Netz hier oben. Nix von gehört. Erzählen Sie doch mal.«

»Ich hab’s nur aus dem Fernsehen, Jansen. Der erste Mann, ein ehemaliger Soldat, war schon vor einigen Tagen aus der Distanz erschossen worden. Gestern ist eine weitere Person aufgefunden worden, hinter so einem Blechfritzen bei diesem alten Baum bei Aurich. Die Polizei dort schwankt angeblich noch zwischen einem Serienkiller oder organisiertem Verbrechen. Mehr kam dazu nicht.«

Ich fragte mich, was er wohl meinte. Ein spezieller Baum bei Aurich? Das konnte nur der Upstalsboom sein, an dem sich früher die ostfriesischen Häuptlinge zum Ratschlag getroffen hatten. Den Baum gab es längst nicht mehr, auch wenn ein neuer gepflanzt worden war, dafür aber ein Denkmal, einen Wanderweg und eine eiserne Figur eines bewaffneten Häuptlings im stammesüblichen Rock. Den Blechfritzen, wie Heim gesagt hatte. Das mit dem Rock für Männer haben also nicht die Schotten erfunden, falls das jemand wissen will. Sondern die ostfriesischen Häuptlinge.

»Vielleicht ein Ritualmord, an so einer Stelle«, mutmaßte ich. »Mehr wissen Sie wirklich nicht?«

Ich hörte ihn den Kopf schütteln. »Nee. Da müssen Sie schon selbst nachfragen, Jansen.« Er machte eine kurze Kunstpause. »Nochmal danke für das Angebot mit dem Whisky. Guten Flug.«

Wir verabschiedeten uns zu einem Drink beim nächsten Treffen.

Ich konnte jetzt noch Brunner anrufen, dem ich bei meinem vorletzten Fall, dem Urlaubskiller, sehr geholfen hatte. Auch das konnte warten, bis ich die Unterlagen von Heim gesehen hatte.

Lisa war mir ein paar Stunden voraus, mitten im Atlantik. Sie war bestimmt mit den Kurzen am Strand, da hatte auch noch Zeit. Ich probierte es trotzdem, hatte aber kein Glück.

Ich sah auf meine Uhr. Ein paar Minuten hatte ich noch, ich sah online bei der Ostfriesen-Zeitung nach. Tatsächlich. Es hatte einen weiteren Mord gegeben, und ein Bekennerschreiben, von dem mir Heim nichts gesagt hatte. Leider stand auch in der Zeitung nichts weiter dazu.

Ich sah auf den Fluganzeiger. Ich musste zu meinem Gate.

Kapitel 3

Ich ließ mir im Flieger Wein und Wasser zum Essen geben und sah mir einen Film über Eisbären an. Denen wurde es im schwindenden Eis zu warm, während mich die Schollen in der Nordsee vor dem Kältetod gerettet hatten. So kann’s kommen, dachte ich. Insgesamt war das schmelzende Polareis eine Bedrohung, mich hatte das Eis überleben lassen.

Nach dem dritten Glas Wein, mitten im Film, überwältigte mich die Müdigkeit. Ich war immer noch erschöpft, und die Reiserei tat ihr Übriges. Ich machte mich fertig und wurde erst kurz vor der Landung über der Westküste Afrikas wieder geweckt.

Das Frühstück hatte ich verschlafen. Aus dem Fenster blickte ich auf schwarze Inseln und mitten hinein in einen Vulkankegel, aus dem sich grauer Rauch kräuselte. Hoffentlich gab das hier keinen Tanz auf dem Vulkan, fuhr mir durch den Sinn.

Beim Aussteigen war es angenehm sommerlich warm, ich konnte meinen Pullover ausziehen und die Jacke über den Arm hängen. Von Praia aus musste ich nochmal umsteigen, mit einem Inselhopper ging es zwei Stunden weiter auf die Insel Sal, wo Lisa und die Kurzen sein mussten, wenn ich alles richtig verstanden hatte. Wieder überflogen wir einen Vulkankrater, diesmal einen, in dem etwas abgebaut wurde.

Immerhin würde ich hier nicht erfrieren, mit so vielen Vulkanen, dachte ich. Aber statt Arsch auf Grundeis konnte ich mir hier die Finger verbrennen.

Ich war immer noch in der EU, auch wenn ich mich weit vor Afrika im Atlantik befand. Keine Passkontrollen, es war wie auf einem Flug von Bremen nach Leipzig, nur dass ich die hiesige Sprache nicht verstand. Was ich in Leipzig allerdings auch nicht tat.

Im Flugzeug von Lissabon nach Praia war noch Englisch gesprochen worden, hier sprach man anscheinend nur noch Portugiesisch, von dem mir kein Wort etwas sagte.

Ich winkte einem Taxi, als ich auf Sal ausgestiegen war und mein Köfferchen abgeholt hatte. Den Ortsnamen Santa Maria hatte der Fahrer verstanden.

Die Insel sah kahl aus, bis auf einen riesigen Ferienkomplex am Strand, den wir durchfuhren. Zwanzig Minuten später ließ der Fahrer mich im Zentrum von Santa Maria raus. Ich bezahlte, in Euro, die Fahrt war billig.

Was nun? Ich hatte keine Ahnung, wo Lisa mit den beiden Zwillingen abgestiegen war. Ihr Zweithandy mit der Wegwerfnummer hatte ich schon vom Flughafen aus angerufen, aber ohne Erfolg.

Sie hatte sich hier ohne Zweifel auf dieser kleinen Insel im Meer gut versteckt.

Die Stadt hier war nicht gerade klein, mit den ganzen Touristen vor Ort waren hier sicher dreißigtausend Leute unterwegs.

Ich stand immer noch da, wo der Fahrer mich abgeladen hatte, in der Nähe einer Kirche.

Gegenüber sah ich, wie sich ein Deutscher mühsam auf Englisch mit einem Vermieter von E-Bikes um ein Fahrzeug bemühte. Ich ging hinüber. Der Vermieter hatte auch ein größeres Fahrrad mit einem Gepäckanhänger, der für meinen Koffer groß genug war. Meinen Rucksack konnte ich mir umschnallen. Ich markierte die Adresse des Fahrradvermieters auf dem Navi meines Handys, mietete mir ein Rad und fuhr los.

Bei diesem schönen Wetter würden sich die drei bestimmt nicht in einem Zimmer verbergen. Ich hatte schon bei der Herfahrt von den Bergen aus gesehen, dass es hier fantastische Strände gab, vor denen sich Surfer, Windsurfer, Segler und andere Wassersportler tummelten.

Im Flieger hatten sie auch die Wassertemperatur durchgegeben, sie lag bei vierundzwanzig Grad. Ein Video hatte die Unterwasserwelt gezeigt, tropische Fische, Schildkröten, Korallenriffe.

Ich radelte runter zum Strand und gondelte langsam an der Promenade entlang. Mir fiel auf, dass ich der einzige blasse Mensch hier war. Unter den Touristen, meine ich. Alle anderen waren gut durchgebräunt, die Einheimischen hatten sowieso alle möglichen dunklen Schattierungen. Viele waren komplett schwarz, witzigerweise hatten manche trotzdem eine blonde Krause auf dem Schädel.

Ich hatte ganz im Westen der Insel angefangen, wo sich die Kitesurfer tummelten. Nach und nach klapperte ich die gesamte Südseite ab. Von einer hübschen Frau mit zwei kleinen Zwillingen keine Spur.

Einige Hotels musste ich umfahren. Die hatten ihren eigenen Strand und Pools, die ich nicht einsehen konnte. Aber in einem Fünfsternehotel würde meine Familie wohl auch nicht stecken.

Schließlich war ich am Ostende der Südseite angelangt, die Stadt war hier zu Ende.

Ich war inzwischen von der Anstrengung und der Wärme durchgeschwitzt und brauchte etwas zu trinken. Ganz am Ostende des Strandes lag ein kleines Hotel namens Budha Beach, dessen Poolbar mich schon von weitem als letzte Oase vor der sich anschließenden kahlen Inselwüste angelacht hatte.

Ich stellte meinen Drahtesel ab und marschierte zur Bar durch; es war zwar noch früh am Tag, aber ich war nicht im Dienst und musste auch nicht fahren. Ein Bierchen würde ich mir hier sicher noch leisten können.

Kaum hatte ich mich auf einen Hocker gesetzt, als mir jemand von hinten auf die Schulter tippte.

»Ich wusste, dass du den Strand auf diese Weise absuchen würdest und bei der letzten Wasserstelle Durst bekommen würdest«, hörte ich Lisas Stimme hinter mir. »Wird auch langsam Zeit, Lukas.«

Wir fielen uns in die Arme und ließen gar nicht wieder los. Nach einer Weile löste sich Lisa von mir und rang nach einem langen Kuss um Atem. »Die Kleinen sind im Planschbecken. Geh mal hin. Die freuen sich weg, Lukas.«

Sie sagte noch einige persönliche Dinge, die nur uns etwas angingen, und das sollte den Abend und die Nacht über so anhalten.

Die Kurzen kriegten sich tatsächlich gar nicht wieder ein und wollten mir zeigen, wie gut sie schon »schwimmen«, also spritzen und plantschen konnten.

Lisa kam zu uns, Ella und Onno mussten raus, damit sie sich trotz Sonnenschutzfaktor in der tropischen Sonne der Kapverden keinen Sonnenbrand holten.

Die drei zogen sich an, wir gingen hinüber zu der kleinen Suite, die Lisa sich für ein paar Tage gegönnt hatte. Die Rechnung würde das LKA bekommen, und sie fand, nach dem Stress, vor allem für die Kurzen, hatten wir eine ordentliche Unterbringung verdient.

»Und wo ist Jackie?«, fragte Onno. »Jackie will auch schwimmen!«

Ich brachte mein Rad zurück, zum Mittagessen waren die drei fertig angezogen. Wir gingen ein paar Schritte hinüber zu einer Surferkneipe. Onno wollte sofort surfen lernen, und ich versprach ihm, dass wir das am Nachmittag versuchen würden. Ich selbst konnte das ganz gut, aber der Kleine würde nur in Strandnähe auf dem Brett sitzen und vielleicht sogar wacklig stehen und sich so fühlen als ob.

Die Zwillinge bekamen Spaghetti, Lisa bestellte sich eine vegetarische Lasagne, ich entschied mich für eine Dorade, einen Schwertfisch.

Wir waren wieder eine Familie. Noch nie hatte es mir so gut geschmeckt, fand ich.

»Du brauchst noch eine Badehose, oder hast du eine mit?«, fragte Lisa.

»Ich dachte, wir nehmen den nächsten Flieger nach Hause?«, wunderte ich mich. »Obwohl, Lust hätte ich schon.«

»Wie, nach Hause?«, staunte Lisa. »Ich habe hier noch für zehn Tage gebucht. Erstens habe ich den Urlaub dringendst nötig, Lukas, zweitens gefällt es den beiden super, so warmes Wasser kannten sie noch gar nicht, drittens ist es hier schön und viertens will ich gar nicht wieder weg.«

Das war die so ziemlich unlogischste Rede, die ich jemals von Lisa gehört hatte. Es stimmte natürlich. Sie hatte wochenlang in der Rechtsmedizin durchgearbeitet, vorher hatte sie auch noch die Spurensicherung am Hals gehabt. Sie war von einer sicheren Unterkunft in die nächste umgezogen, hatte Angst um sich, die Kinder und mich gehabt, und hatte die ganze Zeit um die Kleinen kümmern müssen. Zu Hause war es kalt, wie ich wusste, und es war ja wirklich schön hier. Ich kannte Wasser nur noch eisig, so eine tropische Badewanne hatte schon was.

Fast war ich versucht zu sagen, ach Mensch, scheiß drauf, ich bleibe auch hier, was geht mich der ganze Mist da oben an, Familie geht vor.

Ich beließ es erstmal dabei und spielte den ganzen Nachmittag mit den Kurzen am Strand. Abends gönnten wir uns ein gutes Essen in einer anderen Strandbar, es wurde hier um sechs dunkel, und Ella und Onno fielen zwei Stunden nach dem Essen erschöpft in ihre Betten.

Lisa und ich hatten einiges nachzuholen. Spät nachts, als die Kleinen fest schliefen, machten wir noch einen Spaziergang am Strand, im Licht des fast vollen Mondes, der sich in der milden Brandung spiegelte.

Ich erzählte ihr von meinem Abenteuer in der eisigen Nordsee. Hier an einem tropischen Stand klang das unglaublich, dass ich nur mithilfe von Eisschollen überlebt hatte, wie ein Eisbär. Hier kreuzten dagegen Haie langsam durch die matten Wogen.

Lisa blieb trotzdem stehen und schlug die Hände vor den Mund. »Mein Gott, Lukas, du darfst das nicht, dich auf Leute einzulassen, die zu so etwas fähig sind, und das ohne jeden Auftrag dazu. Du hättest tot sein können!«

Niemandem war das klarer als mir selbst. Trotzdem verteidigte ich mich, obwohl ich mich viel lieber mit ihr auf dem Strand ausgestreckt und das alles vergessen hätte.

Eigentlich wollte ich mich gar nicht weiter erklären, so stark war der Wunsch, alles zu vergessen und mich mit ihr in die Wellen zu stürzen oder andere schöne Dinge anzustellen. Aber der Fall hatte seine Haken in mein Fleisch geschlagen.

»Mensch, Lisa, die wollten mich umbringen! Das kann ich mir doch nicht einfach so gefallen lassen. Das lässt mich nicht in Ruhe, weißt du?«

Sie nickte. »Klar. Erstatte Anzeige, übergib das der Justiz. Ist nicht dein Job, Lukas, auch wenn du immer alles an dich reißt.«

Ich hatte nicht übel Lust, sie jetzt an mich zu reißen, beherrschte mich aber. »Das führt doch zu nichts. Weißt du genauso gut wie ich. Die sind froh, dass Ruhe im Karton ist. Die sagen, freuen Sie sich, dass Sie das überlebt haben, Jansen, und fertig.«

»Und recht haben sie«, Lisas Fuß spielte mit den Wellen, in denen sich unzählige kleine Monde brachen. »Ich habe keine Lust, jetzt über so was zu reden. Es ist so schön hier.«

Sie sah mich an. »Lass uns das genießen, wir sind früh genug wieder zurück. Und außerdem hast du doch jetzt einen richtigen Fall, der dich was angeht und nicht so lebensgefährlich ist. Lass uns das Leben genießen, hier und jetzt.«

Sie zog mich ins Wasser. Hier war es auch nachts warm, um die zwanzig Grad, wir hatten erst wenig und dann gar nichts mehr an und schwammen hinaus ins silberne Meer.

Am nächsten Morgen waren wir reichlich erschöpft, als die beiden Kurzen uns um halb sieben weckten. Es war gerade hell geworden, sie wollten spielen gehen. Wir sahen uns an; wie schön wäre es gewesen, wenn wir sie allein am Planschbecken spielen lassen könnten, aber das war zu gefährlich, sie konnten ja auch in den Pool fallen.

Auch wenn wir gern im Bett geblieben wären, wir mussten mit raus.

Am Pool legten wir uns auf zwei Liegen. Es gab noch einige Dinge, die ich Lisa nicht berichtet hatte. Zum Beispiel das Angebot von Heim, zum BKA zu kommen.

Lisa war auf Heim nicht gut zu sprechen, seitdem er mich bei der Fahndung nach seinem Serienkiller mit nach Italien geschleift hatte, während sie gerade einen Leichnam aufgeschnitten hatte und dazu noch hochschwanger gewesen war.

»Dann müssten wir weg aus Ostfriesland, das BKA sitzt doch in Karlsruhe, oder?«, fragte sie, als ich ihr alles berichtet hatte.

»Soll eine schöne Stadt sein, fächerförmig um ein Schloss angelegt«, wusste sie. »Kann man drüber nachdenken. So toll finde ich Burmönken nun auch wieder nicht, Lukas.«

Lisa kam aus Hamburg und war das Stadtleben gewöhnt. Ihr erster Job bei der Spurensuche war in Kiel gewesen, das auch wesentlich größer als die paar Häuser in unserem Dorf nahe Wittmund war.

Bei mir regte sich Widerstand, als sie das sagte. Ich war zwar auch ein paar Jahre in Schleswig-Holstein gewesen, aber als Ostfriese hat man von Geburt an schwere Stiefel an den Füßen, die umso schwerer werden, je weiter man sich von der Heimat entfernt.

»Muss gar nicht«, fand ich. »Warum soll ich nicht von Wittmund aus arbeiten können? Geht doch jetzt beim LKA auch ganz gut.«

»Das ging in deinem speziellen Fall doch nur, weil dir die Hamburger Polizei dankbar war und dafür gesorgt hat, dass diese Stelle extra für dich eingerichtet wurde«, erinnerte sie mich. »Also, ich fänd’s gut, wenn wir da hingehen, Lukas. Außer du begibst dich in zu große Gefahr. Das möchte ich nicht. Das musst du mir versprechen.«

Ich nickte, sagte aber nichts. Die Kleinen kamen zu uns gestürzt und hatten Hunger.

»Mal sehen«, sagte ich. »Denke ich drüber nach. Lass uns erst mal frühstücken.«

Später, als wir mit den Kurzen am Strand entlanggingen und Muscheln suchten, die hier ganz anders aussahen als an der Nordsee, kam ich auf das Thema zurück.

»Weißt du, ich möchte mich als Erstes um diese Turbinenkiller kümmern, Lisa. Das ist normale, ernsthafte Polizeiarbeit, da gewinne ich mehr Distanz zu den Ereignissen und komme wieder etwas runter. Anschließend können wir dann immer noch weitersehen.«

»Prima«, fand sie. »Dann lass uns noch ein paar Tage hierbleiben. Du kannst dich ja schon mal um Flüge kümmern. Ich finde, wir haben das hier verdient. Die Gefahr für uns scheint ja vorbei zu sein. Und selbst wenn ich hier erschossen werden sollte, möchte ich mir vorher noch die Sonne auf den Pelz brennen lassen. Damit das mal klar ist. Und wenn du die Füße stillhältst, wird wohl auch nichts mehr kommen, denke ich. Sonst wäre schon was passiert.«

Dieser Logik konnte ich mich kaum verschließen. Ich blieb noch drei Tage, dann flog ich allein zurück, wieder über London, aber ohne langen Aufenthalt. Für die drei gab es in einer Woche einen Direktflug von Sal nach Hannover, dort konnte ich sie abholen.

Der Abschied fiel mir diesmal leichter, wir würden uns ja sehr bald wiedersehen.

Es gab noch ein Familienmitglied, das ich lange nicht gesehen hatte. Jackie, unseren Jack-Russell-Terrier, den wir bei unserem ersten Fall von einem Mordopfer geerbt hatten.

Onno war wie versprochen in Bremen am Flughafen. Er war direkt nach Dienstschluss hierhergefahren und brachte mich zu meinen Eltern in Carolinensiel. Leider musste er gleich wieder weg; meine Eltern hatten uns zwar beide genötigt, über Nacht hierzubleiben, aber er hatte in Kiel zu tun.

Ich war ganz dankbar, hier zu sein. Zu Haus in Burmönken war es kalt, ich hasste diese Kälte inzwischen. Meine Mutter kochte gut, mein Vater musste in die Bäckerei und hatte wenig Zeit. Ich zeigte meine Fotos von den Kapverden und erzählte von den Kleinen, bevor ich ins Bett durfte, mit Jackie auf einem Fell vor meinem Bett. Er seufzte erst hochzufrieden, dann schnarchte er glückselig vor sich hin.

Meine Mutter brachte uns nach dem Frühstück nach Burmönken und fuhr einkaufen, während ich uns den Kamin einheizte und die Wohnung in einen gemütlichen Zustand versetzte. Was hieß, dass eine Kanne Tee auf dem Stövchen stand, als meine Mutter vom Einkaufen zurück war.

Kapitel 4

Eine halbe Stunde, nachdem meine Mutter wieder nach Haus gefahren war, saß ich bereits bei der Ersten Hauptkommissarin Erika Meier im Büro. Sie zeigte mir ein süßsaures Lächeln, als ob sie gerade vom Chinesen zurück wäre.

»Tja, Herr Jansen, wir könnten Hilfe ganz gut gebrauchen«, gestand sie. »Der Fall wächst uns etwas über den Kopf.«

»Ich habe gehört, dass es noch einen weiteren Toten gegeben hat«, bemerkte ich. »Und ein Bekennerschreiben soll auch aufgetaucht sein.«

Sie nickte. »Das ist auch der Grund, weshalb ich in Hannover angerufen und um Ihre Mitarbeit gebeten habe, Herr Jansen. Es hat sich eine uns unbekannte Gruppe namens AFDP gemeldet. Was heißt gemeldet, das war ein laminierter Zettel, den die an einen Baum in der Nähe des Upstalbooms getackert hatten. Die dachten wohl, das wäre der Originalbaum.«

Das fand ich verwirrend. »AFDP? Haben die sich jetzt zusammengetan, die AFD und die FDP?«

Meier lachte. »Nee, obwohl die ja wohl beide gegen Windkraft sind. Die nennen sich Aktionsfront Deutscher Patrioten, das sind die Anfangsbuchstaben. Moment, ich habe eine Kopie davon hier.«

Sie stand auf und nahm etwas aus einer Schublade. Eine Kopie, die sie vor mich hinlegte.

WINDKRAFTBETREIBER!

Dies ist die letzte Warnung!

Stellt sofort eure schädlichen Bemühungen ein!

Eure Turbinen zerstören Natur und Landschaft. Adler, Milane, Feldhamster und Zugvögel müssen elendiglich geschreddert zugrunde gehen! Der Infraschall macht uns krank! Der Lärm lässt uns nicht schlafen!

Schattenwurf führt zu seelischen Störungen!

Die Luftwirbel von den Turbinen verbreiten schädliche Viren schneller als alles andere!

Riesige Türme verschandeln unser schönes Ostfriesland! Offshore werden Wale und Delfine davon krank!

Haut endlich ab, wir wollen eure Turbinen nicht! Geht doch nach China oder Indien, euch geht es doch nur um den Profit! Deutschland hat Kohle für 1000 Jahre, Kohlendioxid kann mit moderner Technologie gebunkert oder zu Baumaterial gemacht werden, alles kein Problem! Moderne Kernenergie nimmt nur ein Tausendstel der Fläche eurer Landschafts- und Naturzerstörer ein und ist inzwischen sicher!

Als Nächstes sind die Bosse dran.

Für ein sauberes und naturschönes Ostfriesland!

Aktionsfront Deutscher Patrioten

A F D P

Ich stellte mir gerade bildlich vor, wie ein niedrig fliegender Feldhamster von einer Windkraftanlage geschreddert wurde. Aber das waren Feinheiten, um die wohl gerade nicht ging.

»Schöner Mist«, fand ich. »Man darf ja in Deutschland gegen alles sein, ist ein verbrieftes Recht, aber deshalb Leute umbringen und weitere Morde ankündigen? Das geht dann wohl doch zu weit. Was haben wir noch?«

Meier nahm einen Packen Aktenmappen von einem Stapel und legte sie vor mich hin. »Die Berichte der Spurensicherung und der Rechtsmedizin, die Personalien der beiden Ermordeten, Ergebnisse von Befragungen. Und sehr viele offene Fragen, Herr Jansen«, seufzte sie.

Ich sah sie fragend an.

»Na ja, Sie wissen doch, Enercon in Aurich ist einer der größten Arbeitgeber hier in Ostfriesland, die halbe Region lebt von der Windkraft. Da gibt es erheblichen Druck, dass das aufgeklärt wird. Das geht über Wittmund hinaus. Und unsere Landwirte hier oben rechnen mit den Erträgen aus den Flächen, die sie an Windkraft-Betreiber verpachtet haben. Diese Morde haben die ganze Region in Unruhe versetzt. Wir brauchen dringend Ergebnisse.«

Sie sah mir in die Augen. »Schön, dass Sie wieder da sind. Wir hatten alle schon gedacht, dass Sie Ihren letzten Fall nicht überstehen. Willkommen zurück!«

Ich grinste sie an. Noch vor ein paar Tagen hatte sie mich zurückgewiesen, als ich etwas über den ersten Ermordeten wissen wollte. Klar, die Meier und ihre Truppe waren gut, sie hatten bisher noch alle Fälle im Kreis lösen können, aber das hier war von größerer Tragweite. Da brauchte sie die Hilfe des LKA. Meine Hilfe. Ohne mich würde sie das nicht schaffen.

Sie druckste etwas herum. »Es ist nämlich so, ich fliege morgen in den Urlaub nach Borneo. Arbeiten Sie bitte mit meinem Stellvertreter zusammen, Sie können den Fall gemeinsam bearbeiten. Mit Böhme habe ich schon gesprochen.«

Ah, dachte ich. So war das also. Sie wollte zu den Orang-Utans, und ich sollte mich hier oben als Notnagel mit Affen ganz anderer Art rumschlagen. Na gut, ich würde da mitspielen. Ich konnte mir so noch ein paar Sporen verdienen, bevor ich vielleicht zum BKA wechseln würde. Special Agent Jansen. Lukas Jansen.

»Und wer leitet die Ermittlungen? Hat mein Vorgesetzter dazu auch was gesagt?« Ich fragte mich, ob ich hier nur den Lückenbüßer spielen sollte.

»Hauptkommissar Schuster. Sie sind zwar bei der übergeordneten Behörde, aber als einfacher Kommissar …«

Ich lehnte mich zurück. Schuster kannte ich von früheren Fällen. Er wirkte auf mich wie ein gutmütiger Bürohengst, nicht wie ein Mann der Tat. Praktisch würde ich also die Ermittlungen leiten, las ich daraus. Nur durfte sie mir das so direkt sicher nicht so sagen.

»Verstanden«, sagte ich mit einem wissenden Lächeln. »Gut, so machen wir das. Wenn Sie von den Orang-Utans zurückkommen, haben wir unsere Gorillas hier hinter Schloss und Riegel, Frau Meier.«

Sie lachte. »Da bin ich ja mal gespannt. Sie kennen sich ja aus. Viel Erfolg, Herr Jansen. Schnappen Sie sich die Kerle!«

Ich wünschte ihr einen guten Flug, griff mir die Mappen und ging damit hinüber zu meinem LKA-Team, also zu Hinnerk Tjaden, meinem pfeiferauchenden Profiler und Analysten, und Svantje Geerts, unsere jungen und einfallsreichen Kollegin, die oft ungewöhnliche Dinge fand, auf die wir nicht kamen.

Svantje fiel mir gleich um den Hals und drückte mich, Hinnerk ließ sich zu einer kurzen Umarmung mit männlichem Schulterklopfen hinreißen. Sie freuten sich immer noch, dass ich nach wie vor lebte und nach ein paar Tagen auf den Kapverden auch wieder halbwegs aufgetaut aussah.

Ich legte meine Akten auf den runden Tisch, der vor meinem Schreibtisch stand. »Wir haben zu tun, Leute, das ist jetzt unser Fall. Die Kripo unterstützt uns, solange Frau Meier auf Urlaub ist.«

»Schade eigentlich«, fand Hinnerk. »Hätte gern mit ihr zusammengearbeitet.«

»Kommt, wir teilen uns das auf und arbeiten das durch. Ich möchte das aufgeklärt haben, bevor sie aus Indonesien zurück ist, Leute.«

»Aber nicht ohne geistige Nahrung vorher«, schlug Svantje vor. »Ich hatte dir eine Stärkung versprochen, Lukas. Tee dazu, oder Kaffee, weil es noch früh ist?«

Sie hatte aus einem Plastiksturz eine Torte hervorgezaubert, auf deren weißer Oberfläche ein Marzipan-Männlein in einer roten Jacke über ebenfalls aus Marzipan hergestellte weiße Eisschollen stolperte, mit einer roten Blutspur aus Marmelade hinter sich, einem toten Rocker in Schwarz im Schlepptau und einen riesigen Hundehaufen aus dunkelbrauner Schokolade vor sich.

»Nett«, fand ich. »Okay, jeder ein Stück. Aber dann wird gearbeitet. Unsere Chance, uns als LKA-Team zu bewähren.«

Und mir beim BKA gleich gute Karten zu verschaffen, dachte ich.

»Zu Jan Mertens hatten wir ja schon Informationen vorliegen. Wer ist der andere Tote, der am Blech-Häuptling?«, fragte ich in die Runde, als wir jeweils das erste Stück Marzipantorte verdrückt hatten.

»Und habt ihr schon rausgefunden, was es mit dieser AFDP auf sich hat?«

Hinnerk lachte. »Guter Name. Wenn das Windkraftgegner sind, haben die sich die richtigen Parteien rausgesucht, bei denen sie Stimmen und Sympathie abwerben könnten. Die sind doch beide dabei, auf der populistischen Tour jeden Widerstand gegen alternative Energien auf ihre eigenen lahmenden Mühlen zu lenken.«

Svantje hatte eine der Akten aufgeschlagen, die ich von Meier mitgebracht hatte. »Hier steht etwas zu dem zweiten Toten. Es handelt sich um einen gewissen Florian Wegener, zweiunddreißig, verheiratet, ein Kind. Der war Mitgesellschafter in der Firma, in der er gearbeitet hat, einer Venturamagix Green Projects GmbH. Da hielt er zwanzig Prozent. Er hat in Hannover Windenergie-Ingenieurwesen und Mechatronik studiert und mit sechsundzwanzig seinen Master gemacht. Er ist ein Jahr um die Welt gereist und hat unterwegs auf der Insel Reunion eine Frau kennengelernt und geheiratet, dann ist er mit ihr zurück nach Deutschland.«

Sie blätterte weiter.

»Die Familie lebt in Emden, seine Frau arbeitet dort in einem Restaurant als Köchin. Sie haben eine zwei Jahre alte Tochter namens Emmy. Ach ja, die Frau heißt Martine, geborene Sautron. Sie ist bereits informiert worden.«

Hinnerk hatte seine Pfeife weggesteckt und nahm sich gerade ein zweites Stück Torte, das mit dem Hundehaufen. »Das muss weg«, begründete er seine Tat, obwohl ich von einem Stück für jeden gesprochen hatte. Svantje lächelte nur.

»Aha«, kommentierte Hinnerk. »Wie ist er denn umgekommen, und wie ist er gefunden worden? Gab es außer dem Bekennerschreiben weitere Hinweise?«

Svantje blätterte weiter.

»Igitt«, stöhnte sie leise. »Der ist erstickt worden. Er hatte Druckmale an Armen und Schultern, er ist anscheinend gewaltsam von hinten festgehalten worden. Im Mund hatte er drei seidene Schlüpfer, einen roten, einen cremeweißen und einen schwarzen. Die haben ihm die als Knebel in den Mund gestopft und ihm dann von hinten Mund und Nase zugehalten, bis er keinen Wind mehr bekam, steht hier«, las sie vor.

»Keine Luft«, korrigierte ich sie. Sie sah mich an.

»Also hier steht Wind«, verteidigte sie sich.

»War vielleicht symbolisch gemeint, da war wohl ein Poet bei der Spurensicherung am Werk«, kommentierte Hinnerk.

»Weiß man, wem die Slips gehörten?«, fragte ich nach. »DNA-Spuren? Waren die benutzt? Marke und so weiter?«

»Kaufhausware«, murmelte Svantje. »C&A.« Sie zeigte ein Foto der Wäschestücke rum, mit eingenähtem Label.

»Die Frau ist schon informiert worden, nicht?«, fragte ich nach.

Svantje nickte. »Klar. Hat geheult wie ein Schlosshund, weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Sie hat keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte, Feinde hatte er angeblich keine. Die Unnerbüxen kannte sie nicht, waren jedenfalls nicht aus ihrem Bestand. Ihre kommen von Victoria’s Secret.«

»Das arme Kind«, fluchte Hinnerk. »Zwei Jahre, keinen Vater mehr, und eine berufstätige Mutter.«

»Sind die beiden versorgt?«, fragte ich weiter. »Hatte der Wegener eine Lebensversicherung, Vermögen, ein Testament?«

Svantje suchte. »Sein Geld steckt komplett in der Firma. Die kann die Anteile aber angeblich nicht auszahlen, steht hier. Privat hatte er keine Lebensversicherung, in dem Alter. Die Firma hat eine für ihn abgeschlossen, neben anderen Versicherungen, aber ob die bei Mord zahlt, wäre sehr fraglich, steht hier.«

»Hat diese Martine die Anteile geerbt?«, fragte Hinnerk. »Wenn die Firma die nicht auszahlen kann, kann sie die doch bestimmt verkaufen.«

»Steht hier nix zu«, fand Svantje.

»Was ist mit Feinden?«, fragte Hinnerk. »Das mit dem Bekennerschreiben könnte auch fake sein, eine Vertuschung. Das mit den Schlüpfern riecht doch nach einer Sex-Geschichte. Vielleicht ist er mit einer anderen fremdgegangen, und deren Ehemann hat ihm zusammen mit einem Freund das Maul gestopft. Friss das, wenn du nicht genug von meiner Frau kriegen kannst, in dem Stil.«

»Handy-Auswertung, vielleicht hat er ja auch mehr als eins«, fiel Svantje ein. »Wenn er eine andere hatte, hat er bestimmt mit ihr telefoniert oder gechattet.«

Ich sah sie an. »Kuck doch mal nach«, forderte ich sie auf. »Müsste doch gemacht worden sein.«

Svantje fand nichts. »Ist wohl noch nicht veranlasst worden.«

Ich griff selbst zu einem anderen Ordner, dem mit den Ergebnissen der Spurensicherung. »Vielleicht gibt es ja Reifenspuren, Fußspuren oder andere Hinterlassenschaften der Täter. Irgendwas findet sich immer, auch wenn die noch so vorsichtig vorgehen.«

Die beiden sahen mir zu, Hinnerk nahm einen Bissen von seinem Tortenstück, Svantje holte Kaffeenachschub von der Maschine.

»Tja«, sagte ich gedehnt. »Da ist sorgfältig alles geharkt worden, wie von einem Gärtner, der Parkanlagen pflegt. Keine Fußabdrücke, und Reifenspuren gab es nahe der Straße einfach zu viele.«

Ich las weiter und fasste zusammen. »Der oder die Täter haben Gummihandschuhe getragen, auch handelsübliche, zum Abwaschen. Davon gab es etwas Abrieb auf der Haut und auf den Zähnen. Das Opfer hat versucht zuzubeißen, aber für eine Blutgruppenanalyse war die Spur auf den Zähnen zu gering.«

»Immerhin müsste der Täter dann eine Bissspur an Zeige- oder Ringfinger haben«, folgerte Hinnerk.

»Und wieso nicht am kleinen oder Ringfinger?«, fragte Svantje. »Oder am Daumen?«

Hinnerk hielt sich selbst den Mund mit seiner freien Hand zu und nuschelte eine Antwort. »Weil zwischen Kinn und Nase die Hand so auf den Mund passt, dass der Mittelfinger über dem Mund liegt. Wenn das Opfer den Mund aufreißt, kann er auch den Zeigefinger erwischen. Der Daumen liegt auf der Wange, die beiden kleineren Finger auf dem Kinn, probier’s aus.«

Svantje probierte, wir sahen zu, wie sie mit weit aufgerissenem Mund versuchte, sich gleichzeitig den Mund zuzuhalten und in den Finger zu beißen. Sie nickte. »Könnte stimmen.«

»Du hast Tortenkrümel am Mund«, meckerte Hinnerk. Svantje wischte sich den Mund ab.

Ich legte den Ordner wieder weg und nahm den von der Rechtsmedizin an mich. Die Analyse kam diesmal nicht von Lisa, was sich fremd anfühlte.

Es gab wenig Zweifel, dass sich der Tathergang exakt so ereignet hatte. Der Mann, der alles andere als ein Schwächling gewesen war, hatte keine Luft mehr bekommen, was erst zu einer Ohnmacht und dann zum Tode durch Herzstillstand geführt hatte. Er war von hinten festgehalten worden. Der Bericht ging von drei Männern aus, weil Wegener an den Oberarmen festgehalten worden war.

Die Tat war sogar nachgestellt worden. Ein Mann, derjenige, der ihm Mund und Nase zugehalten hatte, hatte sich mit dem linken Arm über der Brust des Opfers festgehalten und ihn mit der rechten Hand erstickt. Er war also ein Rechtshänder, von denen es nicht gerade wenige gab. Dem Opfer dann beide Oberarme nach hinten zu ziehen und sie festzuhalten, wäre einem einzelnen Mann, der dann hinter dem direkten Mörder gestanden haben musste, schwergefallen.

Demnach hatte jeweils ein Mann oder auch eine starke Frau links und rechts hinter Opfer und Täter gestanden und die Arme des Opfers weit nach hinten gestreckt, so dass er nicht zugreifen konnte. Die beiden hatten sich dabei gegenübergestanden. Dem Bericht zufolge hatten beide mit einer eigenen Hand den Arm direkt an ihrer jeweiligen Seite festgehalten und mit der anderen darüber hinweggegriffen und den anderen Arm auch noch fixiert. Das hatten die schwereren und leichten Blutergüsse an den Armen ergeben.

Aus dieser Klammer hatte sich das Opfer nicht befreien können. Es hatte nur ziellos nach vorn kicken und treten können, Tritte nach hinten wären ziemlich kraftlos ausgefallen, wegen der Zugspannung am Oberkörper, befand der Bericht.

»Wir suchen also ein mörderisches Trio, das einem jung verheirateten Familienvater, der Teilhaber einer Windkraftfirma ist, Schlüpfer in den Mund stopft und ihn daran ersticken lässt. Viel Sinn macht das ja nicht gerade«, fand ich.

»Vielleicht doch«, meinte Svantje. »Wenn diese Tat von der AFDP begangen worden ist, passt das doch. Diese angeblichen Patrioten sind bestimmt rechte Ultras, dem Namen und dem Bekennerschreiben nach. Und solche Leute sind doch immer in den Farben des ehemaligen Deutschen Reiches unterwegs, und das sind Schwarz, Weiß und Rot. Vielleicht ist das deren Markenzeichen.«

Hinnerk lachte. »Und warum dann ausgerechnet Höschen in der Farbe? Erklär mir das mal, Svantje.«

Der Leuchtturm machte ein bockiges Gesicht. »Vielleicht wollten die ihm damit sagen, dass er ein Arsch ist, was weiß ich.«

Hinnerk klopfte mit der kalten Pfeife in seiner Rechten in die Handfläche seiner linken Hand. »Ich denke, das hat doch Symbolkraft. Das sind doch Trophäen. Gut, die Farben, das würde passen. Ich denke, es geht um Sex, vermutlich um einen Seitensprung. Vielleicht hat dieser Wegener ja eine Deutschnationale vernascht, und das ist die Strafe dafür.«

Er nahm die kalte Pfeife kurz in den Mund und saugte. Das tat er gern, wenn er nachdachte.

»Die haben ihn sich geschnappt und auf diese Weise bestraft. Und wisst ihr was? Der Fundort oder Tatort, direkt am Upstalsboom. Dem ehemaligen Treffpunkt der ostfriesischen Häuptlinge. Sowas lieben die doch, solche Symbole des Deutschtums. Ein Ort der Herrschaft von urwüchsigen Friesen, standhaften Germanen, die dem Römischen Reich und anderen Herren immer lange standgehalten haben. Der Teil passt schon, da hast du recht. Aber ich bin mir sicher, es geht um eine Affäre.«

Das ist ja mal was Neues, dachte ich. Wir sahen das nicht exakt genauso, wie sonst immer. »Hört zu«, fasste ich zusammen.

»Wir brauchen mehr Informationen über ihn und sein Umfeld. Wir werden uns seine Familie anschauen und seine Firma besuchen. Wir müssen mehr über Freunde und Feinde erfahren. Und wir brauchen die Telefonauswertung. Das läuft sowieso über das LKA, das werde ich selbst veranlassen. Ich rufe da gleich an.«

Die beiden sahen mich an.

»Aber bevor wir losfahren oder telefonieren, möchte ich auch über Jan Mertens mehr wissen, den Erschossenen. Das ist ja nun eine Weile her.«

Ich sah Svantje an. »Svantje, du kennst das Revier hier oben sehr gut. Trag bitte auch zu Mertens alle Infos zusammen, offiziell und auch alles über die Buschtrommel, was gesagt, gedacht und vermutet wird.«

Sie stand auf. »Okay, mache ich gleich. Wollte sowieso mit einigen Kollegen sprechen.«

Hinnerk wartete schon auf meine Ansprache. »Und du checkst bitte mal, welche Verbindungen es zwischen den beiden Opfern gibt, außer dass sie tot sind. Privat, beruflich, in Vereinen, Verbänden, Parteien, Skatclubs, was auch immer. Du kennst dich doch mit solchen Such-Algorithmen gut aus, Hinnerk.«

Er lehnte sich zurück und begann zu strahlen. »Gute Idee. Ja, das kann ich.«

»Dann treffen wir uns in einer halben Stunde hier wieder. Ich rufe in Hannover an und gehe kurz mit Jackie vor die Tür, der muss wohl mal.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752141672
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Mord Windkraftgegner Lukas Jansen Thriller Krimi Ostfriesland Windkraft Ermittler Spannung Noir

Autor

  • Nick Stein (Autor:in)

Der Sinologe Nick Stein, nach fünfunddreißig Jahren aus Asien zurück in der Nähe seiner Wahlheimat Göttingen, hat sich nach seiner beruflichen Karriere dem Schreiben gewidmet. Neben Thrillern und Krimis schreibt er ernsthaftere Werke und auch Kurzgeschichten. Neben dem Schreiben gehört seine Zeit seiner Frau, den beiden Hunden und dem Schutz von Klima und Natur, Themen, die auch immer wieder in seinen Romanen mitschwingen.
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Titel: Wer Wind erntet