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LAUTLOS

Die Davos-Verschwörung

von Nick Stein (Autor:in)
415 Seiten

Zusammenfassung

Die junge Sarah ist seit ihrer Geburt gehörlos. Nach dem Tod ihrer Mutter hat ihr Vater sie zur Adoption freigegeben. Inzwischen fast erwachsen und an einem Gehörloseninternat, wird Sarah nach Davos eingeladen, um als Beta-Testerin ein neues Gerät auszuprobieren, mit dem Taube und andere Menschen kommunizieren können. Doch Sarah gerät in die falsche Veranstaltung. Sie bekommt über ihr neues Gerät mit, dass eine globale Elite die neueste Corona-Variante, CoXX, als Gestaltungsmittel für die direkte Übernahme der Macht nutzen will, denn Europa und Amerika sind zu langsam und zu schwach gegenüber der Bedrohung durch China. Dieses Wissen ist gefährlich. Sarah wird verfolgt, sie und ihre Helfer können mehrmals den Angriffen der Schergen der Elite knapp entkommen. Sarah gelingt es, über ihren verschollenen geglaubten Vater, der für die Elite arbeitet, an alle Details heranzukommen. Sie will die Verschwörung aufdecken und eine Herrschaftsübernahme verhindern. Eine Aufgabe, an der sie nur scheitern kann. Kann eine hübsche Taube aus der Provinz die Welt vor dieser Bedrohung retten?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Sarahs Fensterplatz in Fahrtrichtung war besetzt. Was hatte sie erwartet? Die Fahrt hatte beschissen genug angefangen, mit einer Ansammlung von üblen Typen am Osnabrücker Bahnhof, die alle in ihren Zug wollten. Drinnen war es noch schlimmer geworden. Die Gänge waren voll mit Hools ohne Maske, die Bier tranken und rauchten und sich aufführten, als gehörte ihnen nicht nur der Zug, sondern bereits ganz Deutschland oder die ganze Welt.

Anhänger von Verschwörungstheorien, je abstruser, desto wahrer. Empörte Menschen, die vermuteten, dass die gezielte Manipulation ihrer völlig unbedeutenden Existenz das zentrale Schlüsselglied für die Weltherrschaft einer geheimen Clique war.

Leute, die so endlich mal ins Zentrum der Wahrnehmung gerieten.

Laut ging es im Zug vermutlich auch zu, aber das ging Sarah am Arsch vorbei.

In ihrem Sechserabteil im IC von Hamburg nach Köln hatten sich acht angetrunkene Männer und eine wild zurechtgemachte Frau breitgemacht, alle ohne Maske. Sie hatten die Sitze nach unten gezogen und fläzten sich auf den Polstern wie um ein imaginäres Lagerfeuer. Sie ließen eine Flasche Wodka rumgehen und qualmten die Bude voll. Die bunte Frau drückte gerade ihre Zigarette auf einem Sitz aus, es schmorte und stank.

Sarah Bakhtiary schob die Tür auf und atmete durch.

Sie sah, dass die neun Leute durcheinanderredeten und sie gar nicht beachteten.

Sarah tippte einer Glatze am Eingang auf die Schulter.

»Da am Fenster ist mein Platz«, krächzte sie und zeigte ihre Reservierung auf dem Handy vor. Sie hatte keine Ahnung, ob der vielleicht Zwanzigjährige sie verstanden hatte. Sprechen hatte Sarah erst spät in Osnabrück am Gehörlosen-Internat besser beherrschen gelernt, sie hatte kaum Kontrolle darüber, ob sie jemand verstand oder nicht. Vermutlich hatte sie auch viel zu leise gesprochen.

Die Glatze redete einen Typen am Fenster an, dessen Haare außer oben auf dem Schädel kurz geschoren waren. Dafür hingen ihm die restlichen Strähnen an einer Seite bis zum Mund herunter. Der fuhr herum und rief ihr etwas zu. Sein Schopf zogen dabei eine Schleifspur über das vom Bieratem beschlagene Fenster.

Sarah deutete auf ihren Button über der rechten Brust. Ich bin gehörlos, sagte der.

Die Leute redeten alle durcheinander, einige deuteten mit dem Kopf oder den Händen auf sie.

»Die blöde Fotze ist staubdumm«, las sie der vielfach gepiercten Frau mit den knallrot gefärbten Haaren von den Lippen ab, die über ihren eigenen Witz lachte.

Sarah konnte immer nur eine Person ansehen, und selbst dann fiel es ihr schwer, aus Lippenbewegungen, Gestik und Mimik zu entnehmen, was die Leute meinten. Bei neun Idioten auf engem Raum war das so gut wie unmöglich.

Sie steckte vorsichtshalber ihr Handy weg. Sie spürte die alkoholisierte Aggressivität im überfüllten Abteil, in dem sie gerade eben zwischen den Sitzen stehen konnte, und sie roch die unangenehme Mischung aus Rauch, ungewaschenen Körpern, Mundgeruch und Alkoholfahnen.

Ein Typ am Fenster stand auf. Nicht etwa derjenige, der auf ihrem Platz saß, sondern der ihm gegenüber. Ein muskulöser Hüne in einer Jeansjacke mit abgeschnittenen Armen, aus denen massive tätowierte Arme herausschauten. Der Muskelprotz mit seinen geröteten Augen sagte etwas zu ihr, aus dem sie nur die Worte Ausländer und Kroppzeug herauslesen konnte. Ein anderer Typ richtete sich ebenfalls auf und stellte ein Bein in den Spalt zwischen den Sitzen. Er hatte das siegesgewisse Grinsen eines Betrunkenen im Gesicht, der sich darauf freute, gleich jemandem eine Lektion erteilen zu können.

Sarah bemerkte, wie ein kleinerer Typ neben ihr auf dem Sitz am Gang die Tür hinter ihr zuschob. Mit der anderen Hand zog er auch den Vorhang zu.

Sarah wurde eiskalt, obwohl es warm im Abteil war. Sie spürte, wie sich ihr Darm bewegte. Sie kannte die Zeichen; Angst. Hinter ihrer Gesichtsmaske staute sich ihr heißer Atem.

Was würden diese besoffenen Hools mit ihr machen? Sie vergewaltigen, verprügeln oder einfach nur demütigen? Sie sah ihre ein Meter sechzig schon schwer verletzt oben im Gepäcknetz liegen. Die würden das Spaß nennen.

Sie atmete tief aus und griff dann entschlossen in die Innenseite ihrer Jacke. Drei Zehntelsekunden später sah der Typ neben ihr, der die Tür zugeschoben hatte, in die dunkle Mündung einer kleinen schwarzen Glock 19.

»Aufmachen«, befahl sie ihm.

Die anderen behielt sie im Auge. Die hatten noch ihre Schrecksekunde zu bewältigen, bevor sie sich entscheiden mussten, ob sie im engen Abteil angreifen und sie überwältigen oder sich angesichts der Waffe ruhig verhalten wollten.

Besoffen und aufgeputscht wie sie waren, würden sie angreifen.

Sarah schoss ein Loch in das Sitzpolster vor sich. Sie wusste, dass der laute Knall die Leute im Zaum halten würde. Sie selbst hörte gar nichts, was exakt der Grund war, weshalb sie damals den Job auf dem Schießstand der Polizei in Osnabrück bekommen hatte.

»Wird’s bald?«, fragte sie und wedelte mit dem Lauf der kurzen Waffe vor dem Gesicht des bleichen Pickelgesichtes vor ihr herum. Der Letzte in der Nahrungskette dieser Arschlöcher, dachte sie. Der ist Gehorsam gewohnt.

Pickelgesicht zog mit weit aufgerissenen Augen und Mund die Tür zurück, Sarah trat halb zurück in den Gang.

Den Anspruch auf den Platz hatte sie damit aufgegeben. Was in Ordnung war. Denn mit diesen Leuten wollte sie das Abteil sowieso nicht teilen. Allein schon deshalb, weil keiner von ihnen einen Mundschutz trug.

»Arschlöcher«, bemühte sie sich zu sagen, bevor sie die Abteiltür mit links von außen schloss und mit der Rechten ihre Waffe wieder wegsteckte. Sie zeigte dem Typen auf ihrem Sitzplatz noch schnell einen Stinkefinger und schritt dann gemessen weg von der Tür den Gang hinunter.

Falls die Leute ihr hinterherkamen oder den Schaffner holten, wegen Sachbeschädigung, sollte ihr das recht sein. Mit so etwas wurde sie fertig. Dann kam sie wenigstens an die Personalien dieser Typen und konnte sie anzeigen.

Sarahs Angst war verflogen, jetzt spürte sie ein angenehmes Hochgefühl durch ihre Venen fließen, ihr wurde wieder warm. Sie sah sich um. Niemand folgte ihr.

Vor ihr lag der Speisewagen, der anders als der Rest des Zuges kaum besetzt war. Einen Kaffee konnte sie jetzt gut gebrauchen. Sie nahm ihren Rucksack ab und suchte sich einen Platz, von dem aus sie den Zugang gut im Auge behalten konnte.

*

Vor dem Kaffee kamen drei von den Leuten aus dem Abteil mit einem Bundespolizisten auf sie zu, den sie irgendwo im Zug aufgetrieben hatten. Der war mit großer Wahrscheinlichkeit gerade wegen dieser Idioten mitgefahren. Sarah erinnerte sich, dass etwas von einer weiteren riesigen Hygienedemo dieser Brüllaffen in Köln in der Zeitung gestanden hatte.

Immerhin trugen die drei jetzt brav Masken, genau wie der Bahnpolizist, dem die Sache peinlich zu sein schien.

Angeführt wurden sie von Pickelface, der auf den Polizisten einredete. Dahinter folgten die Glatze und die rothaarige Wilde.

Der Polizeimeister, erkenntlich an seinen zwei Sternen, trug ein aufgenähtes Namensschild, das ihn als Norbert Meier auswies. Er sprach sie an. Sarah verstand aus seinen Gesten, dass er ihren Ausweis sehen wollte.

Sie zeigte auf ihren Button. »Ich bin gehörlos«, sagte sie dazu, bevor sie ihren Dienstausweis aus einer Seitentasche ihrer Jacke zog.

Sie sah, wie sich seine Augenbrauen hoben, als er das Wort POLIZEI sah. Sie war angestellte Ausbilderin, Klasse drei. Angefangen hatte sie parallel zu ihrem Studium bei der Polizei als Putzfrau, in Osnabrück auf dem Schießstand, wo sie als Einzige ohne Gehörschutz arbeiten konnte. Ihr Arzt hatte ihr trotzdem das Tragen eines Schutzes angeraten, damit sie sich durch die Schallwellen keine Verletzungen im Innenohr zuzog; aber erst, als sie den Job schon hatte.

Sie war schnell aufgestiegen, als ihr Chef gesehen hatte, wie schnell sie eine Waffe auseinandernehmen, reinigen und wieder zusammensetzen konnte. Sarah hatte diese Fähigkeit immer dem Fehlen ihres Gehörs zugute geschrieben; als Ersatz dafür besaß sie einen exzellenten Tastsinn und ein fantastisches Raumgefühl. Bald darauf hatte sie auch zeigen dürfen, wie geschickt sie mit dem Umgang der Waffe auf dem Schießstand war und wie exakt sie traf.

Als Ausbilderin vermittelte sie ihren beamteten Kollegen mit den Händen, wie sie ihre Waffen bedienen und halten mussten, worauf es ankam. Sie konnte das mit Abstand besser als jeder andere, auch ohne oder vielleicht gerade wegen ihres fehlenden Gehörs.

Dennoch durfte sie als beste Schützin der letzten Jahre nicht Polizeibeamtin werden, selbst wenn sie das gewollt hätte. Richtige Polizisten mussten sich auf ihren Gehörsinn verlassen können, hatte auf der Ablehnung ihres Antrages gestanden.

Jetzt reichte sie Norbert Meier mit zwei spitzen Fingern ihre kleine Waffe mit dem Griff voran. Meier schnüffelte daran und prüfte das Magazin, bevor er ihr die Waffe zurückgab.

Sarah deutete auf ihr Handy. »Schreiben Sie«, formulierte sie mit dem Mund. Das »Sie« kam ihr immer noch merkwürdig vor, der Mann war schließlich nur einer und nicht mehrere, wie im Plural. Und auch dann hätte es »ihr« geheißen. Die Gebärdensprache kannte nur das Du. Sarah hatte das alles gelernt und sagte und schrieb es so auf, wenn sie sich an die Konventionen der Hörenden hielt.

Meier legte den Kopf schief, hatte dann doch verstanden und nickte erleichtert. Er griff nach ihrem entsperrten Handy, suchte nach der Spracheingabe und sprach ins Mikrofon. Zwei Stellen im entstehenden Text korrigierte er mit dem Finger.

Sie werden beschuldigt, Herrn Wiesner hier – er deutete auf den Pickligen – mit der Waffe bedroht und einen Warnschuss abgegeben zu haben, Frau Bakhtiary, stand dort, wobei sie die Zugeinrichtung schwer beschädigt haben.

Sarah konnte sehr schnell texten, selbst in der Fremdsprache Deutsch. Sie gab Meier das Handy zurück.

Ein Mitglied der Gruppe im Abteil saß auf meinem reservierten Platz. Er wollte den Platz nicht räumen. Stattdessen wurde ich beleidigt, wegen meines Aussehens, meiner Herkunft und meiner Behinderung. Herr Wiesner hat die Tür hinter mir geschlossen und die Vorhänge zugezogen, die Gruppe wollte mich angreifen, ich musste mich verteidigen.

Ich möchte meinerseits Anklage erheben. Wegen verschiedener Ordnungswidrigkeiten, Rauchen und Alkoholgenuss im Zug, trotz Verbot, Nichtherausgabe meines Sitzplatzes, schwerer Beleidigung und Androhung körperlicher Gewalt. Außerdem die Gefährdung meiner Gesundheit durch das Weglassen von Atemschutz. Ich hätte mir in dem Abteil den Tod holen können. Außerdem brauche ich für die Anklage die Namen aller Personen im Abteil. Für den Anfang.

Meier las laut vor, die drei Hools bekamen hinter ihren skurrilen Masken den Mund nicht mehr zu. Sie redeten auf den Polizisten ein. Der Polizeimeister erklärte und beschwichtigte, dann verschwand er mit den drei Personen.

Sarahs Kaffee kam, sie trank einen Schluck. Der Eifer des Polizisten, Streit zu vermeiden, belustigte sie. Andererseits musste er dafür sorgen, dass diese gewaltbereiten Hooligans den Zug nicht komplett auseinandernahmen und versauten.

Als ob Deeskalation bei diesen Idioten noch helfen würde, dachte sie. Immerhin waren sie um einiges ruhiger geworden, als sie ihren Polizeiausweis gesehen hatten.

Irgendwo verstand sie diese Leute sogar. Jetzt konnten sie mal eine wichtige Rolle spielen. Seit dem Ausbruch der ersten Corona-Welle hatten sie sich als die Betrogenen gesehen.

Uns werden auch noch die letzten Freiheiten genommen. Arm, rechtlos und manipuliert, mit diesem Protest gingen sie auf die Straße, zusammen mit den gerade passenden Verschwörungstheorien, bei denen wahlweise die Chinesen, Bill Gates, 5G, Trump und Merkel oder gleich das Weltjudentum oder Warren Buffett die Hauptrolle spielten. Oder irgendwelche außerirdischen Reptilien, die von Area 51 aus die Weltherrschaft übernehmen wollten. Einmal hatte sie auf einem Transparent sogar gelesen, dass Bill Gates ein verkleidetes Reptil wäre.

Meier kam zurück und zeigte auf ihr Handy. Sarah nickte und entschlüsselte es für ihn.

Vorschlag. Die ziehen ihre Anzeige zurück, Sie auch, und alles ist gegessen. Wir haben hier genug Ärger im Zug, Kollegin, schrieb er.

Sarah las und schüttelte den Kopf. »Kommt nicht infrage«, sagte sie laut und nahm ihr Handy zurück.

Wir können uns das nicht alles gefallen lassen, Kollege, textete sie. Meine Anzeige steht. Bitte sorgen Sie dafür, dass die aufhören zu rauchen und zu trinken, das ist im Zug nicht erlaubt. Das ist das Allermindeste, das ich verlange.

Meier trat der Schweiß auf die Stirn. Er griff zum Handy.

Wie soll ich das denn machen, schrieb er. Die lachen mich alle aus.

Zeigen Sie sie an, schrieb sie. Sie haben jetzt ihre Namen und Adressen. Zeigen Sie harte Kante. Das wollen die doch, einen starken, autoritären Staat. Zeigen Sie denen, wie das aussieht, Kollege.

Meier zog einen Flunsch und ging in die richtige Richtung. Sarah war sich sicher, dass gar nichts passieren würde.

Sie trank ihren Kaffee aus, bezahlte, schnappte sich ihren Rucksack und ging nach vorn zur Ersten Klasse. Dort würde sie Ruhe zum Nachdenken haben, und den Zuschlag konnte sie sich mit ihrem Schwerbehindertentarif gerade noch leisten.

An den Hauswänden, die am Zug vorüberflogen, konnte sie die Stimmung der Zeit ablesen. Entweder waren es bunte, wunderschöne Großfotografien, die eine neue Jugend, eine schönere Haut und ewige Gesundheit versprachen, oder es waren grelle Graffiti, die eher von Not, Drogen und Hoffnungslosigkeit zeugten.

Von den Menschen, die sie an Bahnübergängen sah, trug fast niemand mehr eine Maske. Als ob jetzt alles egal wäre, dachte sie. Die Wirtschaft liegt am Boden und genießt jetzt höchste Priorität, die Gesundheit steht nur noch an zweiter oder dritter Stelle. Oder an letzter. Das Geld regierte wieder. Die Exporte sollten wieder auf alte Höhen kommen, der Laden sollte brummen wie vor einigen Jahren, als alle nur vom Klima und niemand von einer Viruswelle nach der anderen gesprochen hatte.

Nach den drei ersten Wellen waren sie jetzt bei einer neuen Corona-Version angekommen, die schlicht CoXX genannt wurde. Ob es Mutationen des ersten Virus oder neue Stämme waren, interessierte keinen mehr. Auch nicht, dass das Virus eher noch aggressiver geworden war und eine noch längere Inkubationszeit hatte.

Eine Anzeige fiel ihr mehrfach ins Auge. Rejuvo hieß das Produkt, das beworben wurde. Schutz für deine Jugend, deine Schönheit und Gesundheit, versprach die Werbung, und genauso sahen die Personen auf den Schildern auch aus. Jung, gesund und reich, nicht älter, ärmer und kranker, so wie die meisten Deutschen, die sie kannte.

Schützen Sie sich vor CoXX, indem Sie jung bleiben, warb ein Poster.

Bei den Graffiti las sie dagegen den Namen von Bill Gates öfter.

Der neue Sündenbock für alles, dachte sie. Der Mann, der erschwingliche Computer für alle mit Maus, buntem Bildschirm und den Programmen dazu erst möglich gemacht hatte. Der klug genug gewesen war, die Zeichen der Zeit zu erkennen und all das aufzukaufen, was Fortschritt und Gewinn versprach.

Der Mann, den sie am Ende ihrer Bahnfahrt zu treffen hoffte. Bill Gates.

*

Sie waren in Köln angekommen, Sarah musste umsteigen. Die Hools, die sie belästigt hatten, sah sie nicht mehr, den Bahnbullen auch nicht. Draußen war es bereits dunkel und es regnete in Strömen. So viel zu einem richtigen Winter, dachte sie.

Sarah hatte sich gerade ihren Rucksack zurechtgerückt, als sie vom Ende des Zuges einen Mann auf sich zulaufen sah, mit hoch erhobener Faust, die er im Laufen schwenkte. Er rief irgendetwas. Der Mann war groß, breit und sportlich und sah gefährlich aus. Kurz geschorene Haare, Bomberjacke, militärisch aussehende Stiefel. Einer von denen, die sie gerade angezeigt hatte?

Sarah setzte sich in Bewegung, hin zu einer der Treppen. Der Mann beschleunigte ebenfalls, und jetzt sah sie, wie sportlich er war. Er rannte, sie selbst joggte. Sie beschleunigte, sprintete die Treppe und den Gang hinunter und dann in den zweiten Laden, den sie sah, nicht den ersten. Ein Lottogeschäft, in dem sie sich hinter einer Werbetafel verbarg.

Ein paar Sekunden später kam der Mann angerannt und blieb genau vor der Annahmestelle stehen. Er sah sich um, Sarah hatte das Gefühl, er würde ihr direkt in die Augen sehen, während sie durch einen kleinen Spalt zwischen den Tafeln hindurch spähte.

Zwei Schrecksekunden später setzte er sich in Richtung Haupthalle in Bewegung. Wer in die City wollte, würde dort entlanggehen.

Sarah wartete noch eine volle Minute, die ihr endlos erschien. Dann ging sie zum Ausgang, kaufte sich eine Baseballkappe, die sie sich tief ins Gesicht zog, bevor sie so unauffällig wie möglich schräg hinüber zu ihrem nächsten Gleis ging. Am Wagenstandsanzeiger sah sie sich vorsichtig um. Niemand folgte ihr.

Sie ging zu ihrem Wagen hinüber, wo ihr Schlafwagenabteil auf sie wartete, in dem sie bis Zürich durchfahren konnte, ungestört von all den Idioten, die diese Welt heute bevölkerten. Sie hatte ein Bett oben im Abteil, das ansonsten leer sein sollte. Jedenfalls hatte niemand anders einen Schlafplatz gebucht.

Für den Rest dieses Tages waren ihr die neuen Sorgen der Menschheit herzlich egal. Sie brauchte die paar Stunden Schlaf, die ihr vergönnt waren. Morgen, nach der Fahrt von Zürich nach Klosters, stand ihr ein aufregender Tag bevor, der ihr Leben verändern würde.

Diszipliniert wie sie war, schlief sie sofort ein, nachdem sie sich für die Nacht zurechtgemacht und hingelegt hatte.

*

Sarah wachte auf, als der Zug in Basel langsamer wurde und hielt. Sie hatte gerade eben noch von Bill Gates geträumt, der mit erhobener Pistole hinter ihr hergelaufen war und ihr dann mit der Waffe, die zu einer Injektionspistole geworden war, Chips in die Halsschlagader gespritzt hatte, woraufhin sie sich in einen glatzköpfigen Schreihals verwandelt hatte. Sie schüttelte den Kopf, der Traum verblasste und löste sich im Licht des Tages auf.

Sie stand auf, zog sich an und ging sich waschen. In Zürich musste sie noch mal umsteigen und hatte nicht viel Zeit dafür.

Gut, dass die Grenzen wieder geöffnet waren, trotz aller Viren, dachte sie. Die Wirtschaft und das Wachstum waren wieder viel wichtiger geworden als die Gesundheit. Was sie nicht verstand, war die irrige Annahme von inzwischen sehr vielen Menschen, dass damit die Normalität zurückgekehrt war. Es war noch wichtiger geworden, sich zu schützen und zumindest einen Mundschutz zu tragen, wie vorgeschrieben, die meisten verzichteten inzwischen darauf. Die Jungen und Gesunden vertrauten darauf, dass es sie bestimmt nicht erwischen würde; vielleicht trugen sie wenigstens dann einen Mundschutz, wenn sie ihre älteren Verwandten besuchten, hoffte Sarah. So blöd konnte die Menschheit nicht sein. Oder? An manchen Tagen war sie sich nicht so sicher. Vielleicht war das alles ja die Rache der Natur an der sie verschlingenden Menschheit.

Sie selbst hoffte auf ein Virus, das an menschliche Dummheit andockte und all diese Idioten vom Planeten putzen würde.

Als sie in Zürich aus dem Zug stieg, stand genau vor ihrer Wagentür ein Schweizer Polizeibeamter, der auf sie gewartet zu haben schien. Er hielt ein Tablet in der Hand, auf dem SARAH BAKHTIARY stand. Er erkannte sie und nickte ihr freundlich zu.

Sarah blieb vor ihm stehen.

Der Mann nickte erneut, drehte sein Tablet um und tippte darauf herum, bevor er es wieder umdrehte. Gleichzeitig begann er zu sprechen. Er hatte eine Spracheingabe aktiviert. Gut vorbereitet, dachte sie. Was will der von mir?

Frau Bakhtiary, willkommen in der Schweiz!, schrieb das Tablet.

Vermissen Sie etwas?

Sarah fühlte in ihren Taschen und unter ihrer Jacke nach. Den Rucksack hatte sie gerade vor dem Aussteigen überprüft. Das volle Holster saß unter ihrer linken Achsel. Sie schüttelte den Kopf und sprach. »Nein.«

Der Polizist drehte sein Tablet wieder um und rief ein Foto auf, das er ihr zeigte.

»Mein Ausweis!«, rief Sarah. Es war ihr Polizeiausweis. Sie musste ihn nach der Überprüfung im Zug fallengelassen haben. Sie griff in die Tasche, wo er normalerweise steckte. Er war nicht da.

Ein freundlicher Herr hat ihn im Zug gefunden und in Köln bei den Kollegen abgegeben, textete der Mann. Er hat Sie noch gesehen und ist hinter Ihnen her, hat sie aber verloren.

Verdammt, dachte Sarah. Der Typ auf dem Bahnsteig, den sie für einen der Idioten im Zug gehalten hatte. Der hatte ihren Ausweis gefunden und sie am Foto darauf erkannt. So weit war es also schon mit der allgemeinen Paranoia, dachte sie. Jetzt hat es mich auch erwischt.

»Danke«, sagte sie. Einfache Worte fielen ihr leicht. »Haben Sie meinen Ausweis?«

Der Polizist sprach wieder in sein Tablet. Nein. Wir haben ermittelt, dass Sie an einem Kongress für Gehörlose in Davos teilnehmen, Frau Bakhtiary. Wir senden ihn dorthin, sobald wir ihn bekommen. Sie sind Polizistin, nicht wahr?

Sarah nickte. »Ja und nein. Angestellte bei der Polizei. Ausbilderin«, formulierte sie langsam. Sprechen strengte sie an, Tippen wäre ihr leichter gefallen.

Tragen Sie eine Waffe, fragte das Tablet.

Sarah sah an dem großen Mann vor ihr hoch. Was war das jetzt?

»Ja«, antwortete sie. »Eine Glock 19.« Sie klopfte auf ihre linke Jackenseite, unter der ihr Holster saß.

Haben Sie den Europäischen Feuerwaffenpass bei sich, fragte er per Tablet.

Hatte sie? Scheiße, dachte sie. Habe ich wohl vergessen. Nicht dran gedacht. So was von gar nicht dran gedacht.

»Nein. Tut mir leid.«

Dann müssen Sie die Waffe beim Zoll anmelden, auch für einen vorübergehenden Aufenthalt, und Sie müssen ein Gesuch um Erteilung einer Bewilligung bei der fedpol einreichen, erklärte der Mann. Bis zu einer möglichen Erteilung einer Bewilligung werden wir die Waffe einbehalten. Reichen Sie mir Ihre Waffe, bitte, und folgen Sie mir in mein Büro, Frau Bakhtiary.

Aus den Augenwinkeln sah sie ihren Zug nach Klosters abfahren. Mist. Den hatte sie verpasst. Sie zog ihre Waffe vorsichtig mit Zeigefinger und Daumen aus dem Holster und reichte sie dem Beamten. Er steckte sie in einen Plastikbeutel, wie ein Beweisstück.

Haben Sie noch weitere Waffen dabei? Und Munition, fragte das Tablet.

Sarah nickte und nahm ihren Rucksack ab. Sie hatte noch eine Packung 9x19 Parabellum dabei, die sie dem Mann reichte. Sie sah auf sein Namensschild.

»Hier, bitte, Herr Müller. Bekomme ich eine Bestätigung?«, fragte sie.

Müller war noch bei der Inspektion der Waffe im Plastikbeutel und sagte etwas zu sich selbst.

Ah, eine Generation fünf FS, übersetzte das Tablet weiter, obwohl er sie gar nicht angesprochen hatte. Wie eine kleine Luger, genau das Richtige für so ein kleines Persönchen.

Die Munition behielt er in der Hand.

Kommen Sie bitte, schrieb das Tablet, das er ihr jetzt wieder vor die Nase hielt.

Sarah ging hinter ihm her wie ein kleines Hündchen. Sie hoffte, dass sie nicht noch einen Antrag auf Bewilligung einer Erteilung zum Ausfüllen und zur Einreichung einer Erklärung zur Genehmigung einer Empfangsbestätigung bearbeiten musste.

Eine halbe Stunde später hatte sie ein kleines Dankschreiben an den Finder ihres Ausweises geschrieben und abgesendet, von ihrem eigenen Tablet, während Müller für sie alle Anträge ausgefüllt hatte, die sie dann unterschreiben musste. Netter und hilfreicher, als sie erwartet hatte.

Ihre Waffe würde die Zürcher Polizei einstweilen einbehalten. Sobald ihr Antrag auf Erteilung eines Eintrages in den Europäischen Feuerwaffenpass bewilligt worden war, den sie erneut hatte ausfüllen müssen, würde ihr die Waffe nachgeschickt und über die lokale Polizei übergeben werden, es sei denn, sie wäre schon auf dem Rückweg, dann sollte sie hier anrufen und die Waffe selbst abholen, hatte ihr Müller erklärt.

»Anrufen geht nicht«, formulierte Sarah. »Ich kann nicht hören.«

Müller fasste sich an den Kopf. Schreiben Sie dann eine SMS, ich gebe Ihnen meine Karte, textete er.

Kapitel 2

Den nächsten Zug nach Klosters Platz hatte sie gerade noch erwischt. Sarah genoss die Fahrt durch die verschneiten Berge der Schweiz und das Rattern der Gleise im Tunnel, das sie durch ihre Knochen verspürte.

Sie freute sich auf das neue Gerät, das sie als Betatesterin bekommen würde. Sarah hatte sich über die Gehörlosenschule in Osnabrück bei einem Konsortium aus Microsoft, Google und Apple beworben, um endlich ein Gerät in der Hand zu haben, mit dem sie so einfach kommunizieren konnte wie jeder andere. Das Signspeak. Was die meisten als sign und speak lasen, gebärden und sprechen, sie selbst als signs und peak, Gipfel des Gebärdens. So doppeldeutig war der Name des Konsortiums und des gleichnamigen Gerätes wohl auch gedacht, glaubte sie.

Ein handliches Gerät, das auf der Vorder- und der Rückseite je einen großen Bildschirm hatte. Das gute 3-D-Kameras auf beiden Seiten hatte, die Gebärden aufnehmen konnten. Mit einem von Google entwickelten Programm, das Gebärden aus den gängigsten Sprachen entweder in andere Gebärdensprachen oder in gesprochene Sprache oder Text übersetzen konnte, in beide Richtungen. Und mit einem von Apple entwickelten Algorithmus, der die Bewegungen des Signspeaks im Raum selbst als weitere Gebärde interpretieren konnte, sodass man das Gerät in einer Hand halten und mit der anderen Hand und dem Gerät selbst gebärden konnte, mit ein wenig Übung.

Damit konnte jemand wie sie mit nahezu allen Menschen auf der Welt kommunizieren. Außer den Blinden, die waren immer noch außen vor, obwohl das Konsortium angeblich auch an einer Ein- und Ausgabe in Braille unterhalb des Bildschirms arbeitet. Andererseits konnten Blinde hören und sprechen, also ging das auch mit denen.

Während Apple das Gerät und den Algorithmus und Google das komplette Programm entwickelt hatten, hatte Microsoft, oder besser die Stiftung von Bill und Melinda Gates, die Finanzierung dafür besorgt, obwohl Apple und Google keine Armen waren. Gates war dafür eingetreten, dass das Signspeak kein teures Gerät für zehntausend Euro werden sollte, sondern nur gerade mal einen Tausender kosten würde, wenn die Krankenkassen mitspielten und es den Gehörlosen quasi verschrieben.

Genau an der Stelle hatte ihre WG-Mitbewohnerin Antonia weise genickt und triumphierend den Mund verzogen.

»Genau darum geht es dem«, hatte sie gebärdet. »Der will an uns alle ran. Über Impfungen, über dieses Gerät, dazu noch über unsere Krankenkassen, die für unsere Gesundheit sorgen sollen und nicht für mehr Überwachung durch diese bleiche, kranke Krake! Der will uns alle kontrollieren, als Kunden, die er nie wieder verliert, und uns so manipulieren, dass wir gefügig bleiben. Dass wir spuren, gehorchen, Sarah. Das kommt einer elektronischen und medizinischen Entmündigung gleich. Irgendwie fürchte ich mich davor.«

Sarah wusste, dass Antonia nicht direkt an all diese Verschwörungstheorien glaubte, die im Umlauf waren, ganz frei davon war sie allerdings auch nicht.

»Und der liest dann irgendwann alles mit, was wir denken, fühlen und sagen oder gebärden. Die wissen alles über uns. Um uns dann so zu manipulieren, wie sie es gerade brauchen, das schaffen die schon irgendwie. Unterschwellige Signale in der Werbung, Fake News, vielleicht sogar über Strahlung, obwohl ich das nun nicht wirklich glaube.«

Sarah konnte die Gedanken ihrer Freundin nicht teilen, obwohl sie sonst sehr viel miteinander teilten. Sogar einen Lover hatten sie eine Zeit lang mal gemeinsam gehabt, was sie fast auseinandergebracht hätte. Zum Glück waren sie den wieder losgeworden.

Für sie selbst war das alles ein Segen. Grenzenlose Kommunikation, Information, Verbindungen ohne Ende. Wissen auf Knopfdruck. Bilder und Videos, Musik für die Hörenden, Kunst, Wissenschaft, alles für jeden offen zugänglich. Sie konnte von einem Tag auf den anderen mit nahezu jedem Menschen der Welt sprechen! Wahnsinn! Wie geil war das denn!

Natürlich konnte immer irgendjemand alles zu anderen Zwecken missbrauchen. Wenn jemand einem anderen per Telefon den Auftrag zu einem Mord gab, war auch nicht das Telefon daran schuld. Oder ein Brief, wenn jemand auf diese Weise schriftliche Befehle erteilte, zu Mord oder sogar Massenmord. Schuld waren immer die Menschen, niemals die Technik. Nicht das Internet oder auch 5G waren verantwortlich, sie waren Medien, die Grenzen niedergerissen hatten. Die Menschheit konnte alles zum Guten oder zum Bösen verwenden; entscheidend war nur die menschliche Ethik, niemals die Werkzeuge. Jedenfalls glaubte Sarah das.

»Und wer sagt dir, dass die zu den Guten gehören, diese Fatzkes von Milliardären? Na? Kannst du auch nicht beweisen«, hatte Antonia argumentiert.

Darauf hatte sie nichts entgegnen können.

»Vielleicht lerne ich Bill Gates ja kennen«, hatte sie gebärdet. »Dann kann ich das einschätzen. Gesten und Haltung lügen nie, Worte ja. Und da sind wir die Besten, Antonia. Uns belügt keiner, das weißt du genau.«

Dreieinhalb Stunden später war ihr Zug in Klosters angekommen, das von verschneiten Bergen umgeben lag, auf denen Skipisten zu sehen waren.

Inzwischen bezweifelte sie, dass sie Gates oder Tim Cook oder andere Größen treffen würde. Sarah nahm nicht am World Economic Forum teil, sondern nur an einem kleinen Gehörlosentreffen am Rande des Forums. Zur gleichen Zeit, damit die IT-Milliardäre etwas Soziales zum Vorzeigen hatten. Sie bekam Herzklopfen bei dem Gedanken, dass sie vielleicht doch nur benutzt werden sollte.

Am Bahnhof wartete ein Minibus auf sie. Im Zug waren noch vier weitere Gehörlose gewesen, die wie sie selbst das Glück gehabt hatten, zur Betatestern ausgewählt worden zu sein. Der Fahrer sah kopfschüttelnd zu, wie sie sich die ganze Fahrt zum Panorama-Hotel miteinander mit Händen und Gesten unterhielten und dabei lachten wie Schulkinder. Gehörlose sind freundliche Menschen, dachte sie, fast alle, die ich kenne. Auch wenn ich selbst all diesen Idioten da draußen gern mal die Fresse polieren würde.

Das Panorama war ein großer und für sie ziemlich beeindruckender Kasten, ein Dreisternehotel, das in Osnabrück sicher fünf Sterne bekommen hätte. Es hatte alles, was ein gut situierter Skifahrer sich tagsüber und nachts wünschen konnte. Und trotzdem verblasste es vor den Vier- und Fünfsternehotels, von denen es in Davos und Klosters nur so wimmelte, für die Ski-Schickeria an normalen Tagen und für die Weltprominenz während des WEF, immer gegen Ende Januar.

Sarah fragte sich, ob sie sich hier mit anderen Tauben zum Turteln treffen konnte. So viele Gehörlose an einem Ort, das kannte sie nur von ihrem Gymnasium in Osnabrück, und die kannte sie alle schon bis zum Erbrechen.

Das Hotel beeindruckte sie schon beim Einchecken. Sie war simple Gasthöfe mit schmalen Betten nebst Kleiderhaken und Miniatur-Fernsehern gewohnt, die eine Flasche Mineralwasser schon als Luxus ansahen, dafür dann meistens überheizt waren.

Hier hatte sie eine Minibar, ein Riesen-TV, Unmengen von Kissen auf dem riesigen Bett, ein Fenster mit Alpenpanorama, ein richtiges Badezimmer mit viel Schnickschnack, kleine Aufmerksamkeiten auf dem Kissen und dem Nachtisch, eine Speisekarte und viele andere Dinge, die sie sich noch ansehen wollte.

Sarah warf ihren Rucksack in die Ecke, auspacken konnte sie auch später noch. Sie streckte sich auf dem Bett aus und schielte zu den Pisten hoch über ihr, wo Figuren in buntem Nylon hin und her wedelten. Das kannte sie nur aus dem Fernsehen.

Sie konnte einen Kaffee brauchen. Im Zimmer gab es einen Wasserkocher und Tütchen mit Kaffee und Tee, Zucker und Milchpulver. Luxus pur, dachte sie und machte sich einen Kaffee mit allem.

Was nun? Hier im Zimmer rumgammeln wollte sie auch nicht.

Sie war wegen des Signspeak hier. Das Seminar dazu würde erst morgen starten, in einem Hotel, nicht im Kongresszentrum, weil dort das Wirtschaftsforum beginnen würde. Sie konnte sich das Gerät aber zum Ausprobieren schon heute im Kongresszentrum abholen. Nichts wie los, dachte sie.

Sie griff zu ihren Sachen, setzte sich den Rucksack auf und steckte die Schlüsselkarte ein. Sobald sie das Signspeak hatte, würde sie sich das Hotel ansehen, wo morgen das offizielle Treffen beginnen sollte. Sie ging runter und nahm die Abkürzung durch den Park zum Kongresszentrum. Überall wimmelte es von Sicherheitspersonal, Polizisten, die offiziell das Gelände kontrollierten, und anderen, unauffälliger gekleideten Personen, die ebenfalls das Gebiet um das Zentrum ausspähten. Bodyguards der Superreichen, rechnete sie sich aus.

An allen wichtigen Kreuzungen standen Fahrzeuge des Schweizer Militärs.

Zwei sportlich aussehende Herren in blauen Anzügen, die vor ihr gingen, hatten sogar die durchsichtigen Nylonspiralen des amerikanischen Secret Service an den Ohren. So etwas kannte sie nur aus dem Fernsehen.

Mit Sicherheit kannte sie sich dagegen gut aus, nach vier Jahren als Teilzeit-Angestellte bei der Polizei. Sarah besaß völlig legal eine Sammlung an schönen Pistolen, die sie bis auf die Glock 19 zu Haus gelassen hatte. Und die lag nun mutterseelenallein in Zürich. Die Leute vor ihr waren alle bewaffnet, dessen war sie sich sicher.

Es waren zehn Minuten zu Fuß und es dauerte anschließend noch mal zehn Minuten, bis sie dem Wachmann am Eingang klargemacht hatte, was sie im Kongresszentrum wollte. Er sah sich den Brief gar nicht an, den sie ihm unter die Nase hielt, sondern redete weiter auf sie ein. Den Button auf ihrer nicht gerade unsichtbaren Brust nahm er nicht wahr.

Schließlich packte sie ihr altes Handy aus, wählte eine ihrer Standard-Nachrichten aus und ließ sie das Gerät laut vorlesen.

Das »Ach so!« des Mannes konnte sie auch ohne Übersetzung an seinen Lippen ablesen. »Das ist natürlich was anderes!«

Sie war drin. Sie musste in einen Raum namens Strela, den sie schließlich oben hinter der Treppe fand. Der Raum war größer als ihre ganze WG-Wohnung und dennoch der kleinste im ganzen Kongresszentrum.

Drinnen wartete kein Bill Gates auf sie, sondern eine ältere, leicht korpulente Dame mit einer rotumrandeten Brille, die sie per ASL begrüßte, der American Sign Language. Sarah verstand die amerikanischen Gebärden einigermaßen, antwortete jedoch in der deutschen Gebärdensprache DGS.

»Ich heiße Sarah Bakhtiary, aus Osnabrück, Deutschland, und will mein Testgerät abholen«, erklärte sie der Frau, auf deren Namensschild Bess Harper stand. Sie übergab ihr das Einladungsschreiben und ihre Reisekostenbelege. Harper nickte.

»Setz dich«, gebärdete sie. »Ich muss das überprüfen. Du kannst dir solange eine Präsentation ansehen, Moment bitte.« Sie schaltete einen Computer ein, an der Seitenwand erschien eine Show über die Entwicklung und den Gebrauch der Software. Mit einem Vorwort von Sergej Brin und Bill Gates, alles in ASL übersetzt. War das schon alles, was sie von den beiden sehen würde, fragte sie sich.

Ein paar Minuten später bekam sie ihr neues Gerät. Es sah auf den ersten Blick aus wie ein normales iPhone, allerdings mit zwei Frontkameras für eine bessere 3-D-Erkennung für Gebärden und Mimik. Und dasselbe auf der Rückseite, wie sie wusste.

Harper richtete das Gerät zusammen mit ihr ein, was weitere zwanzig Minuten dauerte. Inzwischen waren zwei weitere Beta-Testerinnen eingetroffen, Sarah machte allein weiter, bis sie alles verstanden hatte.

Eine der beiden anderen sah aus wie eine Chinesin. Vielleicht eine, die in Europa lebte, dachte Sarah. Oder war die extra wegen des Seminars aus China in die Schweiz gekommen?

Sie stellte das Handy aufrecht auf den Tisch und gebärdete los. »Hallo! Sag mal, wo kommst du denn her? Bist du aus China oder lebst du in Europa?«

Dann ließ sie das Gerät ihre Rede in chinesische Gebärden übersetzen und hielt es der Frau vors Gesicht. Die runzelte die Stirn, weil sie gerade mit Harper beschäftigt war und voller Vorfreude auf ihr eigenes Gerät von einem Bein aufs andere trat.

Dann sah sie auf den Bildschirm und ihr Gesicht hellte sich auf.

»Ja, ich komme aus Shanghai, lebe aber in Zürich. Das geht ja gut! Und du?«, gebärdete sie aufgeregt zurück, der Avatar auf ihrem Bildschirm übersetzte für Sarah in DGS.

»Ich komme aus Deutschland, Osnabrück, ich bin zur Hälfte Perserin. Toll, das funktioniert ja wirklich!«, gebärdete sie zurück. Das funktionierte von beiden Seiten. Das Gerät hatte die Eingabe in der chinesischen Gebärdensprache sofort erkannt. Echt toll, dachte sie.

Sie fragte sich, wie das werden würde, wenn sie erst die Gebärden mit dem Handy in der einen Hand beherrschen würde und beide Hände einsetzen konnte.

Ihr Gegenüber legte den Kopf schief, während Harper sich der anderen Frau im Raum zuwandte. »Zur Hälfte was? Ein Teppich?«

»Iranerin«, korrigierte sich Sarah. Sie mochte diese Bezeichnung nicht, ihre Familie war aus Persien gekommen, dem Land, das heute nun einmal Iran hieß. Nur die Teppiche hießen nicht Iraner-Teppiche, sondern weiterhin Perser. Hatte das Programm das missverstanden?

Sie mussten beide lachen.

»Ich heiße Zhou Jun«, ließ sie die andere wissen. »Vielleicht sehen wir uns die Tage ja noch. Aufregend, was?«

Sarah nickte. Sie gab ihre Kontaktdaten frei, damit Jun sie gleich auf ihrem neuen Handy hatte.

Sie nickten sich aus zwei Metern Entfernung zu, auch wenn Sarah der anderen gern die Hand gegeben oder sie kurz in den Arm genommen hätte. Das war nun seit über zwei Jahren verpönt.

Bevor sie ging, musste sie noch eine Empfangsbestätigung unterschreiben. Das ist hier alles so viel einfacher als bei der Polizei in Zürich, dachte sie. Die IT-Welt ist gar nicht so schlecht, wie alle sagten.

»Wir sehen dich dann morgen früh im Raum Sanada 1, auf der anderen Seite des Hauses im gleichen Stock, zur offiziellen Begrüßung, um halb zehn, okay?«, verabschiedete sie Harper. »Und nachmittags geht es zum großen Meeting im Hotel Waldhuus weiter, oben in der Stadt, am Waldrand, leicht zu finden.«

Sie gab Sarah ein Zeichen zu warten. »Moment. Hier ist dein Button mit deinem Namen und dem offiziellen QR-Code drauf, trag den bitte die ganze Zeit. Damit kommst du hier überall rein. Und hier sind das Programm und alle Unterlagen. Das Ladegerät und alles andere ist da auch drin. Nur Gedanken lesen kann das Gerät noch nicht«, lachte sie Sarah an, während ihre Hände vor ihr hin- und herflogen.

Sarah steckte sich den Button gleich an die rechte Brustseite. Unter ihrem Vornamen stand in großer Schrift BAKHTIARY, darunter stand ein farbiger QR-Code.

»Danke, wir sehen uns.« Sarah fuhr ihren Ellbogen aus, die dunkelhäutige Amerikanerin klickte mit ihrem dagegen. »Bis morgen.«

Sarah winkte den anderen zu und ging hinaus. Zeit, das Ding überall auszuprobieren, dachte sie. Sie fuhr hinunter ins Erdgeschoss und ging zu dem Security Officer, der sie beim Reinkommen fast nicht reingelassen hätte.

»Hallo noch mal«, gab sie mit einer Hand ein. Es gab genügend Einhandgebärden, mit denen sie sich klar ausdrücken konnte. »Danke noch mal dafür, dass ich reindurfte. Ich habe mein Gerät bekommen. Und danke, dass Sie hier auf uns aufpassen. Wir sehen uns dann morgen.«

Das Ganze ließ sie für die Sprachausgabe in Schwyzerdütsch übertragen. Es war gut, dass Davos so ein gutes Netz hatte, weil das Programm über die Cloud und einen Supercomputer in den USA lief, nicht auf dem Handy selbst. Schon nach einer Viertelsekunde war die Übersetzung fertig.

Sie hielt es dem Mann vors Gesicht, in gebührendem Abstand, und spielte die Nachricht ab.

Das Gesicht des vierschrötigen Mannes hellte sich auf.

Sarah war sich sicher, dass er jetzt etwas in derselben Sprache zurück krächzte, es war deutlich, dass er alles verstanden hatte.

»Danke, so ein nettes Lob hört man selten, haben Sie noch einen schönen Tag, junge Frau«, gebärdete der Avatar auf ihrem Bildschirm.

Sie hüpfte und tanzte den Weg zurück ins Hotel. Die Entwickler hatten an alles gedacht, die Ein- und Ausgabe von Bild und Schrift und Ton auf beiden Seiten. So etwas hatte sie noch nicht gesehen. Bisher hatte es nur sehr rudimentäre Gehörlosen-Apps gegeben, die diesem Gerät nicht im Entferntesten nahekamen.

Wozu machten die das, fragte sie sich. Das kostete bestimmt ein Heidengeld, so etwas zu entwickeln und zu bauen. So viele Gehörlose gab es auch wieder nicht, und reich waren die wenigsten unter ihnen. So ein toller Markt konnte das nicht sein. Und dann gleich alles als Kooperation der großen IT-Firmen, die sonst Wettbewerber waren? War bei denen jetzt der Wohltätigkeitswahn ausgebrochen, oder bezweckten die etwas anderes damit?

Na ja, sie würde morgen mehr darüber erfahren. Für heute würde sie sich die Stadt ansehen. Und als Erstes das Hotel, wo es morgen Nachmittag weitergehen würde, das Waldhuus.

Sie öffnete die Karten-App. Es waren gerade mal fünf Minuten zu Fuß die Hertistrasse hinauf, die einen Golfplatz in zwei Hälften teilte.

Das Hotel war noch eine Nummer schöner als ihr eigenes. Während ihres bunt bemalte Balkons zeigte, sprach dieses Hotel von Geld und Prestige, auch wenn es nur vier Sterne hatte.

Sarah marschierte hinein. Das Seminar sollte morgen in einem Konferenzraum namens Dischma stattfinden. Sie sprach mit ihrem neuen Signspeak eine Hotelangestellte an, die sich nicht im Mindesten darüber wunderte und ihr den Weg zeigte.

Im Konferenzbereich war es ruhig. Die Tür zum Raum Dischma war nur angelehnt; neben der Tür hing ein Schild Conference in Progress – do not disturb! Daneben hing eine Liste mit Namen. Sarah blieb stehen.

Hinter den ersten beiden Namen, Almássy und Alves, stand klar und deutlich Bakhtiary. Ihr eigener Name. Hatte sie sich im Datum geirrt, lief das Seminar schon?

Sarah trat ein, und sofort versperrte ihr ein breitschultriger, hochgewachsener Mann im schwarzen Anzug den Weg. Er beugte sich zu ihr herunter und sprach ihr ins Ohr.

Sarah schüttelte den Kopf und zeigte erst auf ihren Button, der sie als Gehörlose kennzeichnete, und dann auf ihren neuen mit dem Schild und dem QR-Code.

Der runzelte seine mit Pockennarben übersäte Stirn und sah dann auf seinem eigenen Smartphone nach.

Dann trat er beiseite, legte den Zeigefinger über seine Lippen und deutete auf den nächsten freien Platz.

Sarah setzte sich.

Vorn stand ein Podiumstisch mit drei Männern und einer Frau dahinter. Ein weiterer Mann stand vor einer Projektionsfläche und deutete mit einem Laserpointer auf eine Grafik. Details konnte sie von hier aus nicht erkennen. Ihr fiel auf, dass die anderen Teilnehmer eine Mappe in Rot vor sich liegen hatten. Sie sah in ihrer Tüte nach; da war keine rote Mappe drin.

Sicherheitshalber legte sie ihr neues Signspeak auf den Tisch und ließ es übersetzen. Es ging um etwas anderes, um Bevölkerungspolitik, wenn sie alles richtig verstanden hatte, was der Avatar auf dem Bildschirm gebärdete. Immer wieder kam der Begriff Young World Order vor, der ihr ebenfalls nichts sagte. Immerhin passte die Bezeichnung zu der Abkürzung YWO am Eingang.

Sarah war verunsichert. War das hier überhaupt ihr Seminar? Mussten sie sich vielleicht erst etwas anderes anhören, bevor die Leute zum Thema kamen?

Sie sah sich um. Alle hörten zu, der Sprecher selbst sprach steif wie ein Stock. Er war sehr angespannt und verkrampft, nicht locker und gelenkig wie ein Gehörloser, fand sie. Wie jemand, der vor einem Richter stand, jemand mit einem schlechten Gewissen.

Sie kam bei dem Tempo nicht mehr mit und verstand auch nicht alles, es waren wohl viele Fremdwörter und Fachbegriffe im Vortrag, die das System noch nicht verstand. Es war ja erst Beta, noch nicht offiziell, alles noch im Teststadium.

Der Avatar stand mehr da und kratzte sich mehr am virtuellen Kopf, als dass er mit Gebärden übersetzte.

Sarah suchte nach der Anleitung für das Signspeak. Vielleicht musste sie noch ein Modul zuschalten, die Amerikanerin hatte so etwas erwähnt. Hoffentlich kostete das nichts extra, dachte sie.

Sarah nahm das Gerät wieder in die Hand. Sie sah, dass im Hintergrund über das Push-App ein Download lief. Vermutlich die Präsentation.

Sie wandte sich wieder ihrem Handbuch zu und blätterte darin herum, leise vor sich hin summend.

Nach einer Weile sah sie auf.

Alle Menschen im Raum, gut über hundert, sahen zu ihr her, einige waren aufgestanden, um aus dem Doppel-U der Tischreihen besser sehen zu können.

Der Sprecher sah sie an und fragte etwas. Er war zu weit weg, um ihn verstehen zu können. Sarah legte den Kopf schief, universales Zeichen von ich verstehe nicht.

Der Sprecher kam zu ihr her. Sarah deutete auf ihren alten Button.

Er sah sie an, dann fiel ihm ihr Namensschild auf. Auf den Gedanken, sie anzusprechen, kam er nicht, Sarah wusste nicht, was er von ihr wollte.

Der Mann ging hinüber zum Türsteher und fragte ihn etwas. Der antwortete und zeigte auf ihr Namensschild. Dann kam er zu ihr herüber, der Sprecher stand dabei, die Arme untergeschlagen.

Sarah richtete das Signspeak auf den Türsteher, der jetzt etwas zu ihr sagte.

Sorry, Ma’am, Sie sind hier falsch. Sind sie taubstumm?

Sarah nickte, auch wenn sie die Bezeichnung als diskriminierend verabscheute. Sie assoziierte das Wort mit seinem Schüttelreim staubdumm, das ihr die Kinder im Kindergarten immer hinterhergerufen hatten, wie ihr eine Betreuerin später erklärt hatte. Es war kein schönes Wort. Auch die rothaarige Zicke im Zug hatte sie so genannt.

»Bitte verlassen Sie sofort diesen Saal. Sie gehören hier nicht her. Haben Sie verstanden?«

Sarah sah auf den Bildschirm und gestikulierte zurück. Ja. Ich weiß auch gar nicht, was ich hier soll, ich verstehe kein einziges Wort. Mein Name steht doch hier an der Tür!

Der Türsteher sah einen Mann an, der von weit hinten aus dem Raum zu ihr hersah. Das ist jemand anderes, nicht Sie. Sorry. Bitte gehen Sie. Jetzt.

Sie hatte bemerkt, dass der Sprecher erleichtert aufgeatmet hatte, als das Gerät ihre Gebärden für ich verstehe kein einziges Wort laut ausgesprochen hatte.

Der Türsteher fasste sie leicht am Ellbogen und schob sie sanft, aber nachdrücklich aus der Tür.

Sarah blieb stehen. Irgendetwas war gerade passiert, sie wusste nur nicht, was.

Sie sah sich den Titel der Veranstaltung an.

YWO. Invitation only.

Keine Ahnung, wo sie hier gelandet war, dachte sie. Egal. Jedenfalls nicht ihre Veranstaltung, die war wohl erst morgen.

Sie kam am nächsten Konferenzraum vorbei, der Sertig hieß. An dem hingen das gleiche Schild und die gleiche Namensliste. Die Räume waren offenbar zusammengelegt worden.

Sarah sah genauer hin. Hinter den Namen stand nichts. Anders bei den Vorträgen, die hier liefen, dort stand bei einem Sprecher erneut der Name Bakhtiary. Diesmal mit einem Vornamen dahinter, Darius.

Sie war tatsächlich nicht gemeint. Dann lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Ihr Vater, den sie nie kennengelernt hatte, trug denselben Namen. Darius Bakhtiary. Der war verschollen, nachdem er in die USA ausgewandert war, ein Jahr nach ihrer Geburt.

Der Mann, der sie zur Adoption freigegeben hatte. Ihr Vater, der sie weggeschenkt hatte wie ein paar gebrauchte Schuhe. Konnte es sein, dass er in diesem Raum war?

Sarah spürte, wie ihr Körper reagierte. Nicht mit Aufregung, sondern mit Angst. Auf ein Treffen mit ihrem Vater, wenn er es denn war, war sie nicht im Mindesten vorbereitet. Sie wollte weg hier. Und sie brauchte einen Kaffee oder besser einen starken Likör, sie musste nachdenken.

Sie fiel in einen Laufschritt. Als sie um die Ecke bog, sah sie jemanden hinter sich herkommen. War er das? Sie lief schneller, ins Hotel hinein und in einen anderen Gang, der weiß Gott wohin führte. Sie beeilte sich, bemüht, ihre Tritte so sanft wie möglich aufzusetzen. Sie wusste nicht, ob man das hören konnte. In ihrer ersten Schule, einer normalen Schule in Berlin, hatten die anderen Kinder immer behauptet, sie liefe wie ein Trampeltier.

Sie kam zu einem Raum, von dem aus es zum Spa- und Wellnessbereich ging. Und zu einem Billardzimmer, in das sie hineinging und die Tür hinter sich zumachte.

Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. In was war sie hier reingeraten? Sarah wusste nicht, ob ihr Verfolger, der vielleicht ihr verschwundener Erzeuger war, noch hinter ihr her war und was er von ihr wollte. Sie hatte einfach Angst, hören konnte sie nichts. Zur Sicherheit kauerte sie sich unter den massiven Billardtisch und wartete.

Einen Moment später sah sie ein paar Schuhe auf der anderen Seite des Tisches, dann ein Gesicht, das sich herunterbeugte. Der Türsteher.

Sarah kam aus ihrem Versteck. Flucht war jetzt zwecklos. Sie musste wissen, was der Mann wollte, und zog ihr neues Gerät aus der Jackentasche, in die sie es kurzerhand gestopft hatte.

Sie wollte es per Gesichtsscan anmachen und fragen, doch darauf wartete der große Kerl nicht. Es hätte wegen ihrer Maske ohnehin nicht funktioniert. Er nahm es ihr ab, zog es aus der Hülle, hielt sie selbst mit der anderen Pranke auf Distanz und warf das Gerät zu Boden. Dann trat er ein paar Mal mit seinem Stiefel darauf und grinste sie dabei an. Er hielt sie weiter an der Schulter fest. Sarah trat ihm mit einem Karatekick ans Schienbein. Genauso gut hätte sie gegen eine Wand treten können. Der Mann drehte sie mühelos mit seinem Schultergriff zur Seite, sodass sie ihn nicht mehr angreifen konnte.

Mit der anderen Hand griff er zu einem Queue, das auf dem Tisch lag, und stampfte mit dessen stumpfem Ende auf dem Leichnam des Signspeak herum, bis der Chip darin zum Vorschein kam.

Er ging in die Hocke, Sarah immer noch im Klammergriff, nahm den Chip auf, legte ihn an die Kante des Billardtisches und holte ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche, mit dem er den Chip versengte, bis er sich verbog und der Belag aus Gold darauf verschmolz. Der Lack des Tisches glomm bereits, als er das Feuerzeug wieder wegsteckte und den Rest des Chips zwischen Daumen und Zeigefinger verbog und dann zusammen mit ihrer Handyhülle einsteckte. In der seit vorhin auch ihr Personalausweis und ihre EC-Karte steckten.

Sarah hatte Angst um ihr Leben. Der Mann war völlig rücksichtslos, das hatte sie aus seinen Bewegungen herauslesen können.

Wie zur Bestätigung packte er sie am Hals und hob sie an, bis ihre Füße den Boden nicht mehr berührten. Er sah ihr ins Gesicht, als ob er sie auf ihre Essbarkeit hin prüfen wollte. Dann ließ er sie fallen und wischte sich die Hand an seiner Hose ab.

Als Sarah wieder auf die Beine kam, stellte er sich vor sie, eine Hand in die Seite gestemmt, verächtlich grinsend. Mit der anderen machte er Wischbewegungen. Verschwinde, hieß das, auch ohne Gebärdensprache. Dazu bewegte er die Lippen.

Sarah sah nicht mehr hin. Sie machte, dass sie aus dem Raum kam. Bloß weg von hier, dachte sie. Weg von dem Monster, raus aus dem Raum, weg aus dem Hotel, bloß raus hier!

Weit kam sie nicht. In der Lobby fühlte sie, dass sie dringend, ganz dringend auf die Toilette musste. Sie sah sich um. Der Türsteher war ihr nicht weiter gefolgt.

Sie ging vorsichtig durch den Raum auf die Toiletten zu, damit sich kein Unglück ereignete. Sich in einem teuren Hotel in der Schweiz in die Hose zu machen, das war so ziemlich das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnte.

Sie schaffte es. Als sie fertig war, musste sie weinen. Sie saß zitternd auf der Schüssel und blieb so lange dort, bis sie sich halbwegs beruhigt hatte.

Zwanzig Minuten. Eine lange Zeit, in der sie keinen einzigen klaren Gedanken fassen konnte.

Kapitel 3

Schließlich schaffte sie es raus aus dem Hotel, draußen wusch sie sich die Hände erneut im Schnee. Die Kälte beruhigte sie weiter, und sie wusch sich auch das Gesicht mit dem kühlen Weiß.

Das war nicht der beste Tag in ihrem Leben geworden, dachte sie, sondern der schlechteste. Erst hatte man ihr die Glock weggenommen, dann ihr kostbares neues Handy zertrümmert und ihr die Würde genommen.

Sie brauchte ein neues Signspeak. Die hatten bestimmt noch welche im Kongresszentrum, dachte sie. Es war nach vier Uhr, als sie dort ankam, der Raum Strela war bereits abgeschlossen, von Bess Harper keine Spur. Immerhin hatte der Wachmann sie noch erkannt.

Mist, dachte sie. Klar, sie hatte ihr altes Handy noch, so schlecht war das auch nicht. Damit wollte sie sich nicht zufriedengeben, dafür war sie nicht hierhergekommen.

Sie schlich zurück zu ihrem Hotel, wo sie sich in die Lobbybar setzte und einen Caffè Corretto bestellte, mit einem doppelten Schuss Grappa.

Sie musste ihre Gedanken ordnen.

Erstens. Sie brauchte ein neues Gerät. Hoffentlich gaben die ihr morgen eines. Sonst musste sie eins kaufen, egal wie teuer das war.

Zweitens. Sie musste Bess Harper erklären, was vorgefallen war.

Drittens. Was war eigentlich vorgefallen? Was war diese Young World Order, diese YWO, was wollten diese Leute, wer steckte dahinter?

Viertens. Warum hatten die ihr Signspeak zerstört? Dachten die, sie hätte etwas damit fotografiert? Dann fiel ihr ein, dass das Gerät von selbst etwas heruntergeladen hatte. Sie erinnerte sich dunkel an Push- und Pull-Verfahren. Was war das wohl für eine Datei gewesen? Das würde sie nun nie mehr erfahren.

Fünftens. Wer war Darius Bakhtiary? War das tatsächlich ihr Vater? Vielleicht doch nicht, dachte sie. Den Nachnamen gab es häufiger. Die ehemalige Kaiserin Soraya hatte so geheißen. Deren persischer Vater hatte auch in Deutschland gelebt und eine Deutsche geheiratet, eine Frau Karl. Die Tochter hatte der Schah zu seiner zweiten Frau gemacht. Mit der war sie um drei Ecken verwandt. Als ob ihr das jetzt etwas nützen würde. Sie begann wieder zu heulen und wischte sich die Augen trocken.

Ein Zweig der Bakhtiarys hatte schon länger in Deutschland gelebt, einige darunter waren Christen. Und nach dem Sturz des Schahs waren weitere Sippenmitglieder nach Deutschland gekommen, unter anderem ihr Vater, der ebenfalls eine Deutsche geheiratet hatte. Marion Gerstner, ihre Mutter, die bei ihrer Geburt gestorben war. Die ihr vorher den Namen Sarah gegeben hatte. Scherzhaft hatte sie sie immer Methusarah genannt, hatten ihr ihre Adoptiveltern erzählt, die das von ihrem Vater wussten. Sie sollte wohl so alt wie Methusalem werden. Schon damals hatte ihre Mutter geahnt, dass sie selbst die Geburt wegen ihrer Bauchhöhlenschwangerschaft nicht überstehen würde, trotz aller Beruhigungsversuche der Ärzte. Die hatten ihr andererseits von den zu erwartenden Komplikationen erzählt. Kurz nach der Geburt war sie verblutet. Sie war nicht alt geworden, gerade mal achtundzwanzig.

Ihre Mutter hatte sich während der Schwangerschaft außerdem noch mit dem Zytomegalievirus angesteckt. Das wurde sexuell übertragen, wahrscheinlich hatte sie es von ihrem Mann geschenkt bekommen. Dies Virus hatte maßgeblich zu ihrer Taubheit beigetragen.

Untreu war Darius Bakhtiary wohl also auch noch gewesen.

Ein Grund mehr, warum sich alles in ihr sträubte, wenn sie seinen Namen hörte.

Vieles davon hatte ihr ihre Adoptivmutter erzählt. Mutti. Sigrid Walter. Sarah hatte als Heranwachsende selbst kurz in ihre Adoptionspapiere sehen dürfen und die knappe Erwähnung dieser Krankheit dort auch entdeckt, neben Fotos ihrer Eltern und der Krankengeschichte ihrer leiblichen Mutter.

Alles hatte sie nicht lesen dürfen.

War er es wirklich gewesen, der auf der Konferenz gesprochen hatte?

Darius war ein häufiger Vorname bei persischen Männern. Darius der Große hatte das Persische Weltreich zu seiner Größe gebracht, das mehr als die Hälfte der bekannten Welt beherrscht hatte. Erst sein Sohn Xerxes hatte es an Alexander den Großen verloren, der die Hauptstadt Persepolis zerstört hatte.

Darius Bakhtiary war in Persien etwa so häufig wie Otto Müller in Deutschland. Trotzdem. Was war eigentlich aus ihrem Vater geworden? Sarah wusste nur, dass er in die USA ausgewandert war, wie viele Anhänger des ehemaligen Schahs, nachdem er seine Vaterrolle neben seinem Job nicht mehr ausüben konnte und sie weggegeben hatte.

Sie hasste ihn noch immer dafür, obwohl sie sich nicht an ihn erinnern konnte. Ein Jahr, so weit reichten ihre Erinnerungen nicht zurück. Die begannen im Hause Walter, einer katholischen Familie im protestantischen Berlin, wo sie aufgewachsen war. Die Walters beherrschten die Gebärdensprache, weil sie selbst eine Tochter gehabt hatten, die gehörlos gewesen war. Und die das Auto nicht gehört hatte, das sie mit sechzig auf einer Spielstraße, in der maximal dreißig erlaubt gewesen waren, überrollt hatte, mit anschließender Fahrerflucht.

Sie war in die Rolle der Tochter hineingewachsen und mit Liebe und Fürsorge aufgewachsen. Ohne sprechen zu müssen oder es erlernen zu müssen. Sie war in einen Kindergarten für Hörbehinderte gegangen, dann in eine spezielle Schule in Berlin und zum Schluss auf das Gehörlosen-Internat in Osnabrück. Erst dort hatte sie richtig Sprechen gelernt.

Manchmal hatte sie den Eindruck, dass sie besser schießen konnte als sprechen.

Sarah schüttelte die Gedanken an die Vergangenheit ab. Sie war hierhergekommen, um mit der neuen Technik besser am normalen sozialen Leben teilnehmen zu können. Stattdessen war sie gedemütigt und ihr kostbarer neuer Besitz zerstört worden.

Sie musste rausfinden, wer dahintersteckte, und für Gerechtigkeit sorgen.

Sarah unterschrieb die Rechnung und nahm den Lift hinauf zum vierten Stock und ging in ihr Zimmer.

Wer war diese Young World Order? Sie hatte schon mal von einer New World Order gehört, im Zusammenhang mit der Neuordnung der Welt nach den Weltkriegen oder als Verschwörungstheorie. Dass jemand die Welt umorganisieren wollte, zu ihrem Besten, nach seinen Vorstellungen, ohne die Menschheit dazu anzuhören. Eine Schöne Neue Welt wie bei Aldous Huxley.

Sie fand nichts zu einer Young World Order. Viel zu den Worten One Young World und New World Order, nichts jedoch zu der Gruppe, die als YWO im Waldhuus getagt hatte.

Fast hätte sie ihr Tablet wieder zugeklappt.

Sie suchte weiter nach Darius Bakhtiary. Auch dazu fand sie niemanden, auf keiner der gängigen Suchmaschinen. Das war merkwürdig, sie hatte mit zwanzig bis dreißig Einträgen gerechnet. Nicht einmal ihr Vater war dort zu finden. Sie änderte den Namen ab und schrieb ihn in anderen Varianten, schließlich war er nur aus dem Farsi, der Sprache Persiens, transkribiert. Und Farsi wurde mit arabischen Zeichen geschrieben, was die Möglichkeiten weiter ausweitete.

Trotzdem fand sie nichts. Hatte er seinen Namen geändert?

Dann fiel ihr die Liste auf dem Schild vor dem Tagungsraum ein. Dort hatte der Name exakt so gestanden, wie sie ihn eingegeben hatte.

Als Nächstes gab sie »Darius AND Bahktiary AND Young_World_Order« ein. Mit dem Ergebnis, dass ihr Tablet nach einer Weile nur noch das rotierende Wartesymbol zeigte und auch sonst zu keiner weiteren Aktion mehr zu bewegen war.

Auf was war sie da gestoßen? Wieso fand sie nichts? Warum dauerte das so lange?

Nach zehn Minuten, in denen sie sich einen Tee gemacht hatte, rotierte das Symbol immer noch vor sich hin.

Das Gerät hatte sich aufgehängt. Passierte. Sarah drückte auf den Power-Knopf, um es neu zu starten.

Nichts passierte. Das Symbol rotierte weiter.

Erst als sie auf alle Knöpfe gleichzeitig drückte und sie gedrückt hielt, ging das Tablet aus.

Nachdem sie es neu gestartet hatte, erschien nach wenigen Sekunden wieder das Warte-Symbol. Das gab es doch nicht!

Sarah versuchte es mit ihrem alten Handy. Freies Internet gab es hier im Hotel, das war kein Problem. Gewarnt durch das Problem mit dem Tablet, schaltete sie ihr VPN ein und benutzte dann Opera Coast als Browser. Das sollte unsichtbar genug sein, dachte sie.

Sie gab wieder beides ein, den Namen und die Organisation, in einer Zeile, ohne Operatoren wie AND.

Opera Coast schlug ihr einen David Bakhtiary und die New World Order vor, nebst Einträgen zu Basketballern und Künstlern und Wiki-Seiten. Das war es nicht.

Sie gab ihr Suchschema erneut ein, diesmal wieder mit Anführungszeichen und logischen Operatoren.

Auch hier kam zunächst nichts. Und dann schaltete sich ihr Handy von selbst aus und wurde ganz warm.

Das durfte nicht wahr sein, dachte sie, und schaltete es wieder ein. Jetzt kam die Nachricht, dass die Batterie leer war. Dabei hatte sie es vor ein paar Stunden erst voll aufgeladen. Das war nicht möglich, dass die Batterie schon wieder keinen Saft mehr hatte. Und doch war es genau so.

Sie hängte es an ihr Ladekabel und wartete zwei Minuten, in denen sie ihren Tee austrank und darüber nachdachte, wann und wo sie etwas essen sollte, hungrig, wie sie inzwischen geworden war.

Das Handy ging an, war aber nicht zu entsperren, weder über Gesten noch die Gesichtserkennung oder den eingetippten Code. Es reagierte nicht. Es arbeitete, wie sie am Summen in ihrer Hand spüren konnte. Was tat es?

Sarah machte es sofort aus und zog den Stecker. Jemand oder eher ein Computer irgendwo auf der Welt hatte die Kontrolle über ihre Geräte übernommen. An wen war sie da geraten? Die NSA, die CIA, den iranischen Geheimdienst?

Was hatte sie mit ihrer Suche ausgelöst? Und wer steckte hinter diesen Namen, die nicht zu finden waren?

So ging das nicht. Sie durfte sich nicht in Gefahr bringen. Sie packte die beiden Geräte in den Rucksack und ging raus. Sicher gab es irgendwo im Ort ein Internet-Café oder einen Laden, der Computer verkaufte. Vielleicht konnte sie die Geräte dort überprüfen lassen. Und dort konnte sie das Gleiche nochmals über den Tor-Browser versuchen, den sie dazu runterladen musste, was nur Sekunden dauern würde. Das war zu schaffen.

Sie brauchte Bewegung, und sie brauchte inzwischen dringend etwas zu essen. Schräg gegenüber vom Lift führte eine Glastür zur Treppe. Gehen würde ihre Gehirnwindungen wieder auf Trab bringen, dachte Sarah. Sie ging hindurch zum Treppenabsatz, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm.

Zwei Leute, die offenbar gerade aus dem Lift gestiegen waren, liefen mit schweren Schritten in die Richtung, in der ihr Zimmer lag. Einer hatte eine Uniform an, der andere war das Ekel im Anzug, der Typ, der sie vor Kurzem unter dem Billardtisch vorgezogen und ihr Signspeak zerstört hatte. Sie musste nicht lange raten; die wollten zu ihr, und die würden wenig Schwierigkeiten haben, ihre Zimmertür zu öffnen.

Statt nach unten stieg Sarah rasch die Treppe hinauf nach oben. Dort würde sie niemand vermuten, hoffte sie. Fluchtrichtung war nach unten.

In was für ein Wespennest hatte sie da gegriffen? Sie steckte in der Klemme, so viel war klar.

Sie ging in den sechsten Stock hinauf und trat auf den Gang. Eine Tür stand offen, bei einem Zimmer zur Stadtseite, mit einem Service-Wagen davor. Das Zimmer wurde gerade gereinigt.

Eine dunkelhäutige Frau sah sie aus dem Badezimmer heraus an, das sie gerade reinigte. Sarah winkte ihr mit ihrer Schlüsselkarte zu und nickte. Das ist mein Zimmer hier, machen Sie ruhig weiter. Die Frau runzelte nur die Stirn und setzte ihre Putzarbeit fort.

Frechheit siegt, dachte Sarah. Sie ging ans Fenster und sah ein paar Minuten lang hinaus. Die Einfahrt konnte sie überblicken, aber die beiden Personen sah sie nicht hinausgehen. Vermutlich waren sie mit dem Auto gekommen.

Inzwischen mussten sie mit ihrem Zimmer fertig sein, rechnete sie sich aus. Im Bad waren noch ihre anderen Habseligkeiten, im Schrank hing ihre Kleidung. Das konnte man in einer Minute alles inspizieren.

Was würde sie selbst tun, wenn sie jemanden suchen würde? Sie würde sich unauffällig in der Lobby mit Sicht auf Treppenhaus und Lift postieren und so lange warten, bis sie rauskam. Und vielleicht auch in der Tiefgarage.

Die Tiefgarage. Da konnte sie vielleicht raus, ohne aufzufallen.

Beim Reinkommen in den fremden Raum war ihr der offene Kleiderschrank aufgefallen. Dort stand ein Kunstkopf aus Styropor, auf dem eine wasserstoffblonde Langhaarperücke saß. Und daneben hing ein roter Lackmantel. Wohnte hier etwa eine Prostituierte?

Das konnte ihr herzlich egal sein. Dann traf es zumindest keine Arme, hier in Davos, wenn sie sich diese Sachen eben mal auslieh, fand sie.

Sarah nickte der Raumkosmetikerin zu und sagte laut, »ich komme dann nachher wieder«. Sie schnappte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, den Mantel und zog ihn an. Die Perücke nahm sie in die Hand, die konnte sie auch noch auf dem Flur aufsetzen.

In den Manteltaschen lag rechts ein Billighandy und links eine Sonnenbrille für den Apres-Ski. Sarah stellte sich vor, nichts oder fast nichts unter dem knalligen Mantel anzuhaben, eine Perücke auf dem Kopf und eine Brille vor den Augen, zurückgelehnt auf einem Ferrari im Sonnenschein vor dem Schnee, vor einem kleinen Ausflug in irgendein Chalet in den Bergen, wo sie sich dann eben mal einen Monatslohn verdiente, mit einem reichen alten Sugardaddy.

Sie seufzte. Nichts für sie.

Der Lift war leer, Sarah fuhr durch bis zur Tiefgarage, von wo aus sie in ihrer Verkleidung durch die Einfahrt rausging. Wenn die Typen hier unten auch auf sie warteten, dann vermutlich eher an der Ausfahrt.

Niemand behelligte sie.

Sarah ging in dem etwas zu großen Mantel langsam hinaus aus dem Parkhaus und nach rechts in Richtung Zentrum. Das Hotel lag ihr gegenüber auf der anderen Straßenseite. Sie spähte aus den Augenwinkeln hinüber und konnte nichts Auffälliges entdecken.

Sie brauchte einen sicheren Platz, wo sie niemand fand. Ein Hotel? Das war zu auffällig, wenn die sie so schnell gefunden hatten, würden die keine Mühe haben, sie auch in einem anderen Hotel sofort aufzuspüren.

Ah ­­– genau! Sie konnte zur Polizei gehen, den Vorfall dort melden und notfalls in einer Zelle übernachten. Außerdem würde ihre Glock 19 dort ankommen, wenn sie nicht sogar schon dort war. Sarah hatte nur keine Ahnung, wo die Wache lag. Sie marschierte auf gut Glück los, die Promenade hinunter.

*

Ein wenig mulmig war ihr bei dem Gedanken, gleich zur Polizei zu gehen. Da würde eine Menge Bürokratie auf sie zukommen. Was sollte sie denen erklären?

Inzwischen hatte sie einen Mordshunger. Hundert Meter vor sich sah sie eine Pizzeria, da Toni, das würde ihr Geldbeutel gerade noch hergeben.

Neben ihr fuhr ein Wagen vorbei, ein SUV mit schwarzen Scheiben. Langsam, fast im Schritttempo.

Sarah sah nach rechts, um auf der leicht spiegelnden Innenseite ihrer Sonnenbrille etwas erkennen zu können. Sie sah, wie die schwarze Scheibe neben dem Beifahrersitz langsam herunterrollte und den Kopf eines Mannes entblößte, der sich suchend umsah. Nach ihr.

Der Mann hatte eine Nylonspirale am Ohr, trug eine Sonnenbrille und sah aus wie ein Profi aus einem Actionfilm. Nicht gut.

Der Mann rief ihr etwas zu, jedenfalls öffnete er den Mund.

Die Promenade war eine Einbahnstraße, wie sie gesehen hatte. Sarah drehte sich um, als ob sie etwas vergessen hätte, und ging zurück.

In einer Schaufensterscheibe sah sie, dass der SUV ebenfalls zurücksetzte und ihr folgte. Sie wagte einen Blick. Der Beifahrer telefonierte und gab dem Fahrer Zeichen. Die meinten das ernst.

Die wollten etwas von ihr.

Vor Panik konnte sie kaum gehen. Sie machte ein paar Schritte und bog in die nächste Gasse ein, an einem Laden vorbei und über die nächste Verkehrsstraße. Dort würde der SUV nicht durchkommen. An deren Stelle würde sie aussteigen und sie zu Fuß verfolgen, dachte sie, und verfluchte sich für die Idee, denn genau das würde passieren.

Sie überquerte auch diese Straße, sie hatte einen kleineren Weg durch die Schneemassen gesehen, der am Berg entlangführte. Sie lief inzwischen.

Der knallrote Lackmantel war so auffällig wie ein Leuchtfeuer, sie musste ihn loswerden. Andererseits war es kalt in Davos, ohne Mantel und Zuflucht würde sie erfrieren.

Sie lief weiter, den Weg entlang, der in einen weiteren schmalen Weg namens Hohe Promenade einmündete. Sie hatte keine Ahnung, ob ihr jemand folgte; mit dem signalroten Mantel würden die sie schnell finden.

Ihr kam ein Mädchen in einer blauen Nylonjacke entgegen, etwa in ihrer Größe. Sarah hatte eine Idee. Sie wusste bloß nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte. Sie nahm das Handy aus der Manteltasche, zog das Bekleidungsstück aus und hielt es lächelnd dem Mädchen entgegen. »Tauschen?«, bemühte sie sich deutlich zu sagen.

Das Mädchen strahlte auf, sagte etwas und zog gleichzeitig ihre alte Jacke aus. Sie war vielleicht sechzehn, dachte Sarah. Der Mantel musste ein Traum für sie sein.

Sie tauschten, Sarah passte die abgewetzte Jacke, der Mantel saß auch. Beide nickten und lachten. Sarah deutete auf die Pudelmütze, die das Mädchen trug, und setzte ihre Sonnenbrille ab. Eine Gucci, wie groß am Bügel stand.

Das Mädchen bekam große Augen, setzte sofort die billige Mütze ab und riss ihr die Brille fast aus der Hand.

Das Ganze hatte keine Minute gedauert, doch eine Minute war viel Zeit. Sarah brummte einen Dank und lief nach Süden davon.

Was nun, dachte sie. Sie hatte etwas Zeit gewonnen, aber nach wie vor keinen blassen Schimmer, wo es zur Polizei ging.

Das Handy, das nun in der Seitentasche der billigen Nylonjacke steckte, rappelte.

Sarah nahm es heraus.

Es war eine SMS, die auf dem Sperrbildschirm angezeigt wurde.

Yvonne, I’m lonely, las sie. Come and do me. Now, if you can. I’m at the Schweizerhof at the Promenade, Room 311. Need your special. 1000 OK?

Als Absender las sie den Namen Gianluca Gentile. Ein Italiener.

Sie lachte trocken auf. Sie hatte sich tatsächlich den Mantel einer Nutte geschnappt.

Dann erstarrte sie. Das Zimmer eines Hurenkunden war ein ideales Versteck, zumindest für eine Weile. Nicht, um dem Mann zu Gefallen zu sein, obwohl sie das Geld brauchen konnte, um sich ein neues Signspeak zu besorgen. Um diesen Leuten zu entgehen, war so ein Besuch perfekt.

Sie bog ab und verließ die Hohe Promenade wieder, zurück in die Stadt.

Sie hatte Glück. Von der Schatzalpstraße, auf die sie geraten war, führte ein Fußweg nach unten, und dort sah sie ein Hinweisschild: Morosani Schweizerhof. Das musste es sein.

Sie sah sich um und trat ein. Noch so ein schicker Kasten. Sie war jetzt in ein paar Stunden in mehr Luxus-Hotels gewesen als in ihrem gesamten vorherigen Leben.

Sie sah durch die Panoramafenster nach draußen. Dort fuhren gerade zwei dunkle SUV mit getönten Scheiben vorbei. Davon gab es viele, sie war trotzdem froh, nicht mehr auf der Straße zu sein. Sie hoffte, dass diese Leute dem Mädchen nichts angetan hatten, das mit ihrem geklauten roten Mantel unterwegs gewesen war. Wer waren diese Leute, und wie viele waren hinter ihr her? Und warum? Warum? Das verstand sie überhaupt nicht.

Sie stand vor dem Lift, der sich gerade öffnete. Andere Leute gingen mit ihr hinein, jemand hielt seine Schlüsselkarte gegen ein Lesegerät und drückte dann die Taste für den dritten Stock. Das hatte geklappt.

Sarah stieg aus. Sollte sie vielleicht besser einfach auf dem Gang stehen bleiben und warten? Auf was? Sie hatte keine Ahnung. Bis sich die Wogen geglättet hatten? Das wäre eine Option gewesen, wenn sie gewusst hätte, um welche Wogen auf welchem Ozean es überhaupt ging und welcher Sturm sie antrieb.

Sie brauchte jemanden, der ihr helfen konnte. Und sie brauchte dringend etwas zu essen. Und Sichtschutz vor ihren Verfolgern, von denen sie immer noch nicht wusste, wer sie waren und was sie ihnen angetan hatte.

Sie rückte sich die Perücke zurecht, die der Kunde der Besitzerin hoffentlich erkennen würde, und klopfte.

Sie wartete. Nichts passierte.

Dann kam ein großer, distinguierter Herr an die Tür, dessen Mund einen Wortschwall an sie entließ. Sarah erkannte das englische Wort Open. Upps, dachte sie. Die Tür war wohl nur angelehnt oder nicht abgeschlossen gewesen.

Der Mann blieb verdutzt stehen und legte seinen aristokratischen Kopf schief, begleitet von einem Stirnrunzeln. Sein schmaler Mund kräuselte sich.

Sarah fiel das weiße Hemd auf, aus dessen oben geöffneten Knöpfen schwarze Wolle herausquoll. So elegant konnten sich nur Italiener kleiden, das Hemd sah teurer aus als die Summe dessen, was sie zu Haus im Kleiderschrank hängen hatte.

Er redete weiter und setzte dabei seinen Körper und seine Hände ein, ganz anders als die steifen Deutschen, dachte Sarah. Keine Gebärden, dafür lebhafte Gesten, die sie auch so verstand.

Wer bist du denn, ich hatte doch eine andere Frau erwartet? Was soll das? Dann trat er einen Schritt zurück. Komm erst mal rein, las Sarah seine Gesten.

Sie schloss die Tür hinter sich. Auf was ließ sie sich hier ein?

Sie trug immer noch ihren Gehörlosen-Button und deutete darauf, bevor sie mit ihren Händen auf ihre Ohren deutete, eine enttäusche Miene zog und die Schultern hob. Ich kann nicht hören, so verstanden das auch Leute, die noch nie mit Gehörlosen zu tun gehabt hatten.

Der Italiener blieb still stehen und sah sie nachdenklich an, bevor er mehrmals leicht nickte und ein Handy aus der Tasche zog. Er tippte etwas ein.

Would you like a coffee? Who are you? Are you Yvonne's replacement?

Sarah nickte, hob Finger und Daumen an den Mund, als ob sie eine Tasse hielte, grinste genüsslich und nickte erneut. Ja, gern einen Kaffee.

Der hagere Mann, unter dessen Hemd sich an der Seite lange Muskelstränge abzeichneten, wies auf einen Sessel am Fenster und ging in das andere Zimmer seiner Suite. Er entsperrte sein Gerät und legte es vor sie hin.

Sarah nahm ihr eigenes Handy aus dem Rucksack, den sie neben sich abstellte. Sie wollte ihre eigene Sprachausgabe benutzen, bis ihr einfiel, dass das Handy kaum noch Saft und ein Problem hatte.

Sie tippte auf seinem Gerät einen Text ein, dessen Sprachausgabe sie auf Englisch einstellte. Als der Mann mit zwei dampfenden Kaffees zurückkam, stellte sie die Übersetzung an.

Die störende Perücke hatte sie abgenommen und neben sich auf ein Tischchen gelegt. Dort hatte sie eine Packung wahrgenommen, die sie von der Werbung kannte. Ein hauptsächlich in Grün gehaltenes Paket mit einer weißen Aufschrift. REJUVO. Also nahmen tatsächlich Leute dieses Zeug, das gerade überall beworben wurde, was immer es bewirkte. Irgendetwas mit jugendlichem Aussehen, nahm sie an.

Sie nahm sein Handy in die Linke und tippte mit der Rechten.

Ich hoffe, Sie können mir helfen, Sir. Ich bin in einer Notlage und werde verfolgt. Warum, weiß ich nicht. Auch nicht, wer die sind. Ich bin geschlagen worden, diese Leute haben mein Übersetzungs-Smartphone gestohlen und zerstört. Ich glaube, die nennen sich Young World Order. YWO. Ich bin in eine Versammlung von denen hineingeplatzt. Verstanden habe ich dort nichts, ich bin gehörlos. Mein Gerät könnte etwas aufgezeichnet haben. Und noch etwas, mein Nachname stand dort auf einer Namensliste. Bakhtiary. Und noch etwas. Mein eigenes Handy geht nicht mehr, seit ich damit nach denen gesucht habe.

Der Mann hörte sich das im Stehen an und kratzte sich den Nacken. Das alles sagte ihm nichts.

Er setzte sich, trank von seinem Kaffee und tippte wieder etwas auf seinem eigenen Gerät ein, diesmal auf Deutsch.

Darüber muss ich nachdenken. Deshalb sind Sie nicht hier, oder? Hat Yvonne sie geschickt? Was ist mit meinem Service? Wissen Sie, worum es geht? Sie haben ihre Perücke und ihr kleines Handy. Ich verstehe die Situation nicht.

Sarah schluckte. Wie sollte sie das alles Yvonnes Kunden erklären? Konnte sie dem Mann überhaupt vertrauen? Sie sank in sich zusammen.

Der Mann trat zu ihr her und strich ihr zärtlich über die kurzen blonden Stoppeln.

Beruhigen Sie sich bitte. Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen, schrieb er.

Als Erstes bräuchte ich unbedingt etwas zu essen, ließ sie sein Handy sagen, das sie ihm aus der Hand genommen hatte. »Ich sterbe vor Hunger. Dann erkläre ich Ihnen alles, Herr Gentile. Ach so, ich heiße Sarah.«

Oh, ich bin ein schlechter Gastgeber, textete er zurück. Entschuldigen Sie bitte meine Manieren. Er stand auf, nahm eine Mappe vom Schreibtisch und legte sie vor sie hin.

Sarah öffnete sie. Auf einem Reiter an der Seite stand Speisenkarte.

Sie nahm sein Handy wieder zur Hand. Das von Yvonne ließ sich nicht entsperren.

Dankeschön, Herr Gentile. Könnte ich bitte eine einfache Pizza Margherita haben?

Der Mann nickte und ging zum Zimmertelefon.

In der Zwischenzeit schrieb ihm Sarah den Lauf der Ereignisse auf, bis hin zu ihrer Flucht. Beim letzten Teil zögerte sie.

In meinem Hotel, dem Panorama, bin ich in ein oberes Stockwerk geflohen. In einem Zimmer wurde gerade geputzt, da bin ich rein und habe mir den Mantel und die Perücke geschnappt, vermutlich von Ihrer Yvonne. Tut mir leid, ich brauchte rasch eine geeignete Verkleidung, die Leute waren schnell, effektiv und hartnäckig. Es war trotzdem Diebstahl.

Sie zögerte erneut, bevor sie weiterschrieb.

Worin bestehen denn Yvonnes Dienstleistungen? Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen da helfen kann. Und ich möchte mich bedanken, Sie haben mir jetzt schon sehr geholfen.

Als er zurückkam, ließ sie das Handy den Text vorlesen. Sie sah ihn lachen, als er alles gehört hatte.

Er ging zurück zum Schreibtisch und nahm seinen Laptop herunter und entsperrte ihn. Damit konnte er vermutlich schneller tippen.

Nichts Schlimmes, nichts, was Sie nicht auch könnten. Haben Sie keine Angst, Sarah. Dazu können wir später noch kommen, Sie werden sehen.

Er setzte sich so auf seinen Sessel, dass sie mitlesen konnte.

Das mit ihrem Signspeak ist schlimm, ich kann verstehen, dass Ihnen das nahegeht. Können Sie ein Ersatzgerät bekommen? Trauen Sie sich überhaupt ins Kongresszentrum? Was diese Gruppe angeht, werde ich darüber nachdenken und recherchieren, wenn ihre Pizza kommt. Die sind schnell hier. Scheint ihren Verfolgern sehr ernst zu sein. Sie müssen da in ein Bienennest getreten sein.

Wespennest, dachte Sarah. Sie deutete auf den Laptop, Gentile schob ihn herüber.

Ich heiße Sarah, wiederholte sie. Sarah Bakhtiary. Ich komme aus Berlin, eine Hälfte meiner Familie kommt aus Persien. Ins Kongresszentrum traue ich mich nicht. Ehrlich gesagt, habe ich Angst. Vielleicht verwechseln die mich auch nur.

Sie dachte kurz nach.

Vielleicht könnten Sie da für mich hingehen und mir eins besorgen. Ich weiß nicht, ob ich noch eines umsonst bekommen kann oder wie viel es kostet. Ist mir peinlich, Sir.

Er griff zum Laptop und schrieb weiter.

Nenn mich Luca, Sarah, tippte er. Ist einfacher. Ich werde dort hingehen, während du isst, scheint dir ja wichtig zu sein. Vielleicht bekomme ich ja eines. Kannst du mir die Ansprechpartner nennen?

Duzten sie sich jetzt? Das war ihr recht, das Siezen fiel ihr von Natur aus schwer, weil es in der DGS nicht vorkam.

Okay, Luca, schrieb sie zurück, den Laptop wieder auf ihren Knien. Da war keiner mehr da, vorhin, vor einer halben Stunde oder so. Die Namen kann ich dir trotzdem gern aufschreiben.

Sie gab ihm alle Informationen, die sie zu Bess Harper und zu den Seminaren für das Signspeak hatte.

Sie sah, wie er aufstand und zur Tür ging. Vermutlich hatte jemand geklingelt.

Ein junger Mann in Livree und mit Maske kam herein, der einen Wagen mit abgedeckten Speisen vor sich herschob. Luca unterschrieb und gab ihm einen Zehn-Euro-Schein. Mehr, als ihr Essen kostete, dachte Sarah. Sie spürte, wie ihr Magen knurrte. Es musste laut gewesen sein, beide sahen zu ihr herüber und grinsten. Der Livrierte deckte den runden Tisch vor dem Fenster und verzog sich wieder, Luca schloss die Tür und kam zurück.

Er selbst hatte sich nur einen Apfel und ein Schinkensandwich bestellt, wie Sarah sah. Das Sandwich hielt er schon in der Hand. Er zeigte auf die Pizza und das Besteck.

Sarah ließ sich nicht lange bitten und langte zu. Sie hatte einen Mordshunger, jetzt meldete sich auch der Durst, der Kaffee hatte nicht viel gebracht.

Als ob Luca das geahnt hätte, war er zur Minibar gegangen und zeigte auf den Inhalt.

»Cola«, wünschte sich Sarah. »Zwei.«

Eine Minute später stand ein Glas mit gekühlter Cola vor ihr, auch wenn ihr die offene Flasche vollauf genügt hätte. Sie trank das Glas gierig aus, die Pizza machte durstig, und Luca schenkte aus der zweiten kleinen Flasche nach.

Er selbst war gerade mit seinem Apfel fertig, als sie ihre Pizza verschlungen hatte. Er wollte ins Kongresszentrum, fiel ihr ein. Was war aus dem Plan geworden?

Sie stand auf und ging zu ihrem Sessel zurück, wo sein Handy lag.

Unterwegs blieb sie stehen. Was sie die ganze Zeit unterdrückt hatte, meldete sich jetzt: ihre Blase.

Sie sah Luca an und formte das Wort Toilette mit ihrem Mund, gefolgt von einer fragenden Geste.

Auf seine schmalen Lippen schlich sich ein winziges Lächeln, das die sonnengebräunte Haut auf seiner schmalen Nasenspitze nach unten zog.

Er legte ihr die Hand auf den Unterarm und tippte mit der Handfläche der anderen Hand mehrfach symbolisch nach unten; warte, sollte das heißen.

Er griff zu seinem Handy. Beim Entsperren merkte Sarah sich die Nummer; ein weiterer Vorteil ihrer Taubheit, sie konnte sich Zahlen besser merken als die meisten.

Jetzt kommt unser Deal ins Spiel, tippte er ein. Ich besorge dir dein Spezial-Handy, umsonst, und suche nach diesen Leuten. Außerdem lasse ich deine Sachen aus deinem Zimmer abholen, wenn du mir deine Zimmerkarte gibst.

Er sah sie lauernd an, als sie das las.

Sie blickte mit zusammengezogenen Augenbrauen zurück.

Ich bekomme dafür eine Gegenleistung, schrieb er weiter. Das, was Yvonne sonst für mich tut, Sarah.

Sie legte den Kopf schief und sah ihn fragend an.

Du gibst mir eine Naturdusche, verlangte er. Ich lege mich in die Wanne, du stellst dich breitbeinig auf die Kanten und duscht mich mit Natursekt. Überall. Ich mag das, mach dir keine Sorgen. Dafür bekommst du alles umsonst, Sarah.

Gott, der will, dass ich ihn anpisse, fuhr es Sarah durch den Kopf. Igitt, wie eklig. Da wäre ihr Bumsen lieber gewesen, dagegen hatte sie nichts, der Typ sah ja nicht mal schlecht aus. Pinkeln war eine viel privatere Angelegenheit als normaler Verkehr, jedenfalls für sie. Und was, wenn sie hinten auch musste? Das konnte man nicht ausschließen, wenn man schon mal dabei war. Das war alles so widerlich!

Sie verzog angeekelt die Miene.

Soll ich es dir nicht lieber mit dem Mund machen, schlug sie ihm per Text vor. Schon ganz die Nutte, die sie nicht war, dachte sie. Wo war sie hier nur reingeraten?

Luca schüttelte grinsend den aristokratischen Schädel. Sarah mochte seine mittellangen, grau melierten und vermutlich von einem Starfriseur gestylten Haare; jetzt gerade ekelte der Typ sie nur an.

Nein, textete er weiter. Das ist alles ganz harmlos, anschließend duschen wir uns heiß ab und waschen uns gründlich, dir passiert nichts. Und falls du groß musst, mach dir keine Gedanken. Stört mich nicht.

Sarah krampfte sich der Magen zusammen. Sie musste immer dringender. In die Hose wollte sie sich nicht machen.

Und dafür bekomme ich mein Signspeak und kann mich hier für ein paar Stunden verstecken, fragte sie zurück, die Beine gegeneinandergedrückt.

Er nickte.

Na los, zier dich nicht, tut nicht weh, textete er weiter.

Na gut, dachte sie. Habe ich zwar noch nie gemacht und werde ich auch niemals wieder tun, nur Pipi, schwor sie sich. Gekackt wird auf dem Klo, und zwar allein.

Sie nickte ihm schüchtern zu.

Er begann sich zu entkleiden und ermunterte sie mit Gesten, es ihr gleich zu tun. Er war schneller fertig. Sarah bedauerte fast, dass er keinen Sex wollte; er sah gut aus und hätte sich gut angefühlt, dachte sie.

Beim BH und Höschen ließ sie sich helfen, beide Hände vor der Scham.

Ihr Busen, den viele Männer bewundert hatten, ließ ihn komplett kalt.

Er führte sie an der Hand in ein sehr großes Bad mit einer Wanne mit Whirlpool-Öffnungen. Auch nichts, was sie aus ihrer WG kannte, dachte sie.

Er zeigte ihr, wo sie sich hinstellen sollte, und gab ihr das Zeichen zu warten. Selbst legte er sich rücklings unter sie, die Hand an sich, obwohl er nicht mehr nachhelfen musste.

Er deutete auf eine Linie von seinem Kopf bis zu seinem Geschlecht und wieder zurück.

Los, formulierte sein Mund. Sono pronto, las Sarah von seinen Lippen ab.

Sie musste zwar dringend, konnte aber nicht. Sie schluckte mehrmals und drückte leicht auf ihre Blase; es ging nicht.

Luca hatte an sich herumgespielt, nahm jetzt den Duschkopf in die Hand und stellte die Wassertemperatur ein. Er legte sich wieder hin und sprühte ihr vorsichtig warmes Wasser zwischen die Beine.

Das wirkte. Woher weiß der so was, dachte Sarah, und jetzt konnte sie nicht mehr aufhören. Sie machte die Augen zu, sehen wollte sie das nicht auch noch, doch sie bemühte sich, all die Stellen zu treffen, die er ihr gezeigt hatte.

Es roch.

Sie machte die Augen wieder auf, rechtzeitig genug, um zu sehen, dass es ihm gefallen hatte. Er lag mit geschlossenen Augen da und strich sich mit einer Hand über die Brust, die andere hatte er schützend über sein bestes Stück gelegt. Vermutlich stöhnte er, dachte Sarah. Wie gut, dass sie das nicht mit anhören musste.

Sie stützte sich an der Wand ab und kletterte von der Wanne. Sie hatte gesehen, dass es eine abgetrennte Toilettenkabine gab. Sie stürzte hinein und übergab sich. Die schöne Pizza, dachte sie. Dann setzte sie sich auf die Schüssel.

Ein paar Minuten später kam sie heraus. Luca lag noch immer entspannt in der Wanne.

Er war ihr jetzt völlig egal. Sie trat unter die separate Dusche und duschte sich ab, er sah ihr dämlich lächelnd zu.

Handtücher gab es genug. Sie trocknete sich ab und warf ihm eins zu. Und dann noch eins.

»Ich brauche mein Gerät«, krächzte sie. »Und noch etwas zu essen. Etwas Richtiges.«

Sie verließ das Bad und zog sich wieder an.

Auf der Speisekarte kreuzte sie das teuerste Gericht an, das sie fand. Carpaccio vom Mittelmeerhummer. Appetithappen von der Dorade. Und Fladenbrot. Und eine Tomatensuppe. Crème bru­lée zum Abschluss.

Sie nahm sich ein Sprudelwasser aus der Minibar und öffnete es.

So schlimm war es gar nicht gewesen, dachte sie. Es hatte ja wirklich nicht wehgetan. Es war nur so was von voll eklig und widerlich, wie konnte jemand so etwas gut finden. Sie fühlte sich, als ob sie sich selbst eingenässt hätte. Beschmutzt.

Sarah setzte sich, aus dem Bad drangen Nebelschwaden. Luca duschte, gut so, dachte sie, eine halbe Stunde Duschen wird es wohl richten, Herr Freak.

Sarah spürte ihr Herz rasen. Was für ein merkwürdiger Tag, dachte sie. Erst reise ich hier voller Erwartung an, bekomme dann mein Signspeak, und seitdem läuft alles schief. Erst das falsche Seminar. Dann dieser Türsteher, dieser widerliche Typ. Und die Verfolger, die sie durch die Stadt gejagt hatten. Und dann Zuflucht bei einem eleganten Hurenkunden, dem sie über den Körper schiffen musste.

Schlimmer konnte es ja kaum noch kommen.

Kapitel 4

Es kam schlimmer. Luca war gerade im Bademantel aus dem Bad getreten, als die Wand, an der ihr Sessel stand, zu wackeln anfing, einmal, dann noch einmal.

Sarah sah Luca zur Tür rennen und durch den Spion sehen. Dann sah er anklagend zu ihr hin. Er eilte zurück, griff nach ihrem alten Handy auf dem Tisch und dem Billigteil von Yvonne und rannte damit ins Schlafzimmer. Sarah lief hinterher. Luca klappte seinen teuren Metallkoffer auf, warf die beiden Handys hinein und schloss den Koffer wieder. Er drehte sich um und sagte etwas zu ihr.

Sarah schüttelte den Kopf.

Er hob den Kopf. Ah, nannte Sarah diese Geste. Er erinnerte sich.

Luca ging zum Schreibtisch und nahm etwas heraus. Eine Beretta M9, wie sie sofort am Lauf erkannte. Er steckte sie in seine Bademanteltasche. Sarah streckte ihm die Hand entgegen und zeigte mit der anderen auf sich.

Luca schüttelte den Kopf. Er griff nach ihrem Rucksack und packte Sarah unsanft am Arm. Mit zwei Schritten waren sie zurück im Bad. Er schob sie rein und schloss die Tür.

Das Licht im Bad erlosch. Jetzt war sie auch noch blind, dachte Sarah.

Sie setzte sich auf die Kloschüssel.

Wer war dieser Luca? Er hatte auf jeden Fall schnell auf diese neue Situation reagiert.

Was hatte er durch den Türspion gesehen? Und warum hatte die Wand gewackelt?

Er hatte als Erstes die beiden Handys abgeschirmt. In einem Metallkoffer waren sie nicht zu orten. Warum hatte er das getan? Auf so etwas kam nur jemand, der wusste, wie man jemanden über sein Handy orten und verfolgen konnte. Und wie man das verhindern konnte. Hatte er Erfahrung mit so etwas?

War sie schon wieder geortet worden? Klar, dachte sie, wie dämlich kann man denn sein, weglaufen allein bringt es nicht, wenn man elektronische Spuren wie eine Duftspur hinter sich herzieht.

Wieso war Luca bewaffnet? Sarah hatte ihn für eine Art Professor oder Banker gehalten, so distinguiert, wie er aussah. Jemand, der am World Economic Forum teilnahm.

Er war entweder Italiener oder kam aus der italienischen Schweiz, dem Namen nach. In Italien war es einfacher, eine Waffe zu besitzen, und auch ratsamer, dachte sie.

Luca hatte wie jemand ausgesehen, der damit auch umgehen konnte.

Hinter dem Mann steckte mehr, als seine frivolen Freuden vermuten ließen.

Und sie saß hier völlig abgeschnitten in einem stockdunklen Raum, der nach Parfüm, Seife und Urin roch.

Sie schreckte hoch, als die Tür mit einem Ruck aufgerissen wurde.

Luca.

Er zog sie raus und schob sie ins Schlafzimmer der Suite.

Die haben nach dir gesucht und dich im Nachbarzimmer verortet, schrieb sein Handy. Sie sah ihn sprechen, mit Spracheingabe ging das wohl schneller.

Ich bin offensiv raus und habe gefragt, was das für ein Lärm ist, man könne ja gar nicht schlafen. Die Zimmertür habe ich offengelassen. Die haben kurz reingesehen und waren wohl beruhigt. Dem Gast nebenan haben sie einen Satz blaue Augen verpasst. Wir hatten Glück, Sarah. Das war knapp. Dein Telefon. Die haben deine Nummer rausgefunden und über irgendeine Ortungssoftware nach dir gesucht. Und das war nicht die Polizei. Was sind das für Leute, die hinter dir her sind?

Sarah atmete tief durch und schnappte sich sein Gerät. Habe ich dir doch erzählt. Falsches Seminar. Young World Order. Die müssen das sein. Ich habe keine Ahnung, wer das ist und warum die nach mir suchen.

Er sprach direkt ins Handy, das sie weiter in der Hand hielt.

Das sind Profis. Die kommen wieder. Wir müssen hier weg.

Luca strich mit der Hand über seinen Nacken. Er dachte nach.

Gib mir bitte deine Schuh- und Kleidergröße. Und warum wolltest du eine Waffe? Wer bist du wirklich? Wer hat dich geschickt? Was willst du von mir?

Sarah stutzte. Wie bitte? Geschickt? Sie war froh, dass sie einen Unterschlupf gefunden hatte, und jetzt war auch der aufgeflogen. Sie war es, hinter der die Leute her waren.

Schuhgröße 37 und für meine Sachen 34, S oder XS, schrieb sie. Deutsche Größen, ist hier vielleicht anders. Sie sah ihn fragend an. Ich kann schießen. Supergut sogar. Ich bin Ausbilderin auf einem Schießstand.

Dass sie bei der Polizei angestellt war, verschwieg sie lieber.

Wir haben nicht lange. Bleib solange hier im Schlafzimmer. Rühre bitte die Telefone nicht an, Sarah. Ich werde etwas besorgen. Dann ziehen wir um. Möchtest du solange etwas essen?

Sarah deutete auf die aufgeschlagene Speisenkarte und nickte. Luca verstand und ging. Die Tür zum Schlafzimmer schloss er hinter sich.

Sie war wieder allein. War Luca rausgegangen? Wie sollte sie dann die Tür öffnen, wenn das Essen kam? Sie würde das gar nicht mitbekommen. Oder war er im vorderen Gastraum und telefonierte? Konnte man sich hier in der Schweiz oder in Davos Bekleidung aufs Zimmer bringen lassen?

Sarah trat ans Fenster und besah sich das Alpenpanorama. Auch etwas, das sie aus Berlin oder Osnabrück nicht kannte. Berge. Und Schnee, es schneite zu Hause ja schon seit Jahren nicht mehr richtig. Hier war alles voll davon, neben den Straßen, auf den Bergen, auf all den Skipisten, die sie vom Fenster aus sehen konnte.

Unten sah sie ein paar Straßen weiter das Blaulicht eines Polizeiwagens durch die Stadt huschen.

Sie war von allem abgeschnitten, kommunikationslos. Kein Handy, kein Computer, kein Mensch in der Nähe.

Sarah legte sich aufs Bett und verschränkte die Arme unter dem Nacken. Das Bett duftete nach Sandelholz. Das Parfüm, das auch von Luca ausgegangen war. Ein angenehmer Geruch, männlich herb und doch sanft. Wenn der Typ normalen Sex von ihr verlangt hätte, wäre sie vielleicht sogar ganz gern darauf eingegangen.

Was machte der jetzt? Hoffentlich hatte er nicht vergessen, ihr ein Signspeak zu besorgen, wie versprochen.

Und was dann? Konnte sie sich noch ins Kongresszentrum wagen? Wohl kaum, jedenfalls nicht, bevor sie wusste, was diese Gruppe von ihr wollte.

Sie hatte so viel rauszufinden, um das hier zu überstehen. Oder zu überleben, fuhr es ihr eiskalt durch die Venen. Warum hatte Luca eine Waffe? War er gefährlich, gehörte er womöglich zu denen? In was für einen Haufen war sie da getreten?

Sie seufzte. Mist, sie verstand überhaupt nichts mehr von dem, was um sie herum passierte.

Luca hatte einen Laptop auf dem Schreibtisch stehen. Mit etwas Glück war der an und nicht gesperrt. Durfte sie damit nach der Young World Order oder nach ihrem vermeintlichen Vater suchen? Das hatte schon letztes Mal zu Schwierigkeiten geführt. Andererseits musste sie wissen, wer ihr ans Leder wollte, und warum.

Ihr Tablet nahm sie lieber nicht aus dem Rucksack, der noch im Bad lag. Das hatte auch einen Telefonchip, wenn die ihr altes Handy oder das von Yvonne orten konnten, dann kannten die womöglich auch diese Nummer. Mist! Daran hatte sie auch nicht gedacht.

Wusste Luca, dass sie noch ein Tablet hatte? Dann hätte er das vermutlich auch in seinen Koffer eingeschlossen. Sie war so unvorsichtig. Das Tablet hatte sowieso nicht mehr funktioniert. Blieb nur sein Laptop.

Sarah ging zur Tür, die zum Wohnzimmer führte, und drehte den Knopf. Die Tür war abgeschlossen.

Der hatte sie eingesperrt! Wie sollte sie denn jetzt an ihr Essen kommen?

Sie ging ins Bad. Das hatte Türen zu beiden Räumen, und beide waren offen.

Luca stand am Fenster und telefonierte. Er erschrak, als er ihr Spiegelbild im Fensterglas wahrnahm.

Geh zurück ins Schlafzimmer, husch, husch, gestikulierte er. Er zeigte zur Tür und dann mit zwei Fingern und dem Daumen mehrmals auf seinen Mund. Das Essen kommt gleich.

Er hatte ja recht. Je weniger Leute sie hier sahen, desto besser, folgte sie seinem Gedankengang. Sie ging zurück durchs Bad und legte sich aufs Bett.

*

Jemand rüttelte sie am Arm. Sarah erschrak; es war nur Luca. Sie war eingeschlafen, erschöpft, wie sie war. Ihr neuer Beschützer, dachte sie.

Er deutete wieder auf seinen Mund und dann in den Wohnraum. Das Essen ist da.

Sarah ließ sich nicht lange bitten und folgte ihm in den anderen Raum.

Ihre Speisen füllten den runden Tisch komplett aus, ihr Teller ragte zu einem Drittel über dem Tischrand. Kein Teller für ihn?

Sie sah Luca zum Schreibtisch gehen, wo ein Espresso und ein Hörnchen standen. Mit der Rechten klappte er den Laptop zu.

Sarah hatte im Fenster kurz das Spiegelbild des Bildschirms gesehen, bevor er zugeklappt wurde. Die meisten Leute unterschätzten den Spähsinn vor Gehörlosen, dachte sie. Wir sehen viel mehr und viel schärfer als andere, wir müssen viel mehr Hinweise lesen können als Hörende.

Hatte sie auf dem Bildschirm ihr Gesicht gesehen, noch mit längeren Haaren, wie auf ihrem Personalausweis? Und das Wort REWARD, in Spiegelschrift? Hatte jemand eine Belohnung auf sie ausgesetzt? Um Gottes willen! Und wenn ja, was hatte Luca damit zu tun? War das hier etwa ihre Henkersmahlzeit?

Vielleicht hatte sie sich getäuscht und sich das nur eingebildet, sie hatte das Spiegelbild nur den Bruchteil einer Sekunde wahrnehmen können. Vielleicht hatte sich Luca nur das nächste Mädchen ausgesucht.

In was war sie hier nur hineingeraten?

Sie setzte sich, legte sich die teuer aussehende Stoffserviette auf die Oberschenkel und nahm das Besteck zur Hand.

Luca sah ihr ans Fenster gelehnt zu, den Espresso in der einen und das Croissant in der anderen.

Sarah aß betont langsam, auch wenn sie hungrig wie ein Wolf war. Sie musste wissen, was passieren würde. Wartete der, bis sie aufgegessen hatte, ein letzter Akt der Humanität, bevor er sie auslieferte? Konnte sie ihm überhaupt noch trauen?

Er hatte ihr alle Kommunikationsmöglichkeiten genommen, bis auf das Tablet, von dem er nichts ahnte.

Das Carpaccio war sehr frisch. Sie tunkte die Stücke in eine leichte Wasabi-Soße, die dafür bereitstand. Zwischendurch biss sie vom Brot ab und aß ein Häppchen von der Dorade. Die Suppe würde wohl kalt werden, wozu hatte sie die eigentlich bestellt?

Luca war fertig und stellte seine Tasse ab.

Er nahm sein Handy zur Hand und setzte sich ihr gegenüber. Er sprach.

Ich habe etwas recherchiert, schrieb das Handy seine Sprache auf. Da sucht dich tatsächlich jemand auf bestimmten Kanälen, scheint denen sehr wichtig zu sein, dich in die Finger zu bekommen. Warum, das war nicht herauszufinden.

Dann war sie das doch gewesen, eben auf dem Bildschirm, dachte Sarah. Was machte sie so wichtig, dass jemand eine Belohnung auf sie ausgesetzt hatte?

Du wirst Davos wohl verlassen müssen, las sie. Kannst du mit einer Sig Sauer P320 umgehen? Mein Bruder hat eine übrig, kann ich bringen lassen. Kaum gebraucht, er hat sich was Größeres besorgt. Hat nur zehn Schuss.

Sarah legte das Besteck beiseite, mit Bedauern. So etwas Leckeres hatte sie seit langer Zeit nicht bekommen.

Ja, kann ich, tippte sie in sein Handy, das er ihr hingelegt hatte. Sogar die gleiche Munition wie bei meiner eigenen. Hast du etwas über diese Leute rausgefunden?

Sie aß auf. Leider waren die Portionen eher klein gewesen. Jetzt passten die Suppe und das Fladenbrot wider Erwarten noch rein. Sie fragte sich, wann sie das letzte Mal einen solchen Hunger gehabt hatte.

Luca schreckte auf und sah zur Tür. Hatte es geklopft oder geklingelt? Sie sah ihn fragend an. Er machte eine beschwichtigende Geste. Gut, dass ich einen Italiener getroffen habe und keinen Deutschen, dachte Sarah. Die sprechen ohnehin immer mit Händen und Füßen.

Er ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt, mit vorgehängter Kette. Dann nahm er die Kette ab und ließ einen wieselartigen Mann herein, der sich nach allen Seiten umblickte und dann ins Zimmer schlüpfte. Luca sprach mit ihm und nahm ihm eine weiße Umhängetasche ab, auf der ein angebissener Apfel prangte.

Das Wiesel huschte wieder hinaus, sah sich auf dem Flur um und war verschwunden. Luca schloss vorsichtig die Tür.

Sarah löffelte ihre Suppe aus, während er die Tasche auspackte. Eine warme, weiße Daunenjacke, wie sie hier viele trugen. Und eine gute Tarnung im Schnee, dachte Sarah. Eine dazu passende Hose, ebenfalls weiß und gefüttert. Schnürstiefel mit Absätzen, die sie zehn Zentimeter größer wirken lassen würden. Eine weiße Kappe mit der Aufschrift Pistenluder, einen ebenfalls weißen fluffigen Schal, der einen großen Teil ihres Gesichtes verdecken würde, einen weißen Mundschutz mit einem lachenden Mund darauf und eine rotblonde Langhaarperücke.

Zu all dem passte ein Norwegerpullover mit roten und blauen Mustern auf weißer Wolle.

Schließlich förderte er noch eine große Sonnenbrille aus der Tasche hervor, bevor er ganz unten ein Handtuch und einen Karton hervorkramte, den er auf seinen Schreibtisch stellte.

Er griff zum Handy und schaltete den Spracheingabemodus wieder ein.

Das sollte als Tarnung vorerst genügen, erschien auf dem Display. Du solltest dich auch um einen anderen Gang bemühen, es gibt jetzt Software, die Leute am Gang erkennt. In China ist das schon gang und gäbe. Gleich kommen noch ein paar Wegwerfhandys. Nur zum Angerufenwerden, du darfst auf keinen Fall Bekannte vor dir anrufen, da warten die nur drauf.

Luca hob nachdenklich den Kopf.

Du wirst außerdem eine Bräunungscreme auftragen und blaue Kontaktlinsen tragen.

Er legte den Kopf schief.

Diese Leute sind gut abgesichert. Meine Freunde haben versucht, mehr über diese Tagung im Waldhuus herauszufinden, einer davon ist jetzt spurlos verschwunden. Ich mache mir Sorgen. Du ziehst mich da in was rein, das passt mir nicht. Vielleicht sollte ich dich einfach rauswerfen, ich habe dir genug geholfen.

Sarah fiel fast der Löffel aus der Hand. Sie legte ihn weg. Die Suppe war sowieso so gut wie alle. Sie zog ein fragendes Gesicht. »Hä?«, krächzte sie.

Ich bin eine einflussreiche Persönlichkeit, ich kann mir keinen Ärger leisten, erklärte er. Ausliefern kann ich dich auch nicht, das verträgt sich nicht mit meinem persönlichen Kodex.

Sarah wischte sich den Mund ab. Ihr war vom Essen wohlig warm geworden, sie war nicht in Streitlaune. Die Angst stieg dennoch langsam in ihr auf wie Lava in einem Vulkanschlot. Sie spürte ihr Herz schneller schlagen.

Wir haben einen Deal, tippte sie ein. Ich muss mein Signspeak wiederhaben, außerdem kann ich bestimmt nicht einfach nach Haus fahren. Wenn die so aggressiv sind und etwas von mir wollen, werden die mich auch da abfangen. Ich muss wissen, was die wollen. Von mir aus gebe ich ihnen das und fertig.

Sie sah ihn seufzen.

Tja. Wenn es denn so einfach wäre, sagte der Fließtext. Wenn die glauben, dass du etwas weißt, etwas mitbekommen hast, was da lief, werden die auf Nummer Sicher gehen wollen. Ahnst du, was das bedeutet?

Sarah kniff den Mund zusammen und machte eine Schießbewegung mit dem Zeigefinger. Luca nickte.

Kannst du wirklich mit einer Waffe umgehen, fragte er. Sarah nickte heftig.

Luca ging zum Schreibtisch und wickelte das karierte Handtuch aus. Die Sig Sauer, dachte Sarah. Neu ist die nicht mehr, mit all den Kratzern darauf.

Luca ließ das Magazin herausrutschen, nahm die Patrone aus dem Lauf und reichte ihr die Waffe.

Er nickte ihr aufmunternd zu.

Sarah stellte Geschirr und Besteck zurück auf den Servierwagen. Sie beugte sich zu den Sachen hinüber, die auf dem anderen Stuhl neben ihr lagen, und griff zum Schal, den sie sich zweimal um den Kopf wickelte, sodass ihre Augen verdeckt waren.

Dann tastete sie nach der Waffe und nahm sie mit wenigen gekonnten Handgriffen auseinander. Sie mischte die Bestandteile auf dem Tisch durcheinander, zeigte ihre leeren Hände vor und suchte dann nach den Teilen. Und schon lag wieder eine gebrauchsfertige Pistole vor ihr.

Sie wickelte den Schal wieder ab und sah Luca an, dem die Kinnlade heruntergeklappt war.

Wow, las sie auf dem Handy, das vor ihr auf dem Tisch neben der Waffe lag. Das hätte ich nicht erwartet. Bist du auch so schnell und präzise mit der Handhabung?

Sarah antwortete nicht. Stattdessen nahm sie die Waffe, machte damit eine Rolle vorwärts und seitwärts über den Teppich und kam aus dieser Haltung in eine Position, bei der die Mündung der Sig Sauer genau auf Lucas Stirn deutete.

Ich mache auch Combat-Training, schrieb sie, als sie zurück am Tisch war. Überzeugt?

Der große Vorteil, wenn man gehörlos ist, schrieb sie weiter. Der Knall der eigenen und der anderer Waffen erschreckt einen nicht. Ich könnte das im Schlaf.

Kapitel 5

Bess Harper beugte sich vor. Da stimmte etwas nicht. Sie hatte zweiundzwanzig Geräte ausgegeben, einundzwanzig davon bewegten sich durch Davos und Klosters, alle waren aktiv. Der Algorithmus lernte alles über die Gebärden der Teilnehmer und hatte schon siebenhundert neue Wörter in elf Sprachen gelernt, nebst neuen Übersetzungen für diese Gebärden. Das Programm hatte eine Genauigkeit von 91 % errechnet. Noch lange nicht perfekt, als Beta-Version schon ganz brauchbar.

Das nicht aktive Signspeak gehörte einer jungen Deutschen namens Sarah Bakhtiary. Bess erinnerte sich an sie; eine hübsche, elegant wirkende junge Frau mit markanten Gesichtszügen. Bess seufzte. Schlank war sie gewesen, mit einer sehr attraktiven Figur. Sie sah auf ihre eigene Donut- und schokoladeverwöhnte Figur hinunter. Hier in Davos gab es Schweizer Schokolade in rauen Mengen zu guten Preisen; was für ein gefährlicher Ort, dachte sie.

Vielleicht hatte diese Sarah so viel damit herumexperimentiert, dass ihr Signspeak keinen Saft mehr hatte? Den Chip würde sie trotzdem noch orten können, wozu hatte sie die kombinierte Software-Power von Google, Apple und Microsoft unter ihren Fingerspitzen?

Sie checkte die historischen Daten von Sarahs Gerät. Sie konnte über die Zellenanmeldung und das GPS-Signal ziemlich genau sehen, wo es sich zuletzt aufgehalten hatte; im Hotel Waldhuus, wo morgen das offizielle erste Treffen stattfinden sollte.

Hatte sie dort so viel telefoniert, dass der Akku, der für mindestens zwei Tage reichte, schon leer war? Dann hätte sie die ganze Zeit HD-Videos in höchster Aufladung sehen müssen, etwas, das Gehörlose normalerweise nicht taten.

Bess sah sich die Daten an. In der Beta-Version war es möglich – und per Unterschrift von den Teilnehmern bestätigt worden, auch wenn es im Kleingedruckten gestanden hatte –, den Akkuladestand abzulesen, nebst anderen Betriebsdaten des Signspeak. Sarah hatte einen noch fast vollen Akku gehabt. Sie hatte noch gar nicht telefoniert, denn auch das konnte sie damit. Was der Gesprächspartner sagte, konnte sie als Gebärde eines Avatars sehen, und was sie gebärdete, wurde maschinell als Sprache an ihn weitergeleitet.

Sie hatte ein paar Mal übersetzt und ansonsten etwas heruntergeladen. Das war schon einige Minuten beendet gewesen, als das Gerät seine Funktion eingestellt hatte.

Vielleicht war sie müde, hatte Sex, lag in der Badewanne oder hatte das Gerät aus anderen Gründen ausgestellt.

Mit vollem Akku.

Das Gerät konnte sie auch so orten, über die IMEI-Kennung, die weiter an den nächsten Funkmasten gesendet wurde, oder über eine stille SMS. Sie fragte sich, ob das in der Schweiz erlaubt war, denn das war normalerweise nur den Telefongesellschaften und der Polizei vorbehalten. Die Beta-Tester hatten dem allerdings alle zugestimmt, ob sie den Text nun gelesen hatten oder nicht. Die meisten hatten die Bedingungen einfach runtergescrollt und dann auf akzeptieren gedrückt, es waren immerhin sieben Seiten Text gewesen.

Bess sah zur Sicherheit nach. Alle Teilnehmer hatten für das Lesen und Akzeptieren nur maximal vier Sekunden gebraucht; also hatte niemand wirklich gelesen, was dort alles stand. Sie konnte ein kleines Schmunzeln nicht unterdrücken. Ging doch.

Auch das brachte nichts.

Sie sah nach dem GPS-Signal. Das hatte im Signspeak eine eigene, kleine Batterie, die mindestens eine Woche halten würde. Das diente dazu, Vermisste finden zu können, wenn sie sich zum Beispiel im Wald verirrt hatten oder entführt worden waren; eine Funktion, die sozusagen auch Beta war, denn mit den Regierungen war das noch nicht vereinbart worden, auch wenn die entsprechenden Ministerien Interesse daran gezeigt hatten.

Bess wusste, dass diese Funktion von vielen wieder einmal als Versuch gewertet werden würde, sie zu überwachen. Geheimhalten konnte man das kaum, ein einziges Datenleck würde ausreichen, und schon würde die Welt der Verschwörungstheoretiker ein neues Ziel haben.

So war das mit allen neuen Funktionen, dachte Bess. Alles ließ sich so oder so einsetzen, je nachdem, wer die Dinge unter Kontrolle hatte, zum Guten und zum Bösen. Es konnte Leben retten, wenn zum Beispiel jemand von einer Lawine verschüttet wurde, oder es konnte Verfolgte in einer Diktatur ausliefern.

Es kam immer auf die Ethik und die Benutzer an, Technik war nie von vornherein gut oder schlecht. Man brauchte die richtigen Gesetze dazu, und auch das war nicht genug. Es konnte Firmen geben, die sich nicht daran hielten, es gab genügend Verbrecher, die sich sowieso nicht an Gesetze hielten, und Schurkenstaaten konnten andere Gesetze erlassen.

Das alles lag jenseits ihrer Gehaltsklasse. Sie als Gehörlose war froh, anderen mit diesem Gerät helfen zu können, barrierefrei zu kommunizieren.

Die Daten waren da. Das Gerät war nicht nur ausgeschaltet, sondern komplett unsichtbar. Das konnte bedeuten, dass es irgendwo in einem See gelandet war, in einem Bergtal, wo kein GPS-Signal hinkam, oder dass es unter eine Straßenwalze oder einen Schneepflug geraten war.

Und das war unwahrscheinlich, denn bis zum letzten Moment war Sarah Bakhtiary in der gleichen Funkzelle gewesen. Im Hotel oder in seiner direkten Nähe, und Bess fiel nichts ein, was es dort geben konnte, was das Gerät so beeinflussen konnte. Vielleicht lag es abgeschirmt in einem Safe oder einem Schließfach, das war möglich.

Sie stand auf und seufzte. Eigentlich hatte sie schon lange Feierabend; vor dem großen Event wollte sie dennoch auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Sie zog sich etwas Warmes über, verließ ihr Zimmer und ging hinunter, um sich ein Taxi zu rufen.

Kapitel 6

Luca sah erneut zur Tür. Diesmal ging er direkt hin, öffnete sie, sah in den Flur und nahm einen Jutebeutel vom Griffknopf.

Wer ist dieser Mann, fragte Sarah sich zum wiederholten Mal. Der hat Leute, die ihm dienen, und er hat anscheinend eine Art von Klopfzeichen vereinbart. Ein einfacher Professor oder Banker ist der bestimmt nicht.

Luca packte den Inhalt aus. Vier verschiedene Billig-Handys aus China kamen zum Vorschein, nebst einem Plastikbeutel mit Chips, auf denen die Nummern notiert waren. Per Handschrift.

Er nahm einen Chip heraus und setzte ihn mit wenigen Handgriffen ein. Der war auch schnell, fiel ihr auf. Ein Routinier, was das anging. An wen war sie da geraten? Ein einfacher Freier war das nicht.

Luca griff erneut in den Beutel und holte eine Handvoll Kosmetika hervor.

Hier. Creme dich damit ein und zieh dir die Sachen an. Deine eigenen lassen wir hier, die werden später abgeholt. Wir sollten die Location wechseln.

Sarah verschwand im Bad, um sich einzucremen und umzuziehen. Wieso sie das nicht vor ihm tat, wo sie doch vor gar nicht so langer Zeit nackt bei einer sehr intimen Tätigkeit über ihm gestanden hatte, war ihr ein Rätsel. Es war auch egal. Sie kannte ihn nicht wirklich, das war schon in Ordnung.

Sie war gerade damit fertig, als Luca zu ihr ins Bad gestürmt kam, mit einem Gesichtsausdruck, als ob er sie gleich erwürgen würde. Er sah sich kurz um, schnappte sich dann ihren Rucksack und entleerte ihn wie einen Müllsack. Dann sah er sie anklagend an, bevor er das Tablet ergriff und es ins Schlafzimmer brachte. Sarah ging ihm nach und sah, wie er es zu den anderen Dingen in seinen Metallkoffer legte.

Er griff sie unsanft am Arm und führte sie durch das Bad ins Wohnzimmer. Dort lag das Wiesel, mit einem Loch in der Stirn, und daneben zwei Männer im Anzug, die ebenfalls sehr tot aussahen. Ihre Anzüge begannen sich dunkel zu verfärben. Schüsse ins Herz, dachte sie.

Luca telefonierte, dann packte er sie am Arm, drückte ihr die restlichen Sachen und den Rucksack in die Hand und zog sie zur Zimmertür. Er redete auf sie ein; ohne Hände und Blick auf den Mund hatte Sarah keine Chance, den Sinn seiner Worte zu verstehen.

Luca bedeutete ihr, sich die neuen Sachen für draußen anzuziehen, zog sie auf den Gang und drückte die Tür zu, immer noch fluchend, wie sie annahm. Sarah beeilte sich, ihre anderen Sachen in den Rucksack zu stopfen.

Er lief zum Treppenhaus, sie am Ärmel ihres weißen Parkas hinter sich herziehend. Sie rannten die Treppenflucht hinunter, ohne Pause, Sarah wäre mehrmals fast gestolpert.

Zwischendurch sah er sie anklagend an. Jetzt sah er wirklich angepisst aus, dachte Sarah und musste innerlich grinsen. Sie wunderte sich, wo sie den Humor dazu hernahm.

Luca stieß atemlos eine Tür auf, -2 stand darauf. Die Tiefgarage.

Er zog sie zu einem weißen Hummer und zeigte auf die Beifahrertür. Sarah beeilte sich, Luca bretterte sofort los. Draußen auf der Straße fuhr er dann wieder etwas weniger wild, um nicht aufzufallen. Sie sah an seiner Körperspannung, dass er am liebsten mit zweihundertzwanzig durch die Stadt gerast wäre.

An einer roten Ampel entsperrte er sein Handy und reichte es ihr. Sarah stellte die Sprachausgabe an.

Du hast uns alle in größte Gefahr gebracht mit deinem Leichtsinn und deinem bescheuerten Tablet, erschien auf dem Display als Text. Tony ist tot, er war mein bester Bote. Fast hätten die mich auch noch erwischt. Und alles, weil du zu dumm bist und mir nicht alles gesagt hast. Ich sollte dich erschießen und in den nächsten Graben werfen, dann hätte ich Ruhe. Ich habe wichtige Termine, stattdessen muss ich mich jetzt um dich blöde Göre kümmern.

Sarah tastete nach ihrem Rucksack, der auf ihrem Schoß lag. Sie spürte die Umrisse der Sig Sauer. Die so nutzlos war wie ein Stück Holz, ohne Munition. Sie war diesem Mann schutzlos ausgeliefert. Der hatte mit seiner Beretta gerade zwei Leute erschossen, oder einen, sie wusste nicht, ob Tony das Wiesel auch geschossen hatte.

Sarah fing an zu weinen. Nicht wegen der drei Toten, der Schock hatte sie noch gar nicht erreicht. Sondern wegen ihrer Freundin Antonia, die sie auch Tony nannte. Wenn das so weiterging, würde sie Tony nie wiedersehen.

Die Polizei oder diese Leute werden sich jetzt womöglich meine Suite vornehmen, das kann ich überhaupt nicht gebrauchen, schrieb Lucas Handy. Ich kann nur hoffen, dass meine Leute vorher da sind. Die sind als Ärzte verkleidet, die werden die Leichen mitnehmen und aufräumen. Bete zu Gott, Sarah, dass die Polizei noch andere Dinge zu tun hat, sonst gnade uns die Heilige Mutter Gottes.

Er sah zu ihr herüber.

Ich habe auch meine Verbindungen, unterschätz das nicht. Ärger kann ich gerade deswegen nicht gebrauchen. Falls meine Leute schneller sind, können wir vielleicht erfahren, wer dich da verfolgt.

Er schloss beim Fahren kurz die Augen, Sarah hielt sich am Handgriff über der Tür fest. Sie rasten auf eine Kurve zu.

Es muss um etwas Großes gehen. Das interessiert mich, vielleicht kann das von Nutzen sein. Sonst wärst du nicht mehr hier, Sarah. Aus irgendeinem Grund bist du jetzt wichtig geworden. Und ich habe dir etwas versprochen. Das muss ich noch erledigen. Schwierig, ohne Tony.

Luca hatte die Augen wieder geöffnet und die Kurve problemlos genommen. Wo fuhren sie eigentlich hin? Sarah kannte sich nicht aus, es schien ihr, dass sie Davos oder Klosters gerade verließen.

Was bedeutete das, fragte sie sich. Sonst wärst du nicht mehr hier? War sie eine Gefahr, derer er sich so schnell wie möglich entledigen würde, wenn er sie nicht mehr brauchte? War sie jetzt so etwas wie ein Faustpfand?

Sie musste wissen, ob sie ihm vertrauen konnte.

Sie tippte etwas ins Handy und hielt ihm den Bildschirm vors Gesicht.

Ich brauche Munition für die P320, hatte sie geschrieben. Dann kann ich uns verteidigen helfen.

Luca sah sie mit einem milden Lächeln an, während er die nächste Kurve nahm.

Kann ich dir trauen, las sie ihm von den Lippen ab. Sie nickte entschlossen. Sie hatte keine Wahl. Jedenfalls jetzt noch nicht.

»Ja«, krächzte sie. »Unbedingt.«

Er zeigte mit dem Kinn aufs Handschuhfach. Sarah öffnete es. Zum ersten Mal sah sie tatsächlich Handschuhe darin liegen, ein paar Lederhandschuhe aus weichem Ziegenleder und zwei Paar Plastikhandschuhe.

Nebst einer weiteren Handfeuerwaffe und zwei Packungen mit Parabellum-Munition. Sie nahm eine heraus, öffnete sie und entnahm ihr zehn Patronen. Alles zurückzustellen, ihre Waffe aus dem Rucksack zu nehmen, das Magazin herausgleiten zu lassen, zu füllen und zurückzuschieben, hatte nur bis zum Ende der Kurve gedauert. Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und schob die Pistole zurück in den Rucksack.

»Zufrieden?«

Luca grinste und nickte. Er sagte etwas und dabei zur linken Seitenscheibe.

Wenn du mal einen Job brauchst, lass es mich wissen, Sarah, textete das Handy. Jemanden wie dich könnte ich brauchen.

Wenn ich wüsste, wer du wirklich bist, könnte ich anfangen, darüber nachzudenken, dachte sie. Auf dem World Economic Forum und drum herum trieben sich alle möglichen Leute herum, wie sie wusste. Die Teilnehmer und ihre Bewacher. Vielleicht war er ja Chef der Wachtruppe des italienischen Premiers. Oder vom Schweizer Geheimdienst. Oder von irgendeiner kriminellen Truppe. Oder ein Verschwörer, wie ihn Antonia vermutlich hier vermuten würde. Oder ein gut bewachter Industrieller, vielleicht ein Waffenfabrikant.

Meine eigenen Leute, hatte er gesagt. Die kommen als Ärzte.

Sarah ließ die Antwort offen, auch wenn ihr Geheimdienst auf der Zunge lag. Oder eher in den Fingern, mit denen sie es gesagt hätte. So etwas kannte sie nur aus dem Fernsehen, und diese Welt war von ihrer so weit entfernt wie der Mond.

Wo fahren wir eigentlich hin, tippte sie ein. Und bekomme ich ein Signspeak? Damit wäre alles viel einfacher für uns zwei.

Sie musste innerlich lachen. Uns zwei. Als ob sie jetzt irgendwie zusammengehörten, lächerlich. Der Mann hatte gerade zwei Menschen erschossen. Klar, das waren Leute gewesen, die hinter ihr her waren, durch Sarahs eigene Blödheit. Luca hatte sie gerettet und in Schutz genommen. Äußerst kaltblütig. Und dann ließ er die Leichen beseitigen oder versuchte es zumindest.

Sie hielt ihm den Text vors Gesicht.

Sie hatten das Stadtgebiet inzwischen verlassen, Luca hielt am Straßenrand an.

Bist du sicher, dass du jetzt sauber bist? Keine weiteren elektronischen Geräte, keine Chips, keine Pulsuhr mit Bluetooth oder Sendefunktion?

Upps, dachte Sarah. Sie legte das Handy beiseite, rollte ihren Parka-Ärmel und ihren Pullover auf und nahm ihre Uhr ab.

»Hier«, sagte sie. »Sorry.«

Luca sah sich die Uhr an und wiegte den Kopf. Sarah wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Ihre Uhr verband sich automatisch mit ihrem Handy; ob es darüber hinaus noch eine Sendefunktion hatte oder ob man es über die GPS-Funktion orten konnte, wusste sie nicht. Luca schien sich auch nicht im Klaren zu sein.

Er fuhr ein paar Meter bis zur nächsten Kreuzung, über die gerade ein Schneepflug herankam. Er kurbelte sein Fenster herunter und warf die Uhr auf die nur leicht mit Schnee bedeckte Straße. Ein paar Sekunden später verschwand sie unter dem Pflug.

»Sonst noch etwas?«, fragte er laut, ihr zugewandt. Das konnte sie auch so lesen.

Sarah schüttelte den Kopf und nahm das Handy wieder in die Hand und entsperrte es, ohne nachzudenken.

Luca sah sie mit offenem Mund an.

Wer bist du, sagte der Text auf dem Display. Wer hat dich geschickt? Woher kennst du meinen Code?

Er fuhr an und bog an der nächsten Abbiegung in eine von Schneewehen verdeckte Einfahrt. Bevor sie an etwas anderes denken konnte, hatte er seine Waffe in der Hand.

Sarah fühlte sich erbleichen. Sie war jetzt bestimmte fast so weiß wie die Sachen, die sie anhatte, glaubte sie.

Sie tippte, so schnell sie konnte.

Ich habe dich den Code eintippen sehen, mehr nicht. Als Gehörlose bin ich auf blitzschnelles Erkennen angewiesen, das kann ich gar nicht abstellen, entschuldigte sie sich.

Er nahm ihr das Handy aus der Hand, stellte den Taschenrechner an und tippte etwas ein.

Was habe ich geschrieben, fragte er.

73551 geteilt durch 13327229 plus 25, tippte sie ein, als er ihr das Gerät zurückgegeben hatte.

Luca runzelte die Stirn. Vermutlich konnte er sich selbst kaum an die Zahlen erinnern, die er so schnell eingegeben hatte.

Er steckte die Waffe wieder unter seine Jacke.

Kann stimmen, sagte das Display. Na gut. Ich glaube dir. Aber mach das nicht noch einmal. Ich mag das nicht. Das gefällt mir nicht.

Er drehte sich von ihr weg, nachdem er ihr das Handy wieder weggenommen hatte, und machte etwas damit. Er gab es ihr zurück.

»Entsperren«, sagte er ihr mit überbetonten Lippenbewegungen und einer Handbewegung, die einen Schlüssel im Schloss drehte. Verständlich genug.

Sarah gab den Code ein. Sie kam sich blöd vor. Das Handy warnte sie, falscher Code. Wenn Sie dreimal …

»Okay«, sagte Luca und ließ den Motor des Hummers wieder an. »Schlafen.«

Er machte eine Geste von seiner Stirn über die Augen.

Dann wandte er sich ab und konzentrierte sich aufs Fahren.

Der Mann hatte hypnotische Kräfte, dachte Sarah. Es war warm im Auto, und sie war warm angezogen. Sie war tatsächlich todmüde. Sie sah noch eine Weile zu, wie im Scheinwerferlicht die Schneewehen und Straßenpfähle an ihr vorbeizogen, bevor sie spürte, wie ihr Körper sich entspannte, und in einen tiefen Schlaf fiel.

*

Als sie wieder aufwachte, stoppte Luca den Hummer gerade vor einem Holzhaus, am Ende eines verschneiten Feldweges. Das roh gezimmerte Haus stand am Waldrand und war an drei Seiten von Schneewehen umgeben.

Luca sah zu ihr hin, reichte ihr das Handy und sprach sie an. Ah, du bist wieder wach, sagte das Display. Wir sind da. Hier sollten wir einigermaßen sicher sein, niemand kennt dieses Haus. Es ist beim Bau des Gotschna-Tunnels errichtet worden, es gibt sogar noch einen Gang nach unten. Hier sind wir allein, Internet gibt es hier nicht, jedenfalls nicht für die anderen. Wir haben Zeit. Du wirst mir jetzt alles erzählen, was du weißt. Steig aus, deine Sachen bringe ich mit.

Sarah stieg aus und reckte ihre Glieder. Über sich sah sie Milliarden von Sternen, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Sogar die Milchstraße konnte sie klar ausmachen. Ein einsamer Satellit zog seine Bahn zwischen ihnen hindurch. Die Luft war kristallklar. Und kalt. Ihr Atem knisterte, die Feuchtigkeit aus ihrem Atem kristallisierte.

Sie beeilte sich, mit Luca Schritt zu halten, der zwei Koffer und ihren Rucksack zum Haus trug, und trat in seine tiefen Fußstapfen im Schnee.

Wo sind wir hier, und wie hoch ist das, fragte sie, als sie drin waren. Das Haus war ungeheizt, es war trotzdem wärmer als draußen. Sie hielt Luca das Handy vors Gesicht.

In der Nähe von Cavadürli, erklärte er. In meiner privaten Wanderhütte, meinem Rückzugsort, wenn ich nachdenken will. Wir sind auf 1600 m, es sind vielleicht fünf Grad minus, nicht schlimm. Richtig kalt wird es hier nie.

Er nahm sie bei der Hand und führte sie zu einer kleinen Kammer rechts vom Wohnraum. Er sprach in sein Handy.

Du kannst hier schlafen. Nur ein einfacher Raum, aber ruhig. Ein Bad gibt es nicht, fließendes Wasser und Strom auch nicht, nur im Sommer. Ich habe ein paar Vorräte hier oben. Ich werde den Ofen anmachen, in einer halben Stunde ist es warm, auch in deinem Schlafzimmer.

Sarah zeigte auf ihren Rucksack und tat so, als ob sie sich die Zähne putzen würde.

Er machte wieder eine Ach-so-Geste, bevor er ihr den Rucksack reichte und zu einem Schrank ging. Er kam mit einer Flasche Wasser und einem Plastikbecher zurück.

Sarah ging in ihren Raum. Sie hatte neue Kleidung bekommen und wollte jetzt ihre Unterwäsche wechseln, die sich nicht gut anfühlte. Zu viel Aufregung, dachte sie. Ihre Zähne fühlten sich pelzig an.

Nachdem sie sich die Zähne geputzt und sich umgezogen hatte, fühlte sie sich besser. Sie ging zur Haustür und schüttete das Zahnputzwasser nach draußen.

Innen war es schon wärmer geworden. Sarah fragte sich, ob es wohl eine Toilette gab. Ein Plumpsklo. Das hatte noch Zeit.

Luca hatte es sich auf einem Sessel neben dem Ofen bequem gemacht, ein Whiskyglas in der Hand und eine Zigarre in der anderen. Sarah mochte den Geruch.

Sie setzte sich in den Sessel auf der anderen Seite des Ofens, Luca halb zugewandt.

Er sah sie an und paffte nur den Rauch aus.

Sarah deutete auf den Whisky.

Sie sah ihn fluchend aufspringen. Er holte ein weiteres Glas und goss ihr zwei Fingerbreit ein.

Sie stießen an. »Salute«, formulierten seine schmalen Lippen.

»Salute.«

Sarah setzte sich und trank einen Schluck. Der Whisky schmeckte angenehm nach Torf. Ihr wurde warm.

Luca entsperrte das Handy wieder und legte es zwischen sie auf einen kleinen Tisch.

So. Jetzt erzählst du mir noch einmal alles genau, forderte er sie auf.

Vor allem den Teil, wie du in diese Konferenz geplatzt bist, was da passiert ist und was gesagt oder geschrieben worden ist. Du hattest ja dein Gerät schon, du hast bestimmt etwas gehört oder gelesen. Also nicht gehört, gesehen. Er fuchtelte mit den Händen vor seinem Gesicht herum. Das sollten wohl Gebärden sein.

Sarah stellte den Whisky weg und nahm das Gerät in die Hand. Es hatte nicht nur Spracheingabe, sondern auch eine Vorlesefunktion. Sie stellte das an und tippte mit den Daumen ihre Antwort ein.

Habe ich dir schon alles erzählt, schrieb sie.

Er nickte und sagte etwas.

Mach die Augen zu und denk nach. Auch das Unwichtige kann bedeutsam sein.

Sie folgte seinem Rat und ließ die Ereignisse vor ihrem geistigen Auge Revue passieren.

Der Wachmann, der sie nur reingelassen hatte, nachdem er ihren Namen gelesen hatte.

Die Präsentation. Worum war es noch mal gegangen? Irgendetwas über das Gesundheitswesen und die Bevölkerungsproblematik, erinnerte sie sich.

Ach ja. Ihr Handy hatte die Präsentation runtergeladen! Das konnte wichtig sein.

Dann hatte sie gekramt und nicht aufgepasst, bis alle Leute sie angestarrt hatten und sie herauskomplimentiert worden war.

Sie erzählte Luca von der Präsentation und dem Push-Programm.

Seine Augen leuchteten auf.

Wow, schrieb sein Handy seine Worte auf. Die hätte ich jetzt gern, wenn sie so wichtig und geheim war. Mach weiter. Worum ging es? Auch wenn du es nicht wichtig fandest, weil du etwas anderes erwartet hast, hat ein Teil deines Gehirns etwas wahrgenommen. Erinnere dich, Sarah. Schließ die Augen. Lass dir Zeit.

Er drückte seine Zigarre in einem Stehascher neben sich aus.

Sie versuchte, sich in der Zeit zurückzuversetzen. Es kam ihr vor, als ob das schon Tage her war, dabei war das alles am gleichen Tag gewesen. Heute.

Nach einer Weile öffnete sie die Augen wieder.

Es ging um die erste Corona-Krise, tippte sie ein, das Handy las vor.

Da hätten die Regierungen noch durchgegriffen. Wir hätten eine riesige Belastung für unsere Gesundheitssysteme erlebt, während die Wirtschaft kein neues Geld generieren konnte, schrieb sie.

Vor allem die Alten und Kranken waren damals am anfälligsten, genau die, die die hohen Kosten des Gesundheits- und Pflegeapparates verursachen, fiel ihr noch ein.

Wer jung war, brauchte sich keine so großen Sorgen zu machen.

Sie dachte weiter nach und starrte in die Flammen des Ofens hinter der angerußten Glasscheibe.

Ach ja, der Mann mit der Präsentation hatte etwas vorgerechnet. Was für das Gesundheitssystem und für Medikamente ausgegeben wird. Es ging um Hunderte von Milliarden, glaube ich.

»Wow«, sah sie Luca sagen. Sie sah auf sein Handy.

Was sagt dir das, wenn du eins und eins zusammenzählst, Sarah, fragte er sie. Die Leute tun geheimnisvoll, sie sind für ihre Sicherheit und Geheimniskrämerei sogar zum Mord an Unschuldigen bereit, und sie reden über Geld. Na?

Sarah sah ihn groß an. Das hatte sie doch gerade gesagt. Dann fiel das Zehncentstück in ihrem Kopf und sie spürte es klicken.

Oh. Jemand möchte all das Geld abgreifen, oder, tippte sie ein.

Luca nickte nur, nahm eine Art Messer von einem Tisch und knipste ein Dreieck aus einer neuen Zigarre.

Genau. Ich habe bloß keine Ahnung, um was es dabei exakt geht, schrieb das Handy seine Worte auf.

Luca zündete seine Zigarre mit einem langen Streichholz an und paffte ein paar Züge, um sie zum Glühen zu bekommen.

Das Geld kommt vom Staat, von den Arbeitgebern und von den Kranken- und Sozialkassen, fuhr er paffend fort. Klar, das Geld saß in den letzten Monaten und Jahren sehr locker, viele haben abgezockt, was möglich war, aber wie eine Gruppe an all diese Milliarden kommen will, ist mir schleierhaft. Vielleicht ging es um etwas ganz anderes, wir greifen zu kurz, Sarah. Etwas muss dabei enorm wichtig für die Gruppe sein.

Sarah starrte weiter in die Flammen. Der Run auf das große Geld war ihr eigentlich völlig schnuppe. Sie störte mehr, dass diese Leute sie nun auf dem Kieker hatten.

Sie sah den aristokratisch aussehenden Mann an, der sie heute gerettet hatte. Der schien sich mit so etwas auszukennen, mit großem Geld und mit Methoden, wie man darauf zugreifen konnte.

Ich weiß sehr wenig über dich, Luca, tippte sie ein. Wer bist du, was machst du, wovon lebst du? Und was treibt dich nach Davos zum WEF? Warum trägst du eine Waffe, was machen all diese Angestellten? Ich meine die Leute, die da als Ärzte auftreten und Leichen wegschaffen. Arbeitest du für einen Geheimdienst?

Sie zögerte einen Moment. Durfte sie ihn das wirklich alles fragen? Der Mann hatte sich bedingungslos für sie eingesetzt und ihr Leben gerettet. Na ja, dachte sie, nicht ganz bedingungslos. Sie hatte heute Dinge gemacht, die ihr vorher niemals in den Sinn gekommen wären.

Und wer war Tony, was war er für dich? Ein Leibwächter? Nur ein Bote?

Sie sah ihm beim Rauchen zu. Luca hatte die Augen geschlossen und träumte, so wie er aussah.

Sorry, dass ich so viel frage, ich habe dir mein Leben zu verdanken, ich bin dir endlos dankbar, Luca. Aber Vertrauen baut auf Verstehen und Kennen auf, weißt du?

Sie ließ das Handy ihre Worte vorlesen.

Luca öffnete die Augen und zeigte ein spöttisches Lächeln. Er schloss sie wieder, lehnte sich zurück, rauchte zwei Züge, stieß den Rauch aus und sprach weiter. Das Handy übersetzte. Wie immer nicht ganz problemlos, doch Sarahs Gehirn bügelte die Fehler und Lücken zu fast einhundert Prozent aus.

Ich bin vieles, Sarah, schrieb es. Ich bin ein angesehener Dozent in Mailand für Volkswirtschaft und Zukunftsforschung, deshalb bin ich hier zum Wirtschaftsforum eingeladen worden.

Er sog an seiner Zigarre.

Ich bin außerdem Mitbesitzer einer kleinen, gut aufgestellten Privatbank hier in der Schweiz, in Lugano.

Er schien weiter nachzudenken und stieß eine weiße Rauchwolke aus.

Damit habe ich eigentlich schon genug zu tun. Ich berate auch private Organisationen. Die stellen mir meine Sicherheitskräfte, kostenlos. Tony war einer von ihnen, fast so etwas wie mein persönlicher Assistent. Ich kannte ihn seit über zwanzig Jahren, sein Tod geht mir nahe.

Er sah sie wieder an, diesmal wie ein lästiges Insekt. Die Fragen gingen ihm entweder auf den Keks oder hatten etwas angerührt, das ihm nicht recht war.

Ich kann mir in meiner Position keine Skandale erlauben, Sarah. Es gibt Leute, die passen gut auf mich auf.

Sarah studierte seine Mimik und seine Körperspannung, während er sprach. Etwas war ihm lästig. Er zeigte kleine Fluchtreaktionen; wie ein Eingesperrter, einer, der Zwänge erleidet, dachte sie. Da ist etwas für ihn zu groß und zu mächtig geworden, schloss sie daraus. Was er einmal unter Kontrolle hatte, bestimmt jetzt seine Geschicke, mehr, als ihm lieb ist. Er hat sich irgendwo überhoben.

Es gibt wirklich ein paar Ärzte, die ständig in meiner Nähe sind, fuhr er fort. Sarah sah, dass das gelogen war oder zumindest eine Halbwahrheit.

Luca setzte sich auf.

Das ist für mich auch nicht normal, dass da plötzlich Leute auftauchen und auf mich oder meine Begleiter, dich also, schießen, und auf Tony, schrieb das Handy, und Sarah sah ihm an, dass er das ernst meinte.

Natürlich muss da jemand aufräumen, einen Skandal kann ich mir nicht leisten, und meine Klientel auch nicht. Tony ist ein herber Verlust für mich, das kannst du mir glauben. Und ich lebe in Italien, da ist das Leben immer ein Risiko, deshalb die Waffen.

Er zog an seiner Zigarre und paffte den Rauch gleich wieder aus.

Du kannst gut mit Waffen umgehen, Sarah, fuhr er fort. Vielleicht könntest du meine Leibwächterin werden, das käme mir sehr gelegen. Du hast keine anderen Loyalitäten, du hast keine Angst, du bist schnell. Er sah sie an und schwieg.

Du bist taub und kannst Gefahren deshalb nicht unbedingt erkennen, setzte sie seinen unausgesprochenen Satz im Geiste fort.

Ich bin bei der Polizei, schrieb Sarah. Und deine Privatkunden – ich weiß nicht, ob ich die mag, du weißt schon.

Lucas Augenbrauen rutschten nach oben, seine Kinnlade fiel herunter, als er hörte, was das Handy ihm vorlas.

Du glaubst, ich würde für irgendeine mafiöse Organisation arbeiten, was, fragte er.

Dann verstehst du nicht, wie Italien und zum Teil die italienische Schweiz funktionieren. Es gibt weit mehr als nur die stinknormale Mafia-Kriminalität, fast das ganze Land Italien ist eine Art Grauzone, den Vatikan eingeschlossen. In meinen Kreisen hat man mit diesen gemeinen Verbrechern nichts zu tun.

Sie sah ihn lachen, doch gleich darauf verdüsterte sich seine Miene.

Ich habe allerdings einen Bruder, Federico, sah sie ihn sagen. Zwanzig Jahre jünger. Um den mache ich mir Sorgen. Er …

In diesem Moment gab das Handy den Geist auf und ging aus. Luca nahm es auf und drückte und wischte daran herum. Batterie ist alle, dachte Sarah. Schade. Jetzt, wo es spannend wurde. War sein Bruder in dunkle Geschäfte verwickelt? War Luca deshalb erpressbar? Was verband ihn mit diesen Kreisen?

Auf jeden Fall hatte er Interesse gezeigt, als er gehört hatte, dass es um viel Geld ging. Dann hatte er einen guten Grund, sie weiter zu schützen, dachte sie. Und nicht nur das. Er wollte wissen, was die Leute antrieb und warum sie hinter ihr her waren. Das deckte sich mit ihren eigenen Interessen. So gesehen waren sie Verbündete. Solange er sie noch brauchte.

Was würde passieren, wenn sie nicht mehr wichtig für ihn war? Sie hatte gesehen, wie wenig ihn der Tod der beiden Angreifer und der von seinem wichtigen Assistenten Tony getroffen hatte. Kollateralschäden gingen dem am Arsch vorbei, dachte sie.

Luca stand auf, schwenkte das Handy in der Hand und ging zur Tür. Er machte Lenkbewegungen, aha, er will zum Auto, entnahm sie dem, und eine Bewegung, als ob er einen Stecker einstecken würde. Er hatte ein Ladegerät im Auto. Gut so. Ohne Übersetzer verstand sie bestenfalls nur noch ein Zehntel von dem, was er ihr sagen wollte. Weit mehr als bei jedem steifen Deutschen.

Sarah stand auf und suchte nach einem Badezimmer. Der Whisky hatte ihre Blase angeregt. Sie fand ein weiteres Schlafzimmer auf der Südseite des Hauses. Es war wärmer als ihr eigenes, das auf der Schattenseite lag. Seins. Im Zimmer brannten einige Kerzen, es war dunkler als im Wohnraum, der von einer Gaslampe erhellt wurde. Sarah nahm eine der Kerzen mit.

Neben dem Schlafraum lag ein einfaches gekacheltes Zimmer mit einer Waschschüssel auf drei gusseisernen Beinen und eine Chemietoilette. Neben der Schüssel stand ein Krug mit kaltem Wasser, an der Wand hingen vier weiße Handtücher. Neben der Toilette lag ein Buch von Umberto Eco auf einem kleinen Tischchen, auf Italienisch.

Sarah schloss ab, stellte die Kerze ab und setzte sich auf den kalten Toilettensitz. Sie nahm das Buch zur Hand. Dire quasi la stessa cosa, hieß es, mit dem Untertitel Esperienze di traduzione.

Das sagte ihr überhaupt nichts. Sie hatte schon bei deutschen Texten Schwierigkeiten; die geschriebene Sprache war nur die Umschrift der gesprochenen Version, die für sie so gut wie eine Fremdsprache war. Die Gebärdensprache, auch die DGS, funktionierte komplett unterschiedlich. Keine Deklinationen und Konjugationen, kaum Adverbien, kein dies und kein das, keine Nebensätze, in denen die Satzstellung umgekehrt war, all das war fremdartig. Und Italienisch war so gesehen eine doppelte Fremdsprache.

Sie war fertig und suchte im Rucksack nach ihrer Zahnbürste und der Zahnpasta. Nach dem Zähneputzen wusch sie sich; das Wasser war eiskalt und erfrischte.

Sie schloss auf und ging wieder raus; vor der Tür stand Luca, der aussah, als ob er gerade schon ein paar Mal an die Tür geklopft hätte. Sie drückte sich an ihm vorbei; er roch immer noch nach Sandelholz.

Sarah unterdrückte ein Gähnen. Es war spät, sie war müde und wollte ins Bett.

»Gute Nacht«, sagte sie und sah ihren neuen Beschützer an.

Er nickte und sagte etwas, das sie ihm nicht von den Lippen ablesen konnte. Sie nickte auch und ging in ihr Schlafzimmer, in dem nun ebenfalls eine Gaslaterne brannte.

Bevor sie sich auszog, ließ sie den Tag Revue passieren. So viel wie an diesem einen Tag war ihr in ihrem ganzen Leben noch nicht passiert. Sie seufzte. Gern hätte sie jetzt ein paar Nachrichten gelesen und ihre Erlebnisse mit ihren Freunden geteilt, allen voran Antonia aus ihrer WG. Das ging nun nicht mehr. Ihr Handy und ihr Tablet lagen in einem Metallkoffer, für sie unerreichbar und verboten.

Sie schaltete eins der Billighandys ein, um wenigstens das Gefühl zu haben, noch am Leben teilzuhaben. Luca hatte die Chips bereits eingesetzt.

Sie schaltete es gleich wieder aus. Hier oben gab es keinen Empfang, sinnlos, es auch nur zu versuchen. Zumindest die Nachrichten hätte sie lesen können. Vielleicht hatte ja etwas über Davos darin gestanden, am Vortag der großen Konferenz.

Sarah entkleidete sich bis auf die Unterwäsche und schlüpfte unter die eiskalte dünne Decke. Sie fror; unter dieser dünnen Decke würde ihr niemals warm werden.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752141719
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Covid Verschwörung Verschwörungstheorie Corona Gehörlos Flucht Elite Taub Weltherrschaft Roman Abenteuer Liebesroman Liebe Psychothriller

Autor

  • Nick Stein (Autor:in)

Nick Stein, Sinologe, schreibt seit seiner Rückkehr aus Asien nach 35 Jahren vorwiegend Thriller und Krimis, aber auch ernsthaftere Romane und Kurzgeschichten. Neben seinen inzwischen fast zwanzig Veröffentlichungen engagiert er sich für Natur- und Klimaschutz. Stein lebt nahe seiner alten Uni in der Nähe Göttingens.
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Titel: LAUTLOS