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Meisterwerke der dunklen Phantastik 04: ALS ICH TOT WAR (Band 2)

von Frank R. Scheck (Hrsg.) (Autor:in) Erik Hauser (Herausgeber:in)
320 Seiten

Zusammenfassung

Dies ist das vierte Buch der phantastischen Reihe Meisterwerke der dunklen Phantastik In der Totenkammer schlich er hin und her und untersuchte mit heimlichtuerischer Geschäftigkeit die Regale mit den Särgen. Seine Augen waren eingesunken, sein Antlitz totengleich verzerrt. Aus dem unten offenen Sarg der Mutter, der bebend auf einer Steinbank ruhte, sah ich eine Wasserratte kriechen. Furcht und Leidenschaft, Verfall und Tod: das sind die großen Themen der britischen Dekadenzphantastik.In 30 makabren Geschichten - die meisten davon deutsche Erstveröffentlichungen - gewinnt das dunkle Erbe der Dekadenz faszinierende Gestalt. Die Printausgabe umfasst 320 Buchseiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Frank Rainer Scheck, geboren 1948, Studium der Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaften. Seit 1976 Lektor, seit 1979 Cheflektor in einem deutschen Verlag, seit 1993 freier Schriftsteller. Veröffentlichung etlicher Sachbücher. Langjährige Beschäftigung mit der Literatur des Phantastischen; diverse Publikationen, zuletzt (mit Erik Hauser) die Anthologie Berührungen der Nacht (Leipzig 2002).

 

Erik Hauser, geboren 1962, Studium der Anglistik, Germanistik sowie der Vergleichenden und Allgemeinen Literaturwissenschaft. Magister und Staatsexamen. 1997 Promotion mit einer Dissertation über den Traum in der phantastischen Literatur (Passau 2005). Gymnasiallehrer in Mannheim und Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg.

Gesetzt in alter Rechtschreibung.

© 2008 dieser Ausgabe: BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

© der Übersetzungen: bei den jeweiligen Übersetzern, s. Editorische Notiz

© der editorischen Beiträge (Vorwort, Einleitung, Autorenporträts, Editorische Notiz) bei den Herausgebern

Titelbildgestaltung: Mark Freier, München

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-904-1

Inhalt

 

Robert Hichens

DIE RÜCKKEHR DER SEELE

 

R. Murray Gilchrist

DER BASILISK

DIE HEXE

 

Ronald Firbank

EINE TRAGÖDIE IN GRÜN

 

Lady Dilke

DER SCHREIN DES TODES

 

Barry Pain

SKLAVIN DES MONDES

 

Vernon Lee

DER GEKREUZIGTE

DIE GNADENREICHE MADONNA

DIE PUPPE

 

Arthur Machen

EIN IDEALIST

DER CLUB, DEN ES NICHT GIBT

DIE TÜR ÖFFNET SICH …

 

M.P. Shiel

HUGUENINS WEIB

VAILA

TULSA

 

Die Übersetzer

Editorische Notiz

 

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Robert S. Hichens

(1864 – 1950)

 

Der zeitweilige Vertraute Oscar Wildes ist der Nachwelt vor allem durch The Green Carnation, einen Schlüsselroman der Dekadenz, in Erinnerung geblieben. Als der Roman – anonym – im Jahre 1894 bei Heinemann in London erschien, ahnten wohl weder der Autor noch die davon Betroffenen, welche Gefahr von dem schmalen Werk ausgehen würde. Das zeitgenössische Lesepublikum erkannte in den Protagonisten Esmé Amarinth und Lord Reggie Hastings ohne Schwierigkeiten Oscar Wilde und seinen Liebhaber Lord Alfred Douglas, genannt Bosie. Als es im Jahre 1895 zum Prozeß gegen Wilde kam, erhielt The Green Carnation zweifelhaften Stellenwert als Beweismittel, war man doch allenthalben davon überzeugt, daß das meiste, was darin beschrieben wurde, sich so oder so ähnlich tatsächlich zugetragen habe.

Wilde, der sich anfangs noch amüsiert über die Satire zeigte, fühlte sich schon bald bemüßigt, einen Leserbrief an das Pall Mall Magazine zu schreiben und sich von der ›grünen Nelke‹ [the green carnation als Einsteckblume fürs Revers] zu distanzieren. »Mit dem durch und durch bürgerlichen und mittelmäßigen Buch, welches ihren [der Nelke] eigenartig faszinierenden Namen im Titel führt, habe ich, unnötig es noch zu betonen, nichts zu schaffen. Die Blume ist ein Kunstwerk. Das Buch ist es nicht.«

Robert Smythe Hichens wurde am 14. November 1864 in Speldhurst/Kent als Sohn eines Geistlichen geboren. Die Familie war begütert, der Großvater hatte als Börsenmakler ein Vermögen gemacht, und Robert, ein Einzelkind, wuchs wohlsituiert in einem ländlichen Umfeld mit Haustieren aller Art auf. Im übrigen galt die Leidenschaft des jungen Hichens der Musik. Als er später in Bristol das Clifton College besuchte, nahm er Orgelunterricht, und auch nachdem er sich 1886 mit dem Abenteuerroman The Coastguard’s Secret erste literarische Meriten erwarb, stand die Musik für ihn weiter im Vordergrund. In London, wo Hichens auf das Royal College of Music ging, schrieb er zahlreiche Texte für zeitgenössische Kabarettsongs, mußte aber erkennen, daß sein musikalisches Talent für eine professionelle Karriere nicht ausreichte. Über die London School of Journalism fand er zurück zum Schreiben und im renommierten Pall Mall Magazine ein publizistisches Forum für seine Erzählungen, zu denen von Anfang an auch Phantastika gehörten. Eine Reihe von Auftragsartikeln, die Hichens über okkultistische Zirkel und spiritistische Séancen im fin-de-siècle-London schrieb, ließen damals modische Ideen (Seelenwanderung, Präkognition, Reinkarnation) in diese frühen literarischen Versuche einfließen. Nebenher blieb die Musik sein Steckenpferd, und als George Bernard Shaw diese Nebentätigkeit aus Zeitgründen aufgeben mußte, wurde Hichens an seiner Statt Musikkritiker der Zeitung World.

Anfang der 1890er etablierte sich der homosexuelle Hichens in den Kreisen der Londoner Boheme. Apropos Geschlechterpräferenz: In seiner Autobiographie Yesterday (1947) erzählt er von seiner tiefen Liebe zu einer jungen Violinistin, die aber durch Machinationen der Brauteltern durchkreuzt worden sei, und stellt es so dar, als habe er, damals zwanzig Jahre alt, nach diesem erotischen Fehlschlag das ›Ewig-Weibliche‹ nur noch platonisch umworben. Nun, gar so keusch hat sich der gut aussehende Hichens unter der einschlägigen Männlichkeit der Hauptstadt nicht aufgeführt.

Seine finanziellen Möglichkeiten, die es ihm wenig später erlaubten, eine lukrative Anstellung beim Daily Telegraph auszuschlagen, brachten ihn in den ›richtigen‹ Restaurants und Clubs, aber auch beim Tennis oder beim Golfspiel, das er tagsüber pflegte (er schrieb nur frühmorgens und spätabends), mit den literati der dekadenten britischen Avantgarde zusammen. In den Olymp dieser Clique war er indessen noch nicht aufgestiegen. Dies geschah auf orientalischen Umwegen:

Als er 1893 von einer lebensgefährlichen Bauchfellentzündung genas, riet ihm der behandelnde Arzt zu einer Ägyptenreise. Am Nil lernte Hichens dann u.a. E.F. Benson kennen, Autor geistreicher Gesellschaftsromane (Dodo, 1893) und zahlreicher Geistergeschichten. Vor allem aber kam er Lord Alfred Douglas näher (wie nahe, sei dahingestellt) und über Douglas, nach der Rückkehr, auch Oscar Wilde.

In der prekären Zeit ›nach Wilde‹ vermochte sich Hichens, mit Verstellung, in der Riege der ›Guten‹ zu behaupten, galt er durch seinen roman à clef doch als verdienstvoller Aufklärer gegen das leibliche ebenso wie gegen das literarische ›Sodomitentum‹. Zugleich wußte er, sich durch lange Auslandsaufenthalte (u.a. Marokko, Algerien, Sizilien, Rom, Lago di Como) allzu scharfer sozialer Kontrolle zu entziehen. Überhaupt sollte Hichens’ Glückslauf nie abreißen, und seine Produktivität, dokumentiert durch etwa fünfzig Romane, zehn Erzählungssammlungen und vier Reisebücher, blieb bis zu seinem Tod am 20. Juli 1950 ungebrochen.

1897 wurde der melodramatische Seelentausch-Roman Flames. A London Phantasy, geschrieben in einem atemlosen, von M.P. Shiel (s. II, S. 231ff) beeinflußten Stil, ein erster großer Erfolg. In einem weiteren, literarisch disziplinierteren phantastischen Roman, The Dweller on the Threshold (1911), sind es zwei befreundete Geistliche, die ihre Beziehung wiederum durch Persönlichkeitstausch vertiefen wollen – die homoerotische Komponente beider Romane ist codiert, bleibt aber unverkennbar.

Daneben gelangen Hichens drei Bestseller, der in Algerien spielende The Garden of Allah (1904), Bella Donna (1909) und The Paradine Case (1933). Gelesen werden diese Bestseller heute kaum noch, jedoch wurden zwei von ihnen verfilmt: The Garden of Allah sogar dreimal, zuletzt 1936 mit Charles Boyer und Marlene Dietrich in den Hauptrollen. Der Kriminalroman The Paradine Case diente 1947 als Vorlage für einen der Thriller Alfred Hitchcocks; Gregory Peck und Charles Laughton gaben ihm schauspielerisches Profil.

Unter Hichens’ unzähligen Kurzgeschichten und Novellen, die in mehreren Sammlungen veröffentlicht wurden (u.a. The Black Spaniel and Other Stories, 1905), ist »How Love Came to Professor Guildea« aus dem Band Tongues of Conscience (1900) sicherlich die bekannteste und gelungenste. Dorothy L. Sayers wählte sie für ihre einflußreiche Anthologie Omnibus of Crime (1929) aus, und seither ist die originelle Geschichte um ein geistesgestörtes Gespenst, das aus Liebe den Professor Guildea ›heimsucht‹, vielfach anthologisiert und nachgedruckt worden; gleich dreimal wurde sie seit 1959 ins Deutsche übersetzt.

Die von uns ausgewählte Erzählung »The Return of the Soul« stammt aus dem Band The Folly of Eustace and Other Stories von 1896. Man mag kritisieren, daß Hichens den Ausgang der Erzählung bereits zu Beginn vorwegnimmt. Auch das Gespräch im Mittelteil zwischen dem Erzähler und dem Professor, dessen Steckenpferd die Seelenwanderung ist, dient eigentlich nur dazu, die Vermutungen, die sich der Leser zu diesem Zeitpunkt bereits gebildet hat, zu bestätigen.

Doch kann man das Psychogramm eines Mannes, der an seiner Persönlichkeit leidet und diese vergeblich zu unterdrücken sucht, der sich lange über die wahren Zusammenhänge hinwegzutäuschen sucht und das Offensichtliche nicht wahrhaben will, auch anders lesen: als eine griechische Tragödie nämlich, bei der das Ende schon vorgezeichnet ist und in der alles unaufhaltsam der sich ankündigenden Klimax zustrebt.

Der einst gefeierte Hichens, der u.a. mit F. Marion Crawford und Edith Wharton, mit Somerset Maugham, Joseph Conrad und Edgar Wallace befreundet war, ist heute – wohl zu Unrecht – fast vollkommen vergessen.

Es dürfte sich lohnen, sein Werk genauer zu untersuchen, zumal darin auch das Phantastische immer wieder eine Nebenrolle gespielt hat: nicht nur in der kurzen Form, sondern auch in Romanen wie Daughters of Babylon (1899), The Prophet of Berkeley Square (1901), The Call of the Blood (1905) und Dr. Artz (1929).

Robert Hichens

DIE RÜCKKEHR DER SEELE

 

»Ich war schon einmal hier

Doch wann und wie, das weiß ich nicht!«

ROSSETTI

 

I

 

Dienstagnacht, 3. November

 

Theorien! Welchen Nutzen haben Theorien? Sie sind die Geißeln der modernen Zeit, die unseren Geist quälen; sie quälen ihn, bis wir verwirrt und verzweifelt sind. Doch noch nie haben sie mich bislang in Unruhe versetzt. Warum also sollte ich mich nun von ihnen aus der Bahn werfen lassen? Zumal die Absurdität jener Theorie, die Professor Black vertritt, offensichtlich ist. Sogar ein Kind würde sie belächeln! Ja, ein Kind! Ich habe bislang nie Tagebuch geführt, habe nie verstanden, daß man Freude daran haben kann, sich spätabends hinzusetzen und minutiös jedes armselige Ereignis des verstrichenen armseligen Tags in irgendein geheimgehaltenes Buch zu kritzeln. Die Leute sagen, es sei überaus interessant, die Einträge Jahre später erneut zu lesen. Als erwachsener Mann über die Mahlzeiten zu lesen, die man als Junge einmal zu sich genommen hat, über die Liebesgeschichte, in die man verstrickt war, über die Tragödie, die man verursacht hat, oder über eine Schuld, für die man nie bezahlt hat – welchen Nutzen soll das haben? Ein Tagebuch zu führen, das schien mir immer zu den selbstauferlegten Lebensplagen zu gehören. Und doch besitze auch ich nun – wie offenbar alle Welt – ein solches geheimes Buch und schreibe darin herum. Ja, so ist es – doch ich habe gute Gründe!

Ich möchte mir nämlich gewisse Dinge vor Augen führen, und – wie viele andere vor mir – habe ich herausgefunden, daß mein Geist mit einer Schreibfeder in der Hand einfach besser arbeitet. Das ›Zu-Papier-Bringen‹ der Worte vertreibt die Wolken, die sich drückend über meine Gedanken legen. Ich will mir verschiedene Ereignisse ins Gedächtnis rufen, um dadurch geistige Ruhe zu gewinnen und mir selbst zu beweisen, wie absurd es wäre, an Professor Blacks Ideen zu glauben. Früher einmal habe ich ihn übrigens ›Professor Staubtrocken‹ genannt. Trocken? Ganz im Gegenteil, er steckt voll wilder Romantik, voller Schwachsinn, dem selbst ein Schulmädchen keinen Glauben schenken würde. Gleichzeitig ist er freilich ein über die Maßen kluger Zeitgenosse; allein seine Karriere beweist das. Dennoch, es gilt das alte Sprichwort, daß sich gerade kluge Menschen in die Irre führen lassen. Wer sucht, ist für Irrlichter besonders empfänglich und sagt Dinge, die einfach nicht wahr sein können. Sobald ich diese Seiten geschrieben habe und im nachhinein mit der gebotenen Distanz lesen werde, was ich da zu Papier gebracht habe – nicht anders, als ein Außenstehender es lesen würde –, werde ich endgültig abgeschlossen haben mit den Hirngespinsten, die mir mein Leben allgemach zu einer Last werden lassen. Meine Gedanken zu ordnen, das wird Balsam für meine Seele sein. Der böse Geist, der sich bei mir eingenistet hat, wird schläfrig werden und ersterben. Ich werde geheilt sein. Es MUSS so sein – es WIRD so sein.

Aber zurück zum Anfang! Ach! Wie lange das schon her ist! Ich war ein grausam veranlagtes Kind. Nun, die meisten Jungen sind wohl grausam in ihrer Art. Meine Schulkameraden waren jedenfalls eine gnadenlose Bande – gnadenlos zueinander, gnadenlos – wann immer sich die Gelegenheit bot – zu den Lehrkräften, und gnadenlos natürlich auch zu den Tieren, speziell den Vögeln. Das Verlangen danach, zu foltern und zu quälen, fand sich in fast allen von ihnen. Sie ergötzten sich daran, andere herumzuschubsen, und wenn sie diese anderen nur ein klein wenig herumstießen, dann allein aus Angst vor möglichen Folgen für sie, nicht aus Nächstenliebe. Sie wollten nicht, daß der von ihnen geworfene Bumerang zu ihnen zurückkehre und sie erschlüge. War ein Junge verunstaltet, so hänselten sie ihn. War ein Lehrer freundlich oder sanftmütig oder schüchtern, machten sie ihm das Leben so schwer wie nur möglich. Brachten sie ein Tier oder ein Vogel in ihre Gewalt, zeigten sie keinerlei Mitleid. Und ich war nicht besser als der Rest. Um ehrlich zu sein: Ich glaube, ich war der schlimmste von allen. Grausamkeit ist etwas Schreckliches. Ich weiß es nur allzu gut – und ich habe genug Vorstellungskraft, es zu empfinden.

Einige meinen, es sei Mangel an Phantasie, der Jungen und Mädchen zu Unmenschen werden läßt. Aber ist es nicht vielleicht eher ein Übermaß an Phantasie? Das Interesse daran zu foltern, wird geringer, geht fast verloren, wenn wir nicht neben dem Folterer auch der Gefolterte sein können.

Als Kind war ich von Natur aus grausam, gehorchte meinen Instinkten. Ich war ein hübscher, wohlerzogener, sanft wirkender kleiner Unmensch. Meine Eltern vergötterten mich, und ich war gut zu ihnen. Sie waren so nett zu mir, daß ich sie fast lieb hatte. Warum auch nicht? Es schien mir zweckmäßig, sie gern zu haben. Ich machte, was ich wollte, aber ich habe es sie nicht immer wissen lassen; auf diese Weise stellte ich sie zufrieden. Ein kluges Kind wird darauf achten, seine Eltern über vieles im dunkeln zu lassen. Meine Eltern waren ziemlich gut situiert, und ich war ihr einziges Kind. Aber das große Los auf ein zukünftiges sorgenfreies Leben winkte mir durch meine Großmutter mütterlicherseits. Sie war immens reich, und sie lebte hier in diesem Haus. Das Zimmer, in dem ich diese Zeilen schreibe, war ihr bevorzugter Aufenthaltsraum. Und dort an dem Kamin, bei einem Holzfeuer, wie es auch im Moment gerade brennt, saß diese wundervolle Katze, die sie hatte – diese furchtbare Katze! Warum habe ich bloß meine Vorteile als Kind ausgespielt, um dieses Haus, dies alles hier zu gewinnen? Seit kurzem habe ich manchmal darüber nachgedacht, törichterweise vielleicht. Aber würde Professor Black es töricht finden?

Ich erinnere mich, ich war gerade sechzehn, als ich hier Großmutter meinen letzten Besuch abstattete. Ich fand es langweilig herzukommen, aber es hieß, daß sie dem Tode nahe sei, und der Tod hinterläßt leere, große Häuser, in die dann andere einziehen können. Als meine Mutter also sagte, ich ginge besser hin, und mein Vater hinzufügte, er glaube, meine Großmutter habe mich inniger ins Herz geschlossen als meine anderen Verwandten, da gab ich all meine jungenhaften Pläne für die Ferien scheinbar bereitwillig auf. Obwohl fast noch ein Kind, war ich nicht kurzsichtig. Ich wußte, daß jeder Junge nicht nur eine Gegenwart, sondern auch eine Zukunft hat. Ich gab meine Pläne auf und kam hierher mit einem Lächeln; aber tief in meinem Herzen habe ich meine Großmutter für ihre Macht gehaßt – eine Macht, die mich zwang, Vergnügen gegen Langeweile einzutauschen. Ich haßte sie, und ich ging zu ihr, gab ihr einen Kuß, sah ihre hübsche weiße Perserkatze in diesem Zimmer vor dem Feuer sitzen und dachte an den Jungen, der mein bester Freund war und mit dem ich jetzt gerne zusammen gewesen wäre, um zu schießen, zu fischen, zu reiten. Und ich sah wieder zu der Katze hinüber. Ich erinnere mich, daß sie zu schnurren begann, als ich näher kam. Sie saß ruhig da, ihre blauen Augen fixierten das Feuer, und als ich sie erreichte, fing sie an, selbstgefällig zu schnurren. Ich hätte sie am liebsten getreten. Sie hatte sich voller Zufriedenheit innerhalb der Grenzen ihrer lächerlichen Existenz eingerichtet. Auf eine absurde, reduzierte Weise schien sie meine Großmutter mit ihrer weißen Spitzenhaube, dem weißen Gesicht und den weißen Händen nachzuahmen. Die saß den ganzen Tag in ihrem Sessel und schaute ins Feuer. Die Katze saß auf der Kaminmatte und tat das gleiche. Sie erschien mir als die tiergewordene Verkörperung jenes menschlichen Wesens, das mich angekettet hielt, fern von all dem Spaß und dem Vergnügen, die ich mir von den Ferien versprochen hatte. Als ich in die Nähe der Katze kam und hörte, wie sie mich leise anschnurrte, verspürte ich das Bedürfnis, ihr etwas anzutun. Ich hatte den Eindruck, als würde sie verstehen, was meine Großmutter nicht verstand, und als würde sie selbstgefällig über meine freiwillige Gefangenschaft, meine Unterwerfung unter die Wünsche einer Greisin triumphieren, und in sich hineinlachen ob der Qualen, die ein Erwachsener – oder auch ein junger Bursche – des Geldes wegen auf sich nimmt. Verfluchte Bestie! Ich hatte für meine Großmutter nichts übrig, aber sie hatte Geld. Ich habe die Katze abgrundtief gehaßt. Und sie hatte nichts zu vererben, nicht einen Penny!

Dieses schöne Haus ist noch gar nicht so alt. Mein Großvater hat es selbst gebaut. Er hatte wohl nichts übrig fürs Stadtleben, war überaus naturverbunden. Als junger Mann hatte er eine eigentümliche Rundreise durch England unternommen. Sein Ziel war es, das perfekte Panorama zu finden und sich dann an diesem Aussichtspunkt ein Haus zu bauen. Fast ein Jahr, so jedenfalls hat man es mir erzählt, durchstreifte er Schottland und England, bis er schließlich hier nach Cumberland gelangte, zu diesem Ort, zu genau diesem Grundstück. Hier fand seine Wanderschaft ein Ende. Als er auf der Geländeterrasse stand – damals erhob sich hier verwilderter Wald –, die vor diesen Fenstern verläuft, glaubte er endlich gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte. Er kaufte das Waldstück. Er kaufte den mäandrierenden Fluß, die Felder entlang seiner Ufer, und am äußersten Rand der steilen Flußschlucht ließ er diesen Prachtbau errichten, der jetzt mir gehört.

Der Bauplatz ist kein gewöhnlicher. Vielmehr besitzt er ganz besondere Eigenart. Das Haus ist traumhaft gelegen: an einem Steilabfall zum Fluß, der sich fast wie ein Hufeisen um diesen Abbruch legt. Die Wälder sind bezaubernd. Der Garten, der von seltsamer Wildheit ist, gleicht keinem anderen, den ich je gesehen habe. Und das Haus, obwohl nicht alt, ist voller kleiner Überraschungen: eigentümlich geschnittene Räume, auffällige Treppen, kuriose Nischen und Alkoven. Hat man diese eigenwillige Architektur einmal gesehen, vergißt man sie nicht wieder. Nein, dieses Haus bleibt einem im Gedächtnis haften. Wer auch immer hier gelebt hat, könnte nie zurückkehren, ohne sich daran zu erinnern, schon einmal hier gewesen zu sein. Nicht einmal ein Tier – ja, nicht einmal ein Tier.

Ich wünschte, ich hätte die Einladung zum Essen nie angenommen und den Professor niemals kennengelernt. Damals rührte sich in mir so etwas wie Grauen. Er hat dessen Nahen beschleunigt. Er hat meinen Ängsten Form gegeben, meinen vagen Vermutungen Worte. Warum können die Menschen das Leben nicht einfach so hinnehmen, wie es ist? Warum gehen sie ihm an die Kehle, um ihm seine Geheimnisse abzuringen? Zurückhaltung zu üben ist eine der ersten Eigenschaften eines Ehrenmannes; und das Leben verdient alle Zurückhaltung.

Langsam wird es spät, sehr spät sogar. Gerade glaubte ich, Schritte im Haus zu hören. Ich frage mich – ich frage mich, ob sie wohl schläft. Ich wünschte, ich wüßte es.

Tag um Tag verstrich. Meine Großmutter schien schwächer zu werden, allerdings war der Niedergang kaum merklich. Offensichtlich suchte sie meine Nähe. Wie die meisten alten, sterbenden Leute klammerte sie sich innerlich verzweifelt ans Leben, auch wenn es nichts mehr für sie bereit hielt. Ich bin davon überzeugt, daß sie mich zunehmend als die Verkörperung all dessen betrachtete, was ihr entglitt. Meine Lebenskraft wärmte sie. Sie streckte ihre Hände nach dem lodernden Herdfeuer meiner Vitalität aus. Sie schien sich durch mich ans Leben klammern zu wollen und bekam schließlich Angst, mich auch nur für Stunden aus dem Blick zu lassen. Eines Tages sagte sie zu mir mit ihrer zitternden, häßlichen Stimme – alte Stimmen sind so häßlich, klingen wie schrecklich verzerrte Echos: »Ronald, wenn du bei mir bist, könnte ich niemals sterben. So lange du im Zimmer bist und ich dich berühren kann, so lange werde ich am Leben bleiben.«

Und sie streckte ihre weiße Runzelhand aus und liebkoste meine warme junge Hand.

Ach, wie ich mich danach sehnte, diese Hand wegzustoßen und nach draußen ins Sonnenlicht und in die frische Luft zu stürmen und junge Stimmen zu hören, die Stimmen des Morgens, nicht die der Abenddämmerung, und fortzukommen vom faltigen Tod, der auf der Türschwelle dieses Hauses zu sitzen schien, in sich gekrümmt wie ein Bettler, der darauf wartet, daß sich die Tür auftut!

Die Langeweile weckte allmählich – ich muß es zugeben – meine Boshaftigkeit. Und die Boshaftigkeit in mir verlangte mit Macht nach der Freiheit, sich an jemandem oder an etwas vergreifen zu können. Mein Blick wanderte zu jener Katze, die, wie immer, vor dem Feuer saß.

Tiere haben eine ebenso scharfe Intuition wie Frauen, schärfer ausgeprägt als die eines Mannes. Eine lange Reihe von Vorfahren, die unter den Händen grausamer Menschen zu leiden hatte, hat ihr Blut mit Angstinstinkten gegenüber möglichen Übeltätern versetzt. An einem Blick, an einer Bewegung, am Tonfall einer Stimme vermögen sie zu erkennen, ob sie von jemandem Freundlichkeit oder Gemeinheit zu erwarten haben. Am Tag meiner Ankunft hatte die Katze noch selbstzufrieden geschnurrt, ihr weißes Rückenfell meiner Hand entgegengereckt, und um ihre ruhigen, hellblauen Augen stand damals ein Lächeln. Wenn ich mich ihr aber jetzt näherte, schien sie in sich zusammenzusinken und kleiner zu werden. Sie versuchte, mir auszuweichen, und in ihren blauen Augen zeichnete sich – zumindest bildete ich mir das ein – ein wachsendes Begreifen, ein wachsender Schrecken ab. Sie hielt sich jetzt immer ganz nah bei meiner Großmutter, so als ob sie dort Schutz suche, und sie beobachtete mich, als ob ihr die Absicht, die sie in mir heranreifen sah, bedrohlich vor Augen stünde.

Und jene Absicht wurde tatsächlich immer stärker in mir.

Denn während die Tage verstrichen und meine Großmutter einfach nicht sterben wollte, begann mich Verzweiflung zu überwältigen. Meine Ferienzeit ging zu Ende, aber meine Eltern schrieben mir, ich solle trotzdem bleiben und mir keine Gedanken über die Schule machen. Meine Großmutter hatte ihnen in einem Brief berichtet, daß sie sich nicht von mir trennen könne, und hinzugefügt, daß meine Eltern es keinen Moment bereuen würden, meine Ausbildung für eine Weile unterbrochen zu haben. »Er wird für jeden Augenblick, den er verliert, angemessen entschädigt werden«, schrieb sie in bezug auf mich.

Es erschien etwas merkwürdig, daß sie sich mit solcher Macht an einen Halbwüchsigen klammerte; freilich war sie mit Frauen nie gut zurechtgekommen, und ich war ein hübscher junger Bursche – sie mochte hübsche Gesichter. Die Brutalität meines Wesens war meinen Zügen nicht abzulesen. Ich hatte lachende, offene Augen, eine geschmeidige Knabenfigur, eine fröhliche junge Stimme. Meine Bewegungen waren flink, und man hat mir immer nachgesagt, daß meine Gestik niemals unbeholfen, mein Benehmen nie ungehobelt war, wie das bei Schulbengeln so oft der Fall ist. Ich besaß ein gefälliges Äußeres, und die alte Dame, die zwei Ehemänner nur wegen ihres gutes Aussehens geheiratet hatte, schwelgte in dem Machtgefühl, mich an ihre Seite bannen zu können, obwohl Jungen in meinen Jahren alte Leute sonst wie die Pest meiden.

Zudem gab ich vor, sie zu lieben, und erfüllte jeden ihrer unerträglich ermüdenden Wünsche. Gleichwohl dürstete ich danach, mich grausam an ihr zu rächen. Mein bester Freund, der Junge, mit dem ich eigentlich meine Ferien hatte verbringen sollen, würde am Ende dieses Schulhalbjahres, das für mich ja nun ausfiel, von der Schule abgehen. Er schrieb mir wütende Briefe, in denen er mich drängte zurückzukommen und mir wegen meiner Selbstsucht und meines Mangels an Zuneigung Vorwürfe machte.

Jedes Mal, wenn ich einen dieser Briefe erhielt, sah ich die Katze an, und diese drückte sich näher an den Stuhl meiner Großmutter. Sie schnurrte jetzt nicht mehr, nicht ein einziges Mal mehr, und nichts konnte sie dazu bewegen, den Raum zu verlassen, in dem meine Großmutter thronte. Eines Tages sagte das Dienstmädchen zu mir: »Ich glaube, das arme Luder weiß, daß es die Herrin nicht mehr lange machen wird, Sir. Die Art, wie die Katze zu ihr aufschaut, treibt mir die Tränen in die Augen. Ach, solche Viecher verstehen von diesen Dingen genauso viel wie wir – mein’ ich.«

In der Tat, die Katze wußte offenbar, wie es um meine Großmutter stand, und beobachtete sie auf eine merkwürdige Art und Weise, sie starrte hoch in ihr Gesicht, wie um die sich verändernden Konturen zu prüfen, die tiefer werdenden Linien, das Einsinken der Gesichtszüge, die das allmähliche Nahen des Todes anzeigten. Sie lauschte der Stimme ihrer Herrin; und da diese Stimme von Tag zu Tag undeutlicher, schwächer und tonloser wurde, wuchs in ihr die Furcht und setzte sich tief in ihren blauen Augen fest – eine Furcht, die mich insgeheim jubeln ließ. So jedenfalls habe ich es in Erinnerung.

Ich war damals mit viel morbider Vorstellungskraft ausgestattet und ergötzte mich daran, ein Netz aus Phantasien, überwiegend schrecklichen, zu weben und um alles zu legen, was zu meinem Leben gehörte. Ich stellte mir mit Vergnügen vor, daß die Katze jeden neuen Plan, der mir in den Sinn kam, verstünde – still von ihrem Platz nahe dem Kamin aus in meinem Gesicht las, meine Gedanken ergründete und, sie begreifend, von Schrecken erfüllt wurde, während ich mich auf ein bestimmtes Vorhaben konzentrierte, auf einen Plan, der sich von Tag zu Tag weiter festigte. Sagte ich schon, daß ich mir das mit Vergnügen vorstellte? Ich glaubte wirklich und glaube auch heute noch, daß die Katze all und jedes begriff und sich in Angst verzehrte, zumal meine Großmutter augenscheinlich immer schwächer wurde. Denn sie wußte, was deren Ende für sie bedeutete.

Am Tag meiner Ankunft, als ich meine Großmutter mit ihrer weißen Haube, ihrem weißen Gesicht und den weißen Händen erstmals erblickte, die große weiße Katze in ihrer Nähe, fand ich, daß sich die beiden sehr ähnlich seien. Diese Ähnlichkeit wurde immer augenfälliger für mich, je länger ich in dem Haus weilte, bis das Tier mir fast wie eine Kopie der Frau erschien, und nach jedem Brief meines Freundes nahm mein Haß auf beide zu. Aber der Haß auf meine Großmutter blieb ohnmächtig und würde es immer sein. Nein, ich würde ihr niemals das tiefe Empfinden von ennui heimzahlen können, dieser ins Mark gehenden, erzwungenen Untätigkeit, die mir das Leben zur Qual machte und meine schlechtesten Charakterzüge hervortreten ließ: eine Niedertracht, die indes in schrecklicher, erzwungener Ruhe gehalten wurde und den vorgegebenen Sachverhalt nicht zu ändern vermochte.

Aber ich konnte es ihrem Liebling heimzahlen, der Kreatur, die sie immer über alles geschätzt hatte, ihrer Katzenvertrauten, die unter ihrem Schutz Sicherheit genoß. An ihr würde ich meinen Furor auslassen können, wenn dieser Schutz zu guter Letzt, so wie es unausweichlich war, wegfallen würde. Es erschien meinem brutalen, einfallsreichen, unfertigen Jungenhirn so, als ob der Mord ihres Lieblingstieres meine Großmutter sogar nach ihrem Tod noch treffen und ihr wehtun könne. Dann, wenn sie nicht mehr in der Lage war, Rache an mir zu nehmen, wollte ich sie leiden lassen. Ich würde die Katze töten.

Die Katze kannte meinen Entschluß von dem Tag an, als ich ihn faßte – ich würde sogar sagen, sie hatte ihn erwartet. Wie ich so Tag für Tag in dem dämmrigem Raum neben dem Ohrensessel meiner Großmutter saß – die Jalousien waren heruntergelassen, um die Sommersonne auszusperren – und in gedämpftem, ehrfürchtigem Ton mit ihr sprach, all ihren gestammelten alten Banalitäten zustimmend und all den absurden Meinungen, die sie umständlich darlegte, starrte ich an ihr vorbei die Katze an – das Geschöpf wirkte von schlimmen Ahnungen inzwischen geradezu abgehärmt.

Sie wußte so gut wie ich, daß ihre Stunde schlagen würde. Manchmal beugte ich mich hinunter, nahm sie auf den Schoß, um mich bei meiner Großmutter einzuschmeicheln, und pries die Schönheit und Sanftheit des Tiers. Und die ganze Zeit über spürte ich den warmen Fellkörper in meinen Händen vor Entsetzen zittern. Das gefiel mir, und ich gab vor, nur glücklich und zufrieden zu sein, wenn die Katze auf meinem Schoß saß. Dort hielt ich sie stundenlang fest, streichelte sie zärtlich, glättete ihr weißes Fell, das stets höchst gepflegt war, redete mit ihr und liebkoste sie.

Und manchmal nahm ich ihren Kopf zwischen meine Hände, drehte ihr Gesicht zu mir hin und starrte in ihre großen, blauen Augen. Und in diesen Augen konnte ich dann all ihre Pein lesen, all ihre quälenden Ängste, und trotz der Briefe meines Freundes und der Eintönigkeit meiner Tage war ich für Momente nahezu glücklich.

Der Sommer nahm seinen Lauf, die Rosen leuchteten glutvoll über den Gartenpfaden, und der Himmel über Scawfell war wolkenlos, als schließlich das Ende kam. Das Gesicht meiner Großmutter war kaum noch wiederzuerkennen. Ihre Augen waren tief eingefallen. Jeder Ausdruck schien allmählich zu verblassen. Ihre Wangen waren nicht länger von ehrwürdigem Elfenbeinweiß; vielmehr überzog eine trübe, kranke, gelbe Blässe sie. Nur noch selten sah sie mich an, vielmehr saß sie eingegraben in ihrem Sessel, und ihre geschrumpften Glieder schienen zu Boden gleiten zu wollen, um dort den Tod zu empfangen. Ihre dünnen Lippen waren ausgetrocknet, bewegten sich aber unablässig, freilich ohne einen Laut hervorzubringen – so als ob sich ihr Geist zwar noch zu äußern wünsche, die Stimme aber versage. Die Lebensflut zog sich aus ihrem Körper zurück; fast sichtbar verebbte sie. Die kaum noch merklichen Wellen am Ufer verursachten kein Geräusch. Der Tod ist unheimlich – so wie alle sprachlosen Dinge.

Ihr Dienstmädchen drängte darauf, sie möge im Bett bleiben, aber mit den gemurmelten Worten, es gehe ihr gut, stand sie dennoch auf. Der Arzt meinte, es sei zwecklos, sie davon abhalten zu wollen. Meine Großmutter litt an keiner bestimmten Krankheit. Einzig die Last der Jahre erheischte ihren Tribut. Also wurde sie jeden Tag in ihren Sessel beim Feuer gesetzt, und dort blieb sie bis zum Abend sitzen, mit trocken-gesprungenen Lippen vor sich hin brabbelnd. Die steifen Falten ihrer seidenen Röcke schufen am Fuß des Stuhls eine Art Nische, und die Katze verkroch sich dort Stunde um Stunde – still, weiß und wartend.

Und die Lebenswellen ebbten ab und verebbten – und so wie die Katze wartete auch ich.

Eines Nachmittags, als ich wieder einmal bei meiner Großmutter saß, trat das Mädchen ein und brachte mir einen Brief, der gerade mit der Post eingetroffen war. Ich öffnete ihn. Willoughby, mein alter Schulfreund, hatte ihn mir gesandt. Er schrieb, daß seine Schulzeit abgelaufen sei, daß er die Schule verlasse und daß sein Vater beschlossen habe, ihn nach Amerika zu schicken, damit er dort, in New York, ins Geschäftsleben eintrete – anstatt nach Oxford zu gehen, wie er selbst es sich gewünscht hatte. Er sagte mir Lebewohl und meinte, wir würden uns wohl auf Jahre nicht mehr sehen. »Aber«, fügte er hinzu, »wahrscheinlich kümmert dich das nicht einen Deut, denn dir geht es ja nur um das gottverdammte Geld, hinter dem Du unerbittlich her bist. Ja, Du hast mir eine Lektion fürs Leben erteilt, Ronald. Sie lautet: glaube niemals an so etwas wie Freundschaft.«

Während ich diesen Brief las, knirschte ich mit den Zähnen. Alles Gute in mir war auf Willoughby gerichtet. Er war ein wirklich netter Kerl. Ich mochte ihn ehrlich und aufrichtig. Was er mir mitteilte, versetzte mich in eine Art Schock und zerschmolz mein Herz in glühendes Eisen. Vielleicht würde ich ihn nie wiedersehen; und selbst, wenn dies doch irgendwann geschähe, würde die Zeit ihn mir als einen anderen präsentieren, ihn gleichsam verzehrt haben – nein, seine Jugendfrische, den Morgen in seinen Augen würde ich nie mehr sehen.

In diesem Moment haßte ich mich dafür, daß ich geblieben war; aber noch mehr haßte ich die alte Frau, die mich hier festgehalten hatte. Einen Moment lang war ich nicht mehr ganz ich selbst. Ich zerknüllte den Brief mit fiebriger Hand, und mit aufgewühlten Gefühlen wandte ich mich der gelben, rätselhaften, todgeweihten Gestalt in ihrem immer geräumiger werdenden Ohrensessel zu. Mein ganzer Zorn, der so lange schon in meinem Herzen schwärte, stieg an die Oberfläche und rückte meine Selbstsucht, die Hoffnung auf ein reiches Erbe ins zweite Glied. Mit stechenden Augen und bebenden Gliedern wandte ich mich meiner Großmutter zu. Mein Mund öffnete sich zu Strömen von Vorwürfen – aber was war da mittlerweile geschehen, welch tiefgreifende Veränderung hatte sich in dieses runzelige, gelbe Gesicht gestohlen? Ich beugte mich über die Großmutter. Ihre Augen starrten mich an – aber auf welch fürchterliche Art und Weise! Sie war so tief in ihren Sessel eingesunken, sie sah so schrecklich, so unglaublich fremd aus. Ich legte meine Finger auf ihre Augenlider. Ich zog sie über die Augäpfel. Sie öffneten sich nicht wieder. Ich fühlte ihre verdorrten Hände – sie waren eiskalt. Da wußte ich, was geschehen war, und ich spürte, daß sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Ich beugte mich über die Tote. Auf der anderen Seite des Sessels kauerte die Katze. Ihr weißes Fell war gesträubt; ihre blauen Augen weit aufgerissen; sie hatte Schaum vor dem Mund.

Über den Leichnam hinweg griff ich nach dem Tier.

All das ist nun fast zwanzig Jahre her; dennoch erfüllt die Erinnerung an dieses Erlebnis und das, was dann folgte, auch heute noch, ja gerade heute nacht, mein Herz mit einer Angst, die ich bekämpfen muß. Ich habe von Menschen gelesen, die über lange Zeiträume hinweg von den Dämonen ihrer Einbildungskraft verfolgt wurden, und ich habe über sie gelacht oder sie bemitleidet. Ganz gewiß werde ich mich nicht von Torheit und Wahnsinn überwältigen und auf den Flügeln meiner Phantasie durch die Tore des Schreckens tragen lassen, auch wenn die beiläufige Bemerkung eines dünkelhaften Professors – ein Mann der Wissenschaft zwar, aber auch ein Mann schrulliger Überzeugungen – meine Ängste halb zu bestätigen scheinen.

Zwanzig Jahre ist das her, und wenn die heutige Nacht verstrichen ist, will ich es auf immer vergessen. Sagte ich: heute nacht? Aber es ist unüberhörbar: Draußen zwitschern die Vögel schon im Tau – und die ersten fahlen Sonnenstrahlen berühren das Moor. Ich bin müde. Nicht heute mehr, aber morgen nacht werde ich dieses Ringen mit meiner eigenen Torheit endlich beenden und meiner Einbildungskraft den Gnadenstoß versetzen. Für jetzt indessen genug! Mein Geist ist voller Unruhe, und in diesem aufgewühlten Zustand will ich nicht weiterschreiben.

II

 

Mittwochnacht, 4. November

 

Margot ist endlich zu Bett gegangen, und ich bin allein. Es war ein schrecklicher Tag – ja, schrecklich; aber ich will mich damit jetzt nicht länger aufhalten.

Nach dem Tode meiner Großmutter kehrte ich in die Schule zurück. Aber Willoughby war nicht mehr da, und er konnte mir nicht verzeihen. Er schrieb mir ein, zwei Male aus New York, dann hörte ich nichts mehr von ihm. Seine Zuneigung zu mir hatte sich anscheinend verflüchtigt seit dem Tag, an dem er zu dem unumstößlichen Urteil gelangt war, daß ich, so wie all und jeder in dieser Welt, nur ein schäbiger Glücksritter sei, nur daß sich der Krämerinstinkt in mir schon in einem ungewöhnlich frühen Alter entwickelt habe. Ich ließ ihn seiner Wege gehen. Was tat es letztlich? Aber eins blieb doch: die Freude darüber, daß ich an dem Tag, an dem meine Großmutter starb, die lang schon geplante Untat beging. Ich habe niemals bereut, was ich tat – niemals. Hätte ich es getan, wäre ich jetzt vielleicht glücklicher.

Ich kehrte in die Schule zurück. Ich büffelte, spielte, handelte mir Ärger ein und wand mich aus Mißlichkeiten wieder heraus, so wie andere Jungen meines Alters auch. Doch schien über meinem Leben eine beständige Kälte zu liegen, vielleicht nur mir selbst bewußt. Meine Gewalttat, der brutale Racheakt an einem Wesen, das mir nie etwas getan hatte, hatte einen Abdruck auf meiner Seele hinterlassen. Ich bereute nicht, aber ich konnte auch nicht vergessen, und manchmal dachte ich – wie albern sich das ausnimmt, wenn man es zu Papier bringt! –, daß es da eine versteckte Kraft gäbe, die ebenfalls nicht vergessen könne und Buße von mir erwarte. Nur weil ein Geschöpf nicht vernunftbegabt ist – muß seine Seele deshalb mitsamt seinem Körper sterben? Ist die Seele nicht vielmehr – ganz wie er es behauptet hat – auf steter Wanderschaft durch viele Körper?

Wenn ich aber keine Seele tötete, als ich damals den Katzenkörper tötete, damals, an dem Tag, an dem Großmutter starb – wo befindet sich diese Seele nun? Das ist die Frage, auf die ich eine Antwort suche – ja, eine Antwort finden muß, wenn ich mein Lebensglück zurückgewinnen will.

Ich kehrte in meine Schule zurück und wechselte dann nach Oxford. Ich genoß die Kostproben des ebenso eigenwilligen wie eigentümlichen Studentenlebens, das beschränkt in seinem Gesichtskreis, aber vital und pulsierend ist – ein Dasein, mit dem sich eine unbedarfte, lebhafte Jugend für den Kampf rüstet mit jenen Waffen, die einst von den Toten geschmiedet und danach von den älteren unter den Lebenden gehärtet und geschliffen wurden.

Ich bewährte mich unter den Studenten und zog danach hinaus in die Welt. Um diese Zeit begann ich auch den Wert meines Erbes zu erfassen; denn all das, was einst meiner Großmutter gehört hatte, war nun mein eigen. Meine Familie wollte, daß ich heiratete, aber ich hatte nicht vor, mir Fesseln anlegen zu lassen. Also nahm ich den Schwamm meines Vermögens in meine beiden kräftigen Hände und versuchte ihn, so gut es ging, auszupressen. Dabei bemerkte ich nicht, wie traurig ich eigentlich war. Ich merkte es erst, als ich mit dreiunddreißig – siebzehn Jahre waren seit dem Tod meiner Großmutter vergangen – zu begreifen begann, was es eigentlich mit dem sogenannten Glück auf sich hat. Natürlich war es die Liebe, die mich klüger machte – man muß es nicht weiter erklären. Ich hatte oft mit der Liebe gespielt, nun spielte die Liebe mit mir … wie auf einem Instrument, und ich erzitterte unter den Harmonien, die sie mit ihren Griffen hervorbrachte.

Ich lernte ein junges Mädchen kennen, ein sehr junges Mädchen, das gerade am Anfang ihres Lebens und Frauseins stand. Sie war siebzehn, als ich sie das erste Mal sah. Damals tanzte sie Walzer auf einem großen Londoner Ball – ihrem allerersten Ball. In der Menge der Tanzenden flog sie an mir vorbei, und sie fiel mir auf. Da sie eine Debütantin war, war ihr Kleid natürlich schneeweiß. Kein einziger Farbtupfer hob sich von diesem Weiß ab, keine Blume, kein Schmuckstück. So hellblondes Haar wie das ihre hatte ich noch nie gesehen – es war von der Farbe einer frühen Primel. Naturkraus, verdeckte es fast die weiße Schleife darin, während sich in ihrem Nacken helle Löckchen ringelten. Ihre Haut – von einem klaren, strahlenden Weiß – schimmerte heller als Elfenbein. Ihre großen Augen waren porzellanblau.

Das junge Mädchen tanzte wieder und wieder an mir vorbei, und mein Blick ruhte müßig, fast ein wenig zynisch auf ihr. Denn sie schien so glücklich zu sein, und zu jener Zeit hatte ich für Glück, wenn es sich offen darbot, nur ein Achselzucken übrig. Glücklich zu sein, das schien mir fast dasselbe, wie geistlos zu sein. Aber nach und nach mußte ich feststellen, daß sich meine Augen nicht mehr von diesem Mädchen lösen wollten. Ein neuer Tanz begann. Sie reihte sich mit einem neuen Partner ein und schien mit ihm genau so zufrieden zu sein wie mit dem vorherigen. Sie gönnte ihm keine Pause, wollte keinen Tanz auslassen. Jugend und Frische sprachen aus diesem sanften Drängen. Ich begann mich für sie zu interessieren, sogar sehr. Sie erschien mir wie der Geist der Jugend, der über den Körper der Zeit tanzte. Ich faßte den Entschluß, sie kennenzulernen. Ich fühlte Überdruß in mir und meinte, sie könne mir vielleicht neue Lebenskraft verleihen. Der Tanz kam zu einem Ende, und ich trat zu meiner Gastgeberin, machte sie auf das Mädchen aufmerksam und fragte, ob sie uns bekannt machen könne. Wie sich erwies, war ihr Name Margot Magendie, und abgesehen davon, daß sie eine Schönheit war, galt sie als reiche Erbin, als gute Partie.

Darum ging es mir freilich nicht. Es war allein ihre menschliche Ausstrahlung, die mich anzog.

Dennoch, so merkwürdig es klingen mag, als ich Miss Magendie vorgestellt wurde und ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, da schreckte ich seltsamerweise vor ihr zurück. Ich habe das nie verstanden, aber das Blut gefror mir in den Adern, und mein Herzschlag stockte fast. Ich wäre ihr mit einem Mal lieber aus dem Weg gegangen, etwas in mir schien sich plötzlich instinktiv gegen sie aufzulehnen. Aber es war zu spät, schon hatte man uns miteinander bekannt gemacht, und ihre Hand legte sich auf meinen Arm.

Ich begann buchstäblich zu zittern. Doch sie schien es nicht zu bemerken. Die Kapelle spielte einen Walzer, und das unerklärliche Entsetzen, das mich gepackt hatte, verlor sich beim Klang der fröhlichen Musik. Vor kurzem ist es allerdings wieder zurückgekehrt.

Selten habe ich einen Walzer mehr genossen. Unsere Tanzschritte waren vollkommen aufeinander abgestimmt, und ihr augenscheinlich kindliches Vergnügen darüber ergriff auch von mir Besitz. Der Geist ihrer Jugend klopfte an mein schon abgestumpftes Herz, und ich öffnete. Es war schön und eigenartig. Ich unterhielt mich mit ihr und fühlte mich jünger – geistreich statt zynisch –, ja ich ließ mich sogar in einen überschwenglichen, wenn natürlich auch albernen Optimismus hineinziehen. Sie war sehr natürlich, überhaupt nicht mondän, voll von bruchstückhaften, aber entschiedenen Ansichten über das Leben – Ansichten, die sie ohne Scheu kundtat und die sie ohne großes Nachdenken auch bei mir voraussetzte.

Als wir kurz darauf plaudernd in einem Korridor unter einer rosaroten Hängeampel saßen und sie mich mit ihren großen blauen Augen anschaute, da regte sich eine schwache Erinnerung in mir und wühlte meine Gedanken auf.

»Bestimmt«, sagte ich zögernd, »bestimmt bin ich Ihnen schon einmal begegnet … Es kommt mir jedenfalls so vor, als hätte ich schon einmal in ihre Augen geblickt.«

Während ich das sagte, dachte ich scharf nach, versuchte eine vage Erinnerung zu erhaschen, die sich mir aber entzog.

Sie lächelte. »An mein Gesicht erinnern Sie sich aber nicht?«

»Nein, gar nicht.«

»Ich mich auch nicht an das Ihre. Wären wir uns schon einmal begegnet, hätten wir es sicher nicht vergessen.«

Sie wurde rot, als ihr plötzlich bewußt wurde, daß ihre Worte mehr andeuten mochten, als gemeint war. Ich machte ihr das naheliegende Kompliment nicht. Diese blauen Augen und der Ausdruck darin bewegten mich auf merkwürdige Weise, aber ich hätte den Grund dafür nicht nennen können. Als ich mich in jener Nacht von ihr verabschiedete, fragte ich sie, ob ich sie wiedersehen dürfe.

Sie war einverstanden.

Das war der Beginn eines wunderschönen Werbens um sie, das meinem Leben Farbe, meiner Existenz Musik und jeder Regung und Handlung eine besondere Bedeutung verlieh.

War es Liebe, die Schlaf über die Erinnerung legte, die dem sich regenden Entsetzen ein Wiegenlied sang und den Mohn des Vergessens darüber streute, bis die Erinnerung sich seufzend dem Schlummer ergab? War es Liebe, die meinen Geist in tiefe, verzauberte Wasser tauchte und die jedem Geist eigenen seltsamen Kräfte mit Blumengirlanden umwand, stärker als jede eiserne Kette? War es Liebe, die mich die Wirklichkeit nicht mehr wahrnehmen ließ, indem sie mir Träume vorgaukelte?

Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, daß ich anfing, Margot zu lieben, und nur nach Liebe in ihren blauen Augen suchte, nicht nach irgendwelchen Geschehnissen der Vergangenheit, die sich darin spiegeln mochten.

Und es gelang mir, auch ihre Liebe zu erwecken.

Sie legte ihr Kinderherz mit solch vollkommenem Vertrauen in meine Hände, wie es nur tiefe Zuneigung hervorbringt. Damals liebte sie mich. Auch wenn es heute ganz anders ist, so können daran nachträglich keine ernsthaften Zweifel bestehen. Sie hat mich geliebt, und es ist gerade dieses Wissen, daß mir jetzt so große Angst bereitet.

Denn es ist furchtbar, wenn sich der menschliche Geist von Grund auf wandelt. In dem Maße, wie wir diese Wandlungen begreifen, begreifen wir auch die Unerschöpflichkeit des Bösen, das in jedem Menschen verborgen liegt. Ein kleines Mädchen, das seine Puppe herzt, kann zu einer heimtückischen Meuchelmörderin heranwachsen. Es ist grauenvoll!

Und vielleicht noch grauenvoller ist, daß die äußere Hülle völlig unverändert bleiben kann, während sich jedes Wort der Botschaft, welche in dieser Hülle verborgen liegt, wandelt und aus einer Friedensbotschaft heimlich ein Todesurteil wird.

Margots Gesicht ist heute immer noch dasselbe wie damals, als ich sie heiratete – kaum älter und sicher nicht weniger reizvoll. Nur der Ausdruck ihrer Augen hat sich verändert.

Denn wir heirateten. Nach einem Jahr des Turtelns – wir wurden darin beide niemals müde –, wollten wir uns fest aneinander binden und unsere zwei Leben gleichsam zu einem verschmelzen.

Die Hochzeitsreise führte uns ins Ausland, aber statt sie auf die üblichen vierzehn Tage zu beschränken, waren wir fast sechs Monate unterwegs, und die ganze Zeit über schwelgten wir in Glück. Nie wurde es uns langweilig. Margot besaß nicht nur ein attraktives Äußeres, sondern auch einen anziehenden Verstand. Meine Zuneigung zu ihr besänftigte mein ungestümes Wesen. Mein Leben begann in eine andere Richtung zu strömen. Bislang hatte ich in den Seiten eines Buches voll von Leid und Tod geblättert, wie die Feder eines Pierre Loti es bewegender nicht hätte schreiben können. Nun endlich hörte ich den Ruf der Zuneigung, der doch die Musik dieser eigenartigen, leidenden Welt ist; und als ich ihn hörte, hallte in meinem Herzen ein Echo wider. Die Grausamkeit in meinem Wesen schien abzusterben. Ich wurde sanfter, als ich es vorher gewesen war, sanfter, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.

Als der Frühling zu Ende ging, machten wir uns schließlich auf den Heimweg. Eine Woche verbrachten wir in London, dann reisten wir in den Norden. Margot hatte ihr neues Zuhause zuvor nie gesehen, war überhaupt noch nie in Cumberland gewesen. Aufregung und Glück erfüllten sie. Was den unverhohlenen und leidenschaftlichen Ausdruck ihrer Gefühle anging, war sie wie ein großes Kind.

Die nächste Bahnstation befindet sich direkt am Meer, mehrere Meilen vom Haus entfernt. Als der Zug an dem Perron hielt, welcher der Straße zugewandt ist, ging gerade die Sonne unter, und die flachen Sandbänke des Strandes schimmerten in einem vollen, dahinströmenden, bernsteinfarbenen Licht. Im Hintergrund wogte und toste die See, von einer steifen Brise aufgeschäumt. In der Ferne sah man die Isle of Man – dunkel, mysteriös, unter einem Turm sich aufbäumender weißer Wolken, die sich langsam rosa zu färben begannen.

Margot fand diese Szenerie wunderschön, den Wind belebend, und die weiten Sandflächen, die schimmernden Höhenstufen, ja sogar das trockene, stachlige Gras, das sich im Luftzug wiegte, faszinierten und erfrischten sie.

»Hier fühlt man sich im Einklang mit der Natur«, sagte sie und schaute zu einer Möwe hoch, die über dem Bahnsteig schwebte und dem Wind, auf dem sie segelte, etwas zurief.

Der Zug schnob am Rande der Dünen von dannen, bis wir nur noch die weißen Rauchschwaden sehen konnten, die in den Sonnenuntergang zogen. Wir kehrten der See den Rücken, stiegen in die wartende Kutsche und wandten uns zum Landesinneren hin. Der Ozean wurde jetzt von dem flachen Gras und den mit Heidekraut bewachsenen Rainen verdeckt, welche die Felder voneinander trennten. Bald darauf ging es in den Wald. Die Straße fiel stark ab, und ein Dorf, ein in engen Windungen dahinziehender Fluß gerieten in den Blick.

Wir befanden uns nun auf meinen Ländereien und fuhren am örtlichen Gasthof vorbei, dem Rainwood Arms, benannt nach meiner Familie. Die Leute, denen wir begegneten, gafften neugierig und grüßten nach Art der Landbevölkerung.

Margot war aufgeregt und voller Vorfreude und redete ununterbrochen. Sie hielt meine Hand und stellte mir tausend Fragen. Wir fuhren durch das Dorf und erklommen, ein dichtes Wäldchen im Vorblick, einen Hügel.

»Das Haus steht zwischen den Bäumen«, sagte ich mit einer Handbewegung.

Gespannt sprang sie in der Kutsche auf, um einen Blick zu erhaschen, aber noch war der Bau verborgen.

Wir trabten unter dem Torbogen der Einfriedung hindurch und den dunkelnden Zufahrtsweg hinauf, passierten große grüne Rasenflächen und hielten vor dem großen Portal der Eingangshalle. Ich sah ihr in die Augen und sagte: »Willkommen daheim«.

Ihre Antwort war ein Lächeln.

Ich ließ sie das Haus nicht sofort betreten, sondern nahm sie mit zur Terrasse über dem Fluß, damit sie die Aussicht über die Cumbrischen Hügel und die Moore von Eskdale genießen konnte.

Der Himmel war sehr klar und blaß, doch über Styhead türmten sich die Wolken. Die Hügellandschaft der Screes, die über das ebenholzfarbene Wastwater wachten, bot einen düsteren und traurigen Anblick.

Margot stand neben mir auf der Terrasse, ihr fröhliches Geplapper war Schweigen gewichen. Und auch ich war still in diesem Augenblick, versunken in Gedanken. Aber nicht lange, und ich drehte mich zu ihr um, um zu sehen, welchen Eindruck ihr neues Domizil auf sie machte.

Sie aber schaute nicht zum Fluß und zu den Hügeln, sondern blickte auf die Terrasse, das Band aus grünem Moos, das sie begrenzte, die Tontöpfe voller Blumen, den sich windenden Pfad, der sich im Gestrüpp verlor. All dies sah sie sich mit großer Aufmerksamkeit an, mit einem merkwürdig fragenden, fast erschrockenen Blick.

»Pst! Bitte schweig einen Augenblick«, sagte sie, als ich meinen Mund öffnete. »Nicht! Ich möchte … Wie seltsam das ist!«

Und sie schaute zu den Fenstern des Hauses empor, zu den Kletterpflanzen an der Mauer, zu den Dachschrägen und zu den unregelmäßig verteilten Schornsteinen.

Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und der Blick ihrer Augen schien nach innen gerichtet mit einem Ausdruck, der mir verriet, daß sie darum rang, der Vergessenheit eine Erinnerung zu entreißen.

Ich war verwundert, verhielt mich aber ruhig.

Schließlich sagte sie: »Ronald, ich war noch nie in Nordengland, habe niemals auch nur mit einem Fuß den Boden Cumberlands betreten, und doch glaube ich, diesen Terrassenweg zu kennen, diese Blumentöpfe, ja, sogar die Art, wie sich die Kletterpflanzen dort emporranken. Ist das nicht … ist das nicht überaus seltsam?«

Sie blickte zu mir empor, und in ihren Augen stand geradezu ein Ausdruck von Angst.

Ich lächelte zu ihr hinunter. »Das bildest du dir nur ein«, sagte ich.

»Da bin ich mir nicht sicher«, erwiderte sie. »Ich habe das Gefühl, als sei ich schon einmal hier gewesen, nicht nur einmal und nicht nur kurz, sondern über eine lange Zeit.« Sie machte eine Pause und sagte dann: »Komm, führ mich ins Haus. Dort muß es einen Raum geben – ein bestimmtes Zimmer –, ich sehe es fast vor mir. Komm! Laß uns hineingehen.«

Sie nahm meine Hand und zog mich zur Eingangshalle. Die Diener schleppten soeben das Gepäck heran, aber meine Frau schien das Durcheinander und den Lärm, der dabei entstand, gar nicht zu bemerken. Sie erwartete etwas, aber ich wußte nicht, was.

»Komm, zeig mir das Haus, Ronald – den Salon und … und … da muß es noch ein Zimmer geben, das ich sehen möchte.«

»Du sollst sie alle sehen, Liebes«, sagte ich. »Du bist ja ganz aufgeregt. Aber das ist nur natürlich. Hier, das ist unser Salon.«

Sie schaute sich hastig um.

»Und nun die anderen!« rief sie.

Ich führte sie ins Speisezimmer, in die Bibliothek und die übrigen Räumlichkeiten im Erdgeschoß.

Sie schaute sich jeweils nur flüchtig um. Als wir fertig mit der Erkundung waren, fragte sie mit einer vor Enttäuschung brüchigen Stimme: »Sind das alle Zimmer hier unten?«

»Alle«, antwortete ich.

»Dann – zeig mir die Zimmer im Obergeschoß.«

Wir stiegen die schmalen Eichenstufen hinauf und betraten zuerst das Zimmer, in dem meine Großmutter gestorben war.

Es war unterdessen vollständig renoviert und mit neuen Möbeln ausgestattet worden und sah vollkommen anders aus als früher. Nur der geräumige Kamin mit den Messinghunden und dem schweren Eichensims war unberührt geblieben.

Margot sah sich mit schnellen Blicken um. Dann ging sie zum Kamin hinüber und atmete tief durch.

»Hier sollte ein Feuer brennen«, sagte sie.

»Aber es ist doch Sommer«, antwortete ich verwundert.

»Und dort sollte ein Sessel stehen«, fuhr sie mit einer seltsam leisen Stimme fort und deutete – so glaube ich heute, oder täuscht mich meine Erinnerung? – eben auf jenen Platz, wo meine Großmutter zu sitzen pflegte. »Ja – ich scheine mich zu erinnern, und doch auch wiederum nicht.«

Sie sah mich an, und ihre weißen Augenbrauen zogen sich zusammen.

Plötzlich sagte sie: »Ronald, ich glaube, ich mag diesen Raum nicht. Da ist etwas … ich weiß es nicht zu benennen. Aber ich glaube nicht, daß ich mich hier aufhalten könnte. Und ich meine mich an irgend etwas zu erinnern, was mit diesem Zimmer zusammenhängt … so wie auch schon bei der Terrasse. Was kann das nur bedeuten?«

»Es bedeutet, daß du müde und überspannt bist, Liebling. Deine Nerven sind überreizt, und die Nerven spielen uns manchmal seltsame Streiche. Komm mit, wir gehen in dein Zimmer, du kleidest dich dort um, und wenn du eine Tasse Tee getrunken hast, wird es dir gleich besser gehen.«

Ja, damals glaubte ich wirklich noch, eine Tasse Tee sei das Heilmittel für ein unerhörtes, mir noch unvorstellbares Übel. Ich hielt Margot an jenem Abend für ein übermüdetes Kind, dem seine rege Phantasie zu schaffen machte. Ach, könnte ich doch auch heute noch daran glauben!

Wir gingen hoch in ihr Boudoir und tranken Tee, und langsam kam sie wieder zu sich selbst; dennoch bemerkte ich, daß sie mehrere Male an diesem Abend verwirrt und gedankenverloren dreinblickte und daß in ihren blauen Augen ein Ausdruck von Besorgnis glomm, den ich dort noch nie gesehen hatte.

Aber ich dachte mir letztlich nichts dabei und war glücklich. Zwei, drei Tage vergingen, und Margot erwähnte ihr seltsames Gefühl, das Haus und den Garten schon einmal gesehen zu haben, nicht wieder. Ich glaubte einen kaum spürbaren Wandel in ihrem Verhalten wahrzunehmen; das war aber auch alles. Sie schien ein wenig ruhelos. Ihre Lebhaftigkeit erschlaffte hin und wieder. Sie suchte häufiger als früher das Alleinsein. Aber wir waren inzwischen ja schon so etwas wie ein altes Ehepaar und konnten uns nicht immer in Sichtweite zueinander aufhalten. Zudem hatte ich mit einigen Leuten Gespräche zu führen, die das Gut betrafen, und mußte eine Reihe verzwickter Angelegenheiten in Ordnung bringen.

Die Flitterwochen lagen eben hinter uns, und es war ganz natürlich, daß wir nicht ständig beisammen sein konnten.

Dennoch wäre es mir lieb gewesen, wenn Margot sich nach dieser glücklichen Zeit zurückgesehnt hätte; indessen mußte ich mir eingestehen, daß sie dann und wann sogar eine leichte Ungeduld kaum verbergen konnte, allein gelassen zu werden. Dies machte mir Sorgen, freilich nur geringe, denn im großen ganzen war sie so liebevoll wie immer. Eines Abends allerdings geschah etwas, das mich ins Grübeln brachte, und ich fragte mich, ob meine Gemahlin nicht mit dem Fluch überspannter Frauen geschlagen sei – der Hysterie.

Ich war übers Moor geritten, um einen etwas entfernt wohnenden Pachtbauern zu besuchen, und kehrte erst mit der Dämmerung zurück. Ich stieg vom Pferd, ging ins Haus, durchquerte die Halle und schritt die Treppe hoch. Da ich Sporen trug und die Stufen aus polierter Eiche bestehen und ohne Teppichbelag sind, machte ich dabei genug Lärm, um jeden auf mein Kommen aufmerksam zu machen. Ich ging gerade an der Tür zum Wohnzimmer meiner Großmutter vorbei, als ich bemerkte, daß sie offenstand. Das Haus war insgesamt wenig beleuchtet, und im Inneren des Zimmers war es ziemlich düster, doch vermochte ich eine Gestalt in einem weißen Kleid zu erkennen. Es war Margot, und ich fragte mich, was sie da drinnen wohl tat, aber ihre Bewegungen waren so sonderbar, daß ich, statt sie anzusprechen, in der Tür stehenblieb und sie beobachtete.

Mit seltsamen, schleichenden Schritten war sie im Zimmer unterwegs, nicht so, als ob sie etwas suchte, sondern als ob sie sich ruhelos oder unwohl fühlte. Aber was mir vor allem auffiel, war, daß in ihren Bewegungen, die ich im Zwielicht nur undeutlich wahrnahm, etwas merkwürdig Animalisches lag. Nie zuvor hatte ich eine Frau mit so eigentümlich wildem, aber doch weichem Gang einherschreiten sehen. Es lag etwas Unheimliches darin, das mich sehr beunruhigte; zugleich war ich jedoch auch fasziniert und stand da wie angewurzelt.

Schwer zu sagen, wie lange ich mich nicht rührte. Ich war vollständig versunken, übermannt von der Leidenschaft des Betrachtens, und das Verstreichen der Zeit kümmerte mich in keiner Weise. Ich fühlte mich wie jemand, der einem merkwürdigen Schauspiel beiwohnt. Dieses weiße Wesen, das sich dort im Dunkeln bewegte, schien nicht mehr meiner Frau zu gleichen – und doch war sie es. Es war, als beobachtete ich ein Tier, wie es ohne klaren Plan, aber dennoch zielbestimmt, einem für Menschen völlig fremdartigem Instinkt folgend, etwas aufzuspüren sucht.

Ich erinnere mich, daß ich unwillkürlich meine Hände faltete und daß sich diese eiskalt anfühlten. Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich war schmerzlich, unnatürlich bewegt, und es überkam mich der heftige Wunsch, dieses weiße, sich bewegende Wesen nicht mehr sehen zu müssen. So leise, wie ich konnte, ging ich in mein Ankleidezimmer, schloß die Tür und setzte mich auf einen Stuhl. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals zuvor so nahe am Rande eines Nervenzusammenbruchs gewesen zu sein, aber in diesem Moment war ich durch und durch erschüttert, fast wie gelähmt. Erstmals vermochte ich zu verstehen, daß Angst tödlich sein kann. Während ich mit fahrigen Händen eine Kerze anzündete, klopfte es an der Tür.

Margots Stimme fragte: »Darf ich eintreten?«

Ich fühlte mich außerstande zu antworten, also stand ich auf und ließ sie herein.

Sie trat mit einem Lächeln über die Schwelle und sah so kindlich aus, so unschuldig, so zart, daß ich fast laut aufgelacht hätte. Daß ich, ein gestandener Mann, sich so ins Bockshorn hatte jagen lassen von einem Kind im weißen Kleid, nur weil das Dämmerlicht eine geisterhafte Atmosphäre erzeugt hatte! Ich nahm sie in meine Arme und schaute ihr in die blauen Augen.

Sie senkte den Blick, lächelte aber weiterhin.

»Wo warst du, und was hast du gemacht?« fragte ich fröhlich.

Sie antwortete, daß sie seit dem Nachmittagstee im Wohnzimmer gewesen sei.

»Du bist vom Wohnzimmer direkt hierhergekommen?«

»Ja.«

Mit gespieltem Gleichmut in der Stimme, der über meine tiefe Besorgnis hinwegtäuschen sollte, fragte ich daraufhin: »Ach übrigens, Margot, warst du eigentlich einmal wieder in diesem Raum … dem Zimmer, das dir bekannt vorkam?«

»Nein, nie«, antwortete sie, während sie sich aus meiner Umarmung löste. »Mir ist nicht danach, dort hineinzugehen. Beeil dich, Ronald, du mußt dich noch umziehen. Es ist fast Zeit für das Abendessen, und ich bin schon fertig.« Und sie drehte sich um und ließ mich allein zurück.

Sie hatte mich angelogen. All meine Ängste und all mein Unbehagen kehrten vervielfacht zurück.

Dieser Abend war der erbärmlichste – der einzige erbärmliche –, den ich bislang mit ihr verbracht hatte.

 

Ich bin des Schreibens müde. Morgen werde ich fortfahren. Ich brauche länger, als ich gedacht habe. Aber das Schreiben bringt mir doch einigen Trost, auch wenn ich alles nur mir selbst erzähle. Der Mensch muß sich aussprechen können; und die Verzweiflung bedarf einer Stimme.

III

 

Donnerstagnacht, 5. November

 

Jene Lüge erweckte den Argwohn in mir gegenüber dem Kind, das ich geheiratet hatte. Ich begann, an ihr zu zweifeln. Nie habe ich jedoch aufgehört, sie zu lieben. Ihr gehörte und gehört mein ganzes Herz – und es wird ihr bis zum Ende gehören. Aber die ruhige Gewißheit der Liebe ist abgelöst worden von der Erregtheit und der Pein, die mit diesem Gefühl verbunden sein können. Etwas Fremdes ist über Margot gekommen. Es war, als ob sie einen hauchdünnen Schleier genommen und sich völlig in ihn eingehüllt hätte, bis die mir vertrauten Umrisse leicht unscharf wurden. Ihr offenes Wesen, das bisher so ausgeprägt gewesen war für jedermann, der Augen hatte zu sehen und Ohren zu hören, das so klar und schön dagestanden hatte, strahlend in unschuldigem Glorienschein, schien sich allmählich zurückzuziehen, so als ob Geheimhaltung geboten wäre. Eine dünne Schicht von Reserviertheit legte sich nach und nach ganz sachte über alles, was sie tat, und alles, was sie zum Ausdruck brachte. Sie dachte nun nach, bevor sie sprach; sie dachte nach, bevor sie aufschaute. Mir schien es so, als sei sie nicht mehr dieselbe Person.

Die Veränderung, die ich anzudeuten versuche, ist sehr schwierig zu beschreiben. Sie erfolgte nicht abrupt genug, um einen aus der Fassung zu bringen, aber ich konnte sie spüren, so geringfügig sie auch war. Wer schon einmal den ersten flachen Film von wellenlosem Wasser beobachtet hat, der von der Flut vorausgeschickt wird, wer zugeschaut hat, wie er geräuschlos über den zerfurchten braunen Sand kriecht und noch die kleinsten Rillen füllt, bis winzige Hügel und Täler nur noch eine glatte Fläche sind, der weiß, wovon ich spreche. Denn so war es auch mit Margot. Eine Flut überspülte ihre Persönlichkeit, eine wellenlose Flut der Zurückhaltung. Die kleinen Hügel und Täler, die ich liebte, verschwanden aus meinem Blick. Hinter dem alten, süßen Lächeln, hinter dem alten, offenen Ausdruck sank meine Frau gleichsam zusammen, um sich zu verstecken, so wie sich jemand auf der Flucht hinter einer Barriere versteckt. Wenn jemand einen anderen Menschen auf sehr intime Weise kennt und alle Trennwände zwischen den Seelen niedergerissen sind, dann ist es schwierig, diese Wände wieder aufzurichten, ohne Staub aufzuwirbeln, ohne das Geräusch eines vorgeschobenen Riegels, ohne das Schlagen eines Hammers, der die Nägel versenkt. Es ist schwierig, aber nicht unmöglich. Trennwände können geräuschlos errichtet werden, und Riegel – welche die Seele aussperren – mögen lautlos einrasten. Der schwarze Gazevorhang, der die Sicht versperrt, fällt, und wenn er sich wieder hebt – so er dies denn tut –, dann hat sich die Szenerie verändert.

Die echte Margot zog sich von mir zurück. Ich fühlte es mit einer hilflosen Verzweiflung, die mich betäubte. Und doch konnte ich nicht darüber sprechen, denn anfangs vermochte ich kaum zu sagen, ob sie sich der Dinge, die da geschahen, wirklich bewußt war. In der Tat, wenn ich nun darüber nachdenke, möchte ich ihr nicht unterstellen, daß sie sich anfangs bewußt war, mich weniger leidenschaftlich als einst zu lieben. Nach außen hin hatte sich ihr Verhalten nicht verändert. Das war das Merkwürdige. Ihre Küsse waren warmherzig, vermittelten aber nicht mehr den Eindruck von Spontaneität. Sie hielt meine Hand in der ihren, aber jetzt war diese zärtliche Geste eher mechanisch als magisch. Die Impulsivität erstarb in ihr; und einst hatte sie doch ihr Wesen ausgemacht. Wußte sie darum? Zu jener Zeit schien dies mir die vordringlichste Frage zu sein. Da ich annahm, daß ihr der eigne Wandel nicht bewußt war, gab ich mir die größte Mühe, mir meinerseits nichts anmerken zu lassen, damit ich in ihr nicht einen Verdacht erweckte, der die Veränderung zum Negativen nur beschleunigen würde. Verzweifelt achtete ich darauf, das gewohnte Bild zu wahren, und verhielt mich gerade dadurch natürlich anders als sonst, denn was man im Trotz tut und was einen bestimmten Zweck hat, ähnelt in keiner Weise dem, was mit leichter Selbstverständlichkeit geschieht. Immer wägte ich ab, was ich sagen sollte, wie ich handeln sollte, sogar, was für ein Gesicht ich aufsetzen sollte. Das Leben war jetzt mühsam statt einfach. Leichtigkeit wurde durch Anstrengung ersetzt. Meine Frau und ich schauten uns verstohlen durch die Augenschlitze zweier Masken an. Mir war das bewußt. Ihr auch?

Damals grübelte ich ständig darüber nach. Einer Sache war ich mir aber sicher – daß sich Margot Entschuldigungen ausdachte, um allein zu sein. In der ersten Zeit, als wir gerade unser Heim bezogen hatten, mochte sie mich kaum aus den Augen lassen. Jetzt aber fing sie an, die Einsamkeit zu suchen. Das war ein furchtbares Warnsignal und als solches unübersehbar.

Doch etwas in mir hielt mich davon ab, dies offen anzusprechen. Ich erwähnte ihren Wandel nicht, der von Tag zu Tag merklicher wurde, vielmehr beobachtete ich meine Frau heimlich mit einer konzentrierten Aufmerksamkeit, die mich manches Mal körperlich erschöpft zurückließ. Zudem fühlte ich nur zu deutlich, daß ich das Maß verlor, daß morbider Argwohn meine Gedanken färbte und mich vielleicht dazu brachte, viele ihrer Handlungen falsch zu interpretieren, die einfachsten Dinge, die sie tat, überzubewerten oder mißzuverstehen. Ich fing an, jeden ihrer Blicke für zweideutig zu halten. Selbst wenn sie mich küßte, vermutete ich dahinter eine bestimmte Absicht, und wenn sie wie einst zu mir aufblickte und lächelte, dann bildete ich mir ein, daß sich dahinter das genaue Gegenteil verbarg. Schritt für Schritt entfremdeten wir uns. Wir waren wie zwei nicht zueinander passende Zimmergenossen – gezwungen, dasselbe Haus zu bewohnen, dazu verdammt, die Gewohnheiten des anderen in- und auswendig zu kennen, nicht aber seine Gedanken, die doch das eigentliche Leben einer Person ausmachen.

Und dann ereignete sich ein weiterer Zwischenfall, etwas, das im Zusammenhang mit Margots eigenartigem, geleugnetem Besuch in jenem Zimmer stand, das ihr angeblich Angst einflößte. Es war Nacht, eine tiefe dunkle Nacht im Herbst – eine Jahreszeit, die selbst das heiterste Gemüt berührt und der Melancholie zugänglich macht. Margot und ich schwiegen, wenn wir zusammen waren, immer häufiger. An jenem Abend, gegen neun, setzte Dauerregen ein. Ich erinnere mich, daß ich die Tropfen gegen die Fensterscheiben trommeln hörte, während wir nach dem Abendessen im Wohnzimmer saßen, und daß ich zu Margot scherzhaft bemerkte, sie werde, wenn das über zwei, drei Tage so weitergehe, vielleicht eine echte Überschwemmung erleben und die Fischersleute vor unserer Haustür vorbeirudern sehen.

Sie reagierte kaum darauf. Die Trostlosigkeit des Wetters schien ihr auf die Stimmung geschlagen zu sein. Kurz darauf nahm sie ein Buch zur Hand und tat so, als würde sie lesen; als ich aber einmal schnell von meiner Zeitung aufsah, vermeinte ich, ihren Blick angstvoll auf mich gerichtet zu sehen. Ich hatte den Eindruck, als würde sie, mit größtem Entsetzen, verstohlen zu mir herüberschauen. Das nahm mich so mit, daß ich den Raum unter einem Vorwand verließ, hinunter in mein Arbeitszimmer ging, mir eine Zigarre anzündete und unruhig auf- und abschritt, während ich dem Regen lauschte, der gegen das Fenster prasselte. Gegen zehn kam Margot herein, um mir zu sagen, daß sie zu Bett gehe. Ich sagte ihr zärtlich gute Nacht, doch als ich ihren schlanken Körper einen Augenblick in meinen Armen hielt, bemerkte ich, daß sie zu zittern begann. Ich ließ sie los, und sie schlüpfte mit jenem sanften, gedämpften Schritt, der ihr zu eigen war, aus dem Raum. Und merkwürdigerweise kehrten meine Gedanken zu dem lang vergangenen Tag zurück, als ich zum ersten Mal die große weiße Katze auf meinem Schoß hatte und ihren Körper unter meiner Hand in namenloser Angst erschaudern spürte. Die unruhigen Bewegungen meiner Frau erinnerten mich ganz deutlich und auf ganz sonderbare Weise an die unbehaglichen Bewegungen des Tieres.

Ich zündete mir eine zweite Zigarre an. Es war fast Mitternacht, als ich sie aufgeraucht hatte, und ich löschte das Licht und ging leise zu Bett. Ich entkleidete mich in einem Nebenraum und begab mich dann in das Schlafzimmer meiner Frau. Sie schlief unruhig in dem breiten, weißen Bett, und als ich mich, die Kerzenflamme mit der vorgehaltenen Hand abschirmend, über sie beugte, murmelte sie einige undeutliche Worte, die ich nicht verstand. Noch nie hatte ich sie im Schlaf reden hören. Sachte legte ich mich neben sie und löschte die Kerze.

Aber ich konnte nicht einschlafen. Anstatt mich zu beruhigen, lastete die dumpfe, tote Stille schwer auf mir. Mein Geist war unerträglich wach, es gärte in mir, und das Mißverhältnis zwischen meiner eigenen Erregtheit und dem stillen Frieden des Schlafgemachs schmerzte in fast unerträglicher Weise. Ich wünschte mir, ein Sturm aus den Bergen würde gegen die Fensterscheiben brausen, der Regen wütend auf das Haus einpeitschen. Die schwarze Ruhe um mich herum war fürchterlich, unnatürlich. Der Nieselregen fiel inzwischen so schwach, daß ich ihn nicht einmal mehr pochen hören konnte, auch wenn ich meine Ohren spitzte, und Margot selbst hatte längst aufgehört zu murmeln und lag vollkommen reglos da. Ach, wie ich mich danach sehnte, in der Seele lesen zu können, die sich in diesem schlafenden Körper verbarg, in das Geheimnis eines Geistes einzudringen, den ich einst so gut verstanden hatte! Es ist schrecklich, daß wir niemals das Innere eines Menschen eröffnen, die Botschaft, die dort wie ein Brief liegt, herausnehmen und Wort für Wort lesen können. Margot schlief, und all ihre Geheimnisse waren geschützt, obwohl sie ohne Bewußtsein war, nicht länger wachsam und auf der Hut. Sie war so still – nicht einmal ihr leises Atmen drang an mein Ohr –, daß ich mich dazu getrieben fühlte, unter der Decke mit meiner Hand hinüberzugreifen und die ihre so sanft wie möglich zu berühren.

Ihre Hand wurde mir augenblicklich und ohne ein Wort entzogen. Sie war also wach.

»Margot«, sagte ich, »habe ich dich gestört?«

Es kam keine Antwort.

Die Bewegung und die darauffolgende Stille gingen mir auf unangenehme Weise nahe.

Ich zündete die Kerze an und warf einen Blick zu ihr hinüber. Die blauen Augen geschlossen, lag sie am äußersten Rand des Bettes. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und ich konnte jetzt ihr regelmäßiges Atmen hören. Aber schlief sie wirklich?

Ich beugte mich noch weiter nach vorn, und als ich dies tat, durchlief eine schwache, ungewollte Bewegung – ähnlich dem, was man einen Schauer nennt – ihren Körper. Ich fuhr zurück. Eine hilflose Wut ergriff mich. Konnte es sein, daß meine Anwesenheit meiner Frau so verhaßt geworden war, daß ihr Körper selbst im Schlaf erbebte, wenn ich ihr nahekam? Oder war dieser Schlaf nur vorgetäuscht? Ich vermochte es nicht zu sagen, aber es war mir unmöglich, länger in dem Zimmer zu bleiben. Ich kehrte in mein eigenes zurück, kleidete mich an und stieg die Treppe zur Terrassentür hinunter. Es war mir ein Bedürfnis, frische Luft zu schöpfen. Die Atmosphäre im Haus war erdrückend.

Lief es also darauf hinaus? Schreckte ich in grundloser Feigheit vor der Frau zurück, die ich liebte? Der in mir schlummernde Hang zur Gewalt begann sich zu regen, der tyrannische Sinn, den eine starke Liebe manchmal mit sich bringt. Fast war ich zu Margots Sklaven geworden. In meiner Zuneigung hatte ich mich ihr zu Füßen geworfen, hatte mich dort festhalten lassen. So lange, wie sie mich liebte, war ich es zufrieden gewesen, ihr Gefangener zu sein, wohl wissend, daß sie mir gehörte. Aber der Wandel in ihrem Verhalten mir gegenüber weckte meine Herrschsucht. In den Tiefen meines Wesens lauerten Reste jener Brutalität, jener Roheit, die ich nie ganz hatte abtöten können, auch wenn sich Margots Sanftheit mir auf wundervolle Weise mitgeteilt hatte, auch wenn ich aus ihrer Zärtlichkeit selbst Zartgefühl geschöpft hatte. Der Junge, der ich vor Jahren gewesen war, hatte sich zum Besseren gewandelt, aber er war nicht tot. Während ich aufgewühlt und grübelnd die nächtliche Terrasse auf- und abschritt, spürte ich das deutlich. Wenn meine Liebe Margot nicht halten konnte, so würde meine Stärke es tun.

Ich sog die feuchte Nachtluft tief in meine Lungen und drückte meine Schultern durch, so als wolle ich eine Last abschütteln. Meine Leidenschaft für Margot hatte mich noch nicht verweichlicht; sie hatte mich gestählt. Die Ängstlichkeit, die ich fast ohne es zu wissen des öfteren ihr gegenüber verspürt hatte, erstarb in mir. Die Entschlossenheit des Eroberers hatte eine erhebende Wirkung auf mich. Es gab etwas für mich zu gewinnen. Die Lähmung fiel von mir ab, und ich wendete mich wieder dem Haus zu.

Und nun passierte etwas Merkwürdiges. Ich betrat die dunkle Eingangshalle, schloß die Außentür, das dumpfe Murmeln der Nacht hinter mir lassend, und kramte in meiner Tasche nach der Zündholzschachtel. Sie war nicht da. Ich mußte sie versehentlich in meinem Ankleidezimmer abgelegt und dort vergessen haben. In der Dunkelheit suchte ich den Tisch in der Halle ab, konnte aber auch dort keine Streichhölzer finden. Es half nichts, ich mußte mich, so gut es ging, die Treppe hinauftasten.

Ich setzte Fuß vor Fuß, meine Hand gegen die Wand gedrückt, um Halt zu haben. Ich erreichte das Ende der Treppe und machte mich daran, den Korridor zu überqueren, die Hand immer noch an der Wand. Um mein Ankleidegemach zu erreichen, mußte ich an dem ehemaligen Zimmer meiner Großmutter vorbei.

Als ich es erreichte, glitt meine Hand nicht wie erwartet über eine verschlossene Tür, sondern faßte ins Leere. Die Tür stand weit offen. Wie alle anderen Türen im Haus war sie geschlossen gewesen, als ich nach unten gegangen war – geschlossen und zugesperrt, wie immer des Nachts. Warum stand sie nun offen?

Ich hielt in der Dunkelheit inne, fühlte in mir den Impuls, den Raum zu betreten, und machte einen Schritt nach vorn. Doch als ich dies tat, drang ein leiser, schrecklich anzuhörender Aufschrei an mein Ohr – ein Aufschrei elendigster Angst, unmittelbar vor mir ausgestoßen.

Wie angewurzelt blieb ich stehen.

»Wer ist da?« fragte ich.

Keine Antwort.

Einen Augenblick lang horchte ich, konnte aber nicht das leiseste Geräusch mehr vernehmen. Der Wunsch, Licht zu machen, wurde übermächtig. Da ich für gewöhnlich in diesem Zimmer meinen Schreibkram erledigte, wußte ich genau, wo sich hier drinnen alles befand. Ich wußte, daß auf dem Schreibtisch eine silberne Schachtel mit Wachsstreichhölzern stand, und zwar auf der linken Seite. Ich tat einen weiteren Schritt nach vorn – und vernahm ein leichtes Rascheln, so als ob jemand zurückweiche, während ich mich näherte.

Schnell griff ich nach der Schachtel, öffnete sie und entzündete ein Hölzchen. Der Raum war nun undeutlich erleuchtet. Ich sah etwas Weißes, das sich gegen die Wand auf der anderen Seite des Zimmers drückte. Ich führte das Zündholz an eine Kerze.

Das weiße Etwas war Margot. Sie hatte ihren Hausmantel übergeworfen und kauerte in einem Winkel, so weit wie möglich entfernt von dem Platz, wo ich stand. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen und starrten mich mit einem Ausdruck von so heftiger, bestürzender Furcht an, daß ich fast aufschrie.

»Margot, was ist mit dir?« stammelte ich. »Bist du krank?«

Sie gab keine Antwort. Ihr Gesicht machte mir angst.

»Was ist denn, Margot?« rief ich mit lauter, rauher Stimme, entschlossen, ihr schreckliches, unnatürliches Schweigen zu brechen. »Was tust du hier?«

Ich ging auf sie zu. Ich streckte meine Hand aus und berührte sie. Als ich das tat, brach eine Art Schluchzer aus ihr heraus. Ihr Hände waren kalt und zitterten.

»Was ist? Was hat dir solche Angst eingejagt?« fragte ich erneut.

Endlich sprach sie mit leiser Stimme.

»Du – du sahst so fremd aus, so … so grausam, als du hereinkamst.«

»Fremd? Grausam? Aber du konntest mich doch gar nicht sehen. Es war doch stockdunkel.«

»Dunkel?«

»Ja, bis ich die Kerze angezündet habe. Und du hast aufgeschrien, als ich gerade in der Tür stand. Da konntest du mich doch noch gar nicht sehen.«

»Warum nicht? Was hat das damit zu tun?« murmelte sie, immer noch heftig zitternd.

»Du kannst mich auch im dunkeln sehen?«

»Selbstverständlich«, sagte sie. »Ich verstehe nicht, was du meinst. Natürlich kann ich dich sehen, wenn du direkt vor meinen Augen stehst.«

»Aber …«, fing ich erneut an. Dann jedoch ließ ich von meinen Fragen ab, denn offensichtlich war sie überrascht, ja wie von Sinnen. Ich hielt noch immer ihre Hände in den meinen, und deren Eiseskälte erinnerte mich daran, daß sie nur spärlich bekleidet war.

»Du wirst dich erkälten, wenn du hier bleibst«, sagte ich. »Komm, laß uns zurück in dein Zimmer gehen.«

Sie sagte nichts, und ich führte sie zurück, wartete, bis sie ins Bett geschlüpft war, und setzte mich dann neben sie auf einen Stuhl, während ich die Kerze auf dem Nachttisch abstellte.

Nach wie vor war ich fest entschlossen, durch schnelles Handeln zu einer Erklärung zu gelangen, das verquere Geheimnis ihres Geisteszustands und ihres Verhaltens zu lüften. An die späte Stunde dachte ich nicht; es war mir gleichgültig, daß die Nacht langsam in ein Morgengrauen überging. Ich kannte nur ein Ziel und ließ alle Rücksichtnahme außer acht.

Dennoch schwieg ich einen Augenblick. Ich versuchte, mich einigermaßen zu sammeln, versuchte, mir die beste Vorgehensweise zurechtzulegen. Viel hing davon ab, welche Worte gewählt wurden. Schließlich sagte ich, wobei ich meine Hand auf die ihre legte: »Margot, was hast du zu einer so ungewöhnlichen Stunde in dem Zimmer gemacht? Weshalb bist du dort gewesen?«

Sie zögerte merklich. Dann antwortete sie, ohne mich anzuschauen: »Ich habe dich vermißt. Ich dachte, du wärest vielleicht dort … um zu schreiben.«

»Aber es war doch alles dunkel.«

»Ich dachte, du hättest dort Licht.«

Ihre ganze Art verriet mir, daß sie die Unwahrheit sagte, dennoch fuhr ich ruhig fort: »Wenn du mich erwartet hast, warum hast du dann aufgeschrien, als ich durch die Tür trat?«

Sie versuchte mir ihre Hand zu entziehen, aber ich hielt sie fest, schloß meine Finger mit fast brutalem Zwang.

»Warum hast du geschrien?«

»Du … du sahst so fremd, so grausam aus.«

»So grausam?«

»Ja! Du hast mir Angst eingejagt … du hast mir furchtbare Angst eingejagt.«

Sie begann plötzlich zu schluchzen, wie jemand, der mit den Nerven gänzlich am Ende ist. Ich zog sie zu mir empor, legte meine Arme um sie und brachte sie dazu, sich an mich zu lehnen. Ich war eigenartig berührt.

»Ich habe dir also Angst eingejagt? Aber wieso?« fragte ich, während ich versuchte, den Wirrwarr von Liebe und Zorn in meiner Brust unter Kontrolle zu bringen. »Du weißt, daß ich dich liebe. Das mußt du doch wissen. In der ganzen Zeit unserer kurzen Ehe – war ich da auch nur einen Moment unfreundlich zu dir? Laß uns ehrlich zueinander sein! Unser Leben hat sich in letzter Zeit verändert. Einer von uns beiden hat sich verändert. Willst du behaupten, daß ich derjenige bin?«

Aber sie weinte nur bitterlich weiter, und ich schloß sie fester in meine Arme.

»Laß uns ehrlich zueinander sein«, fuhr ich fort. »Laß uns, um Himmels willen, keine Barrieren zwischen uns aufrichten! Margot, schau mir in die Augen und sag mir – bist du meiner überdrüssig geworden?«

Sie drehte den Kopf weg, aber ich setzte nur noch dringlicher nach: »Du mußt ehrlich zu mir sein. Ich werde keine Geheimniskrämerei mehr dulden. Schau mir ins Gesicht. Du hast mich doch einmal geliebt?«

»Ja, ja«, flüsterte sie mit erstickter Stimme.

»Was also habe ich getan, daß du mir fremd geworden bist? Habe ich dir jemals weh getan, habe ich es irgendwann an Mitgefühl fehlen lassen, habe ich dich jemals vernachlässigt?«

»Niemals … niemals.«

»Dennoch hast du dich mir gegenüber verändert, seit … seit …«, ich hielt kurz inne und versuchte, mich daran zu erinnern, wann ich zum ersten Mal ihr verwandeltes Verhalten bemerkt hatte.

Sie unterbrach mich.

»Das Haus ist schuld«, schluchzte sie. »Oh! Was ist nur? Was hat das alles zu bedeuten? Wenn ich es wenigstens selbst verstehen könnte – nur ein kleines bißchen –, dann wäre es nicht so schlimm. Aber dieser Alptraum, das, was dir wie eine geistige Verwirrung erscheinen muß …«

Ihre Stimme brach und verstummte. Und wieder flossen ihre Tränen. Noch nie hatte ich eine solche Mischung aus Angst, leidenschaftlichen Gefühlen und einer eigentümlichen Art von unterdrückter Anspannung kennengelernt.

»Ja, unbestreitbar handelt es sich hier um eine geistige Verwirrung«, sagte ich, und ein Anflug von Entrüstung ließ meine Stimme hart und kalt klingen. »Ich habe es nicht verdient, daß du so mit mir umgehst.«

»Es wird nicht mehr vorkommen«, sagte sie und klang dabei geradezu verzweifelt. Plötzlich umschlang sie mich. »Ich will nicht … ich will es nicht!«

Ich war auf eigenartige Weise konsterniert, zerrissen von widersprüchlichen Gefühlen. Liebe und Zorn stritten in meinem Herzen um die Oberhand. Derweil hielt ich Margot einfach fest und erhob mein Wort erst, als sie erkennbar ruhiger wurde. Die Krisis schien ausgestanden. Jetzt sagte ich: »Ich kann es nicht begreifen.«

»Ich auch nicht«, antwortete sie mit einer Offenheit, die ihr zuletzt fremd gewesen war, die aber zum schönen Kern ihres Wesens gehörte. »Ich kann es selbst nicht verstehen. Ich weiß nur, daß sich etwas in mir verändert hat – oder in dir mir gegenüber – und daß ich es nicht ändern kann. Oder daß ich nicht in der Lage war, es zu ändern. Manchmal fühle ich – sei nicht böse, ich versuche nur, es dir zu erklären – eine körperliche Abneigung gegen dich, gegen deine Berührung und deine Umarmungen, eine Angst, die ein Tier vor seinem Herrn fühlen mag, der es geschlagen hat. Dann erbebe ich, wenn du zu mir kommst. Wenn du in meiner Nähe bist, ist mir kalt, oh, so kalt, und ich bin unruhig; vielleicht sollte ich eher sagen: ängstlich. Oh, ich tue dir weh!«

Ich muß bei ihren Worten wohl zusammengezuckt sein, und sie nimmt so etwas sogleich wahr.

»Sprich weiter«, meinte ich, »nimm auf mich keine Rücksicht. Erzähl mir alles, auch wenn es sich in der Tat verrückt anhört; aber vielleicht läßt sich das Unheil ausmerzen, wenn wir beide darüber Bescheid wissen.«

»Ach, wenn das nur möglich wäre!« rief sie mit einer solchen Wehmut aus, daß es mir fast das Herz brach. »Wenn das nur möglich wäre!«

»Zweifelst du etwa, daß es gelingen kann?« fragte ich, während ich um Geduld und Ruhe rang.

»Wie alle Frauen läßt du dich von deinen Empfindungen hinreißen. Nimm dich für einen Augenblick zusammen. Du tust mir unrecht, wenn du mir gegenüber solche Gefühle hegst. Ja, Grausamkeit liegt meinem Wesen nicht ganz fern. Vielleicht war ich – nein, sicher war ich – in der Vergangenheit grausam, aber niemals dir gegenüber. Du hast kein Recht, mich so zu behandeln, wie du es in letzter Zeit getan hast. Wenn du deine Gefühle prüfst und sie mit den Tatsachen vergleichst, wirst du erkennen, wie absurd das alles ist.«

»Aber«, warf sie mit jener unüberlegten Schnelligkeit ein, wie sie Frauen zu eigen ist, »das würde ja nichts an meinen Gefühlen ändern.«

»Es muß sie aber verändern! Schau sie dir mit prüfendem Auge an – und sie werden verblassen wie Gespenster, die nur zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens umgehen. Deine Gefühle entbehren jeder Grundlage; sie sind Waisenkinder der Seele; sie sind hysterisch; sie tragen das Böse in sich. Denk doch auch einmal an mich! Willst du dich etwa von einer Chimäre überwältigen lassen und gestatten, daß ein bloßes Phantom, die Frucht deiner Einbildungskraft, ein Glück zerstört, das so schön war? Das wirst du nicht tun! Das darfst du nicht tun!«

Sie antwortete nur: »Wenn ich es vermag.«

Leidenschaftliche Wut übermannte mich, ein Zorn, der sich aus meiner Hilflosigkeit diesem Kind gegenüber erklärte. Fast grob schob ich sie von mir.

»Das also ist die Frau, die ich geheiratet habe!« rief ich erbittert.

Margot hatte inzwischen aufgehört zu weinen. Ihr Gesicht war sehr weiß und ruhig. Ja, geradezu starr wirkte es in dem schwachen Kerzenlicht, das über dem Bett flackerte.

»Sei nicht böse mit mir«, sagte sie. »Etwas tief in uns lenkt uns; es gibt Kräfte in unserem Innern, gegen die wir nicht ankämpfen können.«

»Es gibt nichts, gegen das wir nicht ankämpfen könnten«, brauste ich auf. »Die Prädestinationslehre ist eine Doktrin des Teufels, denn mit ihr vermag der Sünder seine Sünden zu rechtfertigen; es ist eine Lehre für Feiglinge. Verstehe mich richtig, Margot, ich liebe dich, aber ich bin kein Schwächling und kein Narr. Diese Torheit muß ein Ende haben. Vielleicht spielst du mit mir, indem du dich wie ein junges Mädchen benimmst, um mich zu prüfen. Laß es gut damit sein.«

Sie sagte: »Ich tue nur, was ich tun muß.«

Ihr Ton machte mich frieren. Ihr starres Gesicht ängstigte mich und erzürnte mich zugleich, denn es ließ eine seltsame Hartnäckigkeit erkennen. Ich verließ den Raum unvermittelt und kehrte nicht zurück. In jener Nacht fand ich keinen Schlaf.

Ich bin kein Feigling, aber offenbar neige ich dazu, das zu fürchten, was mich fürchtet. Ich habe eher Angst vor einem Tier, das mir stets still aus dem Weg geht, als vor einem, das mir offen seine Feindschaft zeigt. Wenn etwas vor mir flüchtet, so läßt mich das erschauern, wenn sich etwas verkriecht, wenn ich in seine Nähe komme, so erweckt das mein Unbehagen. Zu diesem Zeitpunkt stieg in mir ein eigenartiges Gefühl Margot gegenüber hoch. Das weiße, hübsche Kind, das ich geheiratet hatte, erschien mir jetzt gelegentlich – nur gelegentlich – als ein Ungeheuer. Ich hatte das Bedürfnis, Margot zu meiden. Etwas in meinem Inneren begehrte gegen sie auf.

Vor langer Zeit, in jenem Augenblick, da wir einander vorgestellt wurden, hatte sich ein irrationales Empfinden, das man nur als Furcht bezeichnen konnte, meiner bemächtigt. Diese Furcht kehrte in der Nacht unserer Aussprache zurück, tiefer und stärker als zuvor. Sie ließ mich einen Vorschlag machen, den ich sofort wieder bereute, nachdem ich ihn ausgesprochen hatte. Am nächsten Morgen sagte ich zu Margot, es sei wohl besser, wenn wir in Zukunft getrennte Räume bewohnten. Sie stimmte stillschweigend zu, doch mir war, als hätte ich einen Augenblick lang einen verstohlenen Ausdruck der Erleichterung auf ihrem Gesicht wahrgenommen.

Ich zürnte ihr, ich zürnte mir selbst. Nun jedoch, da ich zweifelsfrei um die körperliche Abneigung meiner Frau gegen mich wußte, fürchtete auch ich mich halb vor ihr. Ich hatte das Gefühl, mich nicht dazu überwinden zu können, lange Stunden an ihrer Seite in der Dunkelheit zu liegen, an der Seite einer Frau, die vor mir zurückschreckte, die mich beobachtete, während ich sie nicht sehen konnte. Allein die Vorstellung ließ mich frösteln.

Zugleich haßte ich mich selbst für dieses körperliche Zurückweichen, und manchmal haßte ich sie dafür, daß sie diesen Rückzug hervorgerufen hatte. Ein schrecklicher Kampf tobte in meinem Inneren – ein Kampf zwischen Liebe, hilfloser Wut und Verzweiflung, ein Kampf zwischen dem Liebenden und dem Herrn. Denn ich bin eine dieser altmodischen Gestalten, die meinen, daß der Mann – und nicht die Frau – der Herr im Haus sein sollte.

Wie aber konnte ich der Herr über eine Frau sein, die ich insgeheim fürchtete? Meine Selbsterkenntnis verstörte mich zutiefst, brachte mich fast dem Wahnsinn nahe.

Jegliche Ruhe war dahin. Ich war abwechselnd zärtlich zu meiner Frau oder geradezu bösartig ihr gegenüber, war einmal dazu bereit, ihr zu Füßen zu fallen und sie anzubeten, ein anderes Mal aber ebenso bereit, sie hart anzufassen und körperliche Gewalt anzuwenden. Nur mit Mühe konnte ich mich davor zurückhalten.

Die Unstetigkeit meines Verhaltens schien ihr nichts auszumachen. Tatsächlich fiel mir manchmal auf, daß sie meine Freundlichkeit mehr fürchtete als meine Grobheit. Und tausend heimliche Zeichen bezeugten, daß ihr Entsetzen vor mir von Tag zu Tag wuchs. Ich glaube, sie konnte sich kaum noch dazu durchringen, mit mir allein in einem Zimmer zu sein, besonders nach Sonnenuntergang.

Eines Abends, als wir gerade bei Tisch saßen, machte der Butler, nachdem er die Teller mit dem Dessert serviert hatte, Anstalten, den Raum wieder zu verlassen. Sie erblaßte und rief ihn, als er gerade die Tür erreichte, in scharfem Ton zurück.

»Symonds!«

»Ja, Madam?«

»Sie gehen?«

Der Mann schaute sie überrascht an.

»Darf ich Ihnen noch etwas bringen, Madam?«

Sie warf mir einen Blick zu, in dem eine kaum in Worten zu fassende Unsicherheit lag. Dann lehnte sie sich mit Mühe in ihrem Stuhl zurück und preßte ihre Lippen zusammen.

»Nein«, sagte sie.

Als der Mann den Raum verließ und die Tür schloß, schaute sie erneut aus dem Augenwinkel zu mir herüber; schließlich wanderte ihr Blick von mir zu einem kleinen Messer mit fein geschliffener Klinge, das zum Schälen von Orangen benutzt wurde und neben ihrem Teller lag, und blieb darauf haften. Unauffällig griff sie danach, zog es zu sich heran und ließ ihre Hand über dem Messer liegen. Aus einer vor mir stehenden Schale nahm ich eine Orange.

»Margot, würdest du mir bitte das Obstmesser reichen?«

Sie zögerte erkennbar.

»Gib mir das Messer«, wiederholte ich grob und streckte meine Hand aus.

Sie hob ihre Hand, ließ das Messer auf dem Tisch zurück und sprang im selben Moment auf, schlüpfte aus dem Raum und schloß die Tür.

Jenen Abend habe ich allein im Raucherzimmer verbracht, und zum ersten Mal kam sie nicht, um mir Gute Nacht zu wünschen. So saß ich denn dort und rauchte meine Zigarre in seelischem Aufruhr zwischen Liebe und Zorn. Die Situation wurde unerträglich. So konnte es nicht weitergehen. Ich sehnte mich nach einer Zuspitzung, einer Krise – und sei sie auch mit einem Gewaltausbruch verbunden. Ich hätte in jener Nacht durchaus eine echte Tragödie heraufbeschwören können. Es gab Augenblicke, in denen ich dieses Kind, das sich mir entzog und sich mir widersetzte, fast hätte töten mögen. Es drängte mich, brutal Rache an ihrem Körper zu nehmen für die Verfehlungen ihres Geistes. Ich war todunglücklich.

Nach einem langen und schmerzhaften In-mich-gehen beschloß ich, einen weiteren Versuch zu wagen, die Dinge zu richten, bevor es zu spät war. Als die Uhr halb elf schlug, ging ich leise hinauf zu ihrem Schlafzimmer und drückte die Türklinke, um einzutreten, Margot in meine Arme zu nehmen, ihr zu sagen, wie tief meine Liebe für sie sei, wie sehr mich ihre grundlosen Befürchtungen verletzten und daß sie mich von der Sanftmut, die sie mir vermittelt habe, allmählich wieder zurück zu meiner ursprünglichen Gewaltsamkeit und Roheit treibe.

Die Tür widerstand mir; sie war verschlossen.

Ich hielt einen Moment inne, dann klopfte ich leise. Ich hörte drinnen ein plötzliches Rascheln, so als ob jemand von der Türe weglaufe, dann rief Margot mit scharfer Stimme: »Wer ist da? Wer ist da?«

»Margot, ich bin’s. Ich möchte mit dir reden … dir Gute Nacht sagen.«

»Gute Nacht«, sagte sie.

»Aber laß mich doch einen Moment ein.«

Die folgende Stille schien mir sehr lang zu währen; dann antwortete sie: »Nicht jetzt, Liebling; ich … ich fühle mich so müde.«

»Mach doch für einen Augenblick die Tür auf.«

»Ich bin sehr müde. Gute Nacht.«

Der kalte, flache Klang ihrer Stimme – denn die Beklemmung hatte sie nach jenem ersten plötzlichen Ausruf verlassen – entfachte meinen Jähzorn. Ich ergriff die Türklinke und drückte mit meiner ganzen Kraft. Ich bin von Natur aus sehr stark – meine Wut und meine Verzweiflung verliehen mir nun Riesenkräfte. Ich brach das Schloß aus den Rahmen und war mit einem Satz in ihrem Zimmer. Ich wollte Margot ergreifen und umschließen, vielleicht sogar zu Tode drücken, in einer Umarmung, gegen die sie sich nicht wehren konnte. Das Blut floß wie ein Feuerstrom durch meine Adern. Liebeslust, ja vielleicht auch Mordlust hatte mich erfaßt. Ich drängte ungestüm in den Raum.

Drinnen waren keinerlei Kerzen entzündet. Die Läden waren geschlossen, und nur kalte Mondstrahlen drangen durch die Schlitze. In dem gelblichen Licht kauerte neben dem Fenster, das am weitesten entfernt war, ein weißes Etwas.

Eine plötzliche Kälte ergriff mich, und alle Wärme in mir erstarrte zu Eis.

Ich blieb stehen, wo ich war, und hielt den Atem an.

Dieses weiße Etwas, so undeutlich es auch zu erkennen war, hatte keine Ähnlichkeit mit einem Menschen. Es war gänzlich animalisch. In diesem Augenblick hätte ich glauben können, daß sich dort neben dem Vorhang eine weiße Katze duckte, darauf wartend, mich anzuspringen.

Was für eine eigenartige Illusion! Später habe ich versucht, darüber zu lachen, aber in jenem Moment übermannte mich Entsetzen – Entsetzen und Scheu.

Alle gewalttätige Lust in mir war sofort vergangen, das Feuer war erloschen – ich fühlte mich kalt wie Stein. Ich konnte nicht einmal sprechen.

Plötzlich bewegte sich das weiße Etwas. Der Vorhang wurde ruckartig vorgezogen, das Mondlicht ausgesperrt. Dunkelheit senkte sich über den Raum – eine Dunkelheit, in der dieses Wesen sehen konnte!

Ich machte kehrt und schlich mich aus dem Zimmer. Ich hätte aus dem Haus fliehen mögen, getrieben von dem namenlosen Grauen, das mich erfaßt hatte. Erst als der Morgen heraufdämmerte, erwachte der Mann in mir, und ich verfluchte mich für meine Feigheit.

 

Nachbarn, die ein paar Meilen entfernt in einer prachtvollen alten Normannenburg am Meer lebten, hatten angefragt, ob wir am folgenden Abend zu ihnen zum Dinner kommen wollten. Den Tag über hatte keiner von uns beiden den Zwischenfall der vergangenen Nacht auch nur mit einem Wort erwähnt. Für uns beide war es, glaube ich, gleichermaßen eine Erleichterung, unter Leute zu kommen. Die Bekannten, zu denen wir gingen – Lord und Lady Melchester – hatten eine große Schar von Gästen bei sich zu Besuch, und wir waren wohl die einzigen, die nicht über Nacht blieben, da wir ja in unmittelbarer Nachbarschaft wohnten. Zu den Gästen gehörte ein gewisser Professor Black – ich habe seinen Namen schon erwähnt –, ein dürres, trockenes, bissiges Männchen mit dichtem schwarzen Haar, das offenbar keinen Kamm kannte, und mit vorgeschobenen, strichgeraden Lippen. Ich hatte ihn zwei, drei Mal in London gesprochen, und da er gerade erst in der Burg eingetroffen war und die anderen Gäste noch kaum kannte, kam er, nachdem die Damen das Speisezimmer verlassen hatten, mit einem Glas Wein in der Hand zu mir herüber und zog mich in eine Unterhaltung. In jenem Moment war ich froh darüber, aber noch bevor es an der Zeit sein sollte, den Damen zu folgen, hätte ich ein Jahr – sogar Jahre – meines Lebens gegeben, nicht mit ihm gesprochen, ihm in jener Nacht nicht zugehört zu haben.

Wie sind wir auf das fatale Thema gekommen? Ich kann mich kaum noch erinnern. Zuerst unterhielten wir uns über die Landschaft, kamen dann auf Bücher, schließlich auf gemeinsame Bekannte zu sprechen. Ja, genau so war es. Der Professor erzählte von einem Bekannten aus London, einem ungewöhnlich weibischen Mann, dessen Gedanken und Gefühle sämtlich denen einer Frau glichen. Ich gestand, daß ich jenen Herrn nicht ausstehen könne, und brach den Stab über sein feminines Gehabe, seinen weibischen Geist. Der Professor jedoch erhob Widerspruch.

»Bemitleiden Sie den armen Kerl, wenn Sie wollen«, meinte er mit seiner Fistelstimme, »aber wollen Sie ihn wirklich verdammen? Genausogut könnte man doch einer Kaulquappe vorwerfen, daß sie kein ausgewachsener Frosch ist. Jener Herr ist eben außerstande – dessen dürfen Sie sich durchaus gewiß sein –, seine Seele zu kontrollieren oder zu bezwingen.«

Black nippte an seinem Port, beugte sich dann näher zu mir herüber und meinte mit gesenkter Stimme: »Unserer Welt fehlt es an Bedachtsamkeit, sonst würde es nicht so viele vorschnelle Urteile geben. Seelen sind wie persönliche Schreiben, doch können sie zuweilen in einem falschen Kuvert eingeschlossen sein. Die Seele eines Mannes kann zum Beispiel in einem Frauenkörper deponiert sein – oder umgekehrt. So ist es in D––s Fall geschehen. Es wurde ein Fehler gemacht.«

»Von wem? Vom Schicksal?« unterbrach ich mit einer Andeutung von Sarkasmus in meiner Stimme.

Der Professor lächelte.

»Lassen Sie uns mit Thomas Hardy einmal ein Oberhaupt der Unsterblichen annehmen, das sich einen Spaß mit mehr Menschen als nur mit Tess erlaubt. Fehler können absichtlich gemacht werden – genauso wie versehentlich das Untadlige geschehen kann. Selbst die höchste Macht mag sich manchmal zu einem Bubenstreich herablassen. Für den Denker verbirgt sich unter jeder Bettdecke eine eingeseifte Matratze, und wasserdurchtränkte Schwämme fallen von mindestens der Hälfte der Türen, die er öffnet. Das Seelenkarussell des soeben erwähnten Oberhaupts ist schon eigenartig, aber die Menschheit begreift einfach nicht, daß der Transfer einer Seele von einem Körper in den anderen eine ebensolche Alltagstatsache ist wie die, daß dem tagtäglichen Aufgehen der Sonne in der einen Hälfte der Welt in der anderen ihr Untergehen entspricht.«

»Wollen Sie damit sagen, daß die Seelen nach dem Tod eines bestimmten Körpers, in dem sie bis dahin eingeschlossen waren, wieder in die Welt zurückkehren?«

»Genau! Für mich steht diese Wahrheit außer jedem Zweifel. Manchmal wandert die Seele einer Frau in den Körper eines Mannes; dann verhält sich der Mann wie eine Frau, und die Leute beschimpfen ihn als weibisch. Die Seele färbt auf den Körper ab und zwingt ihm ihre Handlungen auf, umgekehrt färbt der Körper jedoch nicht auf die Seele ab, jedenfalls nicht in demselben Maße.«

»Aber der Mensch ist doch nicht willenlos. Sind wir denn nicht Herren unserer selbst?«

Der Professor lachte trocken.

»Glauben Sie das wirklich?« fragte er. »Für meinen Teil zweifle ich manchmal daran.«

»Und ich bezweifle Ihre Theorie der Seelenwanderung.«

»Das zeigt mir – bitte verzeihen Sie mir die offenkundige Anmaßung –, daß Sie sich nie gründlich mit der Thematik auseinandergesetzt haben. Denken Sie, daß D–– wirklich damit zufrieden ist, so augenscheinlich anders als andere Männer zu sein? Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß er dasselbe an sich wahrgenommen hat, was uns aufgefallen ist. Sie können sich darauf verlassen, daß er versucht hat, ganz normal zu sein, aber es war ihm nicht möglich. Seine Seele kontrolliert ihn – genauso, wie eine starke Natur eine schwache kontrolliert, und seine Seele ist weiblich, nicht männlich. Denn Seelen haben ein Geschlecht – was für einen Sinn hätte es sonst, von Seelenverbindung zu sprechen? Ich hege keinen Zweifel daran, daß Reinkarnation das irdische Leben prägt. Seelen ziehen weiter und weiter, ihrer Bestimmung folgend.«

»Sie glauben, daß jede Seele reinkarniert ist?«

»Sogar mehrfach.«

»Daß sogar im Tierreich die Seele eines Tieres in den nächsten Körper weiterzieht?«

»Einen Moment, bitte! Wir kommen jetzt zu etwas, das meine Theorie untermauern kann. Tiere haben nämlich in der Tat Seelen, wie Sie richtig andeuten. Niemand, der mit ihnen Umgang pflegt, kann das auch nur für einen Augenblick bezweifeln. Ihre Seelen sind genauso unvergänglich – oder vergänglich – wie die unseren. Und genauso wandern ihre Seelen weiter.«

»In andere Tiere?«

»So wird es wohl sein. Und letzten Endes, im Laufe der Entwicklung, auch in Menschen.«

Ich lachte, womöglich etwas unhöflich. »Mein lieber Professor, ich hätte gedacht, daß diese antiquierte Sicht der Dinge von der modernen Wissenschaft längst widerlegt wäre.«

»Meine Überzeugung beruht auf eigenen minutiösen Beobachtungen«, entgegnete er ziemlich kühl. »Mir fällt an bestimmten Tieren auf, daß sie sich – zu einem gewissen Grade jedenfalls – wie Menschen aufführen, und ich ziehe daraus meine Schlüsse. Wenn sich diese Schlüsse in die Gedankenwelt des Pythagoras – oder die eines anderen Denkers – einfügen, um so besser. Aber wenn nicht, dann beunruhigt mich das auch nicht weiter. Man kann das Tier – und nicht nur das Tier im allgemeinen, sondern ein ganz bestimmtes –, das sich im Menschen äußert, ohne weiteres erkennen. Es gibt Männer, deren gesamtes Verhalten an Affen erinnert, und ich bin Frauen begegnet, die in ihrem Gebaren und Aussehen, ja sogar in ihrem Charakter Katzen unwahrscheinlich ähnlich waren.«

Ich stieß einen leisen Schrei aus, was ihn aber in keiner Weise störte.

»Also, ich habe Katzen genau studiert. Von allen Tieren interessieren sie mich am meisten. Sie besitzen weniger sichtbare Intensität, weniger offene Leidenschaft als Hunde, aber meiner Meinung nach mehr Charakter. Ihre Subtilität ist außergewöhnlich, ihr Feinsinn wundervoll. Ob Sie mich verstehen, wenn ich sage, daß alle Hunde Männer sind, alle Katzen Frauen? Denn diese Bemerkung drückt den Unterschied zwischen ihnen aus.«

Er hielt einen Augenblick inne.

»Sprechen Sie weiter … sprechen Sie weiter«, sagte ich und lehnte mich nach vorn, meine Augen auf sein lebhaft bewegtes Gesicht geheftet.

Mein plötzlich entflammtes Interesse schien ihm zu schmeicheln.

»Katzen sind genauso feinsinnig und genauso schwer zu verstehen wie die komplexeste Frau – und fast ebenso intuitive Geschöpfe. Werden sie gut aufgenommen, so zeigen sie anfangs eine bestimmte gutmütige, herablassende Sanftheit in ihrem Benehmen, sogar völlig Fremden gegenüber. Wenn jedoch dieser Fremde der Katze übel will, scheint sie das instinktiv in seiner Seele zu lesen, und augenblicklich ist sie auf der Hut. Doch verbirgt sie ihre Ängste hinter einer kalten Gleichgültigkeit und Zurückhaltung. Nie ergreifen Katzen die Initiative: sie enthalten sich lediglich jeder Handlung. Sie ziehen die Seele, die hervorgelugt hatte, zurück, genau wie sie die Krallen in die Polster ihrer Pfoten zurückziehen können. Sie täuschen keine Kampfeslust vor, wie das vielleicht Hunde täten, sie werden weder aggressiv noch jaulen sie oder ziehen den Schwanz ein. Sie sind lediglich auf der Hut, wachsam, mißtrauisch. Ist all dies nicht durch und durch Frauenart?«

»Möglicherweise«, antwortete ich, schmerzlich berührt und um Fassung ringend.

»Eine Frau weiß intuitiv, wer ihr Freund ist und wer ihr Feind – so lange jedenfalls, wie ihr Herz nicht im Spiel ist; dann verliert sie die Kontrolle, wenn ich mich so ausdrücken darf. Eine Frau – aber ich will die Parallelen nicht länger verfolgen. Zumal es auch nicht um diesen Punkt geht, denn ich will keineswegs behaupten, daß alle Frauen die Seele von Katzen besitzen. Nein, aber ich bin Frauen begegnet, die Katzen so unglaublich ähnlich waren, daß ihre Seelen – wie ich schon sagte, sind Seelen dazu in der Lage – die Körperbewegungen von Katzen hervorgebracht haben. Ihnen war die Katze förmlich ins Gesicht geschrieben. Sie bewegten sich wie sie, und ihr Verhalten war unübersehbar katzenartig. Ich sehe nichts Abwegiges in der Annahme, daß die Körper solcher Frauen Seelen beherbergen – in einem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium natürlich –, die vorher schlichte Katzenseelen gewesen sind, aber jetzt nach und nach an Menschlichkeit gewinnen und auf der Leiter nach oben steigen. Schließlich stehen wir selbst nicht allzuweit über dem Tier, und wenn wir uns gehen lassen, werden wir oft wieder zu bloßen Tieren. Die Seele entwickelt sich dann rückwärts.«

Black legte erneut eine Pause ein und schaute mich an. Ich kaute auf meinen Lippen, mein Weinglas hatte ich nicht angerührt. Er nahm meine Erregung offenbar als Kompliment, lächelte und sagte: »Befinden Sie sich auf dem Weg der Bekehrung?«

Ich deutete ein Kopfschütteln an. Dann sagte ich mit einiger Überwindung: »Das ist sicherlich eine originelle und interessante Idee. Aber da bleibt noch vieles ungeklärt. Ich würde Ihnen gern folgende Frage stellen: Glauben Sie … glauben Sie, daß eine Seele, falls sie weiterlebt, so wie Sie es ja postulieren, ihre Erinnerungen mit sich nimmt, Erinnerungen an einstige Liebe – und einstigen Haß? Nehmen wir an, daß die Seele einer Katze in den Körper einer Frau gewandert ist und daß die Katze vor langer Zeit, nun ja, gequält, möglicherweise getötet wurde von jemandem, sagen wir, einem Mann – würde sich die Frau, wenn sie diesem Mann begegnet, daran erinnern und vor ihm zurückschrecken?«

»Das ist eine sehr interessante und ungewöhnliche Frage, und ich kann nicht behaupten, eine eindeutige Antwort zu besitzen. Höchstens kann ich vortragen, was meiner Meinung nach in einem solchen Fall am wahrscheinlichsten wäre. Ich glaube nicht, daß sich die Frau bewußt erinnern würde, aber ich glaube schon, daß sie eine gewisse Ahnung hätte, jenen Mann betreffend. Unsere Ahnungen oder Intuitionen dürften zuweilen nur die bruchstückhaften Erinnerungen unserer Seelen an Dinge sein, die ihnen in vorausgegangenen Leben widerfahren sind. Warum sollten wir sonst manchmal eine so heftige Abneigung gegenüber einem Fremden empfinden, obwohl er äußerst charmant auftritt und obwohl über seinen Charakter nichts Nachteiliges bekannt ist, gegenüber einer Person, von der wir vorher nie etwas gehört, die wir nie getroffen haben? Sogenannte Intuitionen sind oft Erinnerungsfetzen. Und sie können, so scheint es mir jedenfalls, mittels Assoziationen verstärkt werden und dann Gestalt annehmen, Kontur gewinnen. Nehmen wir zum Beispiel Orte. Katzen fühlen sich intensiv mit Orten verbunden, mit bestimmten Plätzen, einem gewissen Haus oder Garten, einem bestimmten Fleckchen am Ofen, wobei es keine Rolle spielt, ob Leute zugegen sind oder nicht. Würden nun der Mann und die Frau, von denen Sie sprechen, an genau jenem Ort, an dem die Quälerei und der Tod stattgefunden haben, zusammengebracht, könnte sich möglicherweise die Abneigung der Frau in offenen Haß verwandeln. Allerdings wäre das immer ein irrationaler Haß, denke ich, und sogar für sie selbst unerklärlich. Dennoch …«

An dieser Stelle erhob sich Lord Melchester vom Tisch, und die Unterhaltungen brachen ab. Ich fühlte, daß ich blaß bis in die Lippen geworden war.

Wir wechselten in den Salon. Die Frauen standen in der Nähe des Klaviers beisammen. Margot war unter ihnen. Wie immer war sie völlig in Weiß gekleidet, selbst der Saum ihres Gewandes war mit schneeweißem Pelz verbrämt. Als wir eintraten, ging sie zu einem Sofa hinüber und ließ sich in die Polster sinken. Professor Black, der den Salon an meiner Seite betreten hatte, ergriff sacht meinen Arm.

»Diese Dame dort«, flüsterte er mir ins Ohr, »ich weiß nicht, um wen es sich handelt, aber sie ist hochgradig katzenartig. Das ist mir schon vor dem Abendessen aufgefallen. Haben Sie bemerkt, wie sie sich gerade bewegt hat, die weiche, biegsame, leichte Art, mit der sie sich niedergesetzt hat, und sehen Sie, wie sie sofort – mit vollkommener Natürlichkeit – eine anmutige Pose angenommen hat? Und ihre porzellanblauen Augen sind …«

»Sie sprechen über meine Frau, Professor«, unterbrach ich ihn barsch.

Er schaute bestürzt drein.

»Bitte um Verzeihung. Ich hatte keine Ahnung. Ich bin heute abend erst nach Ihnen eingetroffen und glaubte, die Dame gehöre so wie ich selbst zu den Übernachtungsgästen. Lassen sie mich Ihnen gratulieren. Sie ist sehr schön.«

Und dann mischte er sich hastig unter die Gruppe am Klavier.

Für mich steht fest, daß der Mann ein Verrückter ist – vollkommen verrückt, wie Neunmalkluge es sind, wenn sie ihr Steckenpferd reiten. In jedem Menschen, den er trifft, erkennt er nur noch das Tier, weil seine irrwitzige Theorie es ihm so vorgaukelt. Von seinen Wahnideen hingerissen, sieht er die Dinge nicht, wie sie tatsächlich sind, sondern wie er sie sehen will. Aber mich wird er nicht mitreißen. Es ist seine Theorie, nicht meine. Und sie ist keineswegs hieb- und stichfest. Jetzt kann ich darüber lachen, aber ich muß gestehen, daß sie mir in jener Nacht eine Zeitlang einleuchtete. Damals verschlug es mir fast die Sprache, und ich bemerkte, daß ich Margot mit schrecklicher Eindringlichkeit beobachtete, bemerkte, daß ich mit Professor Black so weitgehend übereinstimmte, daß meine bisherige Blindheit in diesem Punkt mich geradezu staunen ließ.

Das Mädchen, das ich geheiratet hatte, das sanfte, weiße Mädchen, besaß tatsächlich etwas merkwürdig Katzenartiges, das mir allmählich unheimlich wurde, obwohl Margot mir immer noch sehr am Herzen lag und immer liegen wird. Ihre Bewegungen besaßen die feine, instinktive und sichere Eleganz einer Katze. Ihre gedämpften Schritte, die mir schon öfters aufgefallen waren, glichen den Tritten einer Katze. Und diese porzellanblauen Augen! Ein kalter Schauer durchlief mich, als ich begriff, warum sie mir bekannt vorgekommen waren, als ich Margot das erste Mal traf. Es waren die Augen des Tieres, das ich gequält, das ich getötet hatte.

Doch das bewies noch nichts, überhaupt nichts. Viele Menschen haben Tieraugen, die sanften Augen eines Hundes, die tückischen, grausamen Augen eines Tigers. Ich habe solche Leute gekannt. Einmal hatte ich sogar ein Affäre mit einer jungen Frau, die als das ›abgeschossene Rebhuhn‹ bekannt war, weil ihre Augen vermeintlich wie die eines sterbenden Vogels dreinblickten. Ich versuchte, aus den komischen Aspekten der Erinnerung Zuversicht zu schöpfen. Aber mir war kalt, und meine Sinne schienen wie betäubt, so als ob sie Schreckliches wahrgenommen hätten. Ich saß stocksteif da, mein Blick unentwegt auf Margot geheftet. Und trotz inneren Widerstrebens bemühte ich mich, all das in sie hineinzulesen, was Professor Blacks Sermon mir nahegelegt hatte – ich versuchte es, doch wünschte ich insgeheim, es sei vergeblich.

Lady Melchester riß mich aus meinen Gedanken, als sie auf mich zukam und mich um irgendeinen Gefallen bat, ich weiß nicht mehr, um welchen. Ich zwang mich dazu, fröhlich zu sein, an den Gesprächen teilzunehmen, entspannt zu wirken, aber ich fühlte mich wie jemand, der von Alpträumen erdrückt wird, und ich konnte meinen Blick kaum von dem Sofa losreißen, auf dem meine Frau saß. Sie unterhielt sich inzwischen mit Professor Black, der ihr gerade vorgestellt worden war, und plötzlich keimte Wut in mir auf, denn ich glaubte, daß er sie möglicherweise trocken und kühl in Augenschein nahm, ohne zu ahnen, welch weitreichende persönliche Konsequenzen mit der Wahrheit oder Unwahrheit seiner sonderbaren Theorie verbunden waren. Sie unterhielten sich angeregt miteinander, und in diesem Augenblick kam mir in den Sinn, daß er eventuell Margots Kopf mit seinen verderblichen Doktrinen füllen, daß er ihr jenes Wissen über ihre Seele vermitteln könnte, welches ihr derzeit fehlte. Die Vorstellung war unerträglich. Ich brach die Unterhaltung, die ich gerade führte, jäh ab und eilte so überstürzt zu den beiden hinüber, daß es jeden, der Notiz davon nahm, in Verwunderung versetzen mußte. Fast rüde plazierte ich meinen Stuhl zwischen Black und Margot.

»Nun, worüber sprecht ihr gerade?« fragte ich bar jeder Höflichkeit, verbunden mit einem mißtrauischen Seitenblick auf Margot.

Der Professor schaute mich verstimmt an.

»Ich habe Ihre Frau gerade in die Geheimnisse des Lachsangelns eingeweiht«, meinte er. »Nach dem, was sie mir sagte, fließt ja ein Lachsfluß durch ihre Ländereien.«

Ich lachte angespannt.

»So sind Sie denn also nicht nur ein romantischer Theoretiker, sondern sogar ein gewiefter Angler!« formulierte ich brüsk. »Wäre ich doch auch so vielseitig! Komm, Margot, es ist Zeit zu gehen. Die Kutsche dürfte schon warten.«

Sie erhob sich geräuschlos und wünschte dem Professor eine gute Nacht. Aber als sie mich beim Aufstehen anblickte, schien mir ein neuer Ausdruck in ihren Augen zu liegen: ein Schimmer von Entschlossenheit, von Zielstrebigkeit, gemischt mit dem dunkel glosenden Feuer der Verzweiflung.

Sobald wir uns in der Kutsche befanden, sprach ich zu ihr mit gewollter Lockerheit und in jenem beiläufigen Ton, der über das heimliche Kreuzverhör hinwegtäuschen sollte.

»Professor Black ist ein interessanter Gesprächspartner«, begann ich.

»Findest du?« gab sie aus dem Dunkel ihrer Ecke zurück.

»Durchaus. Er verfügt über einen lebhaften Intellekt. Allerdings bleibt er trotz all seines akademischen Scharfsinns und seiner Fähigkeit, die Dinge zu erfassen und zu deuten, letztlich der Typus des schwatzhaften Professors.« Ich legte eine Pause ein, doch sie erwiderte nichts. »Meinst du nicht auch?«

»Wie soll ich das beurteilen?« entgegnete sie. »Wir haben uns lediglich übers Angeln unterhalten. Er hat es fertiggebracht, mir mit diesem Thema die Zeit zu vertreiben.«

Ihr Ton war unbefangen und geradeheraus. Ich war erleichtert.

»Ja, er ist äußerst geistreich«, meinte ich. Danach versanken wir wieder in Schweigen.

Kaum, daß wir zu Hause angekommen waren und Margot ihren Mantel ausgezogen hatte, kam sie zu mir und legte ihre Hand auf meinen Arm.

Inzwischen war ihre Berührung so ungewohnt geworden, daß ich zusammenfuhr. Sie schaute mich mit einem eigenartigen, maskenhaften Lächeln an – einem Lächeln, das mich erschauern ließ statt mich zu wärmen.

»Ronald«, sagte sie, »zwischen uns hat es eine Verstimmung gegeben, und ich trage die Schuld daran. Ich würde das gern – wieder gutmachen. Liebst du mich noch, wie du es einst getan hast?«

Ich antwortete ihr nicht sofort, vermochte es nicht. Ihre Stimme, ruhig wie sie war, schien mit den Worten, die sie sprach, irgendwie im Widerspruch zu stehen. Es lag darin eine verzweifelte, harte Note, die zu ihrem rätselhaften Lächeln paßte.

Mir kam der bestürzende Gedanke, daß ich mich im Schußfeld einer getarnten Geschützbatterie befände, und ich schreckte vor der Berührung ihrer Hand körperlich zurück.

Sie wartete, ihre Augen auf mich gerichtet, auf eine Antwort. Die Flammen der beiden Kerzen, die wir hielten, beleuchteten unsere Gesichter.

Endlich fand ich meine Sprache wieder.

»Zweifelst du etwa daran?« fragte ich.

Sie trat einen Schritt näher an mich heran.

»Dann laß uns wieder so wie früher zusammenleben«, meinte sie.

»So wie früher?«

»Ja.«

Ich fröstelte, als ob ein Gespenst mich gestreift hätte. Entsetzen ergriff mich.

»Heute nacht? Das ist unmöglich!«

»Warum?« fragte sie, immer noch das maskenhafte Lächeln um ihren Mund.

»Weil … weil, ich weiß nicht … ich … ab morgen soll alles so sein wie früher, Margot – ab morgen, ich verspreche es.«

»Gut denn. Gib mir einen Kuß, Liebster.«

Ich zwang mich dazu, ihre Lippen mit den meinen zu berühren.

Welcher Mund wohl der kältere war?

Dann, mit dem für sie so charakteristischen weichen, wiegenden Gang, verschwand sie in Richtung ihres Zimmers. Ich hörte die Tür sacht zufallen.

Ich lauschte. Kein Schlüssel drehte sich im Schloß.

Diese plötzliche Abkehr Margots von den absurden Vorsichtsmaßnahmen, an die ich mich schon fast gewöhnt hatte, erfüllten mich mit namenloser Furcht.

In jener Nacht habe zum ersten Mal ich selbst meine Tür verschlossen.

IV

 

Freitagnacht, 6. November

 

Ja, ich verschloß meine Tür, ging zu Bett und lag stundenlang wach, lauschend. Damals ergriff mich ein Grauen, das mich seitdem keinen Moment verlassen hat, das mich vielleicht nie mehr verlassen wird. Ich zitterte vor Kälte in jener Nacht – einer Kälte, die von schierem körperlichen Entsetzen herrührte. Ich wußte, daß ich in meinem Haus mit einer Seele zusammengepfercht war, die besinnungslos auf Rache aus war – die Seele des Tieres, das ich getötet hatte, gefangen im Körper der Frau, die ich geheiratet hatte. Ich war damals krank vor Angst. Ich bin es immer noch.

Ich bin so müde heute abend. Meine Lider sind schwer, mein Kopf schmerzt. Drei Nächte lang habe ich nicht geschlafen. Habe ich nicht zu schlafen gewagt.

Die merkwürdige Veränderung im Verhalten meiner Frau, ihr leidenschaftsloser Wandel – denn ich fühlte instinktiv, daß menschliche Wärme nichts mit der Verwandlung zu tun hatte – hat sich vor drei Nächten vollzogen. In den drei Tagen seither hat Margot eine Rolle gespielt. Aber zu welchem Zweck?

Als ich mich daranmachte, diese trübselige Bestandsaufnahme zweier Seelen niederzuschreiben – trostlos und phantastisch zugleich ist sie wohl ausgefallen –, da wollte ich mich meiner selbst vergewissern, wollte mich schreibend in einen Zustand ruhiger Vernunft versetzen und meinen Frieden zurückgewinnen.

Damit aber habe ich wohl etwas Unmögliches angestrebt, denn nun beschleicht mich das Gefühl, gerade in der abwegigsten Theorie könne die größte Wahrheit liegen. Was auf den ersten Blick wie Wahnsinn erscheint, mag letztlich bittere Wirklichkeit sein. Jedes Erinnerungsbild, das sich in meinem Gedächtnis formt, bestätigt die Richtigkeit dessen, was mir Professor Black nahegelegt hat.

Inzwischen kenne ich Margots Ziel.

Die Seele der Kreatur, die ich quälte, die ich tötete, ist in den Körper der Frau gewandert, die ich liebe; und diese Seele, die einst in ihrem neuen Käfig geschlummert hat, ist nun erwacht, beobachtet mich, entwickelt vielleicht Pläne. Ohne sich dessen bewußt zu sein, erkennt sie mich wieder. Sie starrt mich aus Augen an, in denen das dumpfe Entsetzen zu Haß geworden ist; aber sie versteht nicht, warum sie Angst hat – warum sie, aus ihrer Angst heraus, voller Haß ist. Intuition ist an die Stelle von Erinnerung getreten. Die veränderte Umgebung hat die Erinnerung ausgelöscht und statt dessen durch Instinkt ersetzt.

Ach, warum habe ich mich überhaupt zum Schreiben hingesetzt! Daß ich mir erneut die Fakten ins Gedächtnis gerufen habe, hat meine Verzweiflung nur besiegelt.

Der Instinkt ist in Margot erst erwacht, als ich sie an den Ort brachte, den ihre Seele vor Jahren gekannt hatte – damals, als sie die Welt noch durch die Augen eines Tieres betrachtete. An jenem ersten Tag auf der Terrasse regte sich der schlafende Instinkt, rieb sich gleichsam die Augen und nahm mich verwundert und forschend in den Blick.

Margots schwache Erinnerung an die Terrasse, an die Blumentöpfe und an den Grasstreifen, auf dem sich die Katze so oft in der Sonne geräkelt hatte, ihr Wunsch, das Todeszimmer zu sehen, ihre heimlichen Besuche in jenem Zimmer, ihr wachsendes Unbehagen, das sich erst zu verzweifelter Beklemmung und schließlich zu todesbitterer Boshaftigkeit vertiefte – all dies führte mich zu einer unabweisbaren Schlußfolgerung:

Die Seele des Tieres in ihr schreckte nicht länger mehr vor mir zurück; sie war bedrohlich geworden. Sie lag jetzt im Hinterhalt, erfüllt von einer kalten, verborgenen Absicht. Daß sich ihr Verhalten mir gegenüber übergangslos geändert hatte, daß sie mich nicht länger mied, sondern mich anlockte, war das äußere Anzeichen für die fließende Entwicklung ihrer Gefühle, für den stillen Übergang vom Empfinden hin zur Tatbereitschaft.

Früher hat sie mich gefürchtet. Nun muß ich sie fürchten. Die Seele, die bislang in ihrem Käfig kauerte, beginnt ihre Zähne zu entblößen. Sie sinnt auf meine Vernichtung, und der Frauenkörper bebt vor Verlangen, den Tod des Tieres zu rächen.

Ich fühle, daß er lediglich auf den richtigen Moment wartet, mich anzuspringen. Der angeborene Überlebenswille erzeugt in mir eine körperliche Angst ihr gegenüber, eine Angst wie vor einem verborgenen Feind. Denn selbst wenn die Seele Fassung bewahrt, so ängstigt sich doch der Körper vor dem Sterben und scheint manchmal fast eine zweite, rein physische Seele zu besitzen, die wie ein greinendes Kleinkind auf Schmerz und Tod reagiert.

Hinzu kommt noch die Angst vor den Trugbildern, die uns der Verstand vorgaukelt und die das stärkste Herz schwach werden lassen. Und diese Auferstehung von den Toten, von den Ermordeten hat meine schlimmsten Alpträume wahr werden lassen. Das, was ich längst begraben und vergessen geglaubt hatte – sollte es mir tatsächlich die ganze Zeit über ganz nahe gewesen sein, ohne daß ich einen Begriff davon hatte?

Ich bin krank vor Angst, körperlich wie geistig.

Als ich – zwei Tage ist es jetzt her – die Türe meines Schlafzimmers aufschloß, das Herbstlicht durch die Bleifenster des Flures scheinen sah und den Fluß munter zwischen den fast schon entblätterten und kahlen Bäumen die Schlucht hinuntertanzen hörte, sagte ich mir: »Du bist verrückt. Dein Verstand hat sich in schrecklichen Träumen verirrt, die dich in einen Feigling und deine Frau in eine Dämonin verwandelt haben. Schluß mit diesem Wahnsinn!«

Ich schaute über die Schlucht. Ein klares, kaltes, dünnes Licht beschien die fernen Berge. Die Wolken türmten sich über dem Bergzug der Scawfells. Der Himmel war ein Tuch von blassem Türkis. Ich öffnete einen Moment lang das Fenster. Die Luft war trocken und frisch. Welch süße Lust, sie auf meinem Gesicht zu fühlen!

Ich ging hinunter ins Frühstückszimmer. Margot war dort in geschmeidiger Bewegung und wartete auf mich. In ihren weißen Händen hielt sie Briefe. Sie fielen auf den Tisch, als sie sich auf ihre Fußspitzen erhob, um mich zu begrüßen. Ihre Lippen waren zusammengepreßt, dennoch hielt sie sie mir zum Kuß entgegen.

Wie nah ich meinem Feind war, als sich unsere Münder berührten! Ihre Lippen waren kälter als der Herbstwind.

Nun, da ich in ihrer Gesellschaft war, verließ mich das zeitweilige Gefühl erhebender Erleichterung, und das Entsetzen, das mich niedergedrückt hatte, kehrte zurück.

Ich konnte nichts essen … ich konnte lediglich so tun; und meine Hand zitterte so heftig, daß ich kaum die Tasse zum Mund zu führen vermochte. Sie bemerkte es und fragte mit sanfter Stimme, ob ich krank sei.

Ich schüttelte den Kopf.

Als das Frühstück endlich beendet war, sagte sie in gedämpftem, ruhigen Tonfall: »Ronald, hast du nachgedacht über das, was ich letzte Nacht gesagt habe?«

»Letzte Nacht?« antwortete ich mit einiger Überwindung.

»Ja, bezüglich der Kälte zwischen uns. Ich glaube, ich war nicht wohlauf, war unglücklich und verstimmt. Du weißt, daß … daß Frauen häufiger Opfer ihrer Launen sind als Männer, Opfer von Launen, die sie sogar sich selbst nicht immer erklären können. Ich habe dir in letzter Zeit weh getan, das weiß ich. Es tut mir leid. Ich möchte, daß du mir vergibst, daß … daß« – sie hielt einen Moment lang inne, und ich hörte, wie sie scharf die Luft einsog – » … daß du mich wieder in dein Herz schließt.«

Jedes Wort, das sie sprach, hörte sich für mich wie eine dunkle Drohung an, und der letzte Satz ließ mir buchstäblich das Blut in den Adern gefrieren.

Unsere Blicke trafen sich. Sie schaute nicht weg; ihre Augen blickten in die meinen. Es waren die blauen Augen der Katze, die ich vor Jahren auf meinem Schoß gehalten hatte. Als Junge hatte ich in diese Augen geschaut und voll von bösartigem Triumph das Entsetzen und die Angst in ihnen aufsteigen sehen.

»Es gibt nichts, das ich dir zu vergeben hätte«, sagte ich mit belegter, halb versagender Stimme.

»Ach, da gibt es vieles«, antwortete sie entschieden. »Aber – ich bitte dich! – sei mir nicht böse.«

»In meinem Herzen ist kein Platz für nachtragende Bosheit – nicht mehr«, erwiderte ich; doch erschienen mir diese Worte, geäußert vor dem Opfer vergangener Tage, wie ein feiges Winseln um Gnade.

Sie hob ihre weiße Hand und legte sie mir auf die Brust. »Dann wird also alles wieder so wie früher? Und heute nacht wirst du dich wieder zu mir legen?«

Ich zögerte, blickte zu Boden. Aber wie konnte ich ablehnen? Welche Entschuldigung konnte ich vorbringen, um ihre Bitte auszuschlagen? So wiederholte ich mechanisch: »Heute nacht werde ich mich zu dir legen.«

Ein feines, ein schreckliches Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie drehte sich um und ließ mich allein.

Ich mußte mich sogleich hinsetzen; die Kraft, auf den Füßen zu bleiben, hatte mich verlassen. Grauen überwältigte meine Einbildungskraft und ließ mich an meinem Verstand zweifeln. Vergeblich versuchte ich, mich zusammenzunehmen. Schweiß stand auf meinem Körper. Meine Nerven gehorchten mir nicht mehr.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort wie erstarrt sitzen blieb; erst das Eintreten des Butlers schreckte mich auf. Mit offensichtlicher Verwunderung schaute er zu mir herüber, und dieses Erstaunen eines Bediensteten war so etwas wie ein kalter Guß für mich. Hastig sprang ich auf.

»Sag dem Stallburschen, er soll mein Pferd satteln«, sagte ich. »Ich möchte sofort ausreiten.«

Luft, Bewegung – das war es, was ich jetzt brauchte, um meine Betäubung zu verjagen. Ich mußte diesem Haus der Tränen entfliehen. Ich mußte allein sein. Ich mußte mit mir selbst ins reine kommen, wieder Mut fassen, die Feigheit in mir ausmerzen.

Ich schwang mich aufs Pferd, galoppierte aus dem Hof und über die einsamen Landstraßen in Richtung der Eskdale-Moore.

Den ganzen Tag über ritt ich, und den ganzen Tag über dachte ich an das dunkle Haus und an das weiße Geschöpf, das dort meiner Rückkehr harrte, vielleicht aus dem Fenster schaute und dem Hufschlag meines Pferdes auf dem Kies entgegenfieberte; an jenes weiße Geschöpf, das Stunde um Stunde, auf Vergeltung sinnend, Wacht hielt.

Bei dieser Vorstellung schüttelte es mich, und ich verfiel in einen Dämmerzustand, während mein erschöpftes Pferd über schattige Wege zu meinem Landsitz zurücktrottete. Mein Grauen hatte das Maß des rein Körperlichen überstiegen – es war zu einem geistigen Entsetzen geworden und unbeschreiblich.

Mit diesem weißen Ding, das auf mich wartete, das Lager zu teilen! Im Dunkel bei ihm zu liegen! Zu wissen, daß es sich an meiner Seite befand! Mochte es mich doch töten, das war nicht das, was ich fürchtete. Aber an seiner Seite zu leben und in seiner Nähe zu sein, das war es, was mich in Entsetzen versetzte.

Die Lichter des Hauses funkelten durch die Bäume. Ich hörte das Rauschen des Flusses.

Ich ließ das Pferd stehen und schritt, mich umschauend, verstohlen in die Halle.

Margot glitt augenblicklich zu mir herüber und nahm mir mit ihren sanften, samtenen weißen Händen Peitsche und Reitkappe ab. Ich erschauerte ob ihrer Berührung.

Während des ganzen Abendessens ruhten ihre blauen Augen auf mir.

Ich konnte nichts essen, aber ich trank mehr Wein als üblich.

Als ich vom Tisch aufstand, um ins Raucherzimmer zu gehen, sagte sie: »Bleib nicht so lange, Ronald.«

Ich murmelte irgend etwas als Antwort. Es war beinahe schon Mitternacht, bevor ich den Weg zum Bett fand. Als ich ihr Zimmer betrat, das Licht der Kerze mit meiner Hand abschirmend, lag sie noch immer wach.

In die Kissen gekuschelt, lächelte sie mit einem eigenartigen Dehnen und Recken ihres Körpers zu mir empor.

»Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen, Liebling«, meinte sie.

Mir war bewußt, daß ich sehr blaß aussehen mußte, aber ihr war das keine Erwähnung wert. Ich kroch ins Bett, ließ aber die Kerze noch brennen.

Sogleich fragte sie: »Warum löschst du die Kerze nicht?«

Ich sah sie heimlich an. Ihr Gesicht schien mir wie in Stein gemeißelt, so starr war es, so ausdruckslos. Sie lag auf der Seite, am äußersten Rand des Bettes, doch ihre Hände streckten sich mir entgegen.

»Warum löscht du sie nicht aus?« wiederholte sie, ihre blauen Augen auf mich geheftet.

»Ich bin noch nicht schläfrig«, erwiderte ich zögernd.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957199041
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Horror Düstere Phantastik Kurzgeschichten Anthologie Erzählungen

Autoren

  • Frank R. Scheck (Hrsg.) (Autor:in)

  • Erik Hauser (Herausgeber:in)

Frank Rainer Scheck *geboren 1948 *Studium der Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaften. *Seit 1976 Lektor, seit 1979 Cheflektor in einem deutschen Verlag, seit 1993 freier Schriftsteller. *Langjährige Beschäftigung mit der Literatur des Phantastischen; diverse Publikationen, zuletzt (mit Erik Hauser) die Anthologie Berührungen der Nacht(Leipzig 2002). *verstorben im April 2013
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Titel: Meisterwerke der dunklen Phantastik 04: ALS ICH TOT WAR (Band 2)