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Die neuen Fälle des Pater Brown 01: Die Beichte des Grossinquisitors

von J. J. Preyer (Autor:in)
160 Seiten

Zusammenfassung

Dies ist das erste Buch in der Serie Die neuen Fälle des Pater Brown In einem idyllischen Städtchen im Südosten Englands wird ein untreuer Ehemann ermordet. Kurz darauf gibt es ein zweites Todesopfer, das ebenfalls gesündigt haben soll. Stecken die Verfasser des Heiligen Blattes dahinter, die auch gegen Pater Brown integrieren? Der gewiefte Pfarrer ermittelt in seinem ersten neuen Fall. Die Printausgabe umfasst 160 Buchseiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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J. J. Preyer, geboren 1948 in Steyr, Österreich. Ab dem 14. Lebensjahr literarische Veröffentlichungen. Studium Deutsch, Englisch in Wien. Lehrtätigkeit in der Jugend- und Erwachsenenbildung. 1976 Auslandsjahr in Swansea in Wales. 1982 Initiator des Marlen-Haushofer-Gedenkabends, der durch die Teilnahme des Wiener Kulturjournalisten Hans Weigel den Anstoß zur Wiederentdeckung der Autorin gab. Mitarbeit an der Kinderzeitschrift KLEX von Peter Michael Lingens.

1996 gründete J. J. Preyer den Oerindur Verlag, einen Verlag für lesbare Literatur und Krimis. Der Autor schreibt seit Jahresbeginn 2010 für die Romanserie JERRY COTTON im Bastei-Verlag.

© 2015 by BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Mark Freier

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-95719-951-5

KAPITEL 1

 

„Oh Gott!“, seufzte Pater Brown, als er die Frau des Dorfarztes auf sich zukommen sah. Dabei hatte dieser Tag so gut begonnen.

Seit dem Augenblick, als die Sonne über dem Städtchen Edenbridge aufgegangen war (und das war an diesem 5. März um 6.34 Uhr gewesen, zwei Minuten früher als am Tag zuvor), hatte Vogelgesang die Luft erfüllt. Pater Brown, der wie jeden Morgen verlässlich um 5.50 Uhr seinem Bett entstiegen war, freute sich über die länger werdenden Tage und den Frühling, der Anfang März mit einer Kraft über das Land zog, die den Menschen buchstäblich den Atem nahm. Vor allem der Blütenstaub von Haselnussstauden und Weiden machte vielen Allergikern zu schaffen.

Wie immer, wenn er das Gotteshaus aufsuchte oder sonst in seiner Funktion als Priester öffentlich auftrat, trug Pater Brown seine schwarze Soutane, ein bis zu den Knöcheln reichendes schwarzes Männerkleid, das an der Hüfte von dem Zingulum, einem breiten schwarzen Gürtel, zusammengehalten wurde. Auf dem Kopf hatte er einen kreisrunden schwarzen Hut, Saturno genannt. Auch sein Regenschirm, ohne den er selten unterwegs war, glänzte schwarz, nur der Stehkragen, das Kollar, leuchtete weiß.

Der Pater, der in jungen Jahren viel und gerne gelesen hatte, bevor er immer stärkere Brillen tragen musste, erinnerte sich der Canterbury Tales von Geoffrey Chaucer, in denen der Lenz enthusiastisch begrüßt wurde und die Menschen in der blühenden Landschaft Englands auf Pilgerfahrt gingen. Er könnte Mrs Stiltskin vorschlagen, mit ihrem Frauenverein Anfang April, nach Ostern, eine Pilgerreise nach Canterbury zu unternehmen. Das würde Edenbridge drei, vier Tage von der Tyrannei der energischen Person befreien. Wenn man sie darüber hinaus dazu überreden könnte, auch die Rückreise zu Fuß anzutreten, sogar eine ganze Woche. Immerhin war Canterbury fünfzig Meilen von Edenbridge entfernt.

Pater Brown zog seinen runden Hut. „Einen wunderschönen guten Morgen, Mrs Stiltskin.“

„Grüß Gott“, erwiderte die Frau schroff. „Gut, dass ich Sie treffe, Hochwürden.“ Die große, hagere Frau Mitte vierzig lehnte ihr Fahrrad an die Buchsbaumhecke, die den Zugang zur St. Lawrence Kirche säumte und trocknete mit einem weißen Taschentuch ihre schweißnasse Stirn. „Ich hasse das Frühjahr“, klagte sie. „Es bringt nichts als Beschwerlichkeiten.“

Pater Brown, der insgeheim nicht das Frühjahr, sondern die Symptome der beginnenden Menopause für die Probleme der Arztfrau verantwortlich machte, setzte den Hut auf sein exakt gescheiteltes graues Haar und lächelte freundlich. „Mich erinnert diese Jahreszeit an Chaucers Canterbury Tales und die beginnende Saison der Pilgerreisen. Dabei dachte ich …“

„Ich bin nicht bereit, mich mit Ihnen über dieses unmoralische Buch zu unterhalten!“, unterbrach ihn Mrs Stiltskin. „Ich habe ein ganz anderes Anliegen.“

„Nur zu, ich bin ganz Ohr.“ Der Pfarrer beobachtete zwei kopulierende Tauben auf dem Dach der kleinen, aus Backstein gebauten Kirche. Er dachte an die vielen Taufen, die neun Monate nach den anregenden Frühlingstagen (und vor allem den lauen Nächten) anfallen würden, und erinnerte sich an die Taufe des Sohnes von Dorfarzt Medwin Stiltskin und seiner Frau Florence. Der kleine Patrick war einer der wenigen Säuglinge gewesen, die bei der Zeremonie, in deren Verlauf den Kindern Weihwasser über den Kopf geträufelt wurde, nicht geschrien hatten. Patrick war immer sehr ruhig und viel zu ernst gewesen – kein Wunder bei diesen Eltern, die in religiösen Dingen päpstlicher als der Papst waren. Pater Brown musste bei diesem Gedanken lächeln und bemerkte zu seinem Schrecken, dass er nicht mitbekommen hatte, was Mrs Stiltskin ihm soeben erzählt hatte.

„Das ist aber interessant“, meinte er vorsichtig und versuchte auf diese Weise herauszufinden, worum es der Frau ging.

„So, interessant finden Sie das also, Hochwürden! Ich möchte Sie nicht kritisieren, aber glauben Sie wirklich, dass das die richtige Bezeichnung für einen Akt der Unmoral ist, für den sich nur schwer Worte finden lassen?“

„Darum sind Sie so schweigsam … ich verstehe“, erwiderte Pater Brown und beobachtete, wie die Frau versuchte, in seinem breiten Gesicht zu lesen, das ihn selbst manchmal, wenn er sich im Spiegel betrachtete, an das eines molligen kleinen Jungen erinnerte. Er konnte ihre Gedanken beinahe hören: Will mich der Mann beleidigen? Meinte er das eben etwa ironisch?

„Also, ich halte die Torheiten des alten Narren für einen handfesten Skandal“, legte sie los, nachdem seine mild blickenden grauen Augen sie offenbar beruhigt hatten. „Gertrude hat das wirklich nicht verdient! Sie hat ein Leben lang treu an seiner Seite gestanden.“

„Sie meinen Mrs Hepburn?“

„Wen sonst?“, kam die mürrische Antwort.

„Und der Mann hat …“

„Er ist im Krankenhaus gestorben.“

„Oh, das ist mir neu. Er war kein Katholik“, stellte Pater Brown fest.

„Aber Gertrude gehört unserer heiligen Gemeinschaft an. Sie hätte diesen Heiden nie heiraten dürfen.“

„Sie meinen den Angehörigen unserer Schwesterkirche.“

„Sie sind Heiden“, wiederholte Mrs Stiltskin trotzig.

„Aber …“

„Lassen Sie es gut sein, Hochwürden. Er ist und bleibt ein Heide.“

„Würden Sie auch unsere verehrte Monarchin, die Königin unseres Landes, als Heidin bezeichnen?“ Pater Brown versuchte die aufgebrachte Frau zu beruhigen.

„Das … das ist doch etwas vollkommen anderes! Bei der Königin handelt es sich um eine Person, die über jeden Tadel erhaben ist.“

Was man von manchen anderen Mitgliedern des Königshauses wahrlich nicht behaupten kann, dachte der Pater und beobachtete kopfschüttelnd das Treiben der Vögel auf dem Kirchdach. Hielt nicht nun jene Taube, die soeben die andere begattet hatte, still, während die zweite, die er für das Weibchen gehalten hatte, die aktive Rolle übernahm?

„Merkwürdig …“ Pater Brown konzentrierte sich nun auf das Gesicht seines Gegenübers. Mrs Stiltskin trug ein leichtes Make-up, das allerdings an der Oberlippe verstärkt war, vermutlich um Falten zu überdecken.

„Jedenfalls hat er die Strafe verdient“, sagte die Frau und wollte ihr Rad besteigen.

„Sie meinen doch nicht etwa die Todesstrafe?“

„Ich wünsche niemandem den Tod. Aber wenn ein Mann über 60 seine Frau mit einem jungen Flittchen betrügt und daran stirbt, hält sich mein Mitleid in Grenzen.“

„Woher wissen Sie das, Mrs Stiltskin? Mir war es jedenfalls bisher nicht bekannt.“

„Sie waren nicht bereit, das Heilige Blatt zu abonnieren.“

„Ach, Sie meinen dieses …“

„Seien Sie vorsichtig mit Ihren Äußerungen, Pater!“, fiel ihm die Frau ins Wort.

Pater Brown wusste, dass er sich nun in Acht nehmen musste. Wenn Mrs Stiltskin ihn nicht mehr Hochwürden, sondern Pater nannte, war Feuer auf dem Dach.

„… dieses Vereinsblatt des katholischen Frauenvereins“, beendete er seinen Satz.

„Falsch, völlig falsch, Pater! Das Heilige Blatt hat nichts mit uns Frauen zu tun, auch wenn ich nicht leugnen kann, dass fast alle unsere Mitglieder zu seinen Abonnenten zählen.“

„Ich dachte, Sie seien die Herausgeberin?“

„Wieder falsch gedacht, Pater. Ich bin eine Leserin wie viele andere.“

„Dieses Heilige Blatt hat also berichtet, dass Mister Hepburn seine Frau mit einer anderen betrogen hat?“

„Es hat in allgemein gehaltenen Worten auf diese Torheit Bezug genommen, natürlich ohne Namen zu nennen.“

„Natürlich. Ich verstehe. Und das wollten Sie mir mitteilen, als Sie am Beginn unseres anregenden Gesprächs meinten, es sei gut, mich zu treffen.“

Die Frau schaute Pater Brown verwundert an und schien erneut zu überlegen, ob dieser so naiv und harmlos wirkende Mensch in Wahrheit boshaft und ironisch war. „Eine Einladung an Sie, Hochwürden, deshalb habe ich Sie aufgesucht. Eine Einladung zum Vortrag meines Mannes vor dem Frauenverein über Wege und Abwege der modernen Medizin. Am Freitag, in unserer Praxis.“

Sie griff in den Korb, der auf dem Gepäckträger über dem hinteren Kotflügel ihres Fahrrades befestigt war, entnahm ihm ein Kuvert, dessen Vorderseite in geschwungenen Lettern die Worte Hochwürden Pater Jeremiah Brown zierten, und überreichte es dem Adressaten. Dieser bedankte sich und setzte seinen Weg in die Kirche fort.

 

Pater Brown betete das umfangreiche Morgenlob, das aus Hymnus, Psalmen, Schriftlesung, Benedictus, Bitten, Vaterunser, Tagesgebet und Segen bestand, am liebsten in der Kirche. An diesem Morgen musste er sich allerdings zuerst von den Gedanken freimachen, die seine Begegnung mit der Vorsitzenden des katholischen Frauenvereins und die Beobachtung der Tauben auf dem Kirchdach bei ihm ausgelöst hatten.

Der Engel auf Erden, wie Pater Brown Phyllis Eliot immer wieder nannte, stellte inzwischen zwei Vasen mit gelben Narzissen aus dem Pfarrhausgarten auf den Altartisch, kontrollierte das weiße Spitzentuch, das diesen schützte, strich es glatt und wechselte die in den Halterungen herabgebrannten Kerzen aus. Die Tätigkeit der jungen Frau, die für Ordnung und Sauberkeit in der Kirche, im Pfarrhaus und im Garten sorgte, lenkte ihn nicht von seinen Gebeten ab. Im Gegenteil. Sie bereitete die positive Grundlage, die für das Gespräch mit Gott vonnöten war. Pater Brown erinnerte sich daran, wie er als kleiner Junge seine Schulaufgaben am liebsten in der Küche erledigt hatte, weil er sich in der Gegenwart seiner Mutter am wohlsten fühlte.

Köchin gab es in der Pfarre St. Lawrence keine, obwohl natürlich der Engel auf Erden für Imbisse sorgte. Pater Brown nahm sein Abendmahl meistens im Old Eden Pub in der High Street ein. So konnte er den Kontakt zu den Bewohnern der kleinen, im Südosten Englands gelegenen Stadt halten, wie er sich einredete. Dabei war er selbst es, der das Alleinsein schwer ertrug.

Charles Eliot, der Ehemann seiner treuen Helferin, arbeitete in einem Computerladen in Tonbridge und war gerade dabei, das Personenstandsregister der Pfarre zu digitalisieren, in dem Geburten, Hochzeiten und Sterbefälle verzeichnet waren. Darüber hinaus erledigte er sämtliche anfallenden Reparaturen im Pfarrhaus und in der Kirche.

Am Ende seiner Gebete fielen Pater Brown wieder Florence Stiltskin und das Heilige Blatt ein. Er sollte sich vielleicht doch überwinden und diese Zeitung abonnieren, um zu erfahren, was seine übereifrigen Glaubensbrüder und -schwestern ausheckten. Vielleicht könnte er herausfinden, wer die Artikel schrieb, und mäßigend einschreiten, sobald wieder einmal über das Ziel hinaus geschossen wurde. Schließlich war es nicht die Aufgabe eines Pfarrers oder irgendeines Mitgliedes der katholischen Kirche, andere an den Pranger zu stellen, sondern sich zu bemühen, zur Freude und zum Vorbild der Mitmenschen ein gottgefälliges Leben zu führen. Die Zeiten der Inquisition waren vorüber.

Pater Brown öffnete das Neue Testament, das er immer in einer Tasche seines schwarzen Anzugrockes bei sich trug, und schlug das achte Kapitel des Johannes-Evangeliums auf. Halblaut las er daraus die folgenden Worte: „Jesus aber ging an den Ölberg. Und frühmorgens kam er wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm; und er setzte sich und lehrte sie. Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten ein Weib zu ihm, im Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte dar und sprachen zu ihm: Meister, dies Weib ist ergriffen auf frischer Tat im Ehebruch. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche zu steinigen; was sagst du? Das sprachen sie aber, ihn zu versuchen, auf dass sie eine Sache wider ihn hätten. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nun anhielten, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und bückte sich wieder nieder und schrieb auf die Erde. Da sie aber das hörten, gingen sie hinaus (von ihrem Gewissen überführt), einer nach dem andern, von den Ältesten bis zu den Geringsten; und Jesus ward gelassen allein und das Weib in der Mitte stehend. Jesus aber richtete sich auf; und da er niemand sah denn das Weib, sprach er zu ihr: Weib, wo sind sie, deine Verkläger? Hat dich niemand verdammt? Sie aber sprach: Herr, niemand. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!“

Als Pater Brown das Büchlein schloss, atmete er tief durch. Diese Worte waren erfrischend und ermunterten ihn, unbeirrt seinen Weg weiterzugehen, der darin bestand, selbst möglichst wenig zu sündigen und andere, die damit größere Schwierigkeiten hatten, zu Reue und Umkehr zu bewegen. Ohne Drohung, ohne Zwang.

„Darf ich stören, Hochwürden?“, wandte sich Phyllis Eliot an den Pater.

„Wenn Sie mich nicht Hochwürden nennen, jederzeit.“

Mrs Eliot lächelte. „Sie wissen, dass ich mich an diese Anrede gewöhnt habe. Ein alter Hund lernt keine neuen Tricks.“

„Aber Mrs Eliot! Sie mit Ihren 24 Jahren sind doch nicht alt.“

„Danke, Ho… äh … Pater. Das war ich einmal, damals, als ich bei Ihnen begann.“

„Trotzdem. Ich wäre froh, wenn ich noch einmal so jung wäre wie Sie.“

„Sie haben bald Geburtstag.“

„Erinnern Sie mich nicht daran!“, sagte der rundliche kleine Pfarrer und schüttelte abwehrend den Kopf, bevor er sich erneut an den Engel in Menschengestalt wandte, der vor ihm stand. Höflicherweise erhob auch er sich und fragte seine Helferin flüsternd, immerhin befanden sie sich in der Kirche, ob sie das Heilige Blatt kenne.

„Als Mitglied des Frauenvereins beziehe ich diese Zeitung, aber mein Mann und ich lesen kaum darin.“

„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir ein Abonnement vermitteln könnten.“

„Das ist nicht nötig. Sie bekommen das Blatt von mir.“

„Ich weiß das sehr zu schätzen, Mrs Eliot. Und wenn Sie zufällig auch noch einige alte Exemplare davon hätten …“

„Leider nicht, denn ich verheize sie, so schnell es geht. Aber ich kann das organisieren.“

„Wie oft erscheint diese Zeitung?“

„Wöchentlich. Immer am Freitag, dem Tag, an dem unser Herr …“

„Ich verstehe“, unterbrach sie Pater Brown und drückte der Frau dankend die Hand. „Also, heute ist Dienstag. Da muss ich mich wohl gedulden.“

„Die alten Nummern bekommen Sie noch heute. Aber was ich Sie fragen wollte: Sie erlauben mir doch, dass ich wie jedes Jahr Zweige aus Ihrem Garten für die Palmbesen verwende, die wir am Palmsonntag …“

„Das ist doch selbstverständlich“, erwiderte Pater Brown. „Der Pfarrgarten gehört der gesamten Pfarre.“

 

Wenig später trank der Pater in seinem Büro im Pfarrhaus gerade eine Tasse Tee, als er bemerkte, dass das kombinierte Telefon- und Faxgerät blinkte. Er drückte auf die Wiedergabetaste des Anrufbeantworters und hörte die Stimme einer Frau, die um Rückruf bat: „Gertrude Hepburn, Quarry Rise, Edenbridge, Telefonnummer 01732 862384. Ich ersuche Sie um ein Gespräch, den Tod meines Mannes betreffend.

Pater Brown wählte die Nummer und fragte Mrs Hepburn, ob sie lieber zu ihm kommen wolle oder ob er sie aufsuchen solle.

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Pater, komme ich in einer Stunde.“

 

Mrs Hepburn war eine Frau um die 60, sehr schlank (fast schon mager, wie es Pater Brown schien, der im Gegensatz zu seinem Gast zu Korpulenz neigte), und sie überragte den Priester um zwei Haupteslängen. Sie war elegant gekleidet und trug ihr dunkles Haar kurz. Dem Pater fiel auf, dass zwar die Spitzen ihrer Haare noch schwarz gefärbt waren, dass aber der Nachwuchs grau bis weiß hervorlugte und damit Mrs Hepburn ein, trotz des ernsten Anlasses, heiter-scheckiges Aussehen verlieh.

„Ich habe mich vor zwei Monaten entschieden, nicht mehr gegen das Alter anzukämpfen“, erklärte die Frau, die seinen forschenden Blick augenscheinlich richtig deutete. „Auch in meiner Haartracht.“

Pater Brown wandte seine Augen von ihr ab und betrachtete verlegen seine Fingerspitzen. „Darf ich fragen, was Sie zu dieser Veränderung in Ihrer Haltung zum Älterwerden veranlasst hat?“

„Ich bemerkte, dass mich mein Mann betrog … mit einer 24-jährigen.“

„Ich verstehe“, sagte Pater Brown und nickte. Diese beiden Worte und ein oftmaliges Nicken wirkten meist Wunder in den Gesprächen mit Menschen, die mit Sorgen zu ihm kamen.

Pater Brown führte die Besucherin in sein Wohnzimmer und bat sie, auf einem der angenehm weichen, aber schon etwas abgewetzten Polstermöbel Platz zu nehmen. „Sie sind meinen Aufzeichnungen nach Katholikin und …“

„Ich gehe selten zur Sonntagsmesse … eigentlich so gut wie gar nicht“, unterbrach ihn Mrs Hepburn und fügte, wie um sich zu entschuldigen, hinzu: „Mein Mann gehörte der anglikanischen Kirche an und sah das nicht gern. Aber jetzt wird sich auch das ändern. Pater Brown, Sie können auf mich zählen.“

Wieder nickte der Pater freundlich. „Worauf ich hinauswollte, war die Klärung der Frage, ob es sich bei unserer Unterredung um eine Beichte oder um ein Gespräch handelt.“

„Gebeichtet habe ich ein halbes Leben nicht mehr“, seufzte die Frau und blickte zur Zimmerdecke. „Aber nein, es soll ein ganz normales Gespräch sein. Ein Gespräch zwischen einer betrogenen Witwe und einem begnadeten Kriminalisten.“

Bei dem Wort Kriminalist horchte Pater Brown auf. Er ahnte mit einem Mal, dass er am Beginn eines neuen Falles stand.

„Hegen Sie etwa Zweifel am natürlichen Tod Ihres Mannes, Mrs Hepburn?“

„Die habe ich sehr wohl“, erwiderte sie bestimmt. „Seitdem er dieses Flittchen kannte, ging es ihm schlecht. Sie muss ihm irgendeine Substanz eingeflößt haben, die seine Gesundheit angriff, möglicherweise ein langsam wirkendes Gift.“

„Was hat die Leichenschau ergeben?“

„Es gab keine. Der Arzt behauptete, Reginald sei eines natürlichen Herztodes gestorben, dabei hatte er, wenn auch kein gutes, so doch ein gesundes Herz.“

„Ich verstehe. Wie alt war Ihr verstorbener Mann?“

„63“, antwortete sie knapp und presste ihre Lippen fest aneinander.

„Sie verstehen, Mrs Hepburn, dass ich auch einige unangenehme Fragen stellen muss, sollte ich mich entscheiden, diesen Fall zu übernehmen.“

„Ich bitte Sie zu klären, woran mein Mann wirklich gestorben ist, und ich will, dass sie die Täterin zur Verantwortung ziehen“, präzisierte Gertrude Hepburn. „Was wollen Sie fragen, Pater?“

„War Ihr Mann reich?“

„Reich? Was heißt schon reich! Aber ich würde uns durchaus als wohlhabend bezeichnen.“

„Welcher Beschäftigung ging Ihr Mann nach?“

„Er leitete die Royal Exchange Bank in Tonbridge.“

„Haben Sie Kinder?“

„Leider nein. Ich kann …“ Die Frau stockte und verbesserte sich. „Ich konnte keine Kinder bekommen. Leider.“

„Das heißt, Sie selbst erben den Großteil des Vermögens.“

„Das ist korrekt, obwohl Reginald sein Testament ändern wollte, vermutlich zugunsten des Flittchens. Aber dazu ist es nicht mehr gekommen.“

„Sie trinken doch eine Tasse Tee, Mrs Hepburn? Das regt den Verstand an, und so etwas können wir jetzt dringend gebrauchen.“

Pater Brown setzte den elektrischen Wasserkessel auf der Kommode in Gang und brühte in einer Kanne aromatischen Ceylon-Tee auf. Dann ließ er ihn ziehen und leerte schließlich die fast schwarze Flüssigkeit in die Tassen. Mrs Hepburn nahm Milch und Zucker, der Pater trank den Tee ungesüßt.

„Wenn man das, was Sie mir bis jetzt erzählt haben, Mrs Hepburn, sagen wir … durch die Augen eines Polizeibeamten betrachtet, entsteht das Bild einer verdächtigen Ehefrau.“

„Aber …“

„Keine Sorge, meine Augen sind die eines Priesters, der als Kriminalist nur dilettiert, also sehe ich das natürlich nicht so. Dennoch heißt es vorsichtig sein. Ein Polizist würde Folgendes erkennen: Eine Frau wird betrogen, ihr Mann will das Testament ändern, vermutlich zugunsten seiner viel zu jungen Freundin. Der Mann wird immer schwächer, bis er schließlich stirbt. Wenn man nun am natürlichen Tod Ihres Mannes zweifelt, geraten unweigerlich Sie selbst in den Verdacht, ihn ermordet zu haben.“

Mrs Hepburn nahm einen Schluck von dem heißen Tee, dann sagte sie feierlich: „Ich weiß, dass ich Reginald nichts angetan habe. Dafür habe ich ihn trotz allem zu sehr gemocht. Also wird mir auch nichts passieren. Ein Unschuldiger wird nicht verurteilt.“

„Letzten Endes, da kann ich Ihnen zustimmen, Mrs Hepburn. Aber der Weg dorthin kann steinig werden. Sie könnten Ihren guten Ruf verlieren und viel Geld, das Sie einem Anwalt zahlen müssten.“

„Ich möchte, dass der Tod meines Mannes geklärt wird“, bekräftigte die Frau ihr Anliegen.

„Das wäre nur möglich durch die Exhumierung seines Körpers und eine gerichtsmedizinische Untersuchung, die Sie verlangen müssten.“

„Vielleicht können Sie mich dabei unterstützen, Pater.“

„Ich kann sehr gerne ein gutes Wort beim Chief Inspector einlegen.“

„Und wenn erwiesen ist, dass mein Mann vergiftet wurde, dann werden Sie die Mörderin überführen.“

„Dann werde ich alles daransetzen, den Schuldigen oder die Schuldige zu finden.“

„Was verlangen Sie dafür, Pater?“

„Ich selbst koste nichts. Allerdings beschäftige ich einen Mitarbeiter, der …“

„Sind Sie mit einer Anzahlung von, sagen wir, fünfhundert Pfund einverstanden?“

Pater Brown nickte stumm, während er schon die nächsten Schritte überlegte. Er würde sich mit seinem Anliegen an Chief Inspector Umar Reed wenden, wollte aber nichts übereilen. Die Sache war heikel.

Als Mrs Hepburn gegangen war, zog Pater Brown Bilanz, während er das Teegeschirr in die Küche räumte und abspülte. Ein ganz und gar merkwürdiger Beginn eines neuen Falles, überlegte er. Die nach allen Regeln der Kunst Hauptverdächtige, die bisher nicht ins Licht der Ermittler geraten war, wandte sich an ihn, um Klarheit zu schaffen. Mrs Hepburn war von ihrem Mann, der noch dazu sein Testament zu ihren Ungunsten hatte verändern wollen, betrogen worden, doch Reginald Hepburn war gerade zur rechten Zeit gestorben. Mrs Hepburn verdächtigte nun die junge Geliebte als Mörderin, obwohl diese durch den Tod ihres Liebhabers alles verloren hatte. Das widersprach jedweder Logik. Doch bei den Geschehnissen, denen er auf den Grund gehen würde, handelte es sich nicht nur um einen Fall, sondern um das Schicksal von Menschen, deren Denken, Handeln und Fühlen nicht unbedingt logischen Gesetzen folgte. Außer Geldgier gab es noch etliche andere Gründe, einen Menschen zu töten. Die Palette der möglichen Motive reichte von Rachegelüsten über Eifersucht und Hass bis zu Wahnsinn.

Pater Brown betrachtete die frisch gespülten Tassen, die im Licht des Märztages glänzten, als der Stapel des nun sauberen Geschirrs plötzlich ins Rutschen kam und mit einem hässlichen Klirren zu Boden glitt. Er betrachtete die Scherben und ahnte, dass sie ein böses Omen für die nächsten Tage und Wochen bedeuten könnten, auch wenn sich derart abergläubische Gedanken für einen katholischen Priester natürlich nicht ziemten.

KAPITEL 2

 

Der Mann, der Pater Brown am Stammtisch des Old Eden Pubs begrüßte, wirkte gegen ihn wie ein Riese. Immerhin überragte Hercule Flambeau den kleinen Priester um mehr als dreizehn Zoll. Der 39-jährige Mann französischer Herkunft, der nach all den Jahren, die er in England verbracht hatte, Englisch praktisch ohne Akzent sprach, wirkte gegen den rundlichen Pater wie ein schwarzer Panther kurz vor dem entscheidenden Sprung. Ein Eindruck, zu dem nicht zuletzt sein dunkles Haar und die leuchtenden schwarzen Augen beitrugen.

„Schön, Sie zu sehen, Flambeau!“, begrüßte Pater Brown den Privatdetektiv. „Was führt Sie zu uns nach Edenbridge?“

„Das Gefühl, dass Sie mich brauchen, Pater. Ich vermute, dass es einen neuen Fall gibt, den wir gemeinsam lösen werden.“

„Ein Glas Lager?“, fragte der Wirt.

Pater Brown nickte und wandte sich wieder an sein Gegenüber. „Das heißt, die Geschäfte laufen nicht allzu gut.“

„Die Engländer haben Vorurteile gegen Menschen mit fremdländisch klingenden Namen“, bestätigte der Detektiv.

„Sie sind doch ein begnadeter Verkleidungskünstler, und Ihr Englisch übertrifft jenes vieler Einheimischer. Warum geben Sie sich nicht einen Englisch klingenden Namen?“

„Man hat seinen Stolz, Pater.“

„Ich verstehe.“

„Obwohl natürlich ein Mann mit meiner Vergangenheit …“

„Auf die Gegenwart kommt es an, Flambeau … und die Zukunft.“

In diesem Augenblick wurde ein Glas kühles Lagerbier auf den blank polierten Eichentisch gestellt. Pater Brown nahm einen ersten tiefen Zug und murmelte: „Auf die Zukunft.“

„Auf die Zukunft, Pater!“, erwiderte Flambeau, bevor er fragte: „Also, habe ich recht?“

„Womit?“

„Dass wir am Beginn eines neuen Falles stehen?“

Pater Brown nickte, schränkte aber ein: „Ich habe von einer Klientin fünfhundert Pfund kassiert. Für Sie natürlich, Flambeau. Ob es zu einer Bezahlung kommen wird, die darüber hinausreicht, kann ich nicht versprechen.“

„Das ist doch ein recht guter Auftakt“, fand der Detektiv. „Berichten Sie mir von dem Fall!“

In diesem Moment stießen mit dem Gesamtschullehrer Harry Griffiths und dem Apotheker Andrew Wilkinson zwei weitere Männer zum Stammtisch.

„Haben Sie schon gefragt, was es heute gibt?“, fragte Griffiths, wobei seine Frage von einem nervösen Zucken seines linken Auges begleitet wurde.

Die Schüler schienen das Nervenkostüm des immer freundlich blickenden Mannes wieder einmal beträchtlich strapaziert zu haben, dachte Pater Brown und meinte: „Gefragt habe ich noch nicht, doch finden Sie nicht auch, dass es verdächtig nach Huhn riecht? Nach Chicken in a Basket.“

„Mit French Fries?“, fragte der Apotheker mit einem boshaften Blick auf Hercule Flambeau. „Es scheint wieder so weit zu sein, dass der Pater am Beginn neuer Ermittlungen steht.“

„Schafsinnig beobachtet, Wilkinson“, entgegnete Flambeau mit einem bösen Lächeln auf den Lippen.

„Täusche ich mich, oder heißt das nicht scharfsinnig?“, entgegnete der Apotheker. „Ich dachte, nur die Chinesen haben Probleme mit der Aussprache des Konsonanten r.“

Damit war das Gespräch in vollem Gang, das die Männer immer wieder zu heftigen Diskussionen über Geschehnisse im Städtchen Edenbridge, im Königreich England und manches Mal sogar über dessen Grenzen hinaus anregte.

Es gab tatsächlich Huhn mit Pommes, allerdings nicht im Korb. „Diese Art, Huhn zu servieren, ist seit Jahren aus der Mode“, erklärte der Wirt, und Pater Brown zog beschämt den Kopf ein, da er Tom Heskeths Aussage als Anspielung auf sein Alter auffasste. Immerhin war er mit beinahe vierundfünfzig nach dem um fünf Jahre älteren Apotheker der Zweitälteste in der Runde.

„Man muss das verstehen“, nahm Andrew Wilkinson den Ball auf. „Die Kirche und ihr Personal sind in der Vergangenheit verhaftet. Für sie erscheinen Gegenwart und Zukunft als Bedrohung.“

Zufrieden ordnete der Mann sein volles graues Haar und leerte das Whiskeyglas. Die Tatsache, dass der Apotheker dem Alkohol zugetan war, bescherte ihm in Pater Browns Augen diese außergewöhnliche Haarpracht. Er vermutete, der Apotheker habe die Fülle des Haares dem verminderten Östrogenabbau durch die beeinträchtigte Leber zu verdanken, doch er vermied geflissentlich jeden Hinweis auf diesen Umstand, selbst wenn die Diskussion sehr heiß geführt wurde. Man musste die Grenzen des anderen respektieren. Schließlich wollte und würde man ihm am nächsten Tag wieder begegnen.

Als Flambeau und Wilkinson je ein weiteres Glas Whiskey bestellten, war dem Wirt offensichtlich klar, dass sich die beiden wieder einmal einen Wettkampf liefern wollten, denn er stellte eine volle Flasche Tullamore Dew auf den Tisch und bat die Herren, sich selbst zu bedienen.

„Mister Wilkinson, Flambeau … ich bitte Sie beide um Ihre Autoschlüssel!“, bot Pater Brown dem feuchtfröhlichen Treiben kurz Einhalt.

„Ich versichere Ihnen, Hochwürden“, entgegnete der Apotheker, während er sein Glas randvoll goss, „dass ich nicht die Absicht habe, mit dem Auto nach Hause zu fahren. Selbstverständlich werde ich ein Taxi nehmen.“

„Und ich finde doch bestimmt heute Nacht bei Ihnen Unterschlupf, nicht wahr, Pater?“, fragte der Detektiv.

Nachdem das geklärt war, wurden die Diskussionen fortgesetzt. Nur das Erscheinen von Dorothy Brighton, die von allen männlichen Gästen Dolly gerufen wurde und die Speisen servierte, dämpfte die Unterhaltung. Während sich Hercule Flambeaus ganze Aufmerksamkeit auf die attraktive junge Frau konzentrierte, betrachtete Pater Brown liebevoll das kross gebratene halbe Hühnchen, schnappte mit den Fingern ein Stück Pommes frites, das über den Tellerrand ragte und beförderte es schnell in den Mund.

Wilkinson schien an fester Nahrung nicht besonders interessiert und begnügte sich mit einer Packung Kartoffelchips mit Essigaroma. Entsprechend säuerlich fiel auch sein Kommentar aus, mit dem er die Ruhe, die durch das Essen eingekehrt war, unterbrach. „Die katholische Kirche, Pater Brown, ist schuld an meiner Einsamkeit. Sie ist schuld, dass meine Frau mich verlassen hat.“

Pater Brown nickte freundlich und nagte an einem Hühnerflügel.

„Wie das, werter Freund?“, meldete sich Griffiths zu Wort.

Der 42-jährige Lehrer, der schon beinahe weiße Haare hatte, gehörte wie Pater Brown zu den Gemäßigten in der Runde, was das Trinken und die Diskussionen anlangte. Außerdem waren er und seine Frau Vegetarier. Er lieferte gerne die Stichworte, um ein Gespräch in Gang zu bringen, und war froh, wenn es sich dabei nicht um den Lehrberuf an sich drehte, die angeblich viel zu langen Ferien und die Unfähigkeit der Pädagogen, der Jugend die simpelsten Regeln des Anstandes beizubringen. Mit seiner Frage hatte er nun tatsächlich Erfolg bei Andrew Wilkinson, der die erwartete Reaktion zeigte.

„Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, dass meine geschiedene Frau Mitglied jener Religionsgemeinschaft ist, die einen einzigen – ich betone: einen einzigen annehmbaren, wenn nicht gar sympathischen Vertreter hat.“

„Den Papst?“, fragte der Lehrer scheinheilig.

„Den Papst? Um Himmels willen!“, rief der Apotheker aus und ließ seine Faust auf die Tischplatte knallen. „Dazu will ich mich nicht äußern.“

„Wen dann?“

„Ich meine natürlich unseren verehrten Pater Brown, der die angenehme Seite dessen vertritt, was eigentlich keine angenehme Seite hat.“

„Und Ihre Frau? Was haben die Katholiken mit Ihrer Frau zu schaffen?“ Der Lehrer ließ nicht locker, obwohl er die Antwort von zahllosen Diskussionen her schon kannte.

„Sie ist eine von ihnen, eine der Schlimmsten, und sie hat sich von den übertriebenen Moralvorstellungen anstecken lassen. Gebote und Verbote, denen kein normaler Mensch nachkommen kann und will, sofern er kein Eunuch ist.“

„Das heißt …?“

„Das heißt, dass sich die dumme Pute von mir hat scheiden lassen, nur weil ich ein Mann bin.“

„Sie setzen also Mann-Sein mit ungehemmter Sexualität gleich“, stichelte nun Hercule Flambeau, der wie ein Panther vor dem tödlichen Sprung wirkte, wobei er wieder beide Gläser füllte.

„Das ist kein Tullamore“, wechselte Wilkinson plötzlich das Thema. „Hesketh verwendet diese Flasche, um uns irgendein billiges Gesöff unterzujubeln. Sehen Sie, Hercule … ich habe die Flasche schon zwei Mal markiert, hier am Etikett. Er füllt sie immer wieder auf.“

Mit dieser Feststellung gelang es ihm für wenige Augenblicke, das Gespräch vom heiklen Thema seiner ehelichen Untreue auf sichereres Terrain zu bringen, aber wieder meldete sich Harry Griffiths zu Wort. „Gut, das wäre also geklärt. Die katholische Kirche ist die Ursache für Ihre Scheidung, Apotheker.“

„Obwohl sie Scheidung strikt verbietet. Ein Unsinn, selbstverständlich“, sagte Wilkinson nach einem kräftigen Schluck aus dem Glas. „Das geht auf eine Zeit zurück, als die Menschen mit dreißig starben. So lange hält man es mit ein und derselben Frau aus. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die Menschen leben länger.“

„Und sie brauchen mehr Medikamente – ein Umstand, der wiederum Ihnen zugutekommt“, bemerkte Pater Brown, der zufrieden von seinem leeren Teller aufblickte und sich mit der Serviette den Mund säuberte.

„Sollte man meinen“, erwiderte Andrew Wilkinson, „wenn nicht jene zutiefst unmenschliche, unchristliche Organisation begonnen hätte, auch meine wirtschaftliche Existenz zu bedrohen.“

Diese Wendung des Gesprächs war neu, dementsprechend lauschten nun alle interessiert den Worten des Apothekers.

„Es gibt da eine giftige, gemeine, hinterhältige Zeitung in unserer Gegend, das Heilige Blatt genannt. Die Fortsetzung der Inquisition, von der sich Ihre Kirche, Pater, nie distanziert hat … Jetzt habe ich den Faden verloren. Was wollte ich sagen?“

„Sie erwähnten das Heilige Blatt“, kam ihm der Lehrer zu Hilfe.

„Ein Propagandamittel, das das Leben in Edenbridge vergiftet.“

„Das sagten Sie bereits.“

„Man kann es nicht oft genug wiederholen“, gab sich Wilkinson entrüstet und füllte sein Glas so heftig, dass es überlief. „Sie führen eine Kampagne im katholischen Frauenverein, aber dort bleibt es natürlich nicht. Die Mundpropaganda macht aus jeder Mücke einen Elefanten, der dann das Überleben in diesem verdammten Kaff unmöglich macht.“

„Beschreiben Sie uns die Mücke“, forderte Pater Brown ihn auf und winkte Dolly herbei, um einen Nachtisch zu bestellen.

Wieder verstummte das Gespräch beim Eintreffen der jungen Kellnerin, die dem Pater Treacle Sponge Pudding empfahl. Nachdem sie sich entfernt hatte, wiederholte Pater Brown seine Bitte.

„Die Mücke besteht darin, dass ich Medikamente abgebe, die der verrückte Dorfarzt nicht verschreibt. Alles im Einklang mit dem Gesetz natürlich.“

„Stiltskin.“

„Stiltskin. Der übrigens auch Ihrer Kirche verbunden ist, Pater.“

„Ich weiß. Also, die Mücke kennen wir hiermit. Nun stellen Sie uns den Elefanten vor, Wilkinson“, sagte Pater Brown in der Hoffnung, die heiße Phase des Gespräch damit zu beschleunigen, denn er wollte sich nicht durch irgendwelche negative Sensationen, die seine Kirche betrafen, den Appetit auf den Nachtisch verderben lassen. Man gönnte sich ja sonst nichts. Und wenn er Glück hatte, war der Kuchen frisch. Zumindest hatte er bis jetzt das verräterische Klingeln der Mikrowelle aus der Küche noch nicht vernommen.

„Das Heilige Blatt hat mich als gottlosen, dem Alkohol verfallenen Abtreibungsapotheker verunglimpft, und das zeigt Wirkung. Die Kunden bleiben aus, offenbar aus Angst, selbst in ein schiefes Licht zu geraten.“

„Gottlos verstehe ich“, meinte Flambeau boshaft. „Immerhin bezeichnen Sie sich selbst als Agnostiker, Wilkinson. Apotheker sind Sie tatsächlich, und …“

„Ich verkaufe, wie übrigens jede andere Apotheke in diesem Land auch“, erklärte Andrew Wilkinson mit gesenkter Stimme, „verzweifelten Frauen ein Präparat, das eine ungewollte Schwangerschaft in einem frühen Stadium unterbricht.“

„Damit ist der Begriff Abtreibung in Zusammenhang mit Ihnen also ebenfalls nachvollziehbar. Bleibt nur mehr der absolut unverständliche Vorwurf, Sie wären dem Alkohol zugetan. Das ist eine völlig aus der Luft gegriffene Beschuldigung, nicht wahr, Wilkinson?“

„Wir sollten die Sorgen unseres Freundes nicht ins Lächerliche ziehen“, meldete sich nun Pater Brown wieder zu Wort. „Sie befinden sich also aufgrund der Artikel des Heiligen Blattes und des Dorftratsches in ernsten wirtschaftlichen Schwierigkeiten?“

Der Apotheker nickte stumm. „Die Kunden bleiben aus. Sie kaufen ihre Medikamente lieber bei Stiltskin, der eine ärztliche Hausapotheke betreibt.“

„Womit sich der Verdacht erhebt, ob nicht er aus finanziellem Interesse hinter der Kampagne gegen Sie steckt“, sagte Flambeau, und seine schwarzen Augen leuchteten gefährlich auf.

„Es würde genügen, wenn sich die katholische Kirche ihrer Verantwortung bewusst würde und sich von diesem Schmierblatt eindeutig distanzierte“, meinte der Apotheker. „Die Katholiken sind keine Geheimorganisation, sondern eine offiziell zugelassene Kirche innerhalb unserer Gesellschaft und haben deren Spielregeln zu akzeptieren. Sie können ihren Anhängern davon abraten, auf solche Medikamente zurückzugreifen, es ihnen verbieten – aber einen Menschen zu vernichten, der, den Gesetzen des Landes entsprechend, seinem Beruf nachgeht, ist absolut inakzeptabel.“

„Ich werde eine meiner nächsten Predigten diesem Thema widmen“, versprach Pater Brown. „Im Übrigen teile ich Ihre Meinung, Wilkinson, obgleich ich es anders formulieren werde.“

„Ein klares Wort, Pater“, bedankte sich der Apotheker. „Aus ebendiesem Grund besuche ich von Zeit zu Zeit Ihre Kirche. Ich schätze Ihre Predigten.“

Endlich brachte Dolly den Sponge Pudding, und Andrew Wilkinson ließ eine zweite Flasche Tullamore Dew kommen, obwohl die erste noch nicht völlig geleert war.

„Ich bin gespannt, wie Tom Hesketh das jetzt deichselt“, sagte der Apotheker. „Immerhin kann er seinen billigen Fusel nicht mehr in diese Flasche füllen.“

Tatsächlich kehrte Dolly bereits nach wenigen Augenblicken mit einer Flasche eines unbekannten Herstellers zurück und erklärte: „Der Chef entschuldigt sich, aber der Vorrat an Tullamore Dew ist aufgebraucht. Es wurde bereits nachbestellt, aber die Lieferung lässt leider auf sich warten.“

Wilkinson lächelte der jungen Frau freundlich zu und begann erst zu lästern, nachdem sie sich entfernt hatte.

„Sie wollen es sich nicht mit ihr verscherzen, scheint es. Dabei dachte ich, Sie seien jenseits von Gut und Böse“, ätzte Flambeau.

„Ich befinde mich im besten Mannesalter“, entgegnete der Apotheker. „Und es gibt Mittel, die das verstärken.“

„Kleine blaue Pillen, nicht wahr?“

„Wie schmeckt der Kuchen, Pater?“, fragte der Lehrer.

„Einmalig! Er ist frisch gemacht. Ich kann ihn nur empfehlen.“

„Dann werde ich mir wohl auch eine Portion gönnen. Es ist ja kein Fleisch“, sagte Harry Griffiths und leckte sich in Vorfreude die Lippen.

„Sie mit Ihrer jungen Frau haben das wohl nicht nötig, Griffiths“, wandte sich Flambeau nun an den Lehrer.

„Wie? Was? Nein, eigentlich nicht. Sie bäckt selbst hervorragend, aber Pater Brown hat mir Appetit gemacht.“

Der Pater räusperte sich und schüttelte leicht den Kopf, woraufhin Flambeau darauf verzichtete, das Missverständnis aufzuklären. Das Gespräch nahm wieder einen ruhigeren Verlauf, bis gegen neun Uhr Mrs Griffiths an den Stammtisch kam. Sie liebte es, ihren Mann vom Pub abzuholen und mit ihm durch das nächtliche Städtchen nach Hause zu wandern. Gerne trank sie noch ein Glas Gin Tonic und unterhielt sich mit den Herren, die sich mit einem Mal sehr gesittet gaben.

„Der einzige Mann, der dem bürgerlichen Ideal entspricht“, meinte der Apotheker, nachdem sich die beiden verabschiedet hatten.

„Das verstehe ich jetzt aber nicht“, sagte Flambeau.

„Der Einzige von uns, der in einer intakten Ehe lebt“, präzisierte Wilkinson.

„Nur dass sie noch keine Kinder haben. Aber darüber müssten Sie genauer Bescheid wissen, Apotheker.“

„Wenn Sie damit meinen, geschätzter Monsieur Flambeau …“

„Mister“, verbesserte ihn dieser.

„Wenn Sie damit andeuten wollen, dass die beiden verhüten und ich damit mein Geld verdiene, muss ich sagen, dass meine Lippen versiegelt sind. Damit befinden sich Pater Brown mit seinem Beichtgeheimnis und ich mit meiner beruflichen Schweigepflicht wieder auf einer Ebene. Wie ist das übrigens, Pater, wenn ein Mann wie ich bei Ihnen die Beichte ablegt? Wenn es sich also um kein Mitglied Ihres Vereins handelt? Gilt die Beichte in einem solchen Fall und müssen Sie dann auch schweigen?“

„Da am Beginn einer Beichte keine Kontrolle irgendwelcher Dokumente stattfindet“, erklärte der Pater, „gilt das Schweigegebot selbstverständlich immer.“

„Gut zu wissen.“

„Gern geschehen. Ich denke, es ist an der Zeit aufzubrechen, Flambeau. Sie kommen doch mit?“

„Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Immerhin haben Sie meinen Autoschlüssel.“

„Und meinen“, sagte der Apotheker. „Dann bis morgen, Pater.“

„Bis morgen, Wilkinson. Schlafen Sie gut!“

„Sie auch, Pater. Wenn Sie das dunkle Geheimnis des Lehrers nicht daran hindert.“

Pater Brown verzichtete bewusst darauf, nachzufragen, was der Apotheker damit meinte. Der Mann war viel zu betrunken, um irgendetwas Vernünftiges von sich zu geben. Der Detektiv, um einen aufrechten Gang bemüht, hatte nun gar nichts Raubtierhaftes an seiner Körperhaltung und glich eher einer vom Sturm bedrohten überdimensionierten Vogelscheuche.

„Ist das nicht der Apotheker?“, fragte Flambeau, als ein alter BMW an ihnen vorbeifuhr.

Pater Brown schwieg, obwohl ihm mehrere harte Schimpfwörter auf der Zunge lagen. Wilkinson hatte ihn mit einem Zweitschlüssel für den Wagen getäuscht. Diesem Mann war nicht zu helfen.

„Ob er gut nach Hause kommt, liegt nun in Gottes Hand.“ Der Pater seufzte und fügte hinzu: „Hoffentlich kommt nicht ein Unschuldiger zu Schaden.“

„Dass manche Menschen so viel trinken müssen“, sagte Flambeau. „Ich versteh das nicht.“

„Sie schweigen jetzt besser, mein Lieber! Ihr Mund war heute fleißig genug, und zwar beim Reden wie beim Schlucken.“

 

Das Gespräch, das Pater Brown mit dem Detektiv hatte führen wollen, musste bis zum nächsten Morgen warten. Flambeau hatte sich schon auf die Couch im Arbeitszimmer des Paters geworfen und die Augen geschlossen. Pater Brown entfaltete eine Decke und legte sie über den Mann, denn die Nächte waren noch empfindlich kalt.

„Sie sind wie eine Mutter zu mir“, murmelte Flambeau.

„Darum nennt man mich Pater.“

 

„Es muss Ihnen nicht peinlich sein“, beruhigte Pater Brown den Detektiv beim Frühstück in der geräumigen Pfarrküche. „Sie sind ein erwachsener Mensch und können tun und lassen, was Sie wollen.“

„Ich werde mich in Hinkunft mit zwei oder höchstens drei Gläsern begnügen. Es bringt nichts, in einen Wettstreit mit Wilkinson zu treten. Der Mann ist nicht zu schlagen.“

„Zumindest was den Whiskey betrifft.“

„Auch sonst, Pater. Sogar Sie hat er mit dem zweiten Autoschlüssel getäuscht, von seiner Bemerkung über Harry Griffiths und dessen Frau ganz zu schweigen.“

„Ach, das haben Sie auch noch mitbekommen? Ich bin ehrlich überrascht.“

„Was er wohl mit dem dunklen Geheimnis gemeint hat?“

„Wir werden es erfahren. Aber nun zur Arbeit.“

„Ein neuer Fall? Ich könnte ein üppiges Honorar ganz gut gebrauchen. Die Ehemänner scheinen in letzter Zeit treu zu sein. Auf jeden Fall gibt es in dieser Hinsicht wenig zu ermitteln.“

„Infolge der Wirtschaftskrise spionieren wohl die Frauen lieber selber“, meinte der Pater. „Was unseren Auftrag betrifft: Eine Mrs Gertrude Hepburn, 60 Jahre alt, verwitwet, hegt starke Zweifel am natürlichen Ableben ihres Mannes, des 63-jährigen Bankdirektors Reginald Hepburn.“

„Also Mord oder Selbstmord.“

„Er hat seine Frau mit einer 24-jährigen betrogen und wollte sein Testament zu deren Gunsten ändern, kam aber nicht mehr dazu.“

„Und schon fährt die Hoffnung auf ein Honorar zur Hölle“, seufzte Flambeau. „Die Frau hat ihn rechtzeitig beseitigt.“

„So würde vermutlich auch der Chief Inspector denken“, erwiderte der Pater, „darum werde ich ihn nicht mit diesem Fall befassen … vorderhand zumindest.“

„Und was will die trauernde Witwe von Ihnen, Pater?“

„Sie denkt, die junge Frau hat ihren Mann vergiftet.“

„Wenn sie ihrer Sinne einigermaßen mächtig gewesen wäre, hätte sie doch bis zur tatsächlichen Änderung des Testaments gewartet.“

„So scheint es.“

„Also war es doch die Witwe.“

„Hätte sich diese dann nicht eher ruhig verhalten? Immerhin war sie bisher niemandem verdächtig erschienen. Welchen Grund hätte sie gehabt, sich an uns zu wenden?“

„Das heißt …“

„Das heißt, dass wir es entweder mit einem oder mehreren geistig verwirrten Menschen zu tun haben oder doch am Beginn eines höchst rätselhaften Falles stehen. Wir müssen also …“

„Oh nein, Pater!“, der Detektiv wehrte ab. „Nein, Sie verlangen zu viel von mir.“

„Sie wissen doch noch gar nicht, was ich Ihnen vorschlagen will.“

„Aber ich ahne es, Pater, und es erfasst mich Grauen.“

KAPITEL 3

 

„Es erfasst Sie also Grauen“, wiederholte der Pater Flambeaus Worte und lächelte mild. „Dafür gibt es absolut keine Veranlassung. Ich werde von Ihnen nicht verlangen, den toten Mister Hepburn auszugraben, wenngleich ich es für einen glücklichen Umstand halte, dass Mrs Hepburn ihren Mann nicht einäschern ließ. Eine Tatsache, die ebenfalls zu ihren Gunsten spricht. Eine eventuelle Exhumierung kann warten, bis der Fall so weit geklärt ist, dass Mrs Hepburn nicht in Haft genommen wird. Wir werden im Haus des verblichenen Bankdirektors nach Spuren suchen, die auf einen gewaltsamen Tod schließen lassen.“

„Ich verstehe. Haare in der Bürste …“

„Getränke, die nur er zu sich genommen hat, Medikamente, Zahnpasta, Salben, Cremes …“

„Sie denken an Kontaktgifte.“

„Wir nehmen Proben und lassen sie untersuchen.“

„Das wird teuer.“

„Mrs Hepburn ist nicht arm.“

„Und wann?“

„Jetzt sofort, bevor die Witwe damit beginnt, diese Dinge zu entsorgen.“

In diesem Moment wurde an der Tür zur Pfarrküche geklopft.

„Kommen Sie doch herein, Mrs Eliot“, begrüßte Pater Brown seinen Engel auf Erden.

„Ah, guten Morgen, Mister Flambeau! Schön, Sie wiederzusehen.“

„Guten Morgen, Mrs Eliot! Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite.“

„Ich wollte nur fragen, Hochwürden, ob ich mich zuerst um den Garten kümmern soll. Der Rasen muss wieder gemäht werden.“

„Das ist keine Frauenarbeit“, entgegnete der Pater. „Darum werde ich mich selbst kümmern. Mister Flambeau und ich werden das Haus in wenigen Minuten verlassen. Sie könnten dann mit den Räumen im Erdgeschoss beginnen.“

„Ich habe Ihnen das Versprochene mitgebracht, Hochwürden. Alle Nummern des Heiligen Blattes, derer ich habhaft werden konnte. Die nächste Ausgabe kommt am Freitag. Wo soll ich sie deponieren?“

„Mein Schreibtisch wäre ideal, Mrs Eliot. Vielen herzlichen Dank!“

„Das ist doch selbstverständlich … obwohl ich Ihnen gerne etwas Erfreulicheres gebracht hätte.“

 

Wie üblich fuhr der Detektiv mit seinem alten Mercedes viel zu schnell und bewältigte die Strecke zum Quarry Rise in weniger als fünf Minuten. Mrs Hepburn wohnte in einem einstöckigen Haus, dessen Anblick um eine Spur nobler und solider als die ähnlich gebauten Nachbarhäuser wirkte und auf den Wohlstand der Besitzer schließen ließ. Sie bat die beiden Herren in das helle Wohnzimmer, in dem ein Kaminfeuer Wärme spendete.

„Ich habe Mister Flambeau mitgebracht“, erklärte der Pater. „Er wird mich wie so oft in meinen Fällen tatkräftig unterstützen.“

„Sehr erfreut“, sagte die Gastgeberin und schüttelte dem Detektiv die Hand. „Darf ich den Herren Tee oder Kaffee bringen?“

„Tee wäre wunderbar“, antwortete Hercule Flambeau, und Pater Brown schloss sich ihm in der Hoffnung an, dass es auch eine Kleinigkeit zu essen geben würde. Er wurde nicht enttäuscht. Gertrude Hepburn stellte einen Teller mit Sandwiches auf das Teetischchen, und Pater Brown bediente sich davon, obwohl ihm Flambeau einen dezenten Stoß mit seinem linken Ellbogen versetzte. Pater Brown lächelte ihn freundlich an und griff nach einem weiteren Brötchen. Offenbar wollte ihn der gute Flambeau darauf hinweisen, dass es etwas unvorsichtig war, im Hause eines Mannes, der möglicherweise des Gifttodes gestorben war, Speisen zu sich zu nehmen. Pater Brown jedoch vertraute dieser stattlichen Frau, die ihn in ihrer Haltung und mit ihrer kräftigen, dunklen Stimme an einen Offizier erinnerte: Sie war gewiss keine Mörderin. Zudem gehörte sie seiner Kirche an.

„Mister Flambeau und ich sind uns einig bezüglich unseres weiteren Vorgehens in den Ermittlungen, den Tod Ihres Mannes betreffend“, begann der Pater das Gespräch. „Wir werden, so Sie uns das gestatten, in Ihrem Haus nach Spuren suchen.“

Gertrude Hepburn hob interessiert den Kopf. „Ich dachte, Sie wollten ihn exhumieren lassen. Ich habe bereits ein entsprechendes Schriftstück vorbereitet, in dem ich mich damit einverstanden erkläre.“

„Damit lassen wir uns noch ein Weilchen Zeit, Mrs Hepburn“, erwiderte Pater Brown. „Aus taktischen Gründen.“

„Es ist wichtig“, meldete sich nun erstmals Flambeau zu Wort, „dass Sie die nächste Zeit auf freiem Fuß verbringen.“

„Das heißt …“

„Das heißt, gnädige Frau, dass Sie in Untersuchungshaft kämen, sollte man tatsächlich Gift im Körper Ihres verschwundenen Gatten finden. Und wer würde dann unsere Arbeit finanzieren?“

Pater Brown räusperte sich ob dieser etwas direkten Äußerung des Detektivs.

„Ich verstehe … Ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen, meine Herren. Mein Haus steht zu Ihrer Verfügung. Sie haben Zutritt bis in die allerletzten Winkel.“

„Dann ersuche ich Sie, dass Sie uns zuerst einmal durch die Räume führen, damit wir einen Überblick bekommen“, schlug Pater Brown vor.

Mrs Hepburn begann mit den Zimmern im Erdgeschoss. Von einem Flur führten zwei Türen in das geräumige Wohnzimmer, dessen Fenster zur Straße blickten. Linker Hand lagen Badezimmer und Toilette, dahinter die Küche mit einem breiten Fenster in den großen Garten hinter dem Haus.

„Wir essen meist in der Küche“, erklärte sie, als sie die letzte Tür auf der rechten Seite des Ganges öffnete. „Nur wenn wir Gäste haben, oder zu besonderen Anlässen wie Weihnachten oder Ostern, benutzen wir diesen Raum.“

„Der direkt in den Wintergarten führt“, bemerkte Pater Brown.

„Oh ja. Das Conservatory ist eine herrliche Sache, besonders in der Übergangszeit. Mein Mann und ich lasen gerne gemeinsam …“

„… unter Palmen …“

„… und Bananenstauden. Folgen Sie mir bitte in den ersten Stock.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783957199515
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Januar)
Schlagworte
Pfarrer Krimi England Ermittler

Autor

  • J. J. Preyer (Autor:in)

J.J. Preyer wurde 1948 in Steyr, Österreich geboren. Seit 2010 schreibt der Autor für die Romanserie JERRY COTTON im Bastei-Verlag.
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Titel: Die neuen Fälle des Pater Brown 01: Die Beichte des Grossinquisitors