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Unter Verdacht

Moorkamps erster Fall

von Erin J. Steen (Autor:in)
260 Seiten
Reihe: Moorkamps Fälle, Band 1

Zusammenfassung

Als Emi unter Mordverdacht gerät, fürchtet sie um ihre Existenz als selbstständige Yogalehrerin. Yogalehrerin Emi legt sich öffentlich mit ihrem Kollegen Thomas an, der sie immer wieder bedrängt. Natürlich stehen seine Kumpel stets voll hinter ihm und sogar ihr Chef rügt sie für den Streit. Als in der Nacht das Karma zuschlägt und Thomas tot am Arbeitsplatz aufgefunden wird, ist sie die Hauptverdächtige. Single Emi hat kein Alibi, aber sie ist bestimmt nicht die Einzige, die Thomas die Pest an den Hals gewünscht hat. Um ihren Namen reinzuwaschen braucht sie alle Hilfe, die sie bekommen kann. Mit der unerfahrenen Kommissarin Charlotte an ihrer Seite macht sie sich auf die Suche nach dem wahren Täter. Denn wer will schon Yogastunden bei einer Mordverdächtigen nehmen? Leserstimmen "Das Lesen macht Spaß, wofür auch der tolle Erzählstil der Autorin verantwortlich ist. Klare Leseempfehlung, unterhaltsame Lektüre, ideal für ein verregnetes Wochenende oder einen gemütlichen Feiertag." "Wer leichte Krimis mit Wohlfühleffekt mag, ist hier genau richtig." "Insgesamt kann ich also sagen, ich habe mich in dem Krimi gut aufgehoben gefühlt und es war trotz des Mordes paradoxerweise auch irgendwie "gemütlich"." Die Bände der Reihe im Überblick: 1. Unter Verdacht: Moorkamps erster Fall 2. Sündenfeuer: Moorkamps zweiter Fall 3. Böser Geist: Moorkamps dritter Fall

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ÜBER DAS BUCH

Yogalehrerin Emi legt sich öffentlich mit ihrem Kollegen Thomas an, der sie immer wieder bedrängt. Natürlich stehen seine Kumpel stets voll hinter ihm und sogar ihr Chef rügt sie für den Streit. Als in der Nacht das Karma zuschlägt und Thomas tot am Arbeitsplatz aufgefunden wird, ist sie die Hauptverdächtige.

Single Emi hat kein Alibi, aber sie ist bestimmt nicht die Einzige, die Thomas die Pest an den Hals gewünscht hat. Um ihren Namen reinzuwaschen braucht sie alle Hilfe, die sie bekommen kann. Mit der unerfahrenen Kommissarin Charlotte an ihrer Seite macht sie sich auf die Suche nach dem wahren Täter – denn wer will schon Yogastunden bei einer Mordverdächtigen nehmen?

Über die Autorin

Erin J. Steen lebt und arbeitet in Niedersachsen, nachdem sie einige Jahre in verschiedenen Orten im In- und Ausland verbracht hat. Haus und Garten teilt sie mit einem Mann, einer Tochter und zwei tierischen Gefährten.

Ihre Freizeit verbringt sie nicht nur mit dem Schreiben, sondern auch mit Spaziergängen im Wald, der Familie und stetig wechselnden kreativen Hobbys. Sie fotografiert, näht und denkt hin und wieder daran, das Töpfern zu erlernen.

Für jeden, der den Mut findet, seine Träume wahr zu machen.

PROLOG

UNERWARTETER NIEDERSCHLAG

Zufrieden checkte er die jüngste Nachricht auf dem geborstenen Display seines Smartphones und grinste. Es sah gut aus für ihn. Die Dinge entwickelten sich definitiv in die richtige Richtung.

Vielleicht würde er ein paar alte Zöpfe abschneiden müssen, um all die neuen Möglichkeiten ausschöpfen zu können, aber das war es sicher wert.

Im Halbdunkel seines Arbeitsplatzes klopfte er sich auf die Schenkel, um die müden Muskeln zu wecken. Es wurde Zeit, dass er für heute Feierabend machte. Das Tor war automatisch heruntergefahren und sicherte den Eingang. Trotzdem würde er noch abschließen müssen.

Draußen regnete es wie aus Eimern und ihm graute vor dem Weg bis zur Bahn. Einen Schirm hatte er natürlich nicht dabei.

Er schwang sich vom Barhocker, von dem er wegen der Erschöpfung vom Nachmittagstraining nur schwer wieder herunter kam. Das neue Programm hatte es echt in sich. Seine Muskeln waren fix und fertig. Trotzdem musste er noch einmal ins Obergeschoss, um die letzten Erledigungen zu machen.

Ein Klopfen an der Hintertür ließ ihn mitten auf der Metalltreppe innehalten. Er machte kehrt und öffnete die schwere Notausgangstür, durch die er den Laden für gewöhnlich verließ, wenn er fertig war.

»Ich bin gleich so weit«, erklärte er und wandte sich ab, um die letzten Aufräumarbeiten für den Tag abzuschließen. »Sekunde noch.«

Sein kleiner Streich heute Abend war ein wenig nach hinten losgegangen, sodass er noch Ordnung in die Gruppenräume bringen musste, damit alles am nächsten Morgen wieder an seinem Platz war, wenn die Frühschicht kam.

Die verklemmte Yogatussi verstand einfach keinen Spaß. Dabei würde er sie so gern mal ihr hübsches Gesicht im Rausch der Lust sehen. Zumindest heute wurde daraus wohl nichts mehr.

Erst als er sich im kleinen Gruppenraum aus der tiefen Hocke vor dem Gerätewagen wieder hoch mühte, merkte er, dass er nicht allein im Raum war.

»Ich habe doch gesagt, ich bin gleich da«, murrte er.

Doch das war das letzte, was er sagte. Kaum hatte er sich wieder der Aufgabe zugewandt, traf ihn etwas Schweres am Kopf und er sank zu Boden. Endlich konnten seine Muskeln ruhen.

KAPITEL EINS

EIN MACHO SONNT SICH IM RAMPENLICHT

EMI

Als sie sich an der Getränkebar des Fitnessstudios in der Torstraße niederließ, konnte sie zum ersten Mal an diesem Tag durchatmen. Bislang war es für sie nicht gerade ideal gelaufen.

Trotzdem freute sie sich auf die Unterrichtsstunde, die sie in fünfzehn Minuten beginnen durfte. Nach zahlreichen Rückschlägen, empfand Emi es nun fast schon als Privileg, im Chrome Fitness Yoga unterrichten zu dürfen.

So viele andere Studios hatten ihr in den vergangenen Monaten eine Absage erteilt. Dabei hatte sie es sich so schön ausgemalt, sich mit ihrem Hobby selbstständig zu machen.

Leider musste sie sich eingestehen, dass das viel einfacher klang, als es wirklich war. Die guten Zeiten, in denen Yogalehrer überall begehrt waren, gehörten der Vergangenheit an.

Eine Flut von Wochenend-Lehrerworkshops machte alle Neulinge binnen weniger Tage zu absoluten Experten auf dem Gebiet. So jedenfalls die landläufige Meinung der Studiomanager, wenn sie ihr mitteilten, dass sie keine Stunden an Selbstständige outsourcten. Zu teuer. Lieber schickten sie einen Angestellten auf eins dieser Seminare.

Und das Schlimmste an dieser Einschätzung war, dass das für die Art von Yogaunterricht, den sich die Betreiber vorstellten, sogar stimmte. Jedes Yoga war anders. Es gab hunderte Stilrichtungen, für die es spezielle Ausbildungen gab.

Yoga war mehr als Sport. Es ging um eine ganzheitliche Einstellung zum Leben, doch die war in den Fitnessstudios Berlins nicht gefragt. Hier ging es um Muskelaufbau und Gewichtsreduktion. Diese Werte ließen sich an die zahlende Kundschaft verkaufen.

Ihre Studienfreundin Isa unterhielt sich wenige Schritte entfernt mit einem ihrer Klienten – einem Ex-Profisportler, der vor wenigen Wochen aus der Reha gekommen war. Diesen Auftrag hatte Emi nur dank ihr und ihrem fantastischen Ruf bekommen.

Isa hatte sich bei David, dem Besitzer des Chrome Fitness, für sie eingesetzt. Doch der Manager wurde nicht müde zu betonen, dass sie unter Beobachtung stand.

Keine Esoterik, nur Sport.

Das war Davids klarer Anspruch und Emi wusste, dass sie am Anfang Kompromisse machen musste, um das Geld für die Miete aufzutreiben.

Wenn es eines Tages besser lief – und sie war überzeugt, diese Zeit würde unweigerlich kommen – wollte sie ihre eigenen Regeln durchsetzen. Vielleicht nicht hier, aber es würde einen passenden Ort geben, an den sie und ihre Werte passten.

Isa war gleichzeitig ihre Rettung und ihre Inspiration gewesen. Als sie sich kennenlernten, hatten sie beide gerade ihr Medizinstudium begonnen. Nach dem ersten Jahr schmiss Isa hin und wechselte den Studiengang.

Sport war schon immer ihre Leidenschaft gewesen und sie hatte den Mut gefasst, genau das zu tun, was sie liebte. Obwohl der Arztberuf ihr ein höheres Grundgehalt versprach, wagte sie den Absprung. Mittlerweile war sie eine gefragte Personal Trainerin für Berliner Leistungssportler, die einen gezielten Muskelaufbau brauchten oder sich von einer Verletzung erholten.

Für ihre Berufung war es zu Isas Glück unerheblich, dass sie lieber ungewöhnlich aussah. Schon damals an der Uni hatte sie einzelne Tattoos auf den Armen gehabt.

Inzwischen war ihr Körper ein Gesamtkunstwerk aus Tinte und Athletik. Bei der Arbeit trug sie Kleidung, die diese Besonderheit eher betonte als verdeckte. Es war zu ihrem Markenzeichen geworden.

An diesem Tag bot ein schwarzes Tanktop mit dem Aufdruck des Chrome Fitness den Ausblick auf Teile des Kunstwerks. Abstrakte Formen schlängelten sich die Arme hinauf zu den Schultern und verschwanden verheißungsvoll unter dem locker sitzenden Stoff. Auch im Halsausschnitt war etwas dunkle Farbe zu erahnen.

Im Arztberuf hätte sie diese Form der Körperkunst niemals so praktizieren können. Dieser Beruf verlangte ein konservatives Aussehen. Immer noch. Es gab zu viele ältere Patienten, die sich durch auffällige Tattoos eingeschüchtert fühlten.

Hier musste Isa sich für ihre Arbeit nicht verbiegen.

Emi wollte das gleiche Privileg auch für sich selbst. Sie hatte zwar ihr Studium und das praktische Jahr hinter sich gebracht. Sicher hätte sie auch eine Anstellung in einem Krankenhaus gefunden, aber das war nicht, was sie wirklich wollte.

Die blonde Fitnesstrainerin bestellte dem Sportler noch einen Eiweißshake bei Vanessa an der Theke und wandte sich anschließend Emi zu.

»Na, wie läuft‘s?«, fragte sie wie immer verboten gut gelaunt.

»Eher mäßig bis schlecht, aber was soll‘s?«

Es war die Wahrheit, aber diese Startschwierigkeiten würden sie nicht umbringen. Sie nagte längst nicht am Hungertuch und zur Not würden ihre Eltern liebend gern aushelfen. Nur ihr Ego litt unter den ständigen Absagen.

Doch sie war noch nicht bereit deshalb aufzugeben. Sie probierte es erst seit drei Monaten und manchmal brauchte das Universum länger, bis sich der Erfolg einstellte.

Isa seufzte und zog die Brauen hoch. Emi hatte sie nie danach gefragt, aber sie konnte sich vorstellen, dass auch die Fitnesstrainerin hart für ihre Stellung gearbeitet hatte.

»Wenn ich irgendwie helfen kann, sag einfach bescheid«, bot sie an.

»Danke, das weiß ich zu schätzen.«

»Gibt‘s denn wenigstens mit den Männern mal was Neues zu berichten?«

Isa war so erfrischend direkt, dass ein Eimer Eiswasser gegen sie wie ein warmes Bad wirkte. Das war einer der Gründe, warum besonders Profisportler ihre Dienste so gern in Anspruch nahmen. Sie schätzten direkte Ansagen.

»Männer, was war das nochmal?«, feixte Emi achselzuckend.

Ihre letzte Beziehung war schon so lange her, dass sie sich kaum noch daran erinnerte, wie es sich anfühlte, das eigene Leben mit jemandem zu teilen.

»Wenn du da einen Auffrischungskurs brauchst, kannst du ja mal unseren Studio-Casanova um eine Audienz bitten«, scherzte Isa und nickte in Richtung Treppe. »Da kommt er gerade.«

Emi musste sich nicht umdrehen, um zu erfahren, von wem sie sprach. Schon von Weitem roch sie das billige Rasierwasser, das diesen Mann wie eine persönliche Regenwolke begleitete. Thomas war so ziemlich das Gegenteil von dem, was sie sich unter einem Traummann vorstellte.

Dabei war es nicht einmal sein Aussehen, das sie so abstoßend fand, sondern viel mehr sein Verhalten. Er führte sich auf, als könnte er jede Frau auf dem Planeten mit einem seiner Anmachsprüche um den Finger wickeln. Aber das konnte er nicht.

Spätestens bei ihr biss er auf Granit und sie bezweifelte, dass sie die Einzige war, die darauf nicht ansprang. Er hatte bereits mehrfach probiert, bei ihr zu landen, doch sie hatte ihn immer wieder freundlich in die Schranken gewiesen.

»Hallo ihr Süßen, habt ihr mich schon vermisst?«, fragte er süffisant grinsend.

Sie konnte gerade noch ein genervtes Schielen unterdrücken, während Thomas sich zwischen sie schob. Isa entging ihre Reaktion dennoch nicht. Emis Laune besserte sich schlagartig, als sie sah, wie ihre langjährige Freundin ihr ein verschwörerisches Grinsen zuwarf. Auch an der ehrgeizigen Trainerin prallte Thomas‘ eigenwilliger Charme offenbar ab.

»Eigentlich war es noch ganz erträglich«, gab Emi ihm zur Antwort. »Ein paar Minuten hätten wir es sicher noch ohne dich ausgehalten.«

Er lehnte sich vor und kam ihr dabei viel zu nahe.

Immer wieder überschritt er diese Art von Grenzen ohne jegliches Bewusstsein oder Schamgefühl. Vielleicht war eine freundliche Abfuhr nicht die Sprache, die er verstand. Sie wurde ungern grob, aber Emi hasste es, wenn man ungefragt derart in ihren persönlichen Wohlfühlbereich eindrang.

»Ach, komm, ich habe doch gesehen, dass ihr über mich gesprochen habt.«

Sein Minzatem trieb ihr die Tränen in die Augen und löste einen Fluchtreflex aus, den sie kaum unterdrücken konnte. Sie musste hier weg.

»So ein Pech, dass wir uns nicht weiter unterhalten können«, schnappte Emi. »Ich muss mich jetzt mal für meine Stunde fertigmachen.«

Mit jemandem, der aufrichtiges Interesse an ihr hatte, würde sie niemals so sprechen. Doch Thomas hatte kein Interesse. Er hatte ihr noch keine einzige persönliche Frage gestellt. Thomas interessierte sich nur für sich selbst und dieses Interesse teilte Emi nicht.

Sie entwand sich ihm und steuerte auf die breite Metalltreppe ins Obergeschoss des umgebauten Ladengeschäfts zu. Früher war das Studio mal ein Supermarkt gewesen, wie die alten Fotos an den Wänden im Eingangsbereich zeigten.

Im Zuge des Umbaus hatte man die früheren Wohnungen im zweiten Stock des Altbaus hinzugenommen und diese mit der freischwebenden Treppe an das Erdgeschoss angebunden. Die Mieter in den oberen Stockwerken hatten ein eigenes Treppenhaus mit separatem Zugang auf der Rückseite des Hauses.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend eilte sie die Treppe hinauf, um schneller von Thomas wegzukommen. Die Tür zur Mitarbeiterumkleidekabine fiel hinter ihr zu und sie schüttelte das unangenehme Gefühl seiner Aufmerksamkeit ab.

Sie öffnete das Zahlenschloss ihres Spindes und beugte sich hinein, um ihre geliebte Matte aus Naturgummi herauszukramen. Zwar roch das Material des wertigen Markenprodukts stark nach Reifen, aber es verhinderte hervorragend, dass ihre Füße und Hände beim Training darauf rutschten, und sie vermeid den Kontakt zu Weichmachern.

Als sie die Tür wieder verriegelte, stand Thomas plötzlich über ihr. Wie in einem menschlichen Käfig fand sie sich zwischen seinen muskulösen Armen eingesperrt. Seine körperliche Überlegenheit wurde ihr bedrohlich bewusst. Sie waren allein in diesem kleinen Raum.

»Weißt du, ich glaube, du brauchst mal einen richtigen Mann, damit du nicht mehr so widerspenstig bist«, flüsterte er mit einer tiefen Stimme. Was er vielleicht für verführerisch hielt, empfand Emi als bedrohlich.

Entschlossen, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen, straffte sie die Schultern und sah ihm fest in die Augen. Vor wilden Tieren sollte man schließlich nicht zurückschrecken. Sie war eine erwachsene Frau und wollte sich von einem Typen wie ihm nicht einschüchtern lassen.

Er würde kaum Gewalt gegen sie anwenden. Zumindest nicht hier.

»Wie wäre es denn heute Abend nach Ladenschluss?«, konkretisierte er seine Absichten. »Nur du und ich an einem lauschigen Plätzchen?«

Ihr Puls raste. Ein Engegefühl in der Brust schnürte ihr die Luft ab. Sie war kein Opfer und er würde sie zu keinem machen. Emi schluckte gegen den Druck an und befreite sich davon. Wie so vieles im Leben löste sie dieses Problem mit einer kraftvollen Entscheidung.

»Nein, danke, ich muss heute ganz dringend noch meine Briefmarken sortieren.«

Sie war selbst überrascht über ihre schlagfertige Antwort. Ehe er Zeit für eine Reaktion hatte, tauchte sie unter seinem Arm hinweg, schlüpfte aus der Umkleide und rauschte in Richtung Übungsraum davon.

Die ersten Schülerinnen waren schon eingetroffen. Froh nicht mehr allein zu sein, begrüßte sie die Anwesenden freundlich wie immer.

Niemandem fiel auf, dass ihr Lächeln an diesem Tag nicht echt war. Niemand bemerkte, dass ihre Gedanken noch um die merkwürdige Situation kreisten.

Normalerweise nahm sie sich selbst und ihre Gefühle ohne große Mühe völlig zurück, sobald sie in den Übungsraum trat. Doch heute wollte das nicht klappen. Was hatte Thomas sich dabei gedacht? Glaubte er, seine Anmache imponierte ihr mehr, wenn er sie bedrängte?

In ihrem Kopf ging sie die Möglichkeiten durch. Im besten Falle war es tatsächlich ein sehr missglückter Versuch einer Anmache und im schlechtesten Fall eine echte Drohung.

Sie wollte sich nicht ausmalen, was hätte passieren können, wenn sie ihm an einem anderen Ort begegnet wäre. Nachts auf einer dunklen Straße. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

Sie musste diese Gedanken schleunigst verdrängen. So konnte sie unmöglich angemessen auf die Bedürfnisse ihrer Schüler eingehen. Sie selbst war hier nicht von Bedeutung.

Vor der Spiegelwand entrollte sie ihre Matte und war sie ausnahmsweise einmal froh darüber, dass die meisten Schüler sich verspäteten. Denn das bot ihr die Gelegenheit, sich noch ein wenig zu sammeln, bevor sie ihren Unterricht begann. Im Schneidersitz legte sie die Hände in den Schoss, schloss die Augen und atmete tief durch.

Die Ereignisse ließen sie dennoch nicht völlig los. Es war wohl am besten, wenn sie ihm in Zukunft komplett aus dem Weg ging. Wie sie das im Chrome Fitness bewerkstelligen sollte, war ihr zwar noch nicht klar, doch auf keinen Fall wollte sie jemals wieder mit ihm allein sein.

Vielleicht bildete sie sich das auch alles nur ein, aber sie wollte es nicht darauf ankommen lassen, nur um zu wissen, ob sie am Ende Recht behalten würde.

Die restlichen Schülerinnen waren mittlerweile eingetroffen und nahmen ihre Stammplätze ein. Emi stand auf, führte die Hände vor der Brust zusammen und verbeugte sich andächtig vor ihrer Klasse.

»Namasté, meine Lieben. Schön, dass ihr hier seid!«

Mit knappen Worten erklärte sie, was sie für diese Unterrichtseinheit geplant hatte, und vergewisserte sich mit einem Blick in die Gesichter ihrer Schülerinnen, dass sie für diesen Abend den richtigen Schwerpunkt gelegt hatte. In dieser Sekunde trat Thomas in den Raum.

Ärger stieg in ihr auf. Wie viel wollte er ihr heute noch nehmen? Er zerstörte ihre Oase. Mit Sicherheit wusste er, wie sehr sie das aus dem Konzept brachte.

»Hi Mädels, lasst euch nicht stören, ich bin gleich wieder weg«, tönte er grinsend.

Er bahnte sich einen Weg durch die Matten der Kursteilnehmer, wobei ihm zu Emis Missfallen die Blicke einiger Frauen folgten. Ihm entging das Interesse natürlich nicht. Er taxierte die Schülerinnen und zwinkerte mindestens zweien von ihnen zu.

Sie atmete noch einmal tief durch. Fest entschlossen, sich nicht noch einmal von ihm aus der hart erarbeiteten Ruhe bringen zu lassen, konzentrierte sie sich erneut auf ihr Stundenkonzept.

»Beginnen wir mit dem Sonnengruß.«

Mit einer Handbewegung forderte sie die Anwesenden auf, sich entsprechend zu positionieren, und begann die einzelnen Positionen mit den zugehörigen Atemphasen anzusagen.

Die Gruppe wusste bereits, wie sie im Sonnengruß von einer Pose in die andere wechselten. Das war immer gleich. Lediglich der Mittelteil ihres Unterrichts variierte je nach Tagesthema.

Emi fand es schon unglaublich frech, dass Thomas überhaupt in ihre Stunde platzte. Doch er ließ sich sogar alle Zeit der Welt dabei. Noch schlimmer fand sie allerdings, dass darüber Wut in ihr aufstieg.

Warum überließ sie einem Fremden derart die Kontrolle über ihre Emotionen? Ihre Gefühle waren ihre ganz persönliche Sache. Etwas, das sie zu jeder Zeit selbst bestimmte. Das wollte sie sich von ihm nicht nehmen lassen.

Thomas wühlte in einem der Wagen mit Kleingeräten, die in einer Ecke des Raumes standen. Als er endlich gefunden hatte, was er suchte, präsentierte er Emi mit einem aufgesetzten Lächeln zwei Gewichtsmanschetten und verließ den Raum. Dies tat er jedoch nicht, ohne noch einmal einen abschätzenden Blick auf die Hintern der Schülerinnen zu werfen.

* * *

Am Ende der Stunde hatte Emi es entgegen ihrer eigenen Erwartungen geschafft, eine gewisse Entspannung im Unterricht zu finden.

Die letzten Minuten nutzte sie wie immer für Savasana, eine Entspannungsübung, bei der die Schülerinnen in vollkommener Stille der Stunde nachspürten.

Während die Teilnehmerinnen mit geschlossenen Augen auf ihren Matten lagen und sich auf die Atmung konzentrierten, saß Emi im Lotussitz vor der Gruppe und lächelte selig.

Dieser Teil der Stunde machte ihr immer am meisten Freude. Sie lauschte dem ruhigen Fluss des Atems ihrer Klasse. Lediglich das gelegentliche Scheppern der Gewichte aus den Geräteräumen störte die vollkommene Ruhe.

Für sie waren diese Momente so erholsam wie ein Urlaubstag am Meer. Sie stellte sich vor, wie Wellen an den Strand schwappten und ihr die wärmende Sonne ins Gesicht schien. Wenn sie selbst in dieser Pose lag, fühlte sie sich, als würde das Meer ihren Körper tragen.

Mit dem Frieden war es abrupt vorbei, als das Kreischen eines Radioweckers durch den Raum dröhnte. Es war laut und viel zu nah.

Nicht nur Emi fühlte sich gestört, auch einige Schülerinnen setzten sich auf und grummelten mürrisch. Im ersten Moment vermutete sie, dass eine von ihnen ihr Handy mitgebracht und vergessen hatte, den Ton auszuschalten. Aber keine von ihnen sah auch nur ansatzweise schuldbewusst in die eigene Tasche.

Die Ursache musste woanders liegen. Der nervtötende Ton passte auch nicht so recht zu dem, was sich normale Menschen als Klingelton einrichteten.

Die ersten Schülerinnen standen auf und packten ihre Sachen zusammen. Eine pfefferte ihre Matte auf den Stapel des Leihmaterials und stapfte aus dem Raum. Die anderen hatten sich zwar besser im Griff, aber auch sie verließen ärgerlich den Unterrichtsraum.

Emi war noch immer starr vor Schreck, doch langsam mischte sich ein weiteres Gefühl in ihren emotionalen Cocktail. An ihren Schläfen kroch eine Vorahnung von Kopfschmerzen hinauf. Da war sie wieder, diese unangenehme Anspannung in Schultern und Nacken, die sie zu Beginn der Unterrichtsstunde nur mühsam abgeschüttelt hatte.

Sie folgte ihrem Gehör und bewegte sich in die Richtung, aus der das Klingeln kam. Was sie fand, überraschte sie kaum noch. Der Ursprung des Lärms lag abseits der Schülerinnen in genau jenem Gerätewagen, in dem Thomas vor knapp einer Stunde gekramt hatte.

Zwischen den Gewichten fand sie ein Smartphone. Sein Smartphone. Da war sie absolut sicher. Das Display zeigte an, dass ein Timer abgelaufen war. Dieser Typ war doch nicht ganz normal!

Emi drückte den Timer weg und sah sich im Raum um. Keine ihrer Schülerinnen war mehr da. Die lodernde Wut in ihrem Bauch ließ sich kaum beherrschen. Sie trieb ihr Tränen in die Augen.

Am liebsten hätte sie laut geschrien, aber das konnte sie sich hier nicht erlauben. Sie hasste diesen Kerl abgrundtief. Die Intensität dieses Gefühls traf sie wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel.

Bis zu diesem Tag hatte sie ihn nur nervig und unangenehm gefunden. Aber was sie nun fühlte, ging weit darüber hinaus. Emi konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal so intensiv von negativen Gefühlen überrollt worden war.

Keine Spur mehr von Om oder Shanti, nur noch heiße Wut.

Mit ihrer Matte unter dem Arm und dem Telefon in der Hand trat sie aus dem Raum. Diesen Akt der Sabotage würde sie ihm nicht durchgehen lassen. Mit wachsamem Blick schlich sie durch das Studio.

Lange musste sie nicht nach ihm suchen. Er stand in einer Gruppe muskulöser Männer im Erdgeschoss an der Getränkebar bei Vanessa. Die Auszubildende, ein junges dunkelhäutiges Mädchen, deren Eltern aus Zentralafrika stammten, kümmerte sich um die Getränkewünsche und war sichtlich überfordert mit dem Andrang der polternden Meute.

Der Ton war rau und doch der Möchtegern-Weiberheld tat keinen Handschlag, um dem Mädchen zu helfen. Sie ging betont langsam die Treppe runter, weil sie spürte, dass zahlreiche Augenpaare auf sie gerichtet waren. Kaum dass sie die Gruppe Männer erreichte, schwieg die Meute wie auf ein geheimes Signal hin.

Alle starrten sie an. Sogar Vanessa hinter der Bar hielt inne und sah von der plötzlichen Stille beeindruckt zu ihr herüber. Einige der Zuschauer grinsten blöde, als wüssten sie bereits, was als Nächstes kam.

Vielleicht hatte er ja vor ihnen mit seinem grandiosen Streich geprahlt. Emi hielt das Telefon in die Höhe. Sie zählte nicht gerade zu den kleinsten Frauen und musste deshalb kaum zu Thomas aufschauen.

»Na, vermisst du etwas?«, fragte sie mit eisiger Stimme.

Thomas besaß die Frechheit, die Lippen zu einem Schmunzeln zu verziehen. Emi schüttelte verachtend den Kopf.

Ja, wirklich sehr witzig.

Sie würde der Sache jetzt ein für alle Mal ein Ende machen. Gleich würde er nichts mehr zu lachen haben.

»Oh, mein Handy«, heuchelte er. »Schön, dass du es gefunden hast.«

»Willst du wissen, wo ich es gefunden habe?«

»Ja klar, wo war es denn?«, stellte er sich dumm.

»Mit eingeschaltetem Timer im Gerätewagen in meinem Unterrichtsraum. Die Beschwerden über die Unterrichtsstunde, die bei David eingehen werden, habe ich allein dir zu verdanken. Spitzenjob, Thomas!«

Der Zorn über sein breiter werdendes Grinsen drohte, sie vollends zu übermannen. Nur mühsam hielt sie ihre Sinne beisammen.

»Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, presste Emi hervor.

»Ich weiß gar nicht, was du meinst«, tönte er süffisant.

Aus seiner künstlich aufgepumpten Gefolgschaft mit dem emotionalen IQ einer Wassermelone platzte ein hämisches Lachen, das wie das Niesen einer Bulldogge klang. Sie konnte das Geräusch keinem speziellen Mann zuordnen. Viel zu sehr war sie auf Thomas fixiert.

Jetzt hatte er endlich ihre heiß ersehnte Aufmerksamkeit, doch Emi vermutete, dass er sich das ein wenig anders vorgestellt hatte.

»Dann hast du also keinen Timer gestellt, um meinen Unterricht zu sabotieren?«

Sie hielt das Gerät fest umklammert wie einen Anker. Doch Thomas zuckte nur mit den Schultern.

»Und wenn es so wäre?«, provozierte er sie weiter. »Würde mir die kleine Yogamaus dann den Arsch versohlen?«

Er verzog den Mund zu einem Schmollen und die Meute grölte vor Lachen. Sämtliche Beherrschung fiel nun von ihr ab. Seinen verdammten Hintern wollte sie nicht mal mit einem Müllpieker berühren.

»Sprich mich nie wieder an und wage es nicht, mich noch einmal anzufassen, sonst breche ich dir beide Arme«, zischte sie und schmetterte mit einer einzigen kraftvollen Bewegung das Telefon zu Boden.

Trotz des anhaltenden Gelächters hörte sie, wie das Display in tausend Teile zersprang.

»Bist du völlig behindert?«

Jegliche Farbe wich aus Thomas‘ Gesicht. Sogar sein Hofstaat verstummte. Auch Emi schwieg. Sein Gesichtsausdruck machte das Ganze nur noch besser. Beinahe hätte sie laut gelacht. Einerseits befriedigte der Akt der Zerstörung sie auf eine ungewohnte Weise. Andererseits erschreckte es sie, dass sie zu dieser Tat noch immer fähig war.

»Du scheißbescheuerte Schlampe!«, wütete Thomas weiter.

In diesem Augenblick trat der Studioleiter aus seinem Büro, dessen Eingang sich hinter der Bar befand. Er musste von drinnen alles mit angehört haben.

David füllte mit seinen breiten Schultern fast den kompletten Türrahmen aus und musste sich nicht künstlich aufpumpen, um Autorität auszustrahlen. Er war Ende dreißig und zog aufgrund seiner sportlichen Vergangenheit ein ganz besonderes Publikum an.

»Was ist hier los?«, wütend schaute er zwischen Thomas und ihr hin und her. »Sagt mal, spinnt ihr beide, hier so ein Theater zu machen?«

Sein eisiger Blick duldete keine Ausflüchte. Emi war jedoch immer noch so aufgebracht, dass sie ausnahmsweise einmal nicht darunter einknickte.

Für diese Sache würde sie kämpfen, auch wenn ihr klar war, dass ihre Reaktion auf Thomas dummen Streich unverhältnismäßig war. Er hatte eine Strafe verdient.

»Diese untervögelte Zicke hat mein Handy gecrasht«, platzte Thomas sofort heraus.

Natürlich vergaß er, zu erwähnen, was dazu geführt hatte. Stattdessen starrte er sie hasserfüllt an.

Eine triumphierende Stimme flüsterte ihr ins Ohr, dass sie nun wenigstens nicht mehr fürchten musste, von ihm angemacht zu werden.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte, um ihr Lachen zu verbergen. Noch immer waren alle Augen auf sie gerichtet.

»Was guckt ihr denn so?«, fragte sie amüsiert.

Unter normalen Umständen wäre ihr spätestens jetzt diese Situation unglaublich peinlich gewesen, doch das Adrenalin in ihrem Körper ließ diese Reaktion nicht zu. Erst langsam ebbte die Wut ab und ließ rationalem Denken wieder Raum.

Als hätten sie plötzlich dringende Dinge zu erledigen, verschwanden die Muskelprotze von der Theke und zerstreuten sich auf die Trainingsflächen. Auch die Auszubildende war verschwunden und hatte die Drei allein zurückgelassen.

David starrte sie an, als erwartete er eine Rechtfertigung für diese Anschuldigung.

»Er hat meinen Unterricht gestört und meine Schüler mit einem dummen Streich verärgert«, erklärte sie ihre Reaktion gefasst und hob das Kinn. »Das muss ich mir nicht bieten lassen!«

Der Studioleiter drehte den Kopf und richtete die nächste Frage an den zweiten Übeltäter.

»Thomas, stimmt das, was sie sagt?«

Das Recht war auf ihrer Seite. Thomas hatte viel mehr Mist gebaut. Sein Verhalten war geschäftsschädigend.

»Ja, aber das war im Grunde nichts. Sie muss deshalb doch nicht so ausrasten«, spielte er die Situation runter. »Ich kann doch nichts dafür, dass die Alte keinen Sex hat.«

David schnitt ihm das Wort ab und machte dem Theater ein Ende.

»Das reicht jetzt. Kommst du bitte mal in mein Büro?«

Ein winziges Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, vorbei an der Wut und dem Hass. Endlich bekam der Prolet, was er verdiente. Vielleicht wurde er sogar gefeuert und sie musste sich gar nicht erst überlegen, wie sie ihm künftig aus dem Weg gehen konnte.

Sie wartete darauf, dass Thomas der Aufforderung folgte, doch er rührte sich nicht vom Fleck.

»Emi, kommst du bitte?«, wiederholte David mit Nachdruck.

Das war einfach nicht zu fassen. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie schockiert sie über diese unerwartete Wendung war. Ihre Beine trugen sie wie auf Wolken in das Büro. Inzwischen dämmerte ihr, dass sie diese Schlacht nicht für sich entschieden hatte.

Vorsichtshalber schloss sie die Tür hinter sich. Es musste schließlich niemand mithören, wie sie zur Schnecke gemacht wurde. David stand hinter seinem Schreibtisch und legte die Hände auf die Rückenlehne des Drehstuhls.

»So, jetzt mal im Ernst, Emi. Was sollte das?«

Die Euphorie des Sieges wich einem Kater. Wie hatte sie nur so ausrasten können?

Keine Frage, der Typ war mehr als nervig, aber sie war seit Jahren nicht so aus der Haut gefahren. Er musste etwas an sich haben, dass sie in ein Verhaltensmuster fallen ließ, von dem sie glaubte, es bereits seit ihrer Jugend hinter sich gelassen zu haben.

»Wenn er mich bedrängt oder mir blöde Streiche spielt, sagt keiner was«, motzte sie. »Aber wenn ich mich mal wehre, dann schreitest du plötzlich ein und stellst dich auf seine Seite, ja?«

Selbst in ihren eigenen Ohren klangen die Worte wie die eines kleinen Mädchens, das nicht zugeben wollte, dass es Mist gebaut hatte.

Jetzt war es an David, über sie den Kopf zu schütteln. Entweder wollte er sie nicht verstehen oder er konnte es tatsächlich nicht. Seine Standpauke ließ keinen Zweifel daran, dass er sich eine andere Yogalehrerin suchen würde, wenn sie keinen Weg fand, in Zukunft mit Thomas zurechtzukommen.

Das erschien ihr jedoch nach dem heutigen Höhepunkt nicht mehr möglich. David urteilte nicht fair. Thomas war eine im günstigsten Fall eine Plage und im schlimmsten Fall eine Gefahr.

Unter diesen Umständen konnte sie nicht hierher zurückkehren. Wie sich das auf ihre finanzielle Stabilität auswirkte, konnte sie sich jetzt schon ausmalen…

KAPITEL ZWEI

MANCHMAL HILFT NUR KÜRBIS

EMI

Völlig erschöpft sank sie in ihre Sofakissen. Schon zum dritten Mal an diesem Abend versuchte sie, ihre beste Freundin Miriam ans Telefon zu bekommen.

Leider antwortete ihr stets nur der Anrufbeantworter. Die Redakteurin bei einem Frauenmagazin drehte seit Monaten energisch jeden Stein der Stadt auf der Suche nach ihrem Traummann um.

Emi bewunderte ihre Beharrlichkeit. Nach jeder Enttäuschung rappelte sie sich wieder auf und ging erneut auf die Suche. Zuletzt hatte sich der vermeintliche Prinz nach ihrem eigentlich ganz gelungenen Date – wie Miriam es beschrieben hatte – nicht mehr gemeldet.

Immer wieder fragte Miriam ausgerechnet Emi nach Tipps, was sie regelmäßig zum Lachen brachte. Natürlich wusste Miriam, dass ihre Freundin keine Ahnung hatte, wie man seinen Seelengefährten fand, sonst hätte sie ihn ja längst an ihrer Seite.

An diesem Abend hätte ausnahmsweise einmal Emi das offene Ohr ihrer Freundin gebraucht, um sich ihre Probleme von der Seele zu reden. Doch die hatte wohl beschlossen, den Abend außer Haus zu verbringen und ihr Telefon lautlos geschaltet.

Es war zum aus der Haut fahren. Die ganze Aufregung waren weder das Studio noch die beiden Kerle wert, die ihr seit Stunden durch den Kopf geisterten. Der Vorfall würde in ihrer Laufbahn irgendwann belanglos erscheinen und auf Partys für einen Witz herhalten.

‘Weißt du noch damals, als Emi in diesem komischen Fitnessstudio dem Typen das Handy zerschmettert hat…’ Alle werden herzlich lachen und niemand könnte sich vorstellen, dass es wirklich so abgelaufen ist.

Das Chrome Fitness war eine Zwischenstation auf ihrer Reise und diese Zeit würde vorbeigehen – ganz egal, ob sie sich dort mit Ruhm bekleckerte oder nicht.

Allein in der Wohnung fiel ihr zunehmend die Decke auf den Kopf. Der Kühlschrank war leer und ihr Magen knurrte. Die einzig logische Konsequenz war ein Besuch bei einer anderen Freundin. Sofort dachte sie an Sonja, die ebenfalls zu jeder Tages- und Nachtzeit ein offenes Ohr für sie hatte.

Die gelernte Köchin arbeitete an ihren freien Tagen hart daran, ein Konzept für ein eigenes Restaurant auf die Beine zu stellen. Wann immer sie einen Abend frei hatte, bastelte sie in ihrer Küche an ausgefallenen veganen Rezepten, die sie auf ihre künftige Speisekarte schreiben konnte, und war immer dankbar für Testesser.

Emi machte sich auf den Weg zu Sonja, ohne vorher anzurufen. Bei ihrer Freundin war sie jederzeit willkommen.

Leider hatte sie nicht mit dem Platzregen gerechnet, der einsetzte, als sie auf halben Weg zu Sonjas Wohnung war. Blitz und Donner brachen über sie ein. Binnen Sekunden war sie bis auf die Unterwäsche durchnässt.

Vor dem Mehrfamilienhaus drückte sie auf die Klingel.

»Hallo?«, erklang die samtweiche Stimme ihrer Freundin aus der Gegensprechanlage.

»Ich bin’s, Emi«, bibberte sie. »Hat das Chez Fratz noch geöffnet?«

»Für dich immer!«

Der Summer ertönte, Emi drückte gegen die Tür und trat ihre Füße auf der Fußmatte ab. Die nassen Turnschuhe quietschten dennoch auf den lackierten Holzstufen der Treppe.

Ihre Bemühungen, leise zu gehen, um die hellhörigen Nachbarn nicht zu verärgern, waren vergebens. Sie erreichte den Treppenabsatz und blickte in Sonjas skeptisches Gesicht.

Ihre Mutter kam aus China, ihr Vater war Deutscher. Die Tochter war ein ungewöhnlicher Mix aus beiden. Das dunkelbraune Haar, die mandelförmigen Augen und die zierliche Figur hatte sie von der mütterlichen Seite.

Doch wer mit ihr telefonierte, hatte keine Chance, ihre asiatischen Wurzeln zu erahnen. Sie war schonungslos direkt und sprach ein absolut akzentfreies Deutsch.

»Warte hier und rühr dich nicht vom Fleck.«

Mit spitzen Fingern zog sie Emi an der klatschnassen Jacke in die Wohnung und verschwand in ihrem Schlafzimmer.

Der Duft nach Kürbis erfüllte den Raum, obwohl die Fenster weit geöffnet waren. Emi war gerade im Begriff, sich auf einen der Hocker an der Kücheninsel zu setzen, die den Koch- vom Wohnbereich trennte, als Sonja wieder hinter ihr auftauchte.

»Hier, zieh das an«, drängte Sonja und drückte ihr einen Stapel Kleider in die Hand. »Du bist ganz nass. Ich will nicht, dass du dich erkältest.«

Jeglicher Widerspruch war zwecklos. Sie trug den Stapel wie befohlen in das schlauchförmige Bad, und hängte ihre feuchte Kleidung auf die Wäscheleine über der Badewanne. In Sonjas schlammgrüner Sweathose und einem ausgeleierten grauen T-Shirt kehrte sie schließlich warm und trocken in die Wohnküche zurück.

»Du kommst gerade richtig. Ich probiere etwas Neues und du bist mein liebstes Versuchskaninchen.«

Sonja lachte verschmitzt und wand sich dann dem erleuchteten Ofen zu. Sofort fühlte Emi sich besser.

Sie kletterte auf einen der Barhocker an der Theke und spähte ebenfalls in den Ofen. Schmale Spalten eines Hokkaidokürbis lagen dort in einer Kräuterkruste und garten vor sich hin.

Sonja nahm einen Topf aus der Schublade unter dem Herd, der sich in der Kochinsel befand, und gab etwas Nussmus, Wasser und eine Mischung von Gewürzen hinein. Während die Mischung erwärmt wurde, griff sie nach einem Weinglas und schenkte Emi einen Traubensaft ein.

»Du magst Kürbis, oder?«

Emi zog zaghaft die Mundwinkel nach oben, aber es gelang ihr nicht, die negativen Gedanken zu verdrängen. Sie liebte Kürbis. Doch ihr Ausraster im Studio irritierte sie noch immer zutiefst. Sie konnte sich nicht erklären, was da eigentlich passiert war.

Oder doch, eigentlich konnte sie das wohl. Sie wollte sich nur nicht eingestehen, dass es so war. Seit Jahren hatte sie nichts mehr aus Wut zerdeppert. Nachdem sie damals Yoga für sich entdeckt hatte, wurde sie ausgeglichener und bekam ihre Aggressionen in den Griff.

Mittlerweile schob sie diese früheren Ausbrüche auf eine pubertäre Phase und sie hatte bis heute gehofft, dass diese Charakterzüge von damals überhaupt nicht zu ihrer wahren Persönlichkeit gehörten.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, erkundigte sich Sonja. »Was ist denn heute los mit dir?«

Sie hörte auf, in der Sauce zu rühren, und sah sie eindringlich an. Tatsächlich hatte Emi nicht so recht mitbekommen, was ihre Freundin gesagt hatte.

»Ach, es ist nichts«, winkte sie ab, weil sie die Köchin nicht mit ihren Gedanken belasten wollte. »Wie hat dir denn der Laden heute Nachmittag gefallen?«

Die Augen ihrer Freundin begannen wie erhofft bei dem Thema zu strahlen. Emi erinnerte sich, dass es in ihrer Nachbarschaft eine leerstehende Immobilie gab, für die Sonja einen Besichtigungstermin vereinbart hatte.

»Es war wohl früher mal eine Sushi-Bar. Eine Theke steht noch drin. Die könnte ich zur Show-Küche umbauen lassen«, berichtete sie eifrig. »Der Preis passt auch. Mal sehen, was mich der Umbau kosten würde. Ich lasse mir jetzt ein Angebot von einer Tischlerei und einem Elektriker machen. Dann entscheide ich.«

Sonja hatte in den vergangenen Jahren viel für ihren großen Traum angespart. Jeden Cent legte sie für das Projekt beiseite. Sie gönnte sich keinen Urlaub und nahm jede Möglichkeit für Überstunden wahr.

»Das freut mich«, Emi strahlte zurück. »Ich verteile auf jeden Fall überall im Viertel Flyer für dich!«

Für die pragmatische Sonja war das Thema damit bereits erledigt. Keine Schwärmereien von großen Träumen, keine Visualisierungen von ihrem Erfolg… Das würde alles warten müssen, bis es sich eingestellt hatte, falls sie dann Zeit zum Feiern fand.

»Also erzähl, was ist bei dir passiert?«

Ihr Blick bohrte sich beinahe schmerzhaft in Emis Kopf. Ein weiterer Versuch, auszuweichen, war genauso sinnlos wie ein Widerspruch gegen die aufgedrängte Kleidung. Hinterher würde Emi sich besser fühlen, ebenso wie in den trockenen Kleidern.

Sonja stemmte ihre Hände auf die Arbeitsplatte und lehnte sich über den Herd nach vorn. Sie seufzte und stützte den Kopf auf die Hände.

»Okay, ich habe eine Abmahnung in dem blöden Fitnessstudio in der Torstraße kassiert«, gab sie zerknirscht zu.

»Was? Du?« Sonja schnappte nach Luft. »Das gibt’s doch gar nicht! Wofür kann man dich denn abmahnen?«

Wie auf ein unhörbares Signal drehte sie sich um und zog den Kürbis aus dem Ofen. Sie arrangierte einige Spalten auf einem hellgrauen Teller und gab Sauce in einem Zickzack-Muster darüber. Zusammen mit einer kleinen Gabel reichte sie Emi das Gericht.

»Ich bin total durchgedreht. Keine Ahnung, was mich da geritten hat« erklärte sie.

Es war ihr peinlich zuzugeben, dass sie das Smartphone ihres Kollegen auf den Boden geworfen hatte. Sie war sicher, dass mindestens das Display dabei kaputt gegangen war und hoffte, dass das Gerät überhaupt noch funktionierte.

Sicher würde sie für den entstandenen Schaden aufkommen müssen. Trotzdem war sie der Meinung, dass Thomas diesen Denkzettel verdient hatte.

Sonja starrte sie verständnislos an. Ohne den Rest der Geschichte konnte sie unmöglich verstehen, was sie meinte, also holte Emi aus und erzählte ihrer Freundin alles von Anfang an.

»Ich hab dir doch neulich schon mal von diesem Trainer erzählt, der alles anbaggert, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Erinnerst du dich?«

Als Sonja bestätigend nickte, fuhr sie fort und erklärte, was Thomas sich geleistet hatte.

»Die ganze Klasse wurde unruhig und dann sind alle gegangen«, schloss sie ihre Ausführungen.

Obwohl sie genau das um jeden Preis vermeiden wollte, traten ihr Tränen in die Augen. Sie wollte wegen dieses Idioten nicht auch noch heulen.

Er verdiente es nicht, dass sie ihm und seinem Verhalten so viel Aufmerksamkeit beimaß. Verärgert wischte sie sich die Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln und setzte ihre Erzählung fort.

»Ich war einfach so wütend und als er dann auch noch vor seinen dümmlichen Freunden frech geworden ist, habe ich sein blödes Telefon einfach auf den Boden geschmettert.«

»Nicht dein Ernst«, entfuhr es Sonja.

Emi fühlte sich nun noch ein bisschen elender als zuvor.

»Ich weiß auch nicht, was mit mir los war, aber dieser Typ macht mich total wahnsinnig. Seine ständigen Anmachen nerven mich und dass er kein ‚Nein‘ akzeptiert macht mir sogar ein bisschen Angst«, gestand sie und ließ resigniert die Hände sinken.

Sonja schüttelte erneut den Kopf. Emi fürchtete schon, sie verschreckt zu haben. Schließlich kannte sie diese Seite von ihr nicht. Sie selbst hatte ja bis vor wenigen Stunden geglaubt, sie könnte niemals derartig ausrasten.

»Wahrscheinlich hat er ziemlich dumm geguckt, oder?«

Emi musste schmunzeln. Die Erinnerung war unbezahlbar.

»Ja, du hättest sein Gesicht sehen sollen! Dafür hat es sich fast schon wieder gelohnt. Leider war der Chef nicht unserer Meinung und hat mich danach ganz schön zusammengeschissen.«

Sonja nickte.

»Jetzt iss erstmal was, bevor du mir vom Fleisch fällst.«

KAPITEL DREI

ZWEI FÄUSTE FÜR EINEN TODESFALL

CHARLOTTE

Die ersten drei Wochen des Oktobers hatte Charlotte Rothenburg nun an der Seite ihres Partners Peter Stelter verbracht, den nur noch ein knappes Jahr von seinem Ruhestand trennte.

Seit der Kindheit war es ihr Traum gewesen, beruflich irgendwann zur Kriminalpolizei zu kommen. Nach drei Jahren auf Streife in den Straßen Berlins hatte sie es geschafft.

Die erste Zeit bei der Truppe war überraschend langweilig. Nicht einen einzigen untersuchungsbedürftigen Todesfall hatte es in Berlin seit ihrem Wechsel in die Mordkommission gegeben und der Monat war schon fast vorbei.

Kaum zu glauben.

Kein Mord, kein Totschlag, einfach nichts dergleichen.

Charlotte sehnte einen Fall so sehr herbei, damit sie endlich etwas zu tun bekam und sich beweisen konnte. Sie wollte Rätsel, Herausforderungen und Action.

Im Augenblick war die einzige Action, die sie bekam, ein Abend allein vor dem Fernseher. Nicht gerade das, was sie sich darunter vorstellte. Dann und wann schaffte sie es nach der Arbeit noch zum Sport, doch meistens fehlte ihr nach dem trägen Bürotag sogar dafür der Elan.

Das Telefon auf ihrem Schreibtisch schrillte. Sie hasste das Geräusch, aber es löste den Adrenalinschub aus, den sie für einen Einsatz brauchte.

»Rothenburg hier, hallo?«

»Liebes, ich bin’s.« Sie erkannte die Stimme ihrer Mutter am anderen Ende der Leitung und sank seufzend gegen Lehne des Drehstuhls.

»Was gibt’s?« Es tat ihr ehrlich leid, dass sie so enttäuscht klang, aber sie hatte gehofft, es wäre endlich jemand unter mysteriösen Umständen gestorben.

Ein Blick auf die Uhr an der Wand verriet ihr, dass es erst kurz nach acht war. Sie war nicht mal eine halbe Stunde im Büro und wusste schon jetzt nicht mehr, womit sie den Rest des Tages verbringen sollte. Vielleicht sollte sie sich mit Origami-Anleitungen aus dem Internet die Zeit vertreiben. Papier gab es im Büro genug.

Ihr Partner war ein alter Hase. Er hatte im Präsidium viele Freunde, mit denen er in der ungewohnt ruhigen Phase Kaffee trank oder über alte Fälle fachsimpelte. Charlotte kannte allerdings noch niemanden näher und tat sich allgemein schwer mit Smalltalk.

So saß sie meist den ganzen Tag auf ihrem Stuhl im Büro, starrte abwechselnd an die Wand und durchsuchte das Internet nach aktuellen Nachrichten. Alles in Allem eine so unbefriedigende Situation, dass sie am liebsten wieder Streife gefahren wäre. Derartige Langeweile erlebte sie auf der Straße nie.

»Du klingst müde, mein Schatz«, befand ihre Mutter, die die Enttäuschung ihrer einzigen Tochter glücklicherweise nicht auf sich bezog.

»Ja, es ist gestern Abend etwas spät geworden«, gab Charlotte antriebslos zurück.

»Oh, hast du endlich deinen ersten Fall?« Die Aufregung in der Stimme ihrer Mutter war herzergreifend. Wie gern hätte sich ihre Mutter mit ihr über einen Mord gefreut…

»Leider nein, ich habe nur die halbe Nacht vor dem Fernseher verbracht«, erklärte sie seufzend. »Ich bin einfach nicht von meiner Serie losgekommen.«

Wenn sie schon bei der Arbeit keine Fälle hatte, sah sie sich zuhause Krimiserien an. Sie kannte fast alle. Am liebsten waren ihr die Serie mit dem Schriftsteller und die mit dem schrägen ehemaligen Junkie, der mit seinen genialen Ermittlungsfähigkeiten der Polizei half.

Ob sie selbst mal einen solchen Sidekick haben wollte, wusste sie allerdings nicht. Die Cops in den Serien hatten unter den eigenwilligen Helfern oft ganz schön zu leiden, obwohl am Ende die Fälle alle aufgeklärt wurden.

Ihre Mutter gab nun ihrerseits einen Laut der Enttäuschung von sich und kam dann auf den eigentlichen Grund ihres Anrufs zu sprechen.

»Am Wochenende grillen wir ja bei uns. Das weißt du hoffentlich noch.«

»Natürlich, das wird mein Wochenhighlight, Mama.«

»Ich wünsche dir zwar ein bisschen mehr Aufregung im Leben, aber ich freue mich, dass du dich freust.« Sie hörte ihre Mutter kichern. »Ich könnte ein bisschen Hilfe bei der Vorbereitung gebrauchen, wenn du es einrichten kannst.«

»Klar, kann ich«, erklärte Charlotte.

Ihre Mutter diktierte ihr eine lange Einkaufsliste. Sie schrieb sorgfältig mit und versprach, ihr die Einkäufe am Nachmittag vorbeizubringen.

An Freizeit würde es ihr kaum mangeln. Überstunden waren ohne Morde nicht zu erwarten. Kaum hatte sie aufgelegt, da tauchte Polizeihauptkommissar Stelter in der Tür auf und trommelte mit den Fingerspitzen gegen den Türrahmen.

»Auf, auf«, trieb er sie an. »Wenn Sie endlich fertig mit ihren Privatgesprächen sind, können wir ja arbeiten, oder haben Sie andere Pläne?«

Charlotte sprang auf. Ein bisschen ertappt fühlte sie sich schon, aber die Freude darüber, dass es endlich etwas zu tun gab, war größer. Was auch immer es war, es verlieh ihrem Tag Farbe.

Sie folgte ihrem Partner durch das Treppenhaus auf den Parkplatz hinunter und stieg auf der Beifahrerseite ein. Er mochte es nicht, wenn sie fuhr. Im Wagen fasste er die vorhandenen Informationen für sie zusammen.

»Wir haben einen männlichen Toten in einem Fitnessstudio. Die Reinigungskraft hat ihn am Morgen beim Putzen gefunden.«

Das klang vielversprechend. An einem schwachen Herzen war der Mann hoffentlich nicht gestorben.

In der belebten Torstraße hielt Stelter in zweiter Reihe an und sprang aus dem Auto, ehe Charlotte überhaupt begriff, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Sie hatte nicht gewusst, dass es hier ein Fitnessstudio gab, aber die Wagen von Polizei und Rettungsdienst auf dem Fußweg ließen keinen Zweifel daran, dass dies ihr Einsatzort war.

Draußen zündete Stelter sich erstmal eine Zigarette an. Sie nutzte den Moment und sah sich um. Im Eingang eines Geschäfts für Sportlernahrung stand ein uniformierter Polizist.

So schnell er aus dem Wagen gesprungen war, so langsam schlenderte Stelter auf den Shop zu. Sie folgte ihm mit einigem Abstand und ließ die Gegend auf sich wirken.

Die Fitnessstudios, die sie kannte, befanden sich nicht in Wohnhäusern. Nebenan lagen ein Blumenladen und ein Immobilienbüro. Gegenüber jenseits der Bahnschienen gab es einen arabischen Imbiss.

Stelter sprach den Beamten in der Eingangstür an. Sie näherte sich den Beiden, um möglichst viel von dem Gespräch mitzubekommen. Nach einer halben Zigarette und ein wenig Geplauder trat Stelter die Kippe aus und winkte Charlotte, ihm hinein zu folgen.

Im Inneren offenbarte sich Charlotte Ungeahntes. Der Verkaufsbereich war nur der kleinste Teil des Ladens. Zwischen dem Tresen und den Regalen befand sich ein breites Drehkreuz, durch welches man in den weit größeren Teil gelangte, der tatsächlich ein vollwertiges Fitnessstudio auf zwei Etagen beherbergte.

Der Tresen setzte sich auch im Inneren des Studiobereichs als Bar fort. Dahinter abgeschirmt lag eine Tür zu einem Büro. Sie konnte durch das Fenster in der Tür einen Schreibtisch und ein billiges Regal mit Aktenordnern erkennen.

An der Wand hingen Fotos der Mitarbeiter, mit deren Namen darunter. Jeder von ihnen war in einem schwarzen T-Shirt fotografiert worden. Vielleicht handelte es sich dabei um eine Art Arbeitsuniform. Nur einer stach heraus. Er trug auf dem Foto ein weißes Hemd und ein graues Sakko. Ein attraktiver Typ, dessen muskulöser Körper dem Anzug einiges abforderte.

Stelter war bereits weitergegangen und erklomm schwerfällig eine Metalltreppe ins Obergeschoss. Sie folgte ihm mit federnden Schritten. Oben angekommen bog er nach rechts ab, wo sie schließlich die Leiche in einem Übungsraum fanden.

Ein Mann mit grau meliertem Haar kniete neben dem Opfer. Mit dem Blick eines Experten nahm er die Situation auf und betrachtete den Toten vor sich eingehend.

»Herr Dr. Markow, das ist meine Kollegin Frau Rothenburg«, stellte Stelter sie vor.

Der Gerichtsmediziner sah auf und neigte den Kopf um wenige Grad. Mit einem eindringlichen Blick fixierte er sie, wie bei einer Wareneingangsprüfung. Ob sie in seinen Augen eher ein Kunstwerk oder ein Käse war, blieb ihrer Fantasie überlassen.

Offenbar bestand sie den Test. Er hob zwei Finger seiner behandschuhten Hand zum Gruß. Der Mediziner hatte etwas von einem intellektuellen Abenteurer – Typ Indiana Jones. Seine Augen strahlten angesichts der Leiche Forschergeist und kindliche Freude zugleich aus.

»Was können Sie uns sagen?«, ging Stelter sogleich zum eigentlichen Grund ihres Treffens über. Keine Zeit für den Austausch von Nettigkeiten.

»Männlicher Toter, stark blutende Kopfwunde, vermutlicher Todeszeitpunkt zwischen 22 Uhr gestern Abend und 2 Uhr heute früh. Genaueres gibt es wie immer erst, wenn ich ihn auf dem Tisch habe«, fasste der Mann ebenso knapp zusammen.

»Wir können also davon ausgehen, dass er einen Schlag auf den Kopf bekommen hat?«

Charlotte fand Stelters Ton dem Mediziner gegenüber einen Hauch zu forsch. Immerhin stand er hier einem Profi gegenüber, der den Job vermutlich auch nicht erst seit gestern machte. Aber sie wollte ebenso loslegen und dafür brauchten sie zunächst eine plausible Annahme über den Ablauf, mit der sie in die Ermittlung starten konnten.

»Meine bisherigen Erkenntnisse würden diese Vermutung unterstützen.«

Der Arzt lehnte sich nicht besonders weit aus dem Fenster. Stelter und er umtanzten sich verbal wie zwei Gockel vor dem Hühnerstall, obwohl sie außer Charlotte und der Leiche kein Publikum hatten. Sie wandte sich ab, um ihnen auch noch die letzte Bühne zu entziehen.

Der tote Mann lag auf dem Bauch. Er trug ein schwarzes T-Shirt und eine graue Jogginghose – genau wie die Angestellten auf den Fotos im Erdgeschoss.

Ständer voller Kurz- und Langhanteln, einzelner Scheiben und stapelweise Stepperbretter standen an den verspiegelten Wänden des Trainingsraums. Es gab weder Regale noch Schrägen, an denen er sich den Kopf hätte stoßen können. Ein Unfall erschien daher unwahrscheinlich.

Überhaupt konnte sie auf keinem Objekt im Raum Blutspuren erkennen. Jemand musste es entfernt haben, nachdem der Tote zu Boden gegangen war. Die Blutlache um den Kopf des Mannes ließ vermuten, dass er sich nach dem Schlag nicht mehr bewegt hatte.

Ein sonderbarer Geruch, der nicht in dieses Szenario passte, irritierte ihre Nase. Es dauerte einen Moment, bis sie es einordnen konnte. Jemand roch intensiv nach Rasierwasser oder hatte heute morgen viel zu großzügig sein Eau de Toilette aufgesprüht. Stelter war es nicht, das wäre ihr eher aufgefallen.

Sie trat einen Schritt näher an den Mediziner und schnüffelte. Der Geruch wurde stärker.

»Ja, mir ist es auch aufgefallen. Der Herr war bei seinem Duft wohl sehr überschwänglich«, bestätigte Dr. Markow.

Charlotte nickte. Das erste Rätsel war damit gelöst. Von dem Arzt erwartete Stelter scheinbar keine weiteren Informationen, denn auch er richtete seine Aufmerksamkeit nun auf die Umgebung. Mit langsamen Schritten ging er die Seiten des Raums ab und begutachtete, was herum lag – genau wie Charlotte es selbst Sekunden zuvor getan hatte.

Sie vermutete aus ihrer Erfahrung mit öffentlichen Fitnessstudios, dass in diesem Raum vorwiegend Kurse abgehalten wurden. Vermutlich auch solche, bei denen Gewichte an Langhanteln oder den aktuell trendigen Kettlebells verwendet wurden. Eine ganze Reihe dieser Kugelhanteln säumte die Wand neben der Eingangstür.

Mit Hilfe von solchen Kursen hatte sie sich während ihrer Ausbildung auf der Akademie auf ein Fitnessniveau gebracht, das sie seitdem nie wieder erreicht hatte. Während ihrer Zeit auf Streife durch Berlins Straßen war sie zu Pilates gewechselt, wobei sie ihren Körper weniger Stress aussetzte und dennoch die Muskeln trainierte, die sie im Alltag brauchte.

»Hatte er Papiere dabei?«

Schon während sie die Frage aussprach, kam sich Charlotte ein wenig weltfremd vor. Niemand steckte ein Portemonnaie in die Sporthose, wenn er es ebenso gut im Spind einschließen konnte.

Die Umstände und die Kleidung des Mannes gaben Anlass zur Vermutung, dass es sich um einen Mitarbeiter handeln könnte. Wenn sie das Gesicht mit denen auf den Fotos unten verglich, würde sie bestimmt den passenden Namen schnell ausfindig machen. Es war trotzdem interessant, was in seinen Taschen gefunden wurde.

»Nein, nichts. Nicht mal ein Smartphone. Es ist erstaunlich, dass er ohne eins dieser Dinger auch nur fünf Minuten überlebte.« Ein Schmunzeln erschien auf dem Gesicht des Arztes. »Aber das hat er ja vielleicht auch nicht.«

Der Witz war zwar nicht zum Schreien komisch, doch der Mann hatte eindeutig Grundzüge von Humor. Nicht schlecht!

Das vermisste Telefon war sicher mit seinem Geldbeutel im Spind.

Stelter war verschwunden. Sie zuckte die Achseln und ging hinaus. Abgesehen davon, dass es sich in einem Mehrfamilienhaus befand, war dies ein absolut durchschnittliches Fitnessstudio. Kursräume und Umkleidekabinen oben, moderne Geräte und Freihantelbereich unten.

Ihr älterer Kollege stand vor der Tür und rauchte. Schon wieder. Diese Angewohnheit würde ihn eines Tages noch ins Grab bringen.

KAPITEL VIER

DER TEUFEL TRÄGT ANZUG

CHARLOTTE

Schweigend trat sie neben ihren Partner, als eine schwarze Limousine hinter dem Dienstwagen hielt. Die Fahrertür wurde aufgerissen und ein großer Mann mit bemerkenswert breiten Schultern stürmte heraus.

Eine eindrucksvolle Gestalt. Kurze dunkle Haare, maskuline Züge, maßgeschneiderter Anzug. Charlotte gefiel durchaus, was sie sah, doch dies war kein Speeddating im Club, sondern ihr Arbeitsplatz. Hier musste sie professionell bleiben und durfte ihn nicht anstarren.

»Was ist denn hier los?«

Sein Ton war fordernd und duldete keinen Widerspruch. So sehr sie dominante Männer auch ansprachen, waren sie hier am Ruder, er hatte gar nichts zu sagen. Charlotte trat ihm einen Schritt entgegen und wusste, dass Stelter ihr Rückendeckung geben würde, wenn es nötig wurde. Er musste. Er war ihr Partner und als guter Partner würde er ihr helfen, an ihren Herausforderungen zu wachsen.

»Mein Name ist Charlotte Rothenburg. Ich bin von der Kriminalpolizei«, flötete sie mit übertriebener Freundlichkeit, während sie ihm ihren Dienstausweis vor die Nase hielt. »Und Sie sind?«

Solchen Typen begegnete man am besten freundlich aber bestimmt, so hatte sie es auf den Straßen der Hauptstadt gelernt. Von seinem forschen Ton ließ sie sich im Job nicht einschüchtern. Auf Berlins Straßen hatte sie schon ganz andere Kaliber vorgesetzt bekommen.

Der Mann wischte sich hastig die Hände am Sakko ab und reichte ihr dann seine Rechte. Sie war ebenso groß und kräftig wie der Rest von ihm versprach.

»David Bräuer«, stellte er sich vor und deutete auf das Studio hinter ihr. »Das hier ist mein Laden und ich wüsste echt gern, was hier abgeht.«

Sie dachte gar nicht daran, die freundliche Dame von der Information zu spielen. Entweder war dieses Fitnessstudio eine Goldgrube oder dies war nicht seine einzige Einnahmequelle, schätzte sie. Er sah viel zu sehr nach Geld aus. Im Kopf ratterte sie mögliche Quellen für Zusatzeinnahmen runter.

Nichts, was ihr spontan einfiel, war legal.

Er machte ohnehin nicht den Eindruck eines Menschen, der sich ausschließlich im Rahmen der geltenden Gesetze bewegte, wenn interessante Gelegenheiten auf ihn warteten. Betrug, Drogen, Prostitution, Menschenhandel – um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Ihr Blick wanderte an seinem Arm empor und sie kam nicht umhin, seine Statur auch noch einmal aus der Nähe zu bewundern. Um ihm ins Gesicht sehen zu können, musste sie den Kopf ein wenig in den Nacken legen, wenn er so dicht vor ihr stand. Sie schätzte ihn auf knapp zwei Meter.

Ein Mann absolut nach ihrem Geschmack. Sie mochte es, wenn Männer wussten, was sie wollten, und dabei aussahen, als bekämen sie das gewöhnlich auch. Seine stahlblauen Augen strahlten eine tiefe Ruhe aus. Zu dumm, dass sie ihm ausgerechnet auf diese Weise über den Weg lief.

»Sind Sie immer so früh hier?«

Natürlich war er das nicht.

Sie hatte schon beim Eintreten einen Blick auf die Öffnungszeiten geworfen, die in großen Lettern an der Scheibe standen. Der Laden öffnete erst um zehn. Wenn er darüber log, war er dümmer, als er aussah.

»Nein, ich bin nur vorbeigefahren und habe gesehen, dass hier der Teufel los ist. Was zur Hölle ist denn passiert?«

Diesen Test hatte er also bestanden. Total bescheuert war er nicht. Sie warf einen Blick zu Stelter. Er trat seine Zigarette aus und gab ihr zu verstehen, dass er sich um den Mann kümmern würde.

Er trat um sie herum, nahm Bräuer am Oberarm und führte ihn hinein. Charlotte sah den beiden nach. Froh, dass Stelter ihn ihr abgenommen hatte, bewunderte sie seine Rückansicht. Die Intervention des alten Mannes hatte ihr geholfen, sich nicht vollends in ihrer Bewunderung zu verlieren.

Zum Glück hatte weder Stelter noch Bräuer davon eine Ahnung. Ihre Zuneigung zu Typen wie ihm, hatte ihr nichts als Ärger eingebracht.

Okay, Ärger und eine Menge Spaß, wenn sie ganz ehrlich war. Doch sie war sicher, dass dieser Mann in dem Fall noch eine entscheidende Rolle spielen würde – auf die eine oder andere Weise.

Zunächst würde er Stelter hoffentlich sagen, wer das Opfer war und wo er seine privaten Sachen verwahrte. Sie machte sich ihrerseits auf die Suche nach der Putzfrau, die den Toten gefunden hatte.

In einem Sessel im rückwärtigen Gastronomiebereich des Studios wurde sie fündig. Ein Sanitäter kniete neben ihr und redete ihr gut zu. Sie wirkte aufgelöst und plapperte in einer fremden Sprache vor sich hin.

»Ist sie in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?«, erkundigte sich Charlotte bei dem Mann vom Rettungsdienst.

Er zuckte die Achseln und machte eine abwägende Kopfbewegung.

»Versuchen Sie Ihr Glück.«

Sie stellte sich vor und begann mit einfachen Fragen. Ihr Name, warum sie hier war und wann sie den Mann gefunden hatte – bereits das stellte die Frau, die nur gebrochen deutsch sprach, vor erhebliche Herausforderungen.

Wenige Minuten später war Charlotte dennoch klar, dass sie nicht viel wusste. Der Tote sollte um diese Zeit eigentlich nicht hier sein. Normalerweise war sie morgens allein hier.

Sie hatte den Laden wie immer durch die Hintertür betreten. Der Vordereingang mit der Schiebetür, durch die sie gekommen war, war bei ihrem Eintreffen verschlossen und wie gewohnt mit einem Tor gesichert gewesen. Sie hatte keinen Anlass zu vermuten, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.

Wie immer hatte sie in den Umkleidekabinen mit der Reinigung begonnen und war dann hinüber in die Übungsräume gegangen, wo sie Spiegel und Böden reinigen wollte.

Dort sah sie den Mann am Boden liegen. Nach eigenen Angaben hatte sie ihn nicht angefasst, sondern sofort den Notruf gewählt.

Stelter verließ das Büro hinter dem Verkaufstresen vor dem Eingang gerade, als sie sich ebenfalls wieder im Eingangsbereich einfand. Er schlenderte zum wiederholten Mal vor die Eingangstür, um sich die nächste Zigarette anzuzünden.

Ehe sie sich auf eigene Faust auf die Suche nach dem verschwundenen Telefon machte, bemühte sie sich um einen Informationsabgleich mit ihm.

»Was hat Bräuer Ihnen erzählt?«

Ihr Partner zog einen Mundwinkel nach oben und bedachte sie mit einem Nicken, das sie nicht deuten konnte. Ihr Partner war ihr auch nach drei Wochen noch ein vollkommenes Rätsel.

»Der Tote ist einer seiner Mitarbeiter«, er blickte auf seinen Notizblock. »Thomas Kubica hat als Fitnesstrainer hier gearbeitet. Bräuer macht uns eine Liste der Mitarbeiter und markiert alle, die einen Schlüssel haben.«

»Haben Sie ihn gefragt, wo die Mitarbeiter ihre Sachen verwahrten, wenn sie arbeiten?«

Er zuckte mit die Achseln nicht halb so lässig wie der Sanitäter. Das war wohl ein Nein. Sie gab knapp wieder, was sie von der Putzfrau erfahren hatte. Auf die Sache mit den verschlossenen Türen war Stelter wohl schon von allein gekommen, sonst hätte er kaum nach den Schlüsseln gefragt.

Mehr konnte sie aus Stelter nicht herausbekommen, also marschierte sie wieder hinein und spähte in das Büro. Bräuer saß an seinem Schreibtisch und schrieb etwas auf. Etwas an dem Bild irritierte sie. Dann fiel es ihr auf. Er war Linkshänder.

»Was kann ich für Sie tun, Frau Kommissarin?«

Seine Stimme klang nun deutlich entspannter als noch vor wenigen Minuten. Charlotte kam nicht umhin sich zu fragen, warum ihn der Tod seines Mitarbeiters zu einer solchen Reaktion veranlasste.

»Ich bin auf der Suche nach den privaten Sachen des Toten. Können Sie mir sagen, wo er die verstaut haben könnte?«

Der Besitzer des Fitnessstudios erhob sich kraftvoll aus seinem Stuhl und kam auf sie zu. Der Raum schrumpfte.

Er drängte sich dicht an ihr vorbei und sie nahm einen angenehmen Duft wahr. Er war entweder frisch geduscht oder trug einen sanften Hauch von Rasierwasser. Kein Vergleich mit dem intensiven Geruch des Opfers eine Etage höher.

»Entweder hier vorn in der oberen Schublade oder in seinem Spind im Mitarbeiterraum oben. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen gern alles.«

Charlotte strich ihr schulterlanges blondes Haar zur Seite und legte unwillkürlich ihren Hals frei. So eine blöde Angewohnheit, ärgerte sie sich, aber diese Andeutung eines Flirtversuchs ließ sich nicht rückgängig machen.

Sie zog stattdessen betont konzentriert die Schublade auf. Doch darin fand sie nur das übliche Büromaterial. Von einem Mobiltelefon keine Spur. Sie schüttelte den Kopf.

Lieber hätte sie vermieden, mit diesem attraktiven Mann in einen abgetrennten Raum zu gehen, aber sie wollte dieses Telefon. Mit einer Handbewegung forderte sie ihn auf voranzugehen.

»War Ihr Büro eigentlich über Nacht verschlossen?«

Bräuer drehte sich zu ihr und legte nachdenklich einen Finger über seine Lippen.

»Ja, hier ist immer abgeschlossen, wenn ich das Studio verlasse. Gestern Abend auch.«

Sie ging einige Schritte schweigend hinter ihm und folgte ihm die Treppe hinauf.

»Und als Sie vorhin kamen, war noch alles wie gestern?«

»Ja, alles war an seinem Platz«, bestätigte Bräuer sofort. »Eine Veränderung wäre mir aufgefallen.«

»Und wo verwahren Sie die Bareinnahmen?«

Die Tat sah zwar auf den ersten Blick nicht nach einem Raub aus, aber sie musste das abklären. Nicht auszudenken, wie sich alle über sie das Maul zerreißen würden, wenn sie ein so gewöhnliches Motiv übersah.

»Meine Mitarbeiter schließen die Tageseinnahmen in einem Safe ein, die meisten Leute zahlen aber inzwischen elektronisch. Da ist nicht viel zu holen. Ich kann gleich mal nachsehen«, bot er an.

Sie nickte und ging durch die Tür, die er ihr aufhielt. Dahinter verbarg sich der Umkleideraum für die Mitarbeiter. Es war kaum mehr als eine Abstellkammer.

Ein dutzend Metallspinde nahmen die Rückwand ein. Davor stand eine hölzerne Bank. Hinter ihm fiel die Tür geräuschvoll zu und Charlotte wurde seine Nähe wieder schmerzhaft bewusst.

»Welcher war seiner?«

Er ließ den Blick über die Schränke streifen, verharrte bei dem mit der Nummer 7 und zeigte stumm mit dem Finger darauf. Ein Vorhängeschloss sicherte den Spind gegen unbefugten Zugang.

»Haben Sie etwas, mit dem wir das öffnen können?«

Bräuer reagierte mit einem amüsierten Schmunzeln, das Schmetterlinge in ihrem Bauch aufflattern ließ. Verdammt, er sollte nicht so angetan davon sein, mit ihr ein Schloss aufzubrechen, und sie sollte das nicht toll finden.

»Klar, ich hole kurz einen Bolzenschneider.«

Er verschwand durch die Tür und ließ sie in dem engen Raum allein. Sie hatte sich für viel professioneller gehalten. Seit die Sache mit Erik vorbei war, reagierte sie furchtbar empfänglich auf männliche Reize. Besonders bei Männern, die so komplett anders waren als ihr Ex.

Erik war etwas kleiner und schlanker als der Typ Mann, den sie eigentlich bevorzugte. Er trug seine dunklen Haare verwuschelt und stets ein bisschen zu lang. Sein pieksender Drei-Tage-Bart entsprachen ebenfalls nicht unbedingt ihrem klassischen Beuteschema. Trotzdem hatte der tätowierte Kollege aus dem Rauschgiftdezernat etwas in ihr berührt.

Sie holte tief Luft und stieß sie kraftvoll wieder aus. Keine Flirts im Dienst – eine klare Regel, an die sie sich halten wollte.

Als der Studiomanager mit dem Werkzeug zurückkehrte, hatte sie sich viel besser im Griff. Sie nahm es ihm wortlos ab und wandte sich dem versperrten Schrank des Verstorbenen zu.

»Wann haben Sie gestern Abend das Studio verlassen?«

Sie fühlte sich beobachtet, während sie versuchte, mit Hilfe des massiven Bolzenschneiders das Schloss zu entfernen. Im Vergleich zu dem Werkzeug war der Bügel geradezu winzig. Doch es gelang ihr im ersten Versuch, den ihn zu zertrennen, ohne den Schrank zu beschädigen.

»Das war gegen halb acht. Ich hatte anschließend noch eine Verabredung. Thomas hatte die Spätschicht und unsere Auszubildende war auch noch da, als ich ging.«

War es legitim, ihn zu fragen, mit wem er verabredet gewesen war? Vermutlich nicht, aber sie hatte sowieso nicht vor den Kontakt auf eine privatere Ebene zu verlagern. Zu Alibis kamen sie später.

»Haben Sie die Liste schon fertig? Mein Kollege sagte, Sie wollten eine Aufstellung ihrer Mitarbeiter machen. Können Sie mir diese Liste bitte holen und mal nach dem Safe schauen?«

Sie wollte nicht, dass er ihr auch noch über die Schulter sah, während sie den Inhalt des Spindes inspizierte.

»Klar, kein Problem.«

Nachdem die Tür hinter ihm erneut zugefallen war, öffnete sie den Schrank. Neben diversen Sportshirts, Handtüchern und verschwitzten Schuhen fand sie ein paar Quittungen aus einem Supermarkt in der Sporttasche des Opfers.

Im Seitenfach kam zwar endlich das Portemonnaie des Opfers zum Vorschein, aber ein Handy fand sie auch hier nicht.

Bräuer war schnell. Als sie sich mit der Tasche des Opfers in der Hand aufrichtete, stand er schon wieder in der Tür und hielt ihr einen handgeschriebenen Zettel entgegen.

»Hier, bitte.« Seine Augen hielten ihren Blick fest, während sie nach dem Papier griff. »Dürfte ich Ihnen vielleicht auch eine Frage stellen?«

Sie zwang sich, den Kontakt zu unterbrechen und starrte auf die Liste der Angestellten. Anschließend faltete sie den Zettel und steckte ihn in ihre Hosentasche.

Als sie wieder aufsah, sah er sie immer noch unverwandt an und strich er mit dem Zeigefinger über seine Lippen. Diese winzige Geste steigerte seine Attraktivität noch mehr.

»Hätten Sie Interesse mit mir auszugehen?«, fragte er schließlich.

Und ob sie Interesse hatte, aber das würde nicht passieren!

Sie fühlte sich geschmeichelt und schenkte ihm versehentlich ein viel zu offenes Lächeln. Normalerweise war sie damit eher geizig. Trotzdem musste sie ihm eine Abfuhr erteilen, da war sich der kleine Engel auf der einen Schulter vollkommen sicher, auch wenn der Teufel tobte.

»Ich fürchte, das wäre keine gute Idee. Sie sind ein Zeuge in meinem Fall. Das wäre in dieser Situation ausgesprochen unprofessionell von mir«, erklärte sie sanft.

Sie ließ sich gerade ein wahres Prachtstück von einem Mann entgehen und rannte mit offenen Augen über die Klippe, die sie auf ewig zum Single machen würde. Verfluchte Professionalität!

»Ich verstehe. Wenn Sie es sich anders überlegen oder diese Sache hier irgendwann vorbei ist, können Sie mich gerne anrufen.«

Er reichte ihr eine Visitenkarte, auf die er ebenfalls per Hand eine weitere Telefonnummer geschrieben hatte.

Noch einmal sah sie ihm tief in die Augen. Sein Blick und die winzigen Fältchen, die das Lächeln in seinem Gesicht aufwarf, hinterließen ein flaues Gefühl in ihrer Magengegend, als sie sich abwandte.

Sie schob sich mit der Sporttasche an ihm vorbei. Draußen auf dem Flur konnte sie zum Glück wieder klar denken. Mit einem Schmunzeln entfernte sie sich von der Umkleidekabine und suchte nach Stelter. Ihm würde sie sicher nichts von diesem kleinen Gespräch erzählen…

KAPITEL FÜNF

DATING IM GROSSSTADTDSCHUNGEL

EMI

Nach dem Abschluss ihrer morgendlichen Übungen hatte sich der Aufruhr des vorherigen Tages in ihrer Brust wieder weitestgehend gelegt.

Sie fuhr sich mit den Fingern durch die offenen Haare und strich sie hinter die Ohren. Dann streckte sie sich noch einmal und rollte ihre Matte wieder auf. Ihr war noch immer unerklärlich, warum sie so ausgerastet war, aber die Dinge ließen sich gewiss wieder in Ordnung bringen.

Sie hatte beschlossen, am Nachmittag ins Chrome Fitness zu marschieren, sich bei Thomas zu entschuldigen und ihm anzubieten, den Schaden zu begleichen.

Damit würde er sich hoffentlich besänftigen lassen. David wollte sie ebenfalls um Verzeihung bitten. Ihr Karma und ihr Gewissen wären bereinigt und auch das Bild, das die Menschen in ihrem Umfeld von ihr hatten, würde anschließend wieder beim Alten sein.

Ob sie weiter bei ihm arbeiten wollte, hatte sie noch nicht entschieden. Ihre völlige Ablehnung vom Abend zuvor war jedenfalls nüchterner Betrachtung gewichen. Sie brauchte im Augenblick das Geld. Vielleicht gab allerdings es einen Blickwinkel, aus dem seine Reaktion gestern Abend nicht vollkommen daneben war. Einen Blickwinkel, den Emi nicht hatte sehen können, weil sie emotional so involviert war.

Wenn es ihn gab, würde sie ihre Entscheidung noch einmal überdenken und weiter dort arbeiten gehen. Auch wenn sie dann Thomas über den Weg laufen würde. Natürlich konnte David die Dienstpläne nicht so anpassen, dass sie sich nicht über den Weg laufen konnten. Das wäre zu viel verlangt.

Sie machte finanziell eine schwierige Zeit durch und Thomas hatte zweifelsohne auch seinen Teil zu der Eskalation beigetragen, was jeder erkennen müsste, der die Geschichte zu hören bekam. Warum David zunächst nur sie gerügt hatte, war ihr zwar unverständlich. Doch vielleicht hatte er sich Thomas später zur Brust genommen, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte.

In ein paar Wochen würden sie hoffentlich alle zusammen über den Vorfall lachen können.

Der Blick aus dem Wohnzimmer verriet ihr, dass es mal wieder kein sonniger Tag werden würde. Ein dichter grauer Schleier lag über der Stadt.

An den meisten Tagen zeigte sich der Oktober in diesem Jahr wirklich von seiner unschönen Seite. Trotzdem wollte sie unbedingt ein paar Stunden an der frischen Luft verbringen. Das würde ihre Stimmung heben und sie wollte zu ihrer üblichen Zuversicht zurückfinden.

Es gab keinen Grund, Trübsal zu blasen. Zwar reichten ihre Einnahmen noch nicht, um sich davon über Wasser zu halten, aber so war das nun einmal am Anfang. Niemand hatte jemals behauptet, es sei einfach, sich mit seinem Traumberuf selbstständig zu machen.

Am Abend wartete eine Unterrichtseinheit in einem Fitnessstudio im Nachbarbezirk Neukölln auf sie, die sie frei gestalten konnte. Ihre Schülerinnen und der Manager dort waren deutlich aufgeschlossener als bei ihrem Mittwochskurs in Mitte.

Das war auf jeden Fall ein Grund, dem Tag motiviert entgegenzublicken.

Beschwingt tänzelte sie in die Küche und schnippelte sich etwas Obst in eine Schale. Gemeinsam mit einigen Löffeln Sojajoghurt würde dies ihr Frühstück werden.

Meistens trug sie elastische Yogahosen, doch als sie am Vortag für ihre Termine in eine Hose schlüpften wollte, die weniger fehlertolerant war, hatte sie bemerkt, dass es am Bauch langsam eng wurde.

Es tat ihrer Figur wirklich nicht gut, ständig den Leckereien bei Sonja ausgesetzt zu sein. Durch die unbefriedigende berufliche Situation hatte sie ebenfalls etwas mehr gegessen, als ihr Körper gewohnt war und nun bekam sie dafür die Quittung.

Vielleicht würde es ihr gut bekommen, das Angebot der Fitnessstudios, in denen sie Unterricht gab, zu nutzen. Denn in jedem davon durfte sie kostenlos trainieren. Stattdessen verschwand sie jedoch fast immer sofort nach ihren Stunden, weil sie sich dort nicht gerne aufhielt.

Sie erreichte gerade mit der Schüssel ihr Sofa, als das Telefon klingelte. Die Anruferkennung zeigte die Nummer von Miriams Büroanschluss.

»Hi Liebes«, begrüßte sie ihre beste Freundin, bevor sie sich den ersten Löffel ihres Frühstücks in den Mund schob.

Miriam plauderte fröhlich drauf los und vertrieb damit auch noch die letzten Reste von Emis schlechter Stimmung. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus.

»Gestern Abend war ich in einer Bar zum Speeddating«, berichtete sie, während sich Emi ihrem Essen widmete. »Die Stadt ist voller Idioten, das kann ich dir sagen!«

Emi verschluckte sich an einem Stück Apfel. Hustend brachte sie das Stückchen aus ihrer Luftröhre wieder hinauf, ehe sie dem Lachen nachgab.

»Wenn du einen Idioten suchst, könnte ich auch noch den einen oder anderen empfehlen«, prustete sie.

Mit Miriam war einfach alles federleicht. Jedes Gespräch endete mit Bauchschmerzen vor Lachen, denn ihre Freundin hatte eine wahre Begabung zum Geschichtenerzählen. Nicht ohne Grund waren ihre Kolumnen in dem Frauenmagazin, bei dem sie angestellt war, ausgesprochen beliebt bei den Leserinnen.

»Welche Idioten könntest du denn anbieten?«

Emi berichtete inzwischen mit einer Prise Selbstironie über den Vorfall am Abend, aber ein wenig Scham beschlich sie dennoch.

»Das klingt aber nicht gut«, kommentierte Miriam unerwartet ernst.

So hart ging sie normalerweise nicht mit Emi ins Gericht, aber sie hatte natürlich Recht. Es klang weder nach Emi noch so, als wäre sie ausgeglichen und psychisch stabil.

»Vielleicht solltest du ihn anzeigen.«

Nun war ihre Verwirrung perfekt.

»Anzeigen? Weil er meinen Unterricht sabotiert? Das wäre doch ein bisschen übertrieben, meinst du nicht?«

»Nein, weil er dich bedrängt hat. Sowas macht ein normaler Mann doch nicht. Wer weiß, was in seinem Kopf falsch läuft«, gab sie zu bedenken. »Wenn du dich jetzt auch noch entschuldigst, glaubt er noch, du stehst doch heimlich auf ihn, und fühlt sich in seinem Tun nur bestätigt. Das wäre so ziemlich das Letzte, wozu ich dir jetzt raten würde.«

So hatte Emi das Ganze noch gar nicht betrachtet.

Sie war nur bestrebt gewesen, das von ihr begangene Unrecht wieder auszugleichen. Die Sache im Umkleideraum hatte sie nur noch als einen der Tropfen gesehen, der das Fass vor dem Überlaufen gefüllt hatte.

Aber natürlich lag Miriam irgendwie mit ihrer Einschätzung auch nicht ganz daneben. Hatte sie wirklich etwas von ihm zu befürchten?

»Mit welcher Begründung sollte ich ihn anzeigen? Nur weil ich mich dabei bedroht gefühlt habe, ist das doch noch lange nicht strafbar.«

»Doch, das ist es«, erwiderte Miriam vehement. Damit war das Thema für sie beendet. »Auf jeden Fall will ich diesen Idioten nicht kennenlernen. Mir reichen die, die sich auf diesen Veranstaltungen herumtreiben.«

Emi war dankbar über den erneuten Themenwechsel. Sie hätte keine weitere Minute mehr über diese unangenehme Situation nachdenken wollen. Anzeige zu erstatten kam für sie nicht in Frage. Dann wäre sie doch das Opfer, das sie nie sein wollte. Diesen Sieg gönnte sie Thomas nicht.

»Warum versuchst du es nicht mal mit diesen Internetplattformen für Singles?«

Dann war es an Miriam, sich vor Lachen zu verschlucken, obwohl Emis Vorschlag absolut ernst gemeint war. Sie hörte immer wieder von Paaren, die sich über solche Plattformen und Apps fanden. Da war es doch gar keine so schlechte Idee, es einmal auszuprobieren.

»Pah, du weißt schon, dass es eigentlich heißen müsste: Alle 11 Minuten kommt ein Fake-Single dank Tinder!« Miriam spielte auf einen Werbeslogan einer anderen Partner-Plattform an. »Nee, ohne mich. Da gibt es so viele Männer, die nur ne schnelle Nummer suchen und zuhause eigentlich Frau und Kinder haben. Schäbig ist das!«

KAPITEL SECHS

EIN BEKANNTES GESICHT

CHARLOTTE

Stelter organisierte bereits auf der Fahrt mit der Telefonzentrale, dass die Mitarbeiterin, die am Vortag ebenfalls in der Spätschicht gearbeitet hatte, zum Verhör aufs Präsidium gebeten wurde.

Immer wieder zwang sie der städtische Verkehr zum Stillstand. So fanden sie bei ihrem verspäteten Eintreffen ein zierliches, dunkelhäutiges Mädchen auf einem Stuhl im Flur vor.

Die junge Angestellte blickte verstört auf und folgte ihnen mit den Augen den Gang entlang.

»Sind Sie Herr Stelter?«, fragte sie, als er den Schlüssel zum Büro aus der Tasche zog.

»Kriminalhauptkommissar Stelter eigentlich, aber da wollen wir heute mal nicht so kleinlich sein«, gab er ihr in großväterlichem Ton zur Antwort.

Irgendwie mochte Charlotte den alten Mann ja doch, sie kam nur nicht recht an ihn heran.

Die junge Frau erhob sich vom Stuhl und warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. Sie mochte vielleicht sechzehn oder siebzehn sein.

»Kommen Sie erstmal rein«, bat Stelter.

Die Auszubildende des Fitnessstudios wirkte aufrichtig erschüttert. Sogar die Hand, die sie Charlotte reichte, war eiskalt.

»Möchten Sie einen Tee oder Kaffee?«

Die Mitarbeiterin des Fitnessstudios schüttelte den Kopf. Charlotte ging trotzdem in die Teeküche und holte einen Kaffee für sich und den Kollegen. Als sie ins Büro zurückkehrte, hatte sich das Mädchen auf den Besucherstuhl gesetzt und die Jacke sorgsam gefaltet über die Lehne gelegt.

Eine Tasse reichte sie Stelter und zog dann die Liste mit den Mitarbeitern aus der Hosentasche. Sie strich das Blatt glatt, markierte eine Zeile mit dem Textmarker und reichte es ihrem Partner. So wie sie die Situation einschätzte, hatte er keine Ahnung, wie das Mädchen vor ihm hieß. Der alte Mann warf einen Blick darauf und schmunzelte ihr komplizenhaft zu. Richtig geraten!

»Sie sind also Frau Ibori?«, fragte er das Mädchen.

»Ja, Sie können mich aber gern Vanessa nennen«, antwortete die angehende Fitness-Kauffrau.

»In Ordnung, Vanessa«, gab Stelter zurück und begann, ihr seine Fragen zu stellen. »Ist es korrekt, dass sie gestern Abend im Chrome Fitness gearbeitet haben?«

Vanessa nickte und Stelter fuhr fort. Charlotte setzte sich in ihren Drehstuhl, der ihr in den letzten Wochen beinahe am Hintern festgewachsen war, hob den Kaffee an die Lippen und übte sich im Beobachten.

»Bis wann waren Sie gestern dort?«, erkundigte sich ihr Partner in seinem freundlichsten Tonfall. Er gab sich Mühe, das junge Mädchen nicht noch mehr zu verunsichern, als sie es ohnehin schon war.

»Ich hatte um halb elf Feierabend. Weg war ich dann gegen viertel vor«, gab die Mitarbeiterin nach kurzem Nachdenken an.

»War Herr Kubica zu dem Zeitpunkt noch im Geschäft?«

»Ja, aber er hat direkt hinter mir die Tür abgeschlossen und wollte dann auch Feierabend machen«, erklärte sie mit weit geöffneten fast schwarzen Augen.

»Wissen Sie, ob er noch eine Verabredung hatte?«

»Nein, sowas erzählt Thomas mir nicht.« Ihre Augen füllten sich bei der Erwähnung seines Namen mit Tränen. »Oh mein Gott, ist er wirklich tot?«

Stelter sah sie eindringlich an und nickte langsam. Er konnte erstaunlich einfühlsam sein, wenn er wollte.

»Scheiße, was mache ich denn jetzt?«, presste sie unter lautem Schluchzen hervor und hob die Finger an die Lippen.

Stelter ließ ihr Zeit, die Information zu verarbeiten und für sich zu bewerten. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht, um die Tränen zu verbergen, die ihr nun in glitzernden Spuren die Wangen hinab rannen.

Der Grund für ihre Verzweiflung erschloss sich Charlotte nicht. War sie in den deutlich älteren Kollegen verliebt gewesen? Sie signalisierte Stelter, dass sie der Zeugin eine Frage stellen wollte und wartete auf ein Signal seiner Zustimmung. Kaum merklich nickte er ihr zu.

»Waren Sie mit ihm befreundet?«, fragte sie das weinende Mädchen behutsam und ohne direkt mit ihrer Vermutung herauszuplatzen.

Die Angesprochene schüttelte entschieden den Kopf. Stelter sah aufmerksam herüber, als wäre er neugierig, worauf sie hinaus wollte.

»Nein, er ist mein Ausbilder. Persönlich hatten wir nichts miteinander zu tun. Aber wenn er jetzt nicht mehr da ist, kann ich die Ausbildung nicht beenden«, erschrocken unterbrach sie sich und schlug erneut die Hände vor den Mund. »Oh, das klingt wahnsinnig egoistisch. So meine ich das natürlich nicht! Es ist furchtbar, dass er tot ist.«

Das Mädchen kam als Täterin nach Charlottes Einschätzung kaum in Frage. Zwar hätte sie eine Gelegenheit dazu gehabt, aber irgendwie traute sie Vanessa diese Gewalttat nicht zu. Sie schien emotional nicht sonderlich involviert zu sein, wenn das Erste, woran sie dachte, ihre Ausbildung war.

Möglicherweise konnte sie trotzdem wichtige Hinweise liefern und wusste es selbst noch nicht. Also stocherte sie weiter im Nebel und versuchte, mehr über die letzten Stunden des Mannes in Erfahrung zu bringen.

»Gab es gestern oder in den vergangenen Tagen irgendwas besonderes? Ist Ihnen eine Veränderung an Herrn Kubica aufgefallen?«

Die Auszubildende verknotete die Finger auf dem Tisch und verzog nachdenklich die Lippen.

»Nein, eigentlich nicht«, erklärte sie nach einer kleinen Pause. »Außer vielleicht, dass es gestern einen Streit zwischen ihm und einer der Gast-Trainerinnen gab.«

Ein Streit. Das klang doch für den Anfang schon mal ganz vielversprechend.

»Wer war das?«

»Sie heißt Amy oder so. Den Nachnamen weiß ich nicht.« Stelter konsultierte erneut die Liste der Mitarbeiter auf seinem Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Steht hier nicht«, murrte er.

Charlotte ließ sich den Zettel reichen und fand ebenfalls keine Trainerin mit diesem oder einem ähnlichen Namen.

»Haben Sie eine Ahnung, worum es bei dem Streit ging?«

Vanessa räusperte sich.

»Nee, vielleicht irgendwas mit einem Handy. Keine Ahnung, ob es was mit Fotos zu tun hatte. Ich hatte ja eigentlich zu tun und da waren auch gerade so viele Leute.«

* * *

Kurz nachdem Vanessa Ibori ihr Büro verlassen hatte, erhielt Stelter von David Bräuer per Telefon die Adresse der Trainerin, mit der das Opfer in Streit geraten war.

»Die ist dort nicht fest angestellt. Sie arbeitet nur einmal pro Woche für eine Stunde auf Rechnung dort«, erklärte er im Auto und winkte ab. »Bräuer sagt übrigens, dass es bei dem Streit recht heftig zugegangen sei.«

»Wenn es um die Art von Fotos geht, an die ich denke, kann ich das verstehen«, gab sie kopfschüttelnd zu bedenken.

»Die jungen Leute heute machen komische Sachen. Zu meiner Zeit hat man davon einfach keine Fotos gemacht.« Offenbar dachte er in eine ähnliche Richtung wie sie.

Der Nachmittag war inzwischen angebrochen und die Sonne war herausgekommen und lockte alle nach draußen. Die halbe Stadt schien sich auf den Straßen Berlins herumzutreiben.

Sie quälten sich durch den Stadtverkehr und erreichten die genannte Adresse erst viel später als geplant. Bei der Trainerin hatten sie sich nicht vorher angemeldet.

Mittlerweile wünschte Charlotte allerdings, sie hätten es getan. Denn wenn sie nun nicht zuhause war, mussten sie unverrichteter Dinge wieder zurückfahren. So hatte sie sich ihren Nachmittag nicht vorgestellt. Außerdem wartete auch noch der versprochene Einkauf auf sie, den sie am Abend erledigen musste.

Kurz nachdem ihr Partner den Klingelknopf betätigt hatte, öffnete sich auch schon die Tür. Die Wohnung befand sich im dritten Stock und der alte Mann hatte erneut mächtig mit den Stufen zu kämpfen.

Dem ständigen Rauchen verdankte er eine erheblich verminderte Lebenserwartung und starke Einbußen in Sachen Fitness. Oben angekommen klingelte Charlotte nun an der Wohnungstür. Stelter schleppte sich hinter ihr die letzten Stufen hinauf, als eine rothaarige Frau ihnen öffnete. Sie trug nur einen Stiefel, der andere Fuß steckte lediglich in einem Socken.

»Frau Moorkamp? Wir sind von der Kriminalpolizei. Wir würden gerne mit Ihnen sprechen«, sagte sie und hielt der Frau ihren Dienstausweis entgegen.

Als die Trainerin aufblickte, meinte Charlotte, sie von irgendwoher zu kennen, aber sie konnte sich nicht entsinnen. Die Kollegin des Opfers öffnete die Tür bereitwillig und ließ sie eintreten.

»Klar, kommen Sie rein.«

Der Flur machte einen charmant chaotischen Eindruck. Auf einer Kommode stand ein Ständer mit bunten Schmuckstücken im Ethnolook. Federn, Muscheln, Lederbänder, schimmernde Steine –in den extravaganten Stücken waren sogar verschiedene Materialien miteinander kombiniert. Gar nicht Charlottes Stil, aber gerade zu diesen roten Haaren sahen die Stücke bestimmt toll aus.

Daneben hing ein Schlüsselbrett mit allerhand Krempel. Schals und Mützen nahmen die Garderobenhaken hinter der Tür in Beschlag. Ungerahmte Fotos zierten die Wände wie eine Wimpelkette.

Die Frau ging auf ihrem einen Stiefel wackelig voran in ein hell eingerichtetes Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen, wo sie in den zweiten Schuh schlüpfte.

»Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte sie freundlich und sah mit wachem Blick zu Stelter und ihr auf.

Charlotte trat einen Schritt zurück und überließ Stelter das Reden, der sogleich den Ball aufnahm. Sie überlegte immer noch, woher sie die Trainerin kannte. Bis zu diesen Morgen war sie nie in dem Studio von David Bräuer gewesen.

»Sie kennen einen Thomas Kubica«, knurrte ihr Partner.

Seufzend faltete die Rothaarige die Hände vor dem Gesicht. Irritiert von dieser Reaktion warf Charlotte ihrem Partner einen fragenden Blick zu. Brach sie etwa jetzt schon zusammen?

»Ja, aber es ist wirklich nicht meine Art, so aus der Haut zu fahren«, beteuerte die junge Frau. »Ich wollte mich heute bei ihm entschuldigen und das Geld für das blöde Handy bekommt er auch. Sie vergeuden also wirklich Ihre Zeit.«

»Wo wir unsere Zeit vergeuden, können wir wohl besser einschätzen als Sie«, blaffte der alte Mann sie an.

Das Gesicht der Trainerin verbarg ihre Emotionen nicht. Charlotte konnte in einer Sekunde Verwirrung, Zorn und Scham über ihr Gesicht zucken sehen. Schließlich funkelte sie Stelter wütend an, doch er hielt mit eiserner Miene dagegen.

Dann wandte sie sich Charlotte zu, musterte sie und zog die Brauen zusammen. »Wir kennen uns irgendwoher, oder?«

Charlotte nickte vorsichtig, doch ehe sie antworten konnte, grätschte Stelter dazwischen.

»Ist ja schön, dass Sie Zwei sich kennen. Doch ehe es hier zum Austausch von Nettigkeiten kommt, möchte ich kurz zum Grund unseres Besuchs überleiten. Thomas Kubica und Sie hatten am Vorabend einen Streit, ist das richtig?«

Sie war einerseits beeindruckt davon, wie wandelbar seine Gesprächsführung war, andererseits ärgerte sie sich in diesem Moment darüber, dass er sie nicht einmal hatte zu Wort kommen lassen. Charlotte hätte gerne gewusst, ob der Trainerin einfiel, wo sie sich schon einmal begegnet waren.

»Ja, das sagte ich doch bereits«, stöhnte die Verdächtige genervt auf. »Meine Güte, das ist doch wohl wirklich kein solches Drama wert!«

»Worum ging es in Ihrem Streit?«

Stelter nagelte sie fest wie ein Kampfhund, der sich in seine Beute verbissen hatte. Keine Chance, ihn davon abzuhalten. Wenn er eine Schwachstelle fand, bohrte er so lange und so unnachgiebig, bis er Erfolg hatte. Das hatten ihr bereits zahlreiche Kollegen berichtet.

»Der Ochse hat mir einen dämlichen Streich gespielt und ich habe sein Handy etwas zu heftig fallenlassen. Dann hat er beim Chef gepetzt und ich habe eine Abmahnung gekriegt.«

Es klang, als erzählte sie diese Geschichte nicht zum ersten Mal. Ihr Ton klang monoton und genervt. Nicht mehr wütend, wie Charlotte auffiel. Falls sie bereits wusste, dass Kubica tot war, verbarg sie das hervorragend.

»Sie hatten also allen Grund, sauer auf ihn zu sein«, fasste ihr Partner mit vor der Brust verschränkten Armen zusammen.

Die Trainerin quittierte seine Aussage nur mit einem Schulterzucken.

»Ich fasse es nicht, dass Sie deswegen wirklich hierher kommen.«

»Wie war denn sonst Ihr Verhältnis zu Herrn Kubica?«, setzte Stelter neu an.

»Er ist ein aufdringlicher Typ, der glaubt, er kann bei jeder landen. Ich kann ihn nicht besonders gut leiden, aber das ist ja wohl nicht strafbar!«

Sie verdrehte die blaugrauen Augen und schüttelte abfällig den Kopf.

»Es wird Sie also nicht besonders erschüttern, wenn wir Ihnen mitteilen, dass Herr Kubica in der vergangenen Nacht ermordet wurde«, warf Stelter ihr entgegen und lauerte auf ihre Reaktion.

Die Frau hörte auf, den Kopf zu schütteln, und musterte Stelter und Charlotte noch einmal intensiv.

»Das ist ja wohl ein schlechter Scherz«, empörte sie sich, stand auf und stemmte die Hände in die Taille. »Ich würde jetzt gerne doch noch einmal Ihre Ausweise sehen.«

Charlotte griff nach ihrem Ausweis in der Jackentasche und auch Stelter zog seinen hervor.

»Okay, und woran erkenne ich nun, dass die Ausweise echt sind?«, fragte sie unsicher.

Charlotte erklärte ihr geduldig, welche Sicherheitsmerkmale es auf den Ausweisen gab. Nickend musste die junge Frau einsehen , dass sie tatsächlich der echten Polizei gegenüberstand.

»Ich kann es nicht fassen.« Sie seufzte und sank kraftlos zurück in die Polster ihrer Couch. »Gerade habe ich noch geglaubt, Sie wären hier, weil ich sein Handy kaputt gemacht habe. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, aber deshalb gleich die Polizei zu rufen, fand ich total übertrieben…«

»Wo wir das nun geklärt hätten, erzählen Sie mir doch bitte, was sie nach dem Streit mit ihrem Kollegen gemacht haben«, schaltete sich Stelter wieder ein.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739450827
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
Krimikomödie Landhauskrimi Yoga Cosycrime Frauenroman Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Erin J. Steen (Autor:in)

Erin J. Steen wurde im Herbst 1983 in Niedersachsen geboren. Dort lebt und arbeitet sie auch heute wieder, nachdem sie einige Jahre in verschiedenen Orten im In- und Ausland verbracht hat. Sie liebt große Städte, möchte aber nicht mehr längere Zeit in einer Großstadt leben. Wie die Hauptfigur ihrer Yoga-Krimi-Reihe mag sie Yoga, wird aber voraussichtlich in diesem Leben keine Selfies in akrobatischen Posen veröffentlichen.
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Titel: Unter Verdacht