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Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution

von Clara Zetkin (Autor:in) Sascha Staničić (Autor:in)
274 Seiten

Zusammenfassung

Bis heute ist das Erbe Rosa Luxemburgs umkämpft. Auf der einen Seite stehen jene Strömungen, die sich in der Tradition der sozialistischen Revolutionen in Russland 1917 und Deutschland 1918 sehen. Sie kämpfen mit Luxemburg gegen die Anbiederung an bürgerliche Kräfte, gegen die Aufgabe eines sozialistischen Programms, gegen eine Abkehr vom revolutionären Kern des Marxismus. Auf der anderen Seite wird Luxemburg in akademischen Kreisen gelesen und diskutiert bis hin zu Richtungen, die mit Luxemburg gegen die Politik der Bolschewiki und die Machteroberung der Arbeiter*innenklasse durch einen Umsturz argumentieren. Dieser Prozess begann unmittelbar nach ihrem Tod, als Paul Levi nach seiner Rückkehr zur Sozialdemokratie aus der Kommunistischen Partei mit Luxemburg gegen die Politik der KPD, die sie selbst gründete, und die Politik der Bolschewiki, ins Feld zog. Dies bietet den Anlass der Schrift Clara Zetkins, die 1922 letztmalig im Verlag der Kommunistischen Internationale erschien. Bieten Luxemburgs Schriften selbst den Anlass zu den breit gefächerten Haltungen, die daraus geschlussfolgert werden? Zetkin untersucht die Behauptungen, die von Levi und anderen Reformist*innen nach ihm aufgeworfen wurden, stellt sie in den Kontext der realen Politik in Sowjetrussland und kommt zu einem eindeutigen Ergebnis.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort zur Neuausgabe

Dieses Buch ist eine leidenschaftliche Verteidigung von Rosa Luxemburg als Revolutionärin und von der Russischen Revolution und der sie führenden bolschewistischen Partei. Clara Zetkin, die eine wichtige Weggefährtin Luxemburgs war, setzt sich darin mit der von Paul Levi 1921 herausgegebenen »Nachlassbroschüre« auseinander, in der dieser Rosa Luxemburgs im September 1918 in Gefangenschaft verfassten Texte zur Russischen Revolution veröffentlichte, in denen sie sich kritisch mit der Politik der Bolschewiki auseinander setzte und er sie als eine Gegnerin der bolschewistischen Politik darstellt.

Levi war 1919, nach der Ermordung von Leo Jogiches Vorsitzender der KPD geworden und hatte 1921 mit der Kommunistischen Internationale gebrochen. 1922 wurde er wieder Mitglied der Sozialdemokratie und starb 1930 an den Folgen eines Fenstersturzes aus ungeklärten Umständen.

Zetkin legt minutiös die politische Entwicklung Rosa Luxemburgs in den wenigen Monaten zwischen der Erarbeitung ihrer Texte zur Russischen Revolution und ihrem Tod im Januar 1919 dar und erklärt, dass die von ihr selbst in der deutschen Novemberrevolution vertretene Politik zeigt, dass sie ihre kritischen Positionen zur bolschewistischen Politik in der Praxis revidiert hatte. So zeichnet sie ein lebendiges Bild dieser einzigartigen Revolutionärin und ihres politischen Denkens und Handelns. Eine umfassende Darstellung der politischen Ideen Rosa Luxemburgs hat Wolfram Klein in seinem Buch »Rosa Luxemburg« zu Papier gebracht, welches ebenfalls im Manifest Verlag zum 150. Geburtstag Luxemburgs erschien.

Im zweiten Teil verteidigt Clara Zetkin die damalige Politik der Bolschewiki in den Jahren 1921 und Anfang 1922. Dabei setzt sie sich ausführlich mit den ungünstigen Bedingungen auseinander unter denen die Russische Revolution stattfand und die von den Bolschewiki Maßnahmen erforderten, die – oberflächlich betrachtet – keinen sozialistischen Charakter hatten, wie die Wiedereinführung begrenzter marktwirtschaftlich-kapitalistischer Elemente in der Landwirtschaft. Sie erklärt, warum diese Maßnahmen nötig waren, um das Überleben des ersten Arbeiter*innenstaates zu garantieren. Ihr Text ist ein wunderbares Beispiel für dialektisches Denken, das alle Phänomene in ihrer Widersprüchlichkeit und von allen Seiten betrachtet und von revolutionärer Politik, die sich nicht dogmatisch an abstrakten Lehrsätzen, sondern an den konkreten Gegebenheiten und der Zielsetzung, der Macht der Arbeiter*innenklasse zu erhalten, orientiert.

Es ist dabei einerseits interessant, wie sehr die Autorin auf die Gefahren der Bürokratisierung und die Existenz bürokratischer Elemente im jungen Sowjetrussland hinweist und gleichzeitig diese Gefahr doch unterschätzt, weil sie die Festigkeit der bolschewistischen Partei als Garanten dafür sah, eine vollständige Bürokratisierung des Arbeiter*innenstaates – wie sie im Zuge der 1920er Jahre geschah – zu verhindern. Sie betont, wie lebendig das politische Leben in der bolschewistischen Partei und den Sowjets Anfang der 1920er Jahre trotz Bürgerkrieg und katastrophalen wirtschaftlichen Bedingungen – einer faktischen weitgehenden Atomisierung der Arbeiter*innenklasse – war und scheint zu unterschätzen, dass eben diese Bedingungen die Bolschewiki dazu zwangen in einem gewissen Ausmaß stellvertretend für die Arbeiter*innenklasse selbst die Macht in diesem jungen Staat auszuüben. Und doch hat sie Recht, wenn sie darauf hinweist, dass die bolschewistische Partei Anfang 1922 eine revolutionäre Arbeiter*innenpartei war, in der leidenschaftlich debattiert wurde und es keine von der Arbeiter*innenklasse separaten Interessen gab. Die Entwicklung des Stalinismus war zu diesem Zeitpunkt für solche Kommunist*innen, die in und mit der Partei die Revolution gemacht hatten nicht vorstellbar. Zetkin hat sich, anders als Leo Trotzki und seine Unterstützer*innen, nicht öffentlich gegen diese Entwicklung gestellt, was ihren herausragenden Beitrag für die sozialistische Bewegung jedoch nicht schmälert.

Dieses Buch erschien nach seiner Erstveröffentlichung 1922 nur in Auszügen in den in der DDR veröffentlichten Werken Clara Zetkins. Wir freuen uns, es 99 Jahre nach seiner Erarbeitung wieder aufzulegen. Es ist nicht nur von historischem Interesse. Es ist ein hervorragendes Beispiel der marxistischen Analysemethode und beinhaltet viele Lehren für die zukünftigen Anläufe, den Kapitalismus zu überwinden. Aber auch die Verteidigung Rosa Luxemburgs ist eine aktuelle Aufgabe. Denn die Ideen dieser großen Marxistin und Revolutionärin werden heute mehr denn je entstellt und ihres revolutionären Inhalts beraubt. Mit der Herausgabe ihrer Schriften, einschließlich ihrer Schriften zur Russischen Revolution, und dieses Werks von Clara Zetkin will der Manifest Verlag einen Beitrag dazu leisten, Rosa Luxemburgs wahres Erbe lebendig zu halten.

Sascha Staničić

Berlin, im März 2021

Vorwort von Clara Zetkin

Die nachfolgende Arbeit ist schon zu Anfang dieses Jahres niedergeschrieben worden. In heißer Empörung über Paul Levis Versuch, die begonnene Fahnenflucht aus dem Lager der proletarischen Revolution in das Lager des Reformismus mit dem Namen Rosa Luxemburgs zu decken, der konsequenten Hasserin und Bekämpferin des Reformismus. Ein Zusammentreffen äußerer Umstände hat bewirkt, dass meine Abwehr solcher Schändung nicht sofort veröffentlicht werden konnte.

Seither ist es gekommen, wie es sich damals bereits zum Greifen deutlich ankündigte. Paul Levi ist seinen »Weg« weiter gegangen. Von der Kommunistischen Partei, die sich, aus bitteren Erfahrungen lernend, in Arbeit und Kampf von Tag zu Tag allmählich zur Massenpartei empor ringt, über die Unabhängige Sozialdemokratie hinweg und mit ihr zusammen zurück zu der Mehrheitssozialdemokratie. Noch vor Gera und Nürnberg war Paul Levi reif für die »Vereinigung« geworden, wie die Hilferding und Crispien längst reif für sie waren. Trotz Görlitz. In kürzester geschichtlicher Zeitspanne haben sich die sozialen Dinge so zugespitzt, dass sie nicht länger Zwittergebilde und Zwitterstellungen zwischen Revolution und Reformismus dulden. Es heißt wählen.

Der Herausgeber von Rosa Luxemburgs »Nachlassbroschüre« hat gewählt. Er hat sich damit selbst erledigt und erledigt sich bei jedem Waffenklirren auf dem geschichtlichen Schlachtfelde des Klassenkampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie immer unwiderruflicher. Er ist heute nicht mehr einer, auf dessen Stimme Freund und Feind wartet wie auf orientierendes Trompetengeschmetter, auf dessen Stimme man aufmerkt. Was verschlägt es also, dass er fortfährt, die bolschewistische Partei zu begeifern, ohne deren Führung die russische Revolution nicht zum »gewaltigsten Faktum des Weltkriegs« geworden wäre? Hat es da noch einen Sinn, gegen sein Tun und seine Tendenz zu polemisieren?

Ich habe mir diese Frage gestellt und sie bejaht. Die Papierkügelchen, die Zwerge anlässlich der veröffentlichten »Nachlassbroschüre« gegen die Riesin russische Revolution abgeschossen haben, sind platt zu Boden gefallen und zertreten. Geblieben jedoch sind die großen geschichtlichen Probleme, die die Revolution selbst mit jedem Tage ihres Lebens und Webens aufwirft. Rosa Luxemburg hat ernst mit ihnen gerungen, andere haben mit ihnen nur literarisch gespielt.

Diese Probleme sind nicht bloß Probleme der russischen Revolution, sondern der proletarischen Revolution, deren Donner langsam, aber sicher näher und näher zu uns durch die Welt rollen. Wer wagt zu prophezeien, wie früh oder wie spät sie in ihrer Tragweite als brennende praktische Tagesfragen vor dem Proletariat noch nicht sowjetischer Staaten stehen werden? Wie sie als solche Fragen kurze Zeit vor der Arbeiterklasse Deutschlands gestanden sind, bis es der deutschen Bourgeoisie mit Hilfe reformistischer Führer glückte, die junge, unsicher daher schreitende proletarische Revolution abzuwürgen. Sicherlich wird das in den einzelnen Ländern entsprechend der verschiedenen, geschichtlich gegebenen Umstände geschehen, allein der Wesenskern der Probleme wird der gleiche bleiben. Denn wenn er auch innerhalb »nationaler Wände« wächst und sich entwickelt, so kann er doch seinen Ursprung nicht verleugnen: die bürgerliche Klassengesellschaft mit ihren unüberbrückbaren Gegensätzen, und diese ist international.

Probleme der proletarischen Revolution bilden den Inhalt meiner Darlegungen. Ich habe nichts an der polemischen Art geändert, in der diese vor Monaten niedergeschrieben worden sind. Sie tragen nach meiner Ansicht dazu bei, die grundsätzlichen Unterschiede der geschichtlichen Einstellung zwischen kleinbürgerlich-demokratischen Reformsozialisten und revolutionären Kommunisten scharf hervortreten zu lassen. Ich maße mir keineswegs an, mit meiner Arbeit die umstrittenen Fragen »gelöst« zu haben. Immerhin hoffe ich, dass sie zum Verständnis der proletarischen Revolution Russlands und der Politik ihrer führenden Partei beiträgt.

Die Arbeit erscheint am Vorabend des fünften Jahrestags der Aufrichtung Sowjetrusslands. Ich lege sie nieder am Grabe Rosa Luxemburgs, der Unvergesslichen und Unersetzlichen, die die Eroberung der Staatsgewalt durch das russische Proletariat jubelnd begrüßte, eine sonnensehnsüchtige Seele, die endlich nach langer, dunkler Nacht den Morgen empor dämmern sieht, ein forschender Geist, der das große, schöpferische Neue zu bewältigen strebt, ein starker Wille, der unwiderstehlich vorwärts drängt. Ich widme die Arbeit dem heldenhaften russischen Proletariat und seinen treuen Führern. Jenem Proletariat, das wundenbedeckt, von Feinden bedräut, vom Weltproletariat allein gelassen bis heute den ungebrochenen Mut bewahrt hat, an seine große geschichtliche Aufgabe zu glauben und im Bewusstsein internationaler Solidarität für ihre Erfüllung zu arbeiten und zu kämpfen. Jenen Führern, die der Größe dieses Proletariats ebenbürtig sind.

Clara Zetkin.

den 24. Oktober 1922

I. Rosa Luxemburgs Lebenswerk

Seine Bedeutung und Geschlossenheit / Seine Schändung durch die reformistischen Gegner auf Grund von Levis »Nachlassbroschüre« /
Zur Geschichte der »Nachlassbroschüre«

Weit mehr als Rosa Luxemburgs tragischer Lebensausgang allein ist der Grund dafür, dass die von einer ebenso bestialischen als feigen Offizierskamarilla Ermordete für immer »eingeschreint bleiben wird in dem großen Herzen« des befreiungssehnsüchtigen Weltproletariats von heute, der befreiten Menschheit von morgen:

Es ist der Schatz ihres Lebenswerks, den sie an den Befreiungskampf der Ausgebeuteten dahingegeben hat. Ein Schatz von seltenem Reichtum, ein Lebenswerk von seltener Einheitlichkeit, Geschlossenheit und Größe. Ein von revolutionärer Leidenschaft glühendes Herz hieß einen eisernen Willen, reiche Talente zu einer starken Kraft zusammenballen, gerichtet auf das eine titanenhafte Ziel, das der um Erkenntnis ringende junge Marx in faustischem Drang sich gesteckt: die soziale Welt zu verändern.

Im Dienste dieses Ziels war Rosa Luxemburg Zeit ihres Lebens hingebungsvolle Gläubige und seherische, vermittelnde Hohepriesterin, fragende, forschende, kühl abwägende Gelehrte und kühn wagende Kämpferin, die vorwärts stürmte, ungeschreckt durch Hindernisse, der Gefahren spottend. Ihr außergewöhnlich scharfer, starker Geist zergliederte nicht bloß mit unerbittlicher Logik die sozialen Tatsachen und Vorgänge, sondern er erfasste sie auch stets dialektisch, im Fluss ihrer Entfaltung. Aus einem gründlichen, umfassenden Wissen um die Vergangenheit und Gegenwart der Gesellschaft schöpfend, von den verschiedensten Wissensgebieten angeregt und genährt, kristallisierte er Kenntnisse zu wegweisender Erkenntnis über die Triebkräfte, die Richtung, die Bedingungen des sozialen Vergehens und Werdens unserer Tage. Marxens historischer Materialismus war Rosa Luxemburg dabei nicht etwa die fertige Formel, an der sie das geschichtliche Leben maß, wohl aber gab er ihr die sichere Methode, um das geschichtliche Leben zu verstehen in seiner auf- oder abwogenden Veränderlichkeit, seinen strengen Gesetzen, seiner bunten Ausstrahlung voller Sinn und Widersinn.

Im Mittelpunkt ihres Ringens um Durchdringung und Bändigung des riesigen und mit jedem Tag wachsenden Wissensstoffs stand, was Mittelpunkt ihrer glühenden Sehnsucht, ihrer verzehrenden Tätigkeit war: die Revolution. Die Revolution als der höchste Ausdruck gesellschaftlicher Schöpfungskraft, als der stolze, weithin sichtbare Gipfel einer steigenden und verebbenden Welle neuen geschichtlichen Lebens. Die Wahrheitssuchende wollte Wirklichkeitsgestaltende sein. In ihrer Persönlichkeit, in ihrem Leben schlossen sich Unkenntnis, Wille und Handeln zum unzerbrechlichen Ringe.

So konnte in der Vorkriegszeit Rosa Luxemburg unbeirrt durch die revolutionäre Phraseologie der deutschen Sozialdemokratie die Führerin der Opposition gegen die opportunistische Praxis dieser Partei werden, gleichzeitig aber eine der überragenden Gestalten der Zweiten Internationale, ebenso bewehrt, waffentüchtig und überlegen im Kampfe gegen den Reformismus und Revisionismus der Bernstein jeder Spielart und jeder Nationalität, wie gegen alle anarchistischen und anarchistelnden Schrullen und Kindsköpfigkeiten sich revolutionär gebärdender Kleinbürgerei. Das zähe Ringen um die Verwirklichung ihres Jugendtraums, das polnische Proletariat zu wecken und auf dem Boden zielklaren Klassenkampfs in fest gefügter Front mit den Arbeitern Russlands, Deutschlands, aller kapitalistischen Staaten zum revolutionären Sturm wider die bürgerliche Ordnung zu führen, ließ sie früh und klar das Problem der Internationalität des proletarischen Klassenschicksals in seiner ganzen beherrschenden Bedeutung würdigen. Bei der ideologischen und organisatorischen Aufbauarbeit der Sozialdemokratie Polens und Litauens stieß sie auf die verbissene Gegnerschaft des Nationalismus, des Sozialpatriotismus der PPS. In glänzenden Waffengängen setzte sie sich mit ihm auseinander, ihn als eine gefährliche Form des Opportunismus enthüllend.

So war Rosa Luxemburg wie kaum jemand berufen und auserwählt, vom ersten Tage des Weltkrieges an dessen imperialistischen Charakter aufzudecken, das schillernde Gespinst von Legenden und Geschichtsklitterungen kritisch zu zersetzen, mit dem die Scheidemänner und David der verschiedensten Nationalitäten, aber gleichen Verrats ihrer Grundsätze, ihn verhüllten; die Massen der Ausgebeuteten aufzufordern, ihre internationale Solidarität im Zeichen der Revolution zum obersten Gesetz ihres Handelns zu machen. Sie war mehr als der Mittelpunkt der anfangs winzigen, allmählich wachsenden Ideen- oder Kampfesgenossenschaft, die den Weltkrieg als Auftakt der Weltrevolution begriff und unerschrocken daran ging, das Proletariat für sie zu mobilisieren. Sie war ihr heilig glühendes Herz, ihr klar erkennendes Hirn, ihr diamantharter Wille. Ohne Zögern und Zaudern, sonder Wanken und Schwanken wurde bei ihr der Gedanke Tat. Den Blick unverrückt der Weltrevolution zugewandt, bekämpft Rosa Luxemburg in Theorie und Praxis gleich unerbittlich und wuchtig sowohl die offenen Verräter des Proletariats, die im Namen der »Vaterlandsverteidigung« und anderer Lügen die Arbeiter an die Schlachtbank des Imperialismus lieferten, wie die Hehler der Sozialpatrioten, die unter Berufung auf die Parteidisziplin und sonstige »Realitäten« feige den Massenbetrug duldeten und vor dem Kampf flohen.

Und wieder steht Rosa Luxemburg führend mitten im dichtesten Kugelregen, als greifbare Nähe ward, was geschichtliche Perspektive gewesen. Mit der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiter und Bauern in Russland unter der entschlossenen Führung der Bolschewiki, mit der Aufrichtung der Diktatur der Schaffenden in der Räteordnung daselbst glühte die Weltrevolution auf. Es schien, dass ihre Lohe sich reibend rasch über den Erdball wälzen müsste. Flackerten nicht mehr und mehr ihrer Feuerzeichen empor? Der militärische Zusammenbruch der Zentralmächte; die sinnenfällige Zerrüttung der kapitalistischen Wirtschaft in allen Ländern; die Umwälzung in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie; der Umsturz des kaiserlichen deutschen Reiches. Nach der Höhe der ökonomischen Entwicklung Deutschlands, nach der Bedeutung, der politischen Schulung und Organisation und den Leiden seines Proletariats deuchte die Annahme nicht verwegene Phantasterei, dass hier der Umsturz zur ganzen, zur proletarischen Revolution werden, und dass diese die Arbeiter Westeuropas zum Befreiungskampf rufen müsste.

Abermals erlebt Rosa Luxemburg, dass die proletarischen Massen Deutschlands an Reife der Erkenntnis, des Willens, der Opferfreudigkeit der revolutionären Situation nicht gewachsen, nicht ebenbürtig sind. Sie lassen sich aufs Neue von Führern narren, die gewöhnt sind, geschichtlich nur mit den messingnen Spielpfennigen bürgerlicher Reformlerei zu rechnen, und deren Furcht vor der Macht der Bourgeoisie größer ist, als ihr Vertrauen auf die revolutionär zu entfesselnden Kräfte des Proletariats. Die Ebert-Scheidemann verraten offen das Proletariat, das sie von den Kampffeldern der Revolution zurücktreiben in den »Frieden« der kapitalistischen Ausbeutung. Die Haase-Dittmann bauen den Schutzwall solchen schmählichen Tuns, indem sie vor dem Kampf für die Weiterführung der Revolution zurückschrecken. Ein Schwindel hat dabei den andern abgelöst. Statt der »Pflicht zur Landesverteidigung« wird den Massen die Hoffnung auf die »Demokratie« gepredigt. Auf die Demokratie des bürgerlichen Staats, die sich ihnen schon am 6. Dezember 1918 als blutige Klassendiktatur der Bourgeoisie enthüllte, als Wels, der sozialdemokratische Stadtkommandant von Berlin, auf wehrlose demonstrierende Kriegskrüppel und Arbeitslose schießen ließ.

Durch die Revolution aus der Schutzhaft befreit, nimmt Rosa Luxemburg sofort den Kampf gegen Verrat, Unklarheit, Schwäche, Halbheit auf. Sie ringt um die Seelen der Proletarier, um ihr revolutionäres Erwachen und Handeln mit allen Mächten der bürgerlichen Welt, mit allen Einflüssen der sozialdemokratischen Parteien, die revolutionsfeindlich oder revolutionsängstlich sind. Mit geschärftem Blick für die Bedürfnisse und Bedingungen der deutschen Revolution — als des nun wichtigsten weiteren Schrittes der Weltrevolution — verfolgt sie die unrevolutionären und gegenrevolutionären Irrwege und Seitensprünge des Ebert-Haase-»Rats der Volksbeauftragten« und später die brutalen Lakaiendienste, die die von den Unabhängigen gereinigte mehrheitssozialdemokratische Regierung der Bourgeoisie leistet. Schonungslos löst Rosa Luxemburg alle klingenden Schlagworte, alle gleißenden Begriffsfälschungen in ihr Nichts auf, mit denen der revolutionäre Tatwille der Arbeiter entmannt wird. Ihre leidenschaftliche Überzeugung pulsiert in dem fieberhaften Kampf von Tag zu Tag, ihre glänzenden, vielseitigen Talente und ihr gründliches Wissen sind in ihm lebendig. Und wie ihr allzeit die Revolutionen der Vergangenheit Fundgruben der Erkenntnis waren, so wird ihr geschichtliches, politisches Verstehen und Handeln nun angeregt, wegsicher und befeuert durch das Weben und Wirken der proletarischen Revolution in Sowjetrussland.

Auf der Höhe ihres Kampfes für das Weitertreiben der Revolution fällt Rosa Luxemburg, das Opfer monarchistisch-militaristischer Mordbuben und ihrer moralisch, politisch Mitschuldigen: der Ebert-Scheidemann-Regierung. Sie fällt, umlauert und umheult von dem Hass und der Furcht, von den Verleumdungen und Beschimpfungen der um ihre Kassenschränke und Herrschaftsgewalt zitternden Bourgeoisie, aber auch jener Führenden der Arbeiterbewegung, die die Revolution in die Zwangsjacke eines ausschließlich bürgerlich-demokratischen Umsturzes stecken oder aber sie »im Flügelkleide einer Mädchenschule« sehen möchten. Rosa Luxemburgs zarte Körperlichkeit ist aus dem Schlachtgetümmel der aufeinander prallenden Klassen verschwunden, ihr kühner, erkenntnisklarer Geist schreitet den Ausgebeuteten und Enterbten aller Länder solange führend voran, als sie gegen den Kapitalismus kämpfen müssen. Denn die stolze Einheit dessen, was Rosa geschaffen und was sie war, steht vor den Massen, einem gewaltigen Block carrarischen Marmors gleich. Nicht überall geglättet und behauen, mit Kanten, Ecken und Unebenheiten, aber in schimmerndem Weiß weithin leuchtend und mit der Festigkeit des Gefüges der Wetter Unbill trotzend. Dieses unvergängliche Denkmal, das Rosa Luxemburg sich selbst gesetzt, kündet den Massen, wo die rauen, steilen Wege der proletarischen Revolution sich scheiden von den sanften, blumigen Pfaden der bürgerlichen Reform.

Doch was erlebten wir, noch ehe dass sich der Tag zum dritten Male jährte, dass »der genialste Kopf unter Marxens Schülern« zertrümmert wurde? An den reinen Marmorblock von Rosas Lebenswerk treten die Leute des »Vorwärts« heran, und sie schreiben darauf mit Händen, die das Blut des Weltkrieges und deutscher Revolutionskämpfer gerötet hat: »Wie unklug von den Offizieren des Edenhotels, dass sie Rosa Luxemburg mordeten. Hätte sie weiter gelebt, sie wäre die unsere geworden, reif für die Abwürgung der Revolution und für die Stinneskoalition.« Es kommen die Mannen der »Freiheit« und malen auf den Block mit zitternden Fingern in krausen, verschwommenen Zügen:

»Wenn Rosa Luxemburg nicht revolutionsberauscht die soziale Welt der Gegenwart verkehrt sah und in ihrem Denken unsicher hin oder her schwankte, wenn sie auf dem Boden des Marxismus blieb, wie ihn Kautsky und Hilferding für die Theorie auffassen und Haase und Dittmann für die Praxis, so war sie die unsere.«

Man denke! Die Leute des nämlichen »Vorwärts«, der am Tage vor Rosa Luxemburgs Ermordung geradezu zu solcher Schmachtat in den berüchtigten Versen Zicklers aufgereizt hatte, deren dichterische Wertlosigkeit der richtige Rahmen war für die Nichtswürdigkeit der Gesinnung. Die Mannen der nämlichen »Freiheit«, die im November und Dezember 1918, im Januar 1919 die scharfe, aber sachliche Abrechnung Rosa Luxemburgs mit den USP-Schildhaltern der gegenrevolutionären Ebert-Scheidemann-Politik in ohnmächtiger Wut nicht anders zu beantworten wusste, als mit Verdrehungen und Unterstellungen der überzeugenden Gedankengänge, und die noch die Ermordete mit der Verleumdung begeiferte, sie habe ihre Parteigegner mit »vergifteten Waffen« bekämpft. Sie alle hatten auf einmal ihr Herz entdeckt für die »geistig hoch stehende Frau«, für die »Schärfe ihres Geistes«, die »Wissenschaftlichkeit« ihres geschichtlichen Denkens, und sie würdigen »das Vermächtnis«, das sie dem Proletariat gelassen. Sie möchten den aus Nacht und Not empor drängenden Massen einreden — und reden sich vielleicht selbst ehrlich ein —‚ dass Rosa Luxemburg eins war mit ihnen in der Wertung des größten, bedeutsamsten Geschehnisses unserer Zeit: der russischen Revolution, oder genauer gesagt: in der Beurteilung der Bolschewikpartei, dem denkenden Hirn, dem wagemutigen Willen, dem reisig bewehrten Arm der russischen Sowjetrepublik. Muss es noch gesagt werden, dass diese Beurteilung umgemünzt wird zu einer einseitigen, gehässigen Verurteilung der Politik, der Methoden und Mittel des revolutionären Kampfes dieser Partei, unter deren Führung die Revolution in Russland klar und scharf ihr proletarisches Wesen herausgestellt hat? Würgend, bitter steigt es einem im Halse empor. Das Bitterste aber ist, dass für das frivole Spiel der Stampfer und Hilferdinge der Anstoß und der Schein des Rechts gegeben wurde durch das Tun eines Mannes, der in den letzten entscheidungsreichen Jahren einer von Rosa Luxemburgs nahen Kampfesgenossen gewesen ist. Die reformistischen Führer berufen sich auf die Broschüre, die Paul Levi aus dem Nachlass von Rosa Luxemburg veröffentlicht und eingeleitet hat: »Die russische Revolution. Eine kritische Würdigung.«1

In tieferem Sinne als von manchem dickleibigen Buch gilt von Rosa Luxemburgs knapper und zum Teil nur skizzierter Arbeit, dass sie ihre Geschichte hat. Ihr grauer Hintergrund ist die Schutzhaft Rosa Luxemburgs in Breslau, mit der Absperrung von dem wild tosenden Strom des Geschehens und den Mitteln und Möglichkeiten, auf breitester, sachlicher Grundlage zur Selbstverständigung darüber zu gelangen. Ihr Herzschlag ist die Sorge um die russische Revolution, über deren Tragweite sich die weitsichtige geschichtliche Denkerin von Anfang an im Klaren war, ist der leidenschaftliche Drang der glutvollen Revolutionärin, mit aufhellender Kritik aktiv einzugreifen. Der Herausgeber hat in seinem »Vorwort« von der Entstehung der Abhandlung erzählt. Rosa Luxemburg schrieb sie nach einem Besuch Paul Levis im September 1918, um diesen davon zu überzeugen, dass — im Gegensatz zu seiner damaligen Meinung — eine kritische Auseinandersetzung des internationalen Kommunismus mit der Politik der Bolschewiki notwendig sei.

Der Herausgeber der Nachlassbroschüre schweigt über anderes, das von dem gleichen Interesse sein dürfte. Nämlich darüber, ob Rosa Luxemburg selbst später die Veröffentlichung ihrer Arbeit gewollt hat. Obgleich sie mir im Sommer 1918 zweimal schrieb, ich möchte bei Franz Mehring auf eine wissenschaftlich-kritische Stellung zur bolschewistischen Politik hinwirken, obgleich sie mir von ihrer eigenen damals beabsichtigten größeren Arbeit darüber Mitteilung machte, hat sie in ihrer weiteren Korrespondenz von dieser Angelegenheit als »erledigt« gesprochen und ist später nie wieder darauf zurückgekommen. Das Warum liegt für jeden auf der Hand, der mit Rosa Luxemburgs Betätigung nach dem Ausbruch der deutschen Revolution vertraut ist. Diese Betätigung ist durch eine Stellungnahme zu den Problemen der Konstituante, Demokratie, Diktatur etc. charakterisiert, die sich in Widerspruch zu der früheren Kritik an der Bolschewikpolitik befindet. Rosa Luxemburg hatte sich zu einer veränderten geschichtlichen Wertung durchgerungen.

Das war der einzige Grund — und meines Dafürhaltens ein zu achtender Grund — weshalb Leo Jogiches sich entschieden gegen die Veröffentlichung der nachgelassenen Kritik erklärt hat. Leo Jogiches war zeitlebens das kritische Gewissen Rosa Luxemburgs, ihr nächststehender und vor allem auch in jeder Hinsicht ihr ebenbürtiger Kampfesgenosse. Er ist die einzige Persönlichkeit, die moralisch und politisch das Recht hatte, gleichsam als Rosas Testamentsvollstrecker zu entscheiden. Und wer des Glücks teilhaftig geworden ist, diesen seltenen Menschen zu kennen, zu kennen in seinem großzügigen, wundervollen Freundschafts- oder Kampfesbund mit Rosa Luxemburg, der weiß genau, dass er in dieser Sache nie eine Meinung geäußert haben würde, wenn er nicht fest überzeugt gewesen wäre, im Sinne und nach dem Willen der Freundin zu handeln. Paul Levi war das alles bekannt; er ist mit nachlässiger Handbewegung über den Willen der beiden großen Toten weg gestampft. Das Lob der bürgerlichen und erst recht der sozialdemokratischen »Antibolschewisten« und ihre dreist-demagogische Ausschlachtung der Nachlassbroschüre sagen eindeutig, ob er sich dafür auf das »höhere Recht« der Revolution, des internationalen Proletariats berufen darf.

Paul Levi behauptet schlankweg: »Von gewisser Seite war der Broschüre der Flammentod zugedacht«. Dieses Märlein für artige Kinder, die das Gruseln lernen sollen, machte selbstredend die Runde durch die Blätter, in deren Redaktionen von einem »vernichtenden Schlag« gegen die »dogmatisch starren und verbrecherischen« Bolschewiki geträumt wurde. Die geängstigte Phantasie dort sah sicherlich neben dem brennenden Scheiterhaufen »ketzerischer« Schriften Sinowjew als roten Großinquisitor und Bela Kun nebst Radek als seine schleppenden und schürenden Henkersknechte. Mögen sich die Gemüter der Sanften und Wahrheitsdürstenden beruhigen. Der Flammentod-Legende liegt nichts als dieses zu Grunde: Leo Jogiches — wie erstaunt würde er sein, dass er als »gewisse Seite« heraufbeschworen worden ist! — hatte mich damit beauftragt, in Rosas Schreibtisch sowie in einigen Kisten nach Manuskripten, Briefen etc. zu suchen. Die Ausbeute war gering. Die Noskiden hatten in der Wohnung der »hetzenden Bolschewistin« nach der vandalischen Manier gehaust, die diesen Schützern der Ordnung und des Eigentums Selbstverständlichkeit war. Ich trug gewissenhaft jedes aufgestöberte Blättchen wie ein Heiligtum zu Leo, und wir prüften und besprachen die Funde. Darunter waren einige Seiten mit Stichworten, Hinweisen, abgerissenen Sätzen zu einer Kritik Rosas an der bolschewistischen Politik in der Agrar- oder Nationalitätenfrage. Leo reichte mir diese Blättchen mit der Bemerkung zurück: »Verbrennen Sie das. Es ist zu fragmentarisch, und Rosa hat über diese und andere Fragen der bolschewistischen Taktik ausführlicher geschrieben. Aber auch das soll nicht veröffentlicht werden.«

Ich muss Leo daraufhin wohl fragend und erstaunt angeblickt haben, denn er fuhr fort:

»Meinen Sie nicht, aus Rücksicht auf unsere russischen Freunde. Die können noch andere Kritik vertragen. Nein, nein! Wegen Rosas. Sie hat ihre anfängliche Beurteilung der bolschewistischen Methoden und Taktik in wichtigen Punkten wesentlich modifiziert. Was sie darüber in der Schutzhaft zu Breslau geschrieben, ist ein erster, tastender und noch unfertiger Versuch, die russische Revolution wissenschaftlich-kritisch zu bewältigen. Rosa fehlte es in Breslau an genügend dokumentiertem Material. Sie konnte auch keine lebendige Fühlung mit Führern der russischen Revolution haben, die die Dinge aus eigener Anschauung kannten. Als sie nach Berlin kam und den Kampf für die deutsche Revolution aufnahm, ging sie mit Feuereifer daran, sich über die revolutionäre Entwicklung in Russland gründlich zu orientieren. Die deutsche Revolution selbst zwang dazu. Sie stellte vor die Massen die Frage der Diktatur, Demokratie, des Rätesystems etc. Rosa dachte nicht mehr daran, mit ihrer alten Kritik an die Öffentlichkeit zu kommen. Sie hatte die Absicht, eine neue größere Abhandlung über die russische Revolution zu schreiben.«

Leo sprach dann sehr eingehend mit mir über Rosas Nachlass, im Besonderen über ihren literarischen Nachlass, der dem internationalen Proletariat zu erb und eigen gehöre. Er und ich seien die »natürlichen« Verwalter und Testamentsvollstrecker, und wir würden selbstverständlich Adolf Warski und Julius Marchlewski-Karski zur Regelung und Herausgabe heranziehen. Ich konnte es nicht über mich gewinnen, die Blätter zu verbrennen, die Rosas klare, charaktervolle Schriftzüge trugen. Auch meinte ich, die Notizen könnten später einmal von Interesse und Wert sein. Nie ist mir bekannt geworden, dass irgendwer Rosas Kritik »dem Flammentod zugedacht« habe. Wie wäre das auch möglich gewesen! Das Manuskript dazu befand sich bei Paul Levi, bzw. in Händen, die ihm so willig und sicher gehorchen wie seine eigenen.

Die Presse der sozialdemokratischen Koalitionspolitiker und Opportunisten in Deutschland tat, als ob die Welt die Kenntnis »der wahren Meinung Rosa Luxemburgs über die Bolschewisten« als Offenbarung erst Paul Levi verdanke. In Wirklichkeit war es längst bekannt, dass Rosa einzelnen Auffassungen und Maßnahmen der bolschewistischen Politik anfänglich kritisch und ablehnend gegenüberstand. In der Broschüre: »Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches«2 schrieb Karl Radek voriges Jahr:

»Abgeschnitten von der Welt, angewiesen auf sehr spärliche Informationen über die Lage in Russland, war sie voller Angst um die Geschicke der russischen Revolution. Sie fürchtete, dass es dem deutschen Imperialismus gelingen werde, die russische Revolution zu erdrosseln, und von diesem Standpunkt aus stand sie der Taktik der Bolschewiki in der Friedensfrage kritisch gegenüber. Aber während die Kautsky, die sich jetzt unter die Fittiche der Luxemburgischen Kritik des Bolschewismus verschanzen wollen, nicht den Finger rührten, um die deutsche Arbeiterklasse zum wirklichen revolutionären Kampf zu bewegen, dessen Fehlen die gefährliche Situation schuf, in der sich die russische Revolution außenpolitisch befand, endete die Luxemburgische Kritik immer in dem Appell an die deutschen Arbeiter, die sie verantwortlich machte für all die Gefahren, in denen sich die russische Revolution befand. Und deshalb wussten wir immer, wenn wir die Artikel Rosa Luxemburgs im ›Spartakus‹ lasen, dass wir, trotz ihrer Kritik an uns, mit ihr in der Tat einig waren; denn sie suchte in Deutschland die Pflicht zu erfüllen, die wir in Russland erfüllten. Als die November-Revolution ihr die Tore des Gefängnisses öffnete, waren die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und uns zu Ende, wodurch am besten bewiesen war, dass sie nicht prinzipieller Natur waren.«

Als Radek dieses feststellte, kannte er nicht bloß seine Kautskyschen Pappenheimer, die sich unter »die Fittiche der Luxemburgischen Kritik« flüchten möchten, sondern er hatte auch Paul Levi vorausgeahnt, der diesem erhabenen Beispiel »echter Marxisten« gefolgt ist. Wem Radeks Zeugnis in der Sache nicht vollgültig genug ist, der mag darüber in der »Freiheit« nachlesen. Am 20. Januar 1919, fünf Tage nach Rosa Luxemburgs Ermordung, schrieb dort Luise Kautsky in einem »Erinnerungsblatt« — ich kann leider nur sinngetreu zitieren, nicht wörtlich: »Als ich im März 1918 mit Rosa sprach, stand sie dem Bolschewismus noch sehr kritisch gegenüber.« Man sieht: auch in dieser Beziehung gehört das Klappern zum Handwerk.


  1. Verlag Gesellschaft und Erziehung, Berlin

  2. Ebenfalls neu erschienen bei Manifest (2018): Radek, Luxemburg, Liebknecht, Jogiches,
    ISBN 978-3-96156-068-4

II. Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution im September 1918

»Die russische Revolution, das gewaltigste Faktum des Weltkriegs« /Die russische Revolution, die Angelegenheit des Weltproletariats / »Die elementare Pflicht der Sozialisten, die Schätze an Erfahrungen und Lehren der russischen Revolution zu heben« / Der utopische und gegenrevolutionäre Kern der menschewistischen und Kautskyschen Auffassung der russischen Revolution / Das geschichtliche Verdienst der Bolschewiki / Kritik der bolschewistischen Agrarpolitik / Kritik der bolschewistischen Nationalitätenpolitik / Kritik der bolschewistischen Einstellung zur Konstituante / Kritik des Wahlrechts zu den Sowjets / Kritik der bolschewistischen Politik der proletarischen Diktatur in ihrem Verhältnis zu »Terror« und »Demokratie«

Ist denn der Charakter, der Inhalt, sind denn die Werturteile von Rosa Luxemburgs Kritik tatsächlich danach, dass die Bolschewiki vor ihr zittern müssten wie vor der Posaune des jüngsten Gerichts? Durchaus nicht »vernichtend« für die Politik der führenden russischen Revolutionspartei ist nicht, was Rosa Luxemburg selbst geschrieben hat, »vernichtend« soll vielmehr wirken, was Feinde und Gegner an Gift daraus heraus destillieren. Und zwar nicht bloß für die von ihnen herzlich gehassten »Bolschewiki« und die kommunistischen Parteien der Dritten Internationale, sondern letzten Endes auch für die russische Revolution, die proletarische Revolution überhaupt, — die Herren Möchtegern-Nutznießer der Nachlassbroschüre mögen sich dessen bewusst sein oder nicht. Die Proletarier haben deshalb ein zwiefaches Recht darauf, zu hören, was Rosa Luxemburg ihnen sagt.

Ihre Ausführungen beginnen mit dem im Verlauf der Abhandlung immer wieder aufklingenden Leitmotiv: »Die russische Revolution ist das gewaltigste Faktum des Weltkriegs«.1 Es heißt dann weiter — der sonst so zitaten- oder enthüllungsfrohe »Vorwärts« hat, wie andere auch, die folgenden Sätze weislich verschwiegen —:

»Ihr Ausbruch, ihr beispielloser Radikalismus, ihre dauerhafte Wirkung strafen am besten die Phrase Lügen, mit der die offizielle deutsche Sozialdemokratie den Eroberungsfeldzug des deutschen Imperialismus im Anfang diensteifrig ideologisch bemäntelt hat: die Phrase von der Mission der deutschen Bajonette, den russischen Zarismus zu stürzen und seine unterdrückten Völker zu befreien. Der gewaltige Umfang, den die Revolution in Russland angenommen hat, die tiefgehende Wirkung, womit sie alle Klassenwerte erschüttert, sämtliche sozialen und wirtschaftlichen Probleme aufgerollt, sich folgerichtig vom ersten Stadium der bürgerlichen Republik zu immer weiteren Phasen mit der Fatalität der inneren Logik voranbewegt hat — wobei der Sturz des Zarismus nur eine knappe Episode, beinahe eine Lappalie geblieben ist—, all dies zeigt auf flacher Hand, dass die Befreiung Russlands nicht das Werk des Krieges und der militärischen Niederlagen des Zarismus war, nicht das Verdienst »deutscher Bajonette in deutschen Fäusten«, wie die »Neue Zeit« unter der Redaktion Kautskys im Leitartikel versprach, sondern dass sie im eigenen Lande tiefe Wurzeln hatte und innerlich vollkommen reif war. Das Kriegsabenteuer des deutschen Imperialismus unter dem ideologischen Schilde der deutschen Sozialdemokratie hat die Revolution in Russland nicht herbeigeführt, sondern nur für eine Zeitlang anfänglich — nach ihrer ersten steigenden Sturmflut in den Jahren 1911-13 — unterbrochen und dann — nach ihrem Ausbruch — ihr die schwierigsten, abnormsten Bedingungen geschaffen.«2

Rosa Luxemburg weist darauf »die doktrinäre Theorie« zurück, »die Kautsky mit der Partei der Regierungssozialdemokraten teilt, wonach Russland als wirtschaftlich zurückgebliebenes, vorwiegend agrarisches Land, für die soziale Revolution und für eine Diktatur des Proletariats noch nicht reif wäre.« Ebenso die davon abgeleiteten Schlussfolgerungen, dass in Russland nur eine bürgerliche Revolution möglich und die Koalition von Sozialdemokratie und Liberalismus geschichtliches Gebot sei. Rosa Luxemburg stellt fest, dass »in dieser grundsätzlichen Auffassung der russischen Revolution, aus der sich die Stellungnahme zu den Detailfragen der Taktik von selbst ergibt«, die »Menschewiki« in Russland, »die deutschen Opportunisten« und »die deutschen Regierungssozialisten« sich einträchtig zusammenfinden:

»Wenn die russische Revolution darüber hinausgegangen ist, wenn sie sich die Diktatur des Proletariats zur Aufgabe gestellt hat, so ist das nach jener Doktrin ein einfacher Fehler des radikalen Flügels der russischen Arbeiterbewegung, der Bolschewiki, gewesen und alle Unbilden, die der Revolution in ihrem weiteren Verlauf zugestoßen sind, alle Wirren, denen sie zum Opfer gefallen, stellen sich eben als ein Ergebnis dieses verhängnisvollen Fehlers dar.«3

Rosa Luxemburg fragt nach dem Ergebnis

»dieser Doktrin, die vom Stampferischen ›Vorwärts‹ wie von Kautsky gleichermaßen als Frucht ›marxistischen Denkens‹ empfohlen wird.

»Theoretisch ist es nach ihr die originelle ›marxistische‹ Entdeckung, dass die sozialistische Umwälzung eine nationale, sozusagen häusliche Angelegenheit jedes modernen Staates für sich sei«.

Praktisch ist es die Tendenz, »die Verantwortlichkeit des internationalen, in erster Linie des deutschen Proletariats, für die Geschicke der russischen Revolution abzuwälzen, die internationalen Zusammenhänge dieser Revolution zu leugnen. Nicht Russlands Unreife, sondern die Unreife des deutschen Proletariats zur Erfüllung der historischen Aufgaben hat der Verlauf des Krieges und der russischen Revolution erwiesen, und dies mit aller Deutlichkeit hervorzukehren, ist die erste Aufgabe einer kritischen Betrachtung der russischen Revolution. Die Revolution Russlands war in ihren Schicksalen völlig von den internationalen abhängig. Dass die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution des Proletariats stellten, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Festigkeit, des kühnen Wurfs ihrer Politik.«4

Im Anschluss an diese Darlegungen unterstreicht Rosa Luxemburg die »elementare Pflicht« der Sozialisten in allen Ländern, »durch eingehende, nachdenkliche Kritik« der russischen Revolution deren »Schätze an Erfahrungen und Lehren zu heben.«

»Es wäre in der Tat eine wahnwitzige Vorstellung, dass bei dem ersten welthistorischen Experiment mit der Diktatur der Arbeiterklasse und zwar unter den denkbar schwersten Bedingungen: mitten im Weltbrand und Chaos eines imperialistischen Völkermordens, in der eisernen Schlinge der reaktionärsten Militärmacht Europas, unter völligem Versagen des internationalen Proletariats, dass bei einem Experiment der Arbeiterdiktatur unter so abnormen Bedingungen just alles, was in Russland getan und gelassen wurde, der Gipfel der Vollkommenheit gewesen sei.«

Unter den geschichtlich für die russische Revolution gegebenen »so fatalen Bedingungen«, können auch der riesigste Idealismus und die sturmfesteste Energie nicht Demokratie und nicht Sozialismus verwirklichen,

»sondern nur ohnmächtige, verzerrte Anläufe zu beiden. Nur an einer solchen bitteren Erkenntnis ist die ganze Größe der eigenen Verantwortung des internationalen Proletariats für die Schicksale der russischen Revolution zu ermessen. Andererseits kommt nur auf diesem Wege die entscheidende Wichtigkeit des geschlossenen internationalen Vorgehens der proletarischen Revolution zur Geltung. … Sich kritisch mit der russischen Revolution in allen historischen Zusammenhängen auseinanderzusetzen, ist die beste Schulung der deutschen wie der internationalen Arbeiter für die Aufgaben, die ihnen aus der gegenwärtigen Situation erwachsen.«5

Die erste Periode der russischen Revolution, von März bis Oktober 1917, ist — wie die große englische und französische Revolution —

»der typische Werdegang jeder ersten großen Generalauseinandersetzung der im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft erzeugten revolutionären Kräfte mit den Fesseln der alten Gesellschaft. Ihre Entfaltung bewegt sich naturgemäß auf aufsteigender Linie: von gemäßigten Anfängen zu immer größerer Radikalisierung der Ziele und parallel damit von der Koalition der Klassen und Parteien zur Alleinherrschaft der radikalen Partei.«6

Schon am Tage nach dem ersten Siege der Revolution — der Aufrichtung der demokratischen Republik — entbrannte »ein innerer Kampf in ihrem Schoße um die beiden Brennpunkte: Frieden und Landfrage.«

Denn »die treibende Kraft der Revolution war vom ersten Augenblicke an die Masse des städtischen Proletariats. Seine Forderungen erschöpften sich aber nicht in der politischen Demokratie, sondern richteten sich auf die brennende Frage der internationalen Politik: sofortigen Frieden. Zugleich stützte sich die Revolution auf die Masse des Heeres, das dieselbe Forderung nach sofortigem Frieden erhob, und auf die Masse des Bauerntums, das die Agrarfrage, diesen Drehpunkt der Revolution schon seit 1905, in den Vordergrund schob.«

Mit der Friedens- oder Landfrage waren die Schicksale der politischen Demokratie, der Republik selbst verknüpft. Die zuerst überrannten und fortgerissenen bürgerlichen Klassen warfen sich nach rückwärts und suchten im Stillen die Gegenrevolution zu organisieren. Der Kaledinsche Kosakenfeldzug gegen Petersburg war der Ausdruck davon. Nach wenigen Monaten hatte sich die Situation zu dem Entweder — Oder entwickelt: »Sieg der Konterrevolution oder Diktatur des Proletariats«.7

»Die russische Revolution hat hier nur bestätigt die Grundlehre jeder großen Revolution, deren Lebensgesetz lautet: entweder muss sie sehr rasch und entschlossen vorwärts stürmen, mit eiserner Hand alle Hindernisse niederwerfen und ihre Ziele immer weiter stecken, oder sie wird sehr bald hinter ihren schwächeren Ausgangspunkt zurückgeworfen und von der Konterrevolution erdrückt.«

Rosa Luxemburg erhärtet dieses Urteil durch das Beispiel der großen englischen und der großen französischen Revolution. Sie schüttet bleibenden Spott aus über »Kautsky und seine Gesinnungsgenossen, die der russischen Revolution ihren ›bürgerlichen Charakter‹ der ersten Phase bewahrt wissen wollten.«

In der gekennzeichneten Situation »kann man das Utopische und im Kern Reaktionäre der Taktik ermessen, von der sich die russischen Sozialisten der Kautskyschen Richtung, die Menschewiki — leiten ließen.… Sie klammerten sich verzweifelt an die Koalition mit den bürgerlichen Liberalen, d. h. an die gewaltsame Verbindung derjenigen Elemente, die durch den natürlichen inneren Gang der revolutionären Entwicklung gespalten, in schärfsten Widerspruch zu einander geraten waren.«

»In dieser Situation gebührt denn der bolschewistischen Richtung das geschichtliche Verdienst, von Anfang an diejenige Taktik proklamiert und mit eiserner Konsequenz verfolgt zu haben, die allein die Demokratie retten und die Revolution vorwärts treiben konnte. Die ganze Macht ausschließlich in die Hände der Arbeiter- oder Bauernmasse, in die Hände der Sowjets, — dies war in der Tat der einzige Ausweg aus der Schwierigkeit‚ in die die Revolution geraten war, das war der Schwertstreich, womit der gordische Knoten durchhauen, die Revolution aus dem Engpass hinausgeführt und vor ihr das freie Blachfeld einer ungehemmten weiteren Entfaltung geöffnet wurde.

Die Lenin-Partei war somit die einzige in Russland, welche die wahren Interessen der Revolution in jener ersten Periode begriff; sie war ihr vorwärts treibendes Element, also in diesem Sinne die einzige Partei, die wirklich sozialistische Politik trieb. …

Die Lenin-Partei war die einzige, die das Gebot und die Pflicht einer wirklich revolutionären Partei begriff, die durch die Losung: alle Macht in die Hände des Proletariats und des Bauerntums, den Fortgang der Revolution gesichert hat.

Die Bolschewiki haben auch sofort als Zweck dieser Machtergreifung das ganze und weitgehendste revolutionäre Programm aufgestellt: nicht etwa Sicherung der bürgerlichen Demokratie, sondern Diktatur des Proletariats zum Zwecke der Verwirklichung des Sozialismus. Sie haben sich damit das unvergängliche geschichtliche Verdienst erworben, zum ersten Male die Endziele des Sozialismus als unmittelbares Programm der praktischen Politik zu proklamieren.

Was eine Partei in geschichtlicher Stunde an Mut, Tatkraft, revolutionärem Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben die Lenin, Trotzki und Genossen vollauf geleistet. Die ganze revolutionäre Ehre und Aktionsfähigkeit, die der Sozialdemokratie im Westen gebrach, war in den Bolschewiki vertreten. Ihr Oktoberaufstand war nicht nur eine tatsächliche Rettung für die russische Revolution, sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus.«

Die Partei der Bolschewiki konnte in der Revolution nur dadurch die Führung und die Macht an sich reißen, dass sie den Mut hatte, die vorantreibende Parole auszugeben und alle Konsequenzen daraus zu ziehen. Wie bei den »Gleichmachern« in England und den »Jakobinern« in Frankreich sicherte die »Maßlosigkeit« ihrer Forderungen die Errungenschaften der Revolution und trieb diese weiter.

»Aber die konkrete Aufgabe, die den Bolschewiki in der russischen Revolution nach der Machtergreifung zugefallen ist, war unvergleichlich schwieriger als die ihrer geschichtlichen Vorgänger.«8

Rosa Luxemburg prüft, wie die bolschewistische Politik die schwierige konkrete Aufgabe zu lösen versucht hat. Zunächst betreffs der Agrarfrage, auf deren überragende Bedeutung und kompliziertes Wesen sie kurz hinweist. »Gewiss war die Losung der unmittelbaren sofortigen Ergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern die kürzeste, einfachste und lapidarste Formel, um zweierlei zu erreichen: den Großgrundbesitz zu zertrümmern und die Bauern sofort an die revolutionäre Regierung zu fesseln. Als politische Maßnahme zur Befestigung der proletarisch-sozialistischen Regierung war dies eine vorzügliche Taktik. Sie hatte aber leider sehr ihre zwei Seiten, und die Kehrseite bestand darin, dass die unmittelbare Landergreifung durch die Bauern mit sozialistischer Wirtschaft meist gar nichts gemein hat.« Dieses scharfe Urteil wird wie folgt begründet. Die sozialistische Umgestaltung der Wirtschaft setzt in Bezug auf die Agrarverhältnisse zweierlei voraus:

»Zunächst die Nationalisierung gerade des Großgrundbesitzes als der technisch fortschrittlichsten Konzentration der agrarischen Produktionsmittel und -methoden, die allein zum Ausgangspunkt der sozialistischen Wirtschaftsweise auf dem Lande dienen kann. Natürlich braucht man dem Kleinbauern seine Parzelle nicht wegzunehmen. Man kann es ihm ruhig anheim stellen, sich durch die Vorteile des gesellschaftlichen Betriebs zuerst für den genossenschaftlichen Zusammenschluss und dann für die Einordnung in den sozialen Gesamtbetrieb freiwillig zu entscheiden. … Aber jede sozialistische Wirtschaftsreform auf dem Lande muss selbstverständlich mit dem Groß- oder Mittelgrundbesitz anfangen. Sie muss hier das Eigentumsrecht vor allem auf die Nation, oder, was bei sozialistischer Regierung dasselbe ist, wenn man will, auf den Staat übertragen.«

Zweite Vorbedingung ist, »dass die Trennung der Landwirtschaft von der Industrie, dieser charakteristische Zug der bürgerlichen Gesellschaft, aufgehoben wird, um einer gegenseitigen Durchdringung und Verschmelzung beider, einer Ausgestaltung sowohl der Agrar- wie der Industrieproduktion nach einheitlichen Gesichtspunkten Platz zu machen. …

Dass die Sowjet-Regierung in Russland diese gewaltigen Reformen nicht durchgeführt hat, — wer kann ihr das zum Vorwurf machen! Es wäre ein übler Spaß, von Lenin und Genossen zu verlangen oder zu erwarten, dass sie in der kurzen Zeit ihrer Herrschaft, mitten im reißenden Strudel der inneren und äußeren Kämpfe, von zahllosen Feinden und Widerständen ringsum bedrängt, eine der schwierigsten, ja wir können ruhig sagen: die schwierigste Aufgabe der sozialistischen Umwälzung lösen oder auch nur in Angriff nehmen sollten!«…

Aber: »Eine sozialistische Regierung, die zur Macht gelangt ist, muss aber auf jeden Fall eins tun: Maßnahmen ergreifen, die in der Richtung auf jene grundlegenden Voraussetzungen einer späteren sozialistischen Reform der Agrarverhältnisse liegen, sie muss zum Mindesten alles vermeiden, was ihr den Weg zu jenen Maßnahmen verrammelt.«9

Rosa Luxemburg ist der Überzeugung, dass die Agrarparole der Bolschewiki »geradezu nach der entgegengesetzten Richtung wirken musste.«

Sie führte »zur plötzlichen chaotischen Überführung des Großgrundbesitzes in bäuerlichen Grundbesitz. Was geschaffen wurde, ist nicht gesellschaftliches Eigentum, sondern neues Privateigentum, Zerschlagung. … des relativ fortgeschrittenen Großbetriebs in primitiven Kleinbetrieb, der technisch mit den Mitteln aus der Zeit der Pharaonen arbeitet.«

Durch die willkürliche Art der Aufteilung wurden die Eigentumsunterschiede und die Klassengegensätze auf dem Lande nicht beseitigt, sondern nur verschärft.

»Diese Machtverschiebung hat aber zu Ungunsten der proletarischen und sozialistischen Interessen stattgefunden. Früher stand einer sozialistischen Reform auf dem Lande allenfalls der Widerstand einer kleinen Kaste adeliger und kapitalistischer Großgrundbesitzer, sowie eine kleine Minderheit der reichen Dorfbourgeoisie entgegen, deren Expropriation durch eine revolutionäre Volksmasse ein Kinderspiel ist. Jetzt, nach der ›Besitzergreifung‹, steht als Feind jeder sozialistischen Vergesellschaftung der Landwirtschaft eine enorm angewachsene und starke Masse des besitzenden Bauerntums entgegen, das sein neu erworbenes Eigentum gegen alle sozialistischen Attentate mit Zähnen und mit Nägeln verteidigen wird. Jetzt ist die Frage der künftigen Sozialisierung der Landwirtschaft, also der Produktion überhaupt in Russland, zur Gegensatz- oder Kampffrage zwischen dem städtischen Proletariat und der Bauernmasse geworden.«

Der französische Parzellenbauer, den die Revolution geschaffen, wurde zu deren tapferstem Verteidiger.

»Indes der russische Bauer hat, nachdem er vom Lande auf eigene Faust Besitz ergriffen, nicht im Traume daran gedacht, Russland und die Revolution, der er das Land verdankte, zu verteidigen. Er verbiss sich in seinen neuen Besitz und überließ die Revolution ihren Feinden, den Staat dem Zerfall, die städtische Bevölkerung dem Hunger.«10

Rosa Luxemburg ist weiter der Meinung, die Bolschewiki hätten einen Teil der Schuld daran, dass die objektiven Schwierigkeiten der Lage sich verschärften, dass die militärische Niederlage zum Zusammenbruch und Zerfall Russlands wurde. Dies aber »durch eine Parole, die sie in den Vordergrund ihrer Politik geschoben haben: das so genannte Selbstbestimmungsrecht der Nationen oder was unter dieser Phrase in Wirklichkeit steckte: der staatliche Zerfall Russlands«. Die Parole »war ein besonderer Schlachtruf« der Bolschewiki gegen den Imperialismus der Miljukow- oder Kerenski-Regierung; »sie bildete die Achse ihrer inneren Politik nach dem Oktoberumschwung und sie bildete die ganze Plattform der Bolschewiki in Brest-Litowsk, ihre einzige Waffe, die sie der Machtstellung des deutschen Imperialismus entgegenzustellen hatten.«11

Die »Hartnäckigkeit und starre Konsequenz«, mit der Lenin und Genossen diese Parole festhielten — so führt Rosa Luxemburg aus, steht »sowohl in krassem Widerspruch zu ihrem sonstigen ausgesprochenen Zentralismus der Politik wie auch der Haltung, die sie den sonstigen demokratischen Grundsätzen gegenüber eingenommen haben. … Der Widerspruch, der hier klafft, ist um so unverständlicher, als es sich bei den demokratischen Formen des politischen Lebens in jedem Lande, wie wir das noch weiter sehen werden, tatsächlich um höchst wertvolle, ja unentbehrliche Grundlagen der sozialistischen Politik handelt, während das famose
›Selbstbestimmungsrecht der Nationen‹ nichts als hohle, kleinbürgerliche Phraseologie und Humbug ist. In der Tat, was soll dieses Recht bedeuten? Es gehört zum ABC der sozialistischen Politik, dass sie wie jede Art Unterdrückung so auch die einer Nation durch die andere bekämpft.«12

»Eine Art Opportunitätspolitik« nimmt Rosa Luxemburg als Grund dafür an, dass die Bolschewiki »eine hohle Phrase geradezu zu ihrem Steckenpferd machten. Sie rechneten offenbar darauf, dass es kein sicheres Mittel gäbe, die vielen fremden Nationalitäten im Schoße des russischen Reiches an die Sache der Revolution, an die Sache des sozialistischen Proletariats zu fesseln, als wenn man ihnen im Namen der Revolution und des Sozialismus die äußerste unbeschränkteste Freiheit gewährte, über ihre Schicksale zu verfügen.«13

Das ukrainische Zwischenspiel bei den Brest-Litowsker Friedensverhandlungen und das Verhalten Finnlands hätte die Bolschewiki bald darüber belehren müssen, dass ihre Rechnung nicht stimmte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen der verschiedenen, dem alten Russland einverleibten Nationen und Völkerschaften nutzten das Schlagwort vom »nationalen Selbstbestimmungsrecht« aus als Werkzeug ihrer gegenrevolutionären Klassenpolitik. Das aber sowohl gegen Sowjetrussland, wie gegen die eigenen proletarischen Massen. Die »nationalistische Phrase verwandelte sich in der rauen Wirklichkeit der Klassengesellschaft in ein Mittel der bürgerlichen Klassenherrschaft«. Sie trug in den von Russland losgerissenen Ländern Verwirrung und Lähmung in das Proletariat, das bis dahin in geschlossener Front mit den russischen Arbeitern gekämpft hatte.

»Wie kommt es, dass in allen diesen Ländern plötzlich die Konterrevolution triumphiert? Die nationalistische Bewegung hat eben das Proletariat dadurch, dass sie es von Russland losgerissen hat, gelähmt und der nationalen Bourgeoisie in den Randländern ausgeliefert. … Freilich, ohne die Hilfe des deutschen Imperialismus, ohne ›die deutschen Gewehrkolben in deutschen Fäusten‹, wie die ›Neue Zeit‹ Kautskys schrieb, wären die Lubinskis und die anderen Schufterles der Ukraine, sowie die Erichs und Mannerheims in Finnland und die baltischen Barone mit den sozialistischen Proletariermassen ihrer Länder nimmermehr fertig geworden.

Aber die Bolschewiki haben die Ideologie geliefert, die diesen Feldzug der Konterrevolution maskiert hatte.«

Aufgabe der Bolschewiki wäre es gewesen, »die kompakteste Zusammenfassung der revolutionären Kräfte auf dem ganzen Gebiet des Reiches anzustreben, seine Integrität als Revolutionsgebiet mit Zähnen und Nägeln zu verteidigen, die Zusammengehörigkeit und Unzertrennlichkeit der Proletarier aller Nationen im Bereich der russischen Revolution als oberstes Gebot der Politik allen nationalistischen Sonderbestrebungen entgegenzustellen… Wir haben allen Grund, uns die Politik der Bolschewiki in dieser Hinsicht sehr gründlich anzusehen. Das ›Selbstbestimmungsrecht der Nationen‹, verkoppelt mit dem Völkerbund und der Abrüstung von Wilsons Gnaden, bildet den Schlachtruf, unter dem sich die bevorstehende Auseinandersetzung des internationalen Sozialismus mit der bürgerlichen Welt abspielen wird.«14

Rosa Luxemburg deutet in einigen Worten darauf hin, dass aus der gekennzeichneten bolschewistischen Politik, die sie für fehlerhaft hält, die Diktatur Deutschlands folgte, »von Brest-Litowsk bis zum Zusatzvertrag, der Terror und die Unterdrückung der Demokratie.« Sie will das an »einigen Beispielen prüfen«: an der Stellung der Bolschewiki zur Konstituante, zum allgemeinen Wahlrecht, zur Demokratie überhaupt, an der Art der Diktatur, der Art und dem Umfang des Terrors.

Nach ihrer Auffassung bedeutet die Auflösung der Konstituante im November 1917 »eine Wendung« in der bolschewistischen Taktik. Die Partei hatte vor ihrem Siege die Konstituante stürmisch gefordert und die Kerenski-Regierung aufs Heftigste bekämpft, weil sie die Einberufung der verfassungsgebenden Versammlung verschleppte. Trotzki hatte die Machtergreifung der Sowjets als »die Rettung der Konstituante« erklärt, als den zu ihr führenden »Eingang«. Der erste Schritt nach dem Siege der Sowjets war die Auseinandertreibung der Konstituante. Er wurde damit gerechtfertigt, dass diese lange vor dem entscheidenden Wendepunkt gewählt worden sei und in ihrer Zusammensetzung das Bild der überholten Vergangenheit und nicht der neuen Sachlage widerspiegelte.

Rosa Luxemburg findet »ganz ausgezeichnet und überzeugend«, was Trotzki in diesem Sinne, gestützt auf unbestreitbare Tatsachen, in seinem Schriftchen »Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag« sagt. Die »verjährte, also totgeborene Konstituierende Versammlung« musste kassiert werden. Die Bolschewiki »wollten und durften die Geschicke der Revolution nicht einer Versammlung anvertrauen, die das gestrige, Kerenskische Russland, die Periode der Schwankungen und der Koalition spiegelte. Wohlan, es blieb nur übrig, sofort an ihrer Stelle eine aus dem erneuerten, weitergegangenen Russland hervorgegangene Versammlung einzuberufen.« Man schloss aber »aus der speziellen Unzulänglichkeit der im Oktober zusammengetretenen konstituierenden Versammlung auf die Überflüssigkeit jeder konstituierenden Versammlung«. Ja man ging weiter. Die spezielle Unzulänglichkeit verallgemeinerte man »zu der Untauglichkeit jeder aus den allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen Volksvertretung während der Revolution überhaupt«.15

Rosa Luxemburg wendet sich gegen Trotzkis Ansicht, »der schwerfällige Mechanismus der demokratischen Institutionen« komme nicht der Erfahrung und Reife nach, die die Massen aus dem unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt gewinnen. Sie könnten das umso weniger tun, »je größer das Land und je unvollkommener sein technischer Apparat ist«. Sie findet, »dass in dieser Einschätzung der Vertretungsinstitutionen eine etwas schematische, steife Auffassung zum Ausdruck kommt, der die historische Erfahrung gerade aller revolutionären Epochen nachdrücklichst widerspricht. … Jeder lebendige geistige Zusammenhang zwischen den einmal Gewählten und der Wählerschaft, jede dauernde Wechselwirkung zwischen beiden wird hier geleugnet. Wie sehr widerspricht dem alle geschichtliche Erfahrung! Diese zeigt uns umgekehrt, dass das lebendige Fluidum der Volksstimmung beständig die Vertretungskörperschaften umspült, in sie eindringt, sie lenkt«. Rosa Luxemburg beruft sich auf die Wandlungen des »langen Parlaments« in England, der Generalstaaten in Frankreich, auf die Tatsache,

dass »in jedem bürgerlichen Parlament zu Zeiten … die verschiedenen Scheidemännchen auf einmal in ihrer Brust revolutionäre Töne finden, — wenn es in den Fabriken, Werkstätten und auf den Straßen rumort. Und diese ständige, lebendige Einwirkung der Stimmung und der politischen Reife der Massen auf die gewählten Körperschaften sollte gerade in einer Revolution vor dem starren Schema der Parteischilder und der Wahllisten versagen? Gerade umgekehrt! Gerade die Revolution schafft durch ihre Gluthitze jene dünne, vibrierende, empfängliche politische Luft, in der die Wellen der Volksstimmung, der Pulsschlag des Volkslebens augenblicklich in wunderbarer Weise auf die Vertretungskörperschaften einwirken. … Der ›schwerfällige Mechanismus der demokratischen Institutionen‹ hat einen kräftigen Korrektor — eben in der lebendigen Bewegung der Masse, in ihrem unausgesetzten Druck. Und je demokratischer die Institution, je lebendiger und kräftiger der Pulsschlag des politischen Lebens der Masse ist, um so unmittelbarer und genauer ist die Wirkung. Jede demokratische Institution hat ihre Schranken und Mängel, jedoch das bolschewistische Heilmittel, die Beseitigung der Demokratie überhaupt, ist noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll: es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können: das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen.«16

Das von der Sowjetregierung ausgearbeitete Wahlrecht wird von Rosa Luxemburg charakterisiert als »ein sehr merkwürdiges Produkt der bolschewistischen Diktatur-Theorie«. Nach ihrer Meinung ist es »nicht ganz klar, welche praktische Bedeutung ihm beizumessen ist.« Es steht im Widerspruch zur grundsätzlichen Ablehnung von Volksvertretungen aus allgemeinen Wahlen.

»Es ist uns auch nicht bekannt, dass dieses Wahlrecht irgendwie im Leben eingeführt worden wäre. … Wahrscheinlicher ist die Annahme, dass es nur ein theoretisches Produkt, sozusagen vom grünen Tisch her geblieben ist. Jedes Wahlrecht, wie überhaupt jedes politische Recht, ist nicht nach irgendwelchen praktischen Schemen der Gerechtigkeit und ähnlicher, bürgerlich-demokratischer Phraseologie zu messen, sondern an den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen, auf die es zugeschnitten ist. Das von der Sowjetregierung ausgearbeitete Wahlrecht ist eben auf die Übergangsperiode von der bürgerlich-kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsform berechnet, auf die Periode der proletarischen Diktatur.«17

Seine Grundlage ist die Arbeit, es steht nur denen zu, die von eigener Arbeit leben.

Ein solches Wahlrecht hat nach Rosa Luxemburg »nur in einer Gesellschaft Sinn, die wirtschaftlich in der Lage ist, allen, die arbeiten wollen, ein auskömmliches, kulturwürdiges Leben von eigener Arbeit zu ermöglichen«. Ihr scheint, dass diese Voraussetzung für das heutige Russland nicht zutrifft. Bei der gegebenen Situation »liegt es auf der Hand, dass ungezählte Existenzen ganz plötzlich entwurzelt, aus ihrer Bahn herausgeschleudert werden, ohne jede objektive Möglichkeit, in dem wirtschaftlichen Mechanismus irgend eine Verwendung für ihre Arbeitskraft zu finden. Das bezieht sich nicht bloß auf die Kapitalisten- oder Grundbesitzerklasse, sondern auch auf die breite Schicht des kleinen Mittelstandes und auf die Arbeiterklasse selbst«. Ein massenhaftes Abfluten von städtischen Proletariern aufs platte Land findet statt. Wachsende Schichten müssen als Rotgardisten vom Staat aus öffentlichen Mitteln erhalten werden. Andererseits war die Sowjetregierung gezwungen, nationale Industriebetriebe den früheren Eigentümern sozusagen »in Pacht« zu geben, mit den bürgerlichen Konsumgenossenschaften zu paktieren, bürgerliche Fachleute heranzuziehen etc. Rosa Luxemburg kommt zu dem Schluss:

»Unter solchen Umständen ist ein politisches Wahlrecht, das den allgemeinen Arbeitszwang zur wirtschaftlichen Voraussetzung hat, eine ganz unbegreifliche Maßregel. … In Wirklichkeit macht es rechtlos breite und wachsende Schichten des Kleinbürgertums und des Proletariats, für die der wirtschaftliche Organismus keinerlei Mittel zur Ausübung des Arbeitszwanges vorsieht. Das ist eine Ungereimtheit, die das Wahlrecht als ein utopisches, von der sozialen Wirklichkeit losgelöstes Phantasieprodukt qualifiziert. Und gerade deshalb ist es kein ernsthaftes Werkzeug der proletarischen Diktatur. Ein Anachronismus, eine Vorwegnahme der rechtlichen Lage, die auf einer schon fertigen sozialistischen Wirtschaftsbasis am Platze ist, nicht in der Übergangsperiode der proletarischen Diktatur.«18

Als Mittel der proletarischen Diktatur fasst auch Rosa Luxemburg unter bestimmten Umständen die politische Entrechtung ins Auge. Sie schreibt:

»Als der ganze Mittelstand, die bürgerliche und kleinbürgerliche Intelligenz nach der Oktoberrevolution die Sowjetregierung monatelang boykottierten, den Eisenbahn-, Post- oder Telegraphenverkehr, den Schulbetrieb, den Verwaltungsapparat lahm legten und sich auf diese Weise gegen die Arbeiterregierung auflehnten, da waren selbstverständlich alle Maßregeln des Druckes gegen sie: durch Entziehung politischer Rechte, wirtschaftlicher Existenzmittel etc. geboten, um den Widerstand mit eiserner Faust zu brechen. Da kam eben die sozialistische Diktatur zum Ausdruck, die vor keinem Machtaufgebot zurückschrecken darf, um bestimmte Maßnahmen im Interesse des Ganzen zu erzwingen oder zu verhindern. Hingegen ein Wahlrecht, das eine allgemeine Entrechtung ganz breiter Schichten der Gesellschaft ausspricht, das sie politisch außerhalb des Rahmens der Gesellschaft stellt, während es für sie wirtschaftlich innerhalb ihres Rahmens selbst keinen Platz zu schaffen imstande ist, eine Entrechtung nicht als konkrete Maßnahme zu einem konkreten Zweck, sondern als allgemeine Regel von dauernder Wirkung, das ist nicht eine Notwendigkeit der Diktatur, sondern eine lebensunfähige Improvisation. Sowohl Sowjets als Rückgrat wie Konstituante und allgemeines Wahlrecht.«19

In Betracht dürfte ferner nach Rosa Luxemburgs Meinung nicht kommen

»die Abschaffung der wichtigsten Garantien eines gesunden öffentlichen Lebens, der politischen Aktivität der arbeitenden Massen: der Pressefreiheit, des Vereins- oder Versammlungsrechts, die für alle Gegner der Sowjetregierung vogelfrei geworden sind. … Es ist eine offenkundige, unbestreitbare Tatsache, dass ohne freie, ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- oder Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen völlig undenkbar ist«.20

»Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung, die ohne politische Freiheit nie möglich ist. Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei — mögen sie noch so zahlreich sein — ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ›Gerechtigkeit‹, sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt, und seine Wirkung versagt, wenn die ›Freiheit‹ zum Privilegium wird. Weit entfernt, eine Summe fertiger Vorschriften zu sein, die man nur anzuwenden hätte, ist die praktische Verwirklichung des Sozialismus als eines wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Systems, eine Sache, die völlig im Nebel der Zukunft liegt. Was wir in unserem Programm besitzen, sind nur wenige grobe Wegweiser, die die Richtung anzeigen, in der die Maßnahmen gesucht werden müssen, dazu vorwiegend negativen Charakters. Wir wissen so ungefähr, was wir zuallererst zu beseitigen haben, um der sozialistischen Wirtschaft die Bahn frei zu machen, welcher Art hingegen die tausend konkreten, praktischen, großen und kleinen Maßnahmen sind, um die sozialistischen Grundsätze in die Wirtschaft, in das Recht, in alle gesellschaftlichen Beziehungen einzuführen, darüber gibt kein sozialistisches Parteiprogramm und kein sozialistisches Lehrbuch Aufschluss. Das ist kein Mangel, sondern gerade der Vorzug des wissenschaftlichen Sozialismus vor dem utopischen: das sozialistische Gesellschaftssystem soll und kann nur ein geschichtliches Produkt sein, geboren aus der eigenen Schule der Erfahrung, in der Stunde der Erfüllung, aus dem Werden der lebendigen Geschichte, die genau wie organische Natur, deren Teil sie letzten Endes ist, die schöne Gepflogenheit hat, zusammen mit einem wirklichen gesellschaftlichen Bedürfnis stets auch die Mittel zu seiner Befriedigung, mit der Aufgabe zugleich die Lösung hervorzubringen.«21

»Ist dem aber so«, fährt Rosa Luxemburg fort, »dann ist es klar, dass der Sozialismus sich seiner Natur nach nicht oktroyieren lässt, durch Ukase einführen. Er hat zur Voraussetzung eine Reihe Gewaltmaßnahmen — gegen Eigentum usw. Das Negative, den Abbau, kann man dekretieren, den Aufbau, das Positive, nicht.«

Es handelt sich dabei um Neuland, um tausend auftauchende Probleme.

»Nur Erfahrung ist imstande, zu korrigieren und neue Wege zu eröffnen. Nur ungehemmt schäumendes Leben verfällt auf tausend neue Formen, Improvisationen, erhält schöpferische Kraft, korrigiert selbst alle Fehlgriffe. Das öffentliche Leben der Staaten mit beschränkter Freiheit ist eben deshalb so dürftig, so armselig, so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschließung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt. (Beweis: das Jahr 1905 und die Monate Februar-Oktober 1917.)«

Die ganze Volksmasse muss an dem neuen Leben teilnehmen.

»Sonst wird der Sozialismus vom grünen Tisch eines Dutzend Intellektueller dekretiert, oktroyiert. Unbedingt öffentliche Kontrolle notwendig. Sonst bleibt der Austausch der Erfahrungen nur in dem geschlossenen Kreise der Beamten der neuen Regierung. Korruption unvermeidlich. (Lenins Worte, Mitteilungsblatt No. 29.) Die Praxis des Sozialismus erfordert eine ganze geistige Umwälzung in den durch Jahrhunderte der bürgerlichen Klassenherrschaft degradierten Massen. Soziale Instinkte an Stelle egoistischer, Masseninitiative an Stelle der Trägheit, Idealismus, der über alle Leiden hinweg trägt usw. usw. Niemand weiß das besser, schildert das eindringlicher, wiederholt das hartnäckiger als Lenin. Nur vergreift er sich völlig im Mittel: Dekret, diktatorische Gewalt der Fabrikaufseher, drakonische Strafen, Schreckensherrschaft, das sind alles Mittel, die diese Wiedergeburt verhindern. Der einzige Weg zu dieser Wiedergeburt ist die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkte, breiteste Demokratie, öffentliche Meinung. Gerade die Schreckensherrschaft demoralisiert.«22

Die Sowjets sollen die einzige wahre Vertretung der arbeitenden Massen sein.

»Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muss auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Diesem Gesetz entzieht sich niemand. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft — eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d. h. Diktatur im bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobiner-Herrschaft.«

Unter Hinweis auf Erscheinungen der Korruption, der Verwilderung des öffentlichen Lebens auch in Deutschland führt Rosa Luxemburg aus, dass es sich um »ein übermächtiges, objektives Gesetz handle, dem sich keine Partei zu entziehen vermag. Das einzige Gegengift: Idealismus und soziale Aktivität der Massen, unbeschränkte politische Freiheit.«23

»Der Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie«, so heißt es in der Nachlassbroschüre, »ist eben der, dass sie die Diktatur, genau wie Kautsky, der Demokratie entgegenstellen. ›Diktatur oder Demokratie‹ heißt die Fragestellung sowohl bei den Bolschewiki, wie bei Kautsky. Dieser entscheidet sich natürlich für die Demokratie und zwar für die bürgerliche Demokratie, da er sie eben als die Alternative der sozialistischen Umwälzung hinstellt. Lenin-Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur einer Handvoll Personen, d. h. für Diktatur nach bürgerlichem Muster. Es sind zwei Gegenpole, beide gleich weit entfernt von der wirklichen sozialistischen Politik. Das Proletariat kann, wenn es die Macht ergreift, nimmermehr nach dem guten Rat Kautskys unter dem Vorwand der ›Unreife des Landes‹ auf die sozialistische Umwälzung verzichten, und sich nur der Demokratie widmen, ohne an sich selbst, an der Internationale, an der Revolution Verrat zu üben. Es soll und muss eben sofort sozialistische Maßnahmen in energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise in Angriff nehmen, also Diktatur ausüben, aber Diktatur der Klasse, nicht einer Partei oder Clique, Diktatur der Klasse, d. h. in breitester Öffentlichkeit, unter tätigster ungehemmter Teilnahme der Volksmassen, in unbeschränkter Demokratie.«24

»Wir sind nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen, das heißt nur: wir unterschieden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllten stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit — nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialen Inhalt zu füllen. Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, anstelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als Diktatur des Proletariats.

Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohl erworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen lässt. Aber diese Diktatur muss das Werk der Klasse und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, d. h. sie muss auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen.

Genau so würden auch sicher die Bolschewiki vorgehen, wenn sie nicht unter dem furchtbaren Zwang des Weltkrieges, der deutschen Okkupation und aller damit verbundenen abnormen Schwierigkeiten litten, die jede von den besten Absichten und den schönsten Grundsätzen erfüllte sozialistische Politik verzerren müssen. Ein krasses Argument dazu bildet die so reichliche Anwendung des Terrors durch die Räteregierung und zwar namentlich in der letzten Periode vor dem Zusammenbruch des deutschen Imperialismus, seit dem Attentat an den deutschen Gesandten.

Alles, was in Russland vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidliche Kette von Ursachen und Wirkungen, deren Ausgangspunkte und Schlusssteine das Versagen des deutschen Proletariats und die Okkupation Russlands durch den deutschen Imperialismus sind. Es hieße von Lenin und Genossen Übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft hervorzuzaubern. Sie haben durch ihre entschlossene revolutionäre Haltung, ihre vorbildliche Tatkraft und ihre unverbrüchliche Treue dem internationalen Sozialismus wahrhaftig geleistet, was unter so verteufelt schwierigen Verhältnissen zu leisten war. Das Gefährliche beginnt dort, wo sie aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen. Wie sie sich damit selbst völlig unnötig im Lichte stehen und ihr wirkliches, unbestreitbares, historisches Verdienst unter den Scheffel notgedrungener Fehltritte stellen, so erweisen sie dem internationalen Sozialismus, dem zuliebe und um dessentwillen sie gestritten und gelitten, einen schlechten Dienst, wenn sie in seine Speicher als neue Erkenntnisse all die von Not und Zwang in Russland eingegebenen Schiefheiten eintragen wollen, die letzten Endes nur Ausstrahlungen des Bankrotts des internationalen Sozialismus in diesem Weltkriege waren.

Mögen die deutschen Regierungssozialisten schreien, die Herrschaft der Bolschewiki in Russland sei ein Zerrbild der Diktatur des Proletariats. Wenn sie es war oder ist, so nur, weil sie eben ein Produkt der Haltung des deutschen Proletariats war, die ein Zerrbild auf den sozialistischen Klassenkampf war. Wir alle stehen unter dem Gesetz der Geschichte und die sozialistische Gesellschaftsordnung lässt sich eben nur international durchführen. Die Bolschewiki haben gezeigt, dass sie alles können, was eine echte, revolutionäre Partei in den Grenzen der historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist. Sie sollen nicht Wunder wirken wollen. Denn eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande wäre ein Wunder. Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren die Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab‘s gewagt!

Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. In Russland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem ›Bolschewismus‹.«25


  1. Rosa Luxemburg, »Zur russischen Revolution«, in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 332-365, hier S. 332. Levis Veröffentlichung, die Clara Zetkin zitiert, weist zahlreiche Ungenauigkeiten auf, deshalb stimmen die Zitate oft nicht wörtlich überein.

  2. a.a.O.

  3. a.a.O., S. 333

  4. a.a.O., S. 333 f.

  5. a.a.O., S. 334 f.

  6. a.a.O., S. 335 f.

  7. a.a.O., S. 337, 336, 339

  8. a.a.O., S. 339, 340f.

  9. a.a.O., S. 342 f.

  10. a.a.O., S. 344 f.

  11. a.a.O., S. 346

  12. a.a.O., S. 346 f.

  13. a.a.O., S. 348

  14. a.a.O., S. 350-52

  15. a.a.O., S. 353 f.

  16. a.a.O., S. 354-56

  17. a.a.O., S. 356

  18. a.a.O., S. 357

  19. a.a.O., S. 357 f.

  20. a.a.O., S. 358

  21. a.a.O., S. 359 f.

  22. a.a.O., S. 360-62

  23. a.a.O., S. 362

  24. a.a.O., S. 362 f.

  25. a.a.O., S. 363-65

III. Gegen die reformistische Ausnutzung von Rosa Luxemburgs Septemberkritik

Das Leitmotiv der Septemberkritik / Adolf Warskis Auseinandersetzung mit Rosa Luxemburgs Stellungnahme zur bolschewistischen Nationalitätenpolitik und mit Levis Behauptung von dem unverändert festgehaltenen Standpunkt / Der grundsätzliche Unterschied zwischen der Einstellung Rosa Luxemburgs und jener der reformistischen Sozialisten zur »Demokratie« / Die Unvereinbarkeit von Konstituante und Sowjetordnung / Die grundsätzliche Bedeutung des Sowjetwahlrechts / Proletarische Diktatur und Terror als revolutionäre Notwehr /
Die Schöpfer, Gläubigen und Nutznießer gegenrevolutionärer Horrorlegenden / Die Wirklichkeit des bolschewistischen Terrors und die konkreten Bedingungen seiner Unvermeidlichkeit / Das Problem der Bürokratie im russischen Sowjetstaat / Das Verhältnis zwischen der bolschewistischen Partei und der Klasse des Proletariats

Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution ist mit aller Treue, sehr ausführlich und in wichtigen Teilen wörtlich wiedergegeben worden. Nur als Ganzes kann sie richtig gewürdigt werden in der festen Geschlossenheit und Einheitlichkeit eines wirklich marxistischen Denkens, das den Wissens- oder Gedankenreichtum meistert und fruchtbare, durchdachte Ausblicke eröffnet; in ihrer Verknüpfung der Vergangenheit mit der Gegenwart und Zukunft als eines geschichtlichen Lebens; in ihrer großen weltumspannenden Linie der internationalen Solidarität der Proletarier aller Länder, des historischen Entwicklungsprozesses.

Nur im Zusammenhang, als integrierender Teil des Ganzen, muss die Kritik an der bolschewistischen Politik erfasst und begriffen werden. Erst unter dieser Voraussetzung erhält sie ihren wahren geschichtlichen Sinn. Dieser ist aber kein anderer, als die Herausstellung der tiefen, unlöslichen Abhängigkeit der russischen Revolution von der Weltrevolution und im Besonderen von der proletarischen Revolution Deutschlands. Die Politik der Bolschewiki — dies Rosa Luxemburgs Grundgedanke — ist mit Irrtümern und Fehlgriffen behaftet, aber unter den geschichtlich gegebenen Umständen muss sie mit Irrtümern und Fehlern behaftet sein, denn es fehlte ihr das große geschichtliche Korrektiv: die proletarische Revolution in Deutschland, in der ganzen Welt. Die scharfe Kritik an wesentlichen Teilen der bolschewistischen Taktik gipfelt in einer vernichtenden Verurteilung der grundsätzlichen Einstellung beider Richtungen der deutschen Sozialdemokratie zur Revolution selbst. Aus der nämlichen Auffassung heraus schrieb Rosa mir im Sommer 1918:

»Die Fehler der russischen Revolution können nur beseitigt und überwunden werden im Zusammenhang mit der deutschen Revolution. Die deutsche Revolution weitertreiben, heißt nicht nur die russische Revolution vervollständigen, sondern sie auch vervollkommnen. An den Fehlern der Russen müssen wir immer und immer wieder den Deutschen ihre eigene Haupt- oder Grundschuld zum Bewusstsein bringen.«

Wie anders spiegelte sich doch in Rosa Luxemburgs genialem Haupt die Welt, als in den rechnenden, angstschwitzenden Köpfchen offener und verkappter sozialdemokratischer Opportunitätspolitiker, wo die Welt ihre Grenze nicht einmal rings um Deutschland hat, vielmehr schon bei dem Gewerkschaftsverband, der Parteiorganisation und dem Parlamentsmandat!

Die mehrheitssozialdemokratischen und unabhängigen Blätter haben von dem grundsätzlichen und internationalen Finale der Luxemburgischen Nachlassbroschüre geschwiegen. Es musste ihnen wie die Stimme ihres bösen Gewissens klingen. Dafür haben sie sich mit der Gier hungriger Köter auf die kritische Auseinandersetzung mit der bolschewistischen Taktik gestürzt. Sie suchten in dieser Kritik unter Anrufung des Namens Luxemburg eine Rechtfertigung für die großen Tat- oder Unterlassungssünden ihrer Parteien an der Revolution. Was sie zu diesem Zweck aus Rosas Arbeit gemacht haben, verhält sich zu ihr wie eine Vogelscheuche zu einer schönen menschlichen Gestalt. Allerdings: mehrheitssozialdemokratische und rechtsunabhängige Führer bedürfen just nun einer antibolschewistischen Vogelscheuche. Es geht für sie darum, die Arbeiter vor dem zurückzuschrecken, was die ureigensten Interessen der Ausgebeuteten heischen, wozu die Kommunisten auffordern: die Einheitsfront gegen den Kapitalismus und seinen Staat zu schließen.

Rosa Luxemburgs Abhandlung werten, begreift in sich, auch kritisch Stellung zu ihr zu nehmen. In der Tat! »Kritikloses Apologetentum statt nachdenklicher Kritik« hieße das Andenken der ernsten Erkenntnissuchenden verleugnen und schmähen. Genosse Adolf Warski hat sich mit dem beschäftigt, was Rosa Luxemburg gegen die Taktik der Bolschewiki in der Nationalitätenfrage dargelegt hat, ebenso mit Paul Levis Behauptung, dass sowohl in der bolschewistischen Taktik wie in der Einstellung Rosa Luxemburgs dazu der alte Gegensatz zwischen dieser und Lenin weiterlebe, ein Gegensatz, der gelegentlich des Streits um die Organisationsform in der russischen Sozialdemokratie in Rosas Artikel in der »Neuen Zeit« 1904 klar zum Ausdruck gekommen ist: Massenpartei oder kleine, reine Sekte. Adolf Warski steht den russischen Dingen näher als wir alle, er hat als einer der Treuesten und Unentwegtesten an Rosas Seite literarisch und politisch-organisatorisch die langen und bitteren Kämpfe mit durchgefochten, die um die Nationalitäts- oder Organisationsfrage im Lager der mit der revolutionären Bewegung Russlands eng verbundenen russisch-polnischen Sozialdemokratie geführt wurden. Was er gesagt hat, darf besonderes Gewicht beanspruchen.1

Eine Auseinandersetzung mit Rosa Luxemburgs Darlegungen über »die Erdrückung der Demokratie« in Sowjetrussland dünkt mir besonders nötig. Gerade auf diese Darlegungen berufen sich die sozialdemokratischen Gegner und Hasser der Bolschewiki, um sich die eigene bürgerlich unbefleckte politische Tugend zu bescheinigen.

»Wir haben die deutsche Konstituante gewollt und ermöglicht, wir haben sie geschützt als unser Allerheiligstes. Wir schwören auf das allgemeine Wahlrecht für ›alle Volksgenossen‹. Wir glauben an den Parlamentarismus und halten die Räteordnung für eine Wolkenkuckucksheimerei. Wir verabscheuen eine proletarische Klassendiktatur, die sich anderer Mittel bedient als politisch-ethisch-ästhetischer Sonntagsnachmittagspredigten. Wir verfluchen namentlich jeden Terror — mit Ausnahme des Terrors, den der Kapitalismus tagaus tagein gegen das Proletariat ausübt und der bürgerliche Staat mit seinem Gewaltapparat gegen die Kommunisten.«

So jubilieren diese Herren und wollen den Massen einschwätzen, dass sie sich mit ihrer Haltung in Übereinstimmung mit Rosa Luxemburg befinden, deren Gemeinschaft sie doch während der Kriegsjahre und Revolutionsmonate scheuten wie der fromme mittelalterliche Christ einen Pakt mit dem Teufel.

Was die Stampfer und Hilferdinge in Rosa Luxemburgs Ausführungen zur Frage der Konstituante, des Wahlrechts, der Diktatur etc. auffassen, loben, zitieren, das ist zumeist »der Herren eigener Geist«. Sie schieben den fundamentalen Unterschied bei Seite, der Rosa Luxemburg von ihrer eigenen Stellung zur »Demokratie« trennt — um unter diesem Begriff die in Betracht kommenden Einzeldinge zusammenzufassen. Für Rosa Luxemburg ist die »Demokratie« vor allem das Mittel, um nach der Revolution, um nach der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und ihre Organisierung in den Sowjets die höchstmögliche Summe von Erfahrungen und Aktivität der breitesten schaffenden Massen lebendig wirkend zu machen für die Behauptung der Macht durch das Proletariat. Das besagt: Behauptung der Macht für die Weiterentwicklung der Revolution im Abbau der bürgerlichen Ordnung und im Aufbau des Kommunismus, der klassenlosen Gesellschaft. Für sie beginnt die Hauptwirksamkeit und Hauptbedeutung der »Demokratie« erst nach dem Kulminationspunkt des Klassenkampfes, nach dem gewaltigen Hammerschlag der proletarischen Revolution. Die »Demokratie«, die sie im Auge hat, ist die reale proletarische Demokratie, die an revolutionäre Zwecke gesetzt wird, nicht aber die formale bürgerliche Demokratie, die Rosa Luxemburg als eine Form mit bitterem sozialen Inhalt charakterisiert. Die »Demokratie« in Rosa Luxemburgs Auffassung kann nur eine Frucht der Revolution sein. Sie ist eroberte und betätigte robuste proletarische Macht und ist ein Ding der Unmöglichkeit, solange der Kapitalismus herrscht und in Wirtschaft und Staat Bindungen für das Wissen, die Erfahrung, die Aktivität der ökonomisch Ausgebeuteten und Unfreien schafft.

Die »Demokratie« der Kautsky, Stampfer und Gesinnungsverwandten dagegen ist ein zeit- oder wesenloser Begriff »an und für sich«. Sobald dieser von den himmlischen Höhen der Schreibtische und Parlamentsreden herabsteigt in die raue, irdische Wirklichkeit der bürgerlichen Klassengesellschaft, wird er Fleisch als formale bürgerliche Demokratie, die für die rebellierenden Lohnsklaven Zuchthäuser, Gummiknüppel und Maschinengewehre hat. Gewiss, dass auch sie dem proletarischen Befreiungskampf nutzbar gemacht werden kann, jedoch ihrer Ausnutzung sind durch die bürgerliche Klassenherrschaft Grenzen gezogen. Letzten Endes ist die bürgerliche Demokratie ein Mittel, die politische Ausbeutung und Beherrschung des Proletariats durch die Bourgeoisie sicher zu stellen, denn sie verleiht ihr den Schein des Rechts, lässt sie als Ausdruck des »Volkswillens« gelten. Und diese bürgerliche Demokratie stellen die Kautskyaner beider sozialdemokratischer Flügel vor die Revolution, vor die Eroberung der Staatsgewalt durch das Proletariat. Sie werten sie als Vorbedingung, als Wegbereiterin des politischen Umsturzes, der proletarischen Diktatur, ja die Voraussetzungslosesten von ihnen erblicken in ihr eine Art »Revolutions-Ersatz«. Die »Demokratie«, so meinen sie, wird durch die papierne Majestät des Stimmzettels die Herrschaftsgewalt der Kapitalisten zertrümmern, die Macht des Proletariats aufrichten und die Bahn freilegen für den Sozialismus.

Den Sozialdemokraten, die als »Götzendiener« der »Demokratie« die bolschewistische Politik verfemen, ist also Rosa Luxemburgs lichtvolle Auffassung meilenfern. Trotzdem können sie mit einem gewissen Schein von Berechtigung auf Rosas Kritik an dieser Politik verweisen. Was in der Nachlassbroschüre über die »Erdrückung der Demokratie« durch die Sowjetregierung steht, das trägt meines Dafürhaltens die Wundenmale von Rosa Luxemburgs Absperrung von dem wilden, heißen, stürmischen Leben der Revolution, die Wundenmale ihres ungenügenden Versorgtseins mit authentischem Material über die Lage und die Vorgänge in Russland. In der Folge ist die im Großen so fest und sicher gehandhabte Methode hier in Einzelheiten nicht mit voller Schärfe zur Anwendung gelangt. Rosa Luxemburg macht es mit Recht Kautsky zum Vorwurf, dass er den Begriff der Demokratie zu starr schematisch erfasst und nicht nach dem fließenden, veränderlichen sozialen Inhalt, mit dem das geschichtliche Leben die Form füllt. Jedoch sie selbst hat sich nicht stets ganz frei von einer etwas schematischen, abstrakten Auffassung der »Demokratie« zu halten vermocht.

Allerdings mit dem bezeichnenden Wesensunterschied, der bereits hervorgehoben wurde. Kautskys »Demokratie« ist rückwärts gerichteter, bürgerlicher Art, unter den gegebenen Umständen unrevolutionär, ja gegenrevolutionär. Rosa Luxemburgs »Demokratie« hat vom heißen Herzblut der Revolutionärin getrunken, sie ist vorwärts gewandter, proletarischer Natur, ist revolutionäre Demokratie. Wem würde das Herz nicht beseligt höher schlagen bei Rosas wundervollem, stolz rauschendem Hymnus auf die schöpferische Macht der »Demokratie«. jedoch die »Demokratie«, die er besingt, ist nicht von dieser Welt. Weder von der Welt der bürgerlichen Ordnung, noch von der Welt der proletarischen Diktatur, der harten Übergangszeit vom Kapitalismus zum Sozialismus, Kommunismus. Zumal nicht unter den unerhört schwierigen, ja grausamen Bedingungen, in deren Zeichen diese Übergangszeit für Sowjetrussland steht. Im Allgemeinen hat Rosa Luxemburg das alles scharf gesehen, voll gewertet. Die Bolschewiki haben das Größte geleistet, was Menschen in ihrer sozialen Gebundenheit in den gegebenen historischen Umständen zu leisten vermögen. Sie konnten nicht über ihre geschichtliche Kraft, konnten nicht »das Wunder« wirken, eine vollkommene, ideale Demokratie durchzuführen. So Rosa Luxemburgs Schlussurteil über die bolschewistische Politik. Bei der kritischen Prüfung von Einzelmaßnahmen dieser Politik, so dünkt mir, wird sie jedoch den konkreten Verhältnissen nicht voll gerecht, die sich dem Wunderwirken widersetzten. Das ist die andere Schwäche ihrer Kritik an der bolschewistischen Politik.

Rosa Luxemburg billigt rückhaltlos, dass die Bolschewiki nach dem Übergang der Staatsmacht an die Sowjets die Konstituante auseinander jagten. Sie missbilligt es aber ebenso entschieden, dass sie nicht sofort Neuwahlen zu einer anderen Konstituante ausschrieben. Sie befürwortet: Sowjets als festes Rückgrat der proletarischen Macht und Konstituante mit allgemeinem Wahlrecht. Die Frage drängt sich auf: welchen Charakter soll die geforderte Konstituante haben, welchem Zweck soll sie dienen? Soll sie eine Institution mit Machtbefugnissen sein, die neben den Sowjets den Interessen und dem Einfluss der bürgerlichen Klassen Geltung verschafft? Dann sind zwischen ihr und den Sowjets Kompetenzkonflikte, Machtkämpfe unvermeidlich, die durch eine übergeordnete Stelle entschieden werden müssen, und am Schlusse taucht wieder die Frage auf, die von der Revolution bereits entschieden ist: Diktatur des Proletariats und der Bauern oder Diktatur der besitzenden Klassen.

Rosa Luxemburg hat offenbar nicht an diesen hemmenden und gefährlichen Dualismus der Macht gedacht. Sie fordert »Sowjets als festes Rückgrat«. Soll also die Konstituante nur repräsentativen, ja dekorativen Charakter haben? Sollte sie zunächst die Sowjets als Frucht des »Volkswillens« formal legitimieren? Aber die Sowjets haben sich bereits mit der Eroberung der Staatsgewalt kraft revolutionären Rechts selbst legitimiert. Wie Lassalle dem deutschen Proletariat zu beweisen bemüht war: »Sei in der Macht, und du wohnest im Recht.« Eine Legitimierung der Sowjets durch die Konstituante wäre einer Anzweifelung ihres Rechts gleichgekommen und unter den gegebenen Umständen sogar einer Antastung, einer Erschütterung ihrer Macht. Soll die Konstituante neben den Sowjets ein politischer Diskutierklub und ein soziales Gutachterkollegium großen Stils sein, mit beratender Stimme, ein Hilfsorgan zur Anregung und Befruchtung der Sowjets und zur Erziehung der bürgerlichen Klassen für die politische, soziale Mitarbeit an dem Aufbau der neuen Ordnung?

Rosa Luxemburg hat diese nahe liegenden konkreten Fragen nicht gestellt. Mir scheint jedoch, dass Sowjetrussland sie bereits beantwortet und damit die bolschewistische Taktik als richtig erwiesen hat. Zugegeben, dass die Einberufung einer Konstituante, dass die Tagung eines Parlaments, hervorgegangen aus dem allgemeinen Wahlrecht, vielleicht den Widerstand und die Sabotage eines Teils der bürgerlichen Klassen, zumal der »Intellektuellen«, geschwächt und überwunden hätte. Dass durch sie den Regierungen der kapitalistischen Staaten ein Vorwand aus der Hand geschlagen worden wäre, die Sowjetmacht nicht anzuerkennen, sich mit deren russischen Todfeinden zu verschwören, die Arbeiter- oder Bauernrepublik zu blockieren und weißgardistische Heere gegen sie zu rüsten und zu unterhalten.

Allein man überschätze nicht den Einfluss so betätigter »Demokratie« auf die nationale und internationale Gegenrevolution. Die besitzenden Klassen aller Nationalitäten sind nicht so genügsam, wie die armen proletarischen Teufel, sie sind kühle, gute Rechner und lassen sich nicht durch den Schein betrügen, wenn es für sie um Herrschafts- oder Ausbeutungsgewalt geht, nicht im Kampfe darum unter einander, und erst recht nicht im Kampfe mit den Habenichtsen. Nationalversammlung, Konstituante und gesetzgebende Versammlung waren während der großen französischen Revolution kein Schutzwall gegen die Aristokratie und hohe Geistlichkeit, die zur Wiederherstellung der alten Ordnung Verschwörungen anzettelten, die Chouanen der Vendée gegen Paris führten, die Heere des monarchistischen Europas auf ihr Vaterland hetzten. Diese vom »Volkswillen« geschaffenen parlamentarischen Vertretungskörperschaften hielten nicht einmal das bibelfeste England davon zurück — dessen Staatsordnung doch das Geschöpf einer bürgerlichen Revolution war! — mit Truppen und gefälschten Assignaten gegen das revolutionäre Frankreich zu kämpfen. Dass die russische Gegenrevolution sich durch ein Parlament nicht einschüchtern lassen würde, hatte der vor der proletarischen Revolution 1917 drohende zaristisch-militaristische Staatsstreich deutlichst gezeigt. Sie und ihre internationalen Geschwister würden Aug‘ in Auge mit der Sowjetrepublik auch nicht vor einer Konstituante die Waffen niedergelegt haben.

Hingegen wäre sicherlich ein anderes geschehen. Die Konstituante würde zum »legalen« Sammelpunkt und Hort der Gegenrevolution und ihrer Zettelungen in Russland und im Ausland geworden sein. Jedoch noch eine schlimmere Folge als solche unmittelbare Machtstärkung der Gegenrevolution war zu befürchten. Wohl hatte die Losung: alle Macht den Sowjets! die breitesten proletarischen und bäuerlichen Massen unwiderstehlich ergriffen und in die Revolution geführt. Indessen war sie noch nicht dank dem Wirken und Walten der Sowjets als Organen der sozialen Neugestaltung im Bewusstsein der Massen fest, unausrottbar verwurzelt. Die Einberufung einer Konstituante wäre geeignet gewesen, Zwiespältigkeit, Unsicherheit, Schwanken in das Denken und Wollen der Arbeiter und Bauern zu tragen. So drohte bei Wahrung der Formen bürgerlicher Demokratie eine Schwächung, ja Gefährdung der revolutionären proletarischen Demokratie, der Vorstufe vollkommener Demokratie in einer klassenlosen Gesellschaft. Hinter der so harmlos, so realpolitisch klug gleißenden Konstituante lauerte die Diktatur der Bourgeoisie, der Gegenrevolution, bereit, zum Sprunge auszuholen. Der Sowjetregierung musste die proletarische Revolution vor der bürgerlichen Demokratie gehen.

Rosa Luxemburg rügt es, dass in Sowjetrussland das geltende Wahlrecht nicht allgemein, sondern auf diejenigen beschränkt ist, die von eigener Arbeit leben, mit anderen Worten, dass die Ausbeuter der Arbeit vom Besitz des Wahlrechts ausgeschlossen sind. Ihre Ausführungen zu dieser Bestimmung rücken in helles Licht, wie unvollständig hinter den Kerkermauern ihre Information über die russischen Verhältnisse geblieben war. So scheint es Rosa Luxemburg unbekannt gewesen zu sein, dass das eingeführte Wahlrecht ausdrücklich als »provisorisch« erklärt wurde. Es entspricht also der Voraussetzung, bei der auch sie unter proletarischer Diktatur die politische Entrechtung als konkrete Kampfesmaßregel gegen die Bourgeoisie gelten lässt.

Tatsächlich soll der Ausschluss der Nutznießer ausgebeuteter Arbeit eine Kampfesmaßnahme zur Sicherung der proletarischen Macht in Sowjetrussland sein. Mit der Einführung der Räteverfassung war hier der Kapitalismus noch nicht überwunden, es wurde nur der Weg freigelegt, es wurden soziale Kräfte entfesselt, um ihn zu überwinden. Die junge Räterepublik fühlte sich tagtäglich bei ihrer Abbau- oder Aufbauarbeit durch die noch vorhandene wirtschaftliche und soziale Macht der Bourgeoisie gehemmt, ja in ihrer Existenz gefährdet. Durfte sie diese Macht noch durch politische Rechte in den Sowjets stärken? Das wäre darauf hinausgelaufen, diese als Macht- oder Umwälzungswerkzeuge der schaffenden Massen zu entwerten und stumpf zu machen. Dass die politische Entrechtung nicht als »Strafe« bei Sabotage, Verschwörung etc. erfolgte — wie Rosa Luxemburg es für billig hielt —‚ sondern als allgemeine Maßregel, deucht mir taktisch richtig. Vorgesehen ist besser als nachbedacht.

Rosa Luxemburgs Voraussage hat sich nicht erfüllt, dass die von ihr verurteilte Wahlrechtsbestimmung zur politischen Entrechtung wachsender Massen von Arbeitern und Kleinbürgern führe, weil die zerrüttete Wirtschaft Sowjetrusslands nicht allen Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen Beschäftigung zu verbürgen vermöge. Unbestritten, dass bittere wirtschaftliche Nöte Hunderttausende städtischer Proletarier veranlasst haben, der Industrie den Rücken zu kehren und aufs Land abzuwandern. Sie gingen hier keineswegs ihres Wahlrechts verlustig und mehr noch: sie wirkten recht häufig als politische »Gärungsbazillen«, die die Bauernschaft in Bewegung setzten und politisch Gleichgültige in Wahlrechtsnutzende verwandelten. Doch noch andere, bedeutsame Umstände bewirkten ungeachtet des fortschreitenden wirtschaftlichen Verfalls eine Zunahme der Tätigen und Wahlberechtigten.

Die Aufstellung der Roten Armee entzog der Industrie, der Landwirtschaft, allen Zweigen der Wirtschaft und Verwaltung Millionen leistungstüchtiger Männer, die ihr Wahlrecht keineswegs verloren, für die aber Ersatz an den Amboss und hinter den Pflug treten musste. Die Ausrüstung und der Unterhalt des Heeres zwangen dazu, alle wirtschaftlichen Kräfte bis aufs Äußerste anzuspannen, wahre Riesenleistungen, Wunderleistungen zu vollbringen. Der leidenschaftliche Wille zum Aufbau und zur Behauptung Sowjetrusslands wirkte in der gleichen Richtung. Die Verwaltung und Verteilung des Lebensbedarfs im Zeichen des »Kriegskommunismus« erforderte einen sehr großen Personenapparat; andere Sowjeteinrichtungen und Sowjetämter nicht minder. Die großzügigen umfassenden Bestrebungen für Volksbildung — wie sie kein Land und keine Zeit bis jetzt gesehen — schufen vielen Zehntausenden einen Wirkungskreis. Das Nämliche galt von der staatlichen Organisierung des Gesundheitswesens, von der Einrichtung und der Ausgestaltung von Kranken- oder Versorgungshäusern, der Gründung von Mütter- oder Säuglingsheimen, von Kinderhorten, Kindergärten etc. Was an allen Ecken und Enden an den technischen Apparaten und Hilfsmitteln fehlte, das musste möglichst durch Menschenkraft ersetzt werden. Die rasche und umfangreiche Eingliederung der Frau in die gesellschaftliche Wirtschaft und Verwaltung Sowjetrusslands war nicht nur eine Frucht des Prinzips voller Gleichberechtigung der Geschlechter, sondern auch eine Auswirkung des Zwangs, den ungeheuren Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Das hat sich jetzt geändert, aber die unfreiwillig Arbeitslosen verlieren ihr Wahlrecht nicht. Noch Anfang Dezember 1920 war Sowjetrussland der einzige moderne Staat, der keine Arbeitslosigkeit als Massenerscheinung hatte.

So vermag ich nicht mit Rosa Luxemburg eine anachronistische Vorausnahme der vollentwickelten kommunistischen Gesellschaft darin zu erblicken, dass in Sowjetrussland der Besitz aktiven und passiven Wahlrechts an die Leistung eigener, nicht ausbeutender Arbeit geknüpft ist. Grundsätzlich aber ist meines Erachtens diese Verbindung wesentlich, ja unerlässlich. Sie bringt den radikalen Bruch mit dem Recht der Vergangenheit zum Ausdruck, den Bruch mit der bürgerlichen Ordnung des Privateigentums. Die bürgerlichen Revolutionen haben die politische Gleichberechtigung des bürgerlichen Vermögens und Einkommens mit dem feudalen Besitz gebracht, aber sie ließen mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln auch die Ungleichheit des Besitzes und die Besitzlosigkeit weiter bestehen. Diesem Stand der Dinge entsprachen die alten Wahlrechtssysteme mit ihren Beschränkungen und Privilegien nach der Steuerleistung, dem Bildungsgrad etc., mit ihrer Entrechtung der schaffenden Volksmassen. Die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts ist ein Anzeichen, dass im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft die Klasse der ausgebeuteten Besitzlosen empor drängt und soweit zum Bewusstsein ihrer Lage gekommen ist, dass sie die soziale Arbeitsleistung neben dem Besitz als Grundlage politischen Rechts zur Geltung bringt.

Die proletarische Revolution, deren Ziel die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln ist, die Vernichtung der Macht des Besitzes über die Arbeit, der Macht des Besitzenden und Ausbeutenden über den Arbeitenden, muss diesem Umsturz auch in dem politischen Recht Ausdruck verleihen. Das Wahlrecht, das die breite demokratische Basis der gesetzgebenden, verwaltenden und regierenden politischen Macht bildet, muss auf die sozial notwendige und nützliche Arbeit gegründet, muss Wahlrecht der schaffenden Gesellschaftsbürger sein, muss den Ausbeuter und Nutznießer fremder Arbeit ausschließen. Das Wahlrecht zu den Sowjets entspricht dem. Es ist das Wahlrecht des ersten großen Sieges der proletarischen Revolution. Indem diese den bürgerlichen Staat zertrümmerte und die Räteordnung schuf, musste sie auch ein Wahlrecht gleichen geschichtlichen, sozialen Wesens einführen. Wenn die Sowjets Träger und Werkzeuge der politischen Macht, des revolutionären Willens der Arbeiter und Bauern sind, so muss auch dass Wahlrecht zu den Sowjets ein Wahlrecht der Hand- oder Kopfarbeitenden sein. Nicht nur wegen der praktischen Auswirkungen, auch in Hinblick auf die grundsätzliche, die ideelle Bedeutung. Die Proklamierung des Grundsatzes: »Wer nicht arbeitet, wer die Arbeit anderer ausbeutet, darf nicht wählen, darf nicht gewählt werden«, soll den Kapitalisten nicht bloß politisch recht- oder machtlos machen, sondern ihn auch sozial brandmarken, ächten. Sie ist heute eine Maßregel proletarischer Diktatur und sozialer Erziehung, morgen wird sie eine Selbstverständlichkeit sein.

Es ist sehr wertvoll und verdient ernsteste, nachdenkende Aufmerksamkeit, was Rosa Luxemburg in der Nachlassbroschüre kritisch und fragend über die bolschewistische Politik bei der Durchführung der proletarischen Diktatur äußert. Nicht dass es meiner Meinung nach in allen Punkten zutreffend wäre. Seine Bedeutung beruht in anderem. Rosa Luxemburg weist hier eindringlich hin auf viel verschlungene Probleme und riesige Schwierigkeiten, die dem Proletariat erst nach seinem ersten entscheidenden Siege — der Eroberung der politischen Macht — entgegentreten, auf ungeheure Verantwortlichkeiten, die ihm dann mit seiner Diktatur zufallen. Es hieße eine verderbliche Vogelstraußpolitik treiben, wollten die sich gegen den Kapitalismus aufbäumenden Arbeiter, wollten wir Kommunisten den Blick vor dieser schicksalsschweren Perspektive verschließen.

Mit der Ergreifung der Staatsgewalt steht das Proletariat durchaus nicht am Ende seines mühe-, gefahren- oder opferreichen Weges, vielmehr vor neuen, harten Aufgaben und Kämpfen. Aus der Hölle des Kapitalismus kann es nicht mit einem einzigen, gewaltigen, sehnsuchtsgeschwellten Flügelschlag in das kommunistische Paradies fliegen. Es hat das Fegefeuer der Übergangszeit zu durchwandern, und die muss im Zeichen seiner Klassenherrschaft, seiner Diktatur stehen. So wollen es nicht etwa Rachegelüste und Herrschsucht des Proletariats, so zwingt es die Bourgeoisie auf, die sich mit Nägeln und Zähnen gegen die Ausrottung des Kapitalismus und die Aufrichtung der kommunistischen Ordnung wehrt.

Die proletarische Diktatur ist bei Lichte betrachtet Notwehr zum Schutze und für die Weiterentwicklung der Revolution und ihrer Errungenschaften. Sie muss der Bourgeoisie die Macht, die Hoffnung rauben, je wieder mit List oder Gewalt ihre Herrschaft aufrichten zu können. Sie muss Angriffen gegen die neue Ordnung möglichst vorbeugen, und sie muss solche Angriffe niederschlagen. Das siegreiche Proletariat bedarf des Friedens, als Voraussetzung für die Konzentration seiner Kräfte auf das Wegräumen des Schuttes der kapitalistischen Ordnung und auf die Gestaltung der höheren Gesellschaft. Seine Riesenaufgaben fordern äußerste »Menschenökonomie«. Es darf nicht nach dem bluttriefenden Muster des Kapitalismus Menschen vernichten, Menschen verkümmern machen, es muss darauf bedacht sein, möglichst alle zu schöpferischer Arbeit heranzuziehen. Allein:

»Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.«

Nach der Aufrichtung des Proletarierstaats noch vorhandene Besitzmacht, kapitalistische Macht, ist und bleibt »ein böser Nachbar«. Die proletarische Herrschaft und Diktatur ist mithin wohl ein Höhepunkt, jedoch nicht der Abschluss der Klassenkämpfe eines Landes. Und Diktatur, Herrschaftsgewalt der einen über die anderen besagt unter Umständen Einschränkung, ja Aufhebung der persönlichen und politischen Rechtsgarantien für die Feinde der geltenden Ordnung, besagt unter Umständen Steigerung der Gewaltanwendung bis zum Terror. Der Charakter und die einzelnen Maßnahmen der proletarischen Diktatur spiegeln das Stärkeverhältnis der Klassen ab, die unter ihr miteinander ringen. Ebenso die Stufe der Reife und Macht, die das Proletariat bereits erreicht hat, wie die Macht und den Widerstandswillen, den die Verteidiger der alten kapitalistischen Welt noch aufbringen. Es liegt auf der Hand, dass die proletarische Diktatur umso milder und großherziger sein kann, je stärker und befestigter die Macht des schaffenden Volks ist, je schwächer und bedeutungsloser die Kraft seiner Feinde.

Die Ausübung der Diktatur selbst ist eines der schwersten Probleme, das vom Proletariat in der Übergangszeit zum Kommunismus bewältigt werden muss. Wo ist die Grenze, bis zu der sich unter der Diktatur des Proletariats eine unvermeidliche Einschnürung, ja Verneinung der allgemeinen staatlichen Rechtsgarantien noch verträgt mit der notwendigen Demokratie, die Lebensluft für die Entwicklung und Betätigung der breiten, schaffenden Massen ist und damit für die Zielerfüllung der Revolution selbst? Wo ist die Grenze, an der Pflicht und Recht der Mehrheit hart zusammenprallt mit Pflicht und Recht der Minderheit, ja des Einzelnen? Wo ist die Grenze, an deren Jenseits das Wohl von Millionen, des Gesellschaftsganzen die äußerste und furchtbarste Gewaltanwendung gebietet — die Auslöschung menschlichen Lebens? Wo diese Gewaltanwendung aufhört, eine sich selbst sühnende Tat sozialer Notwehr zu sein und zum scheußlichen, gemeinen Verbrechen wird, das der Achtung vor dem Wert jedes Menschenlebens widerspricht, die im Gegensatz zum Kapitalismus zu den obersten Gesetzen des Kommunismus zählt?

Das Proletariat wird durch seine Diktatur vor diese und andere Fragen gleicher Natur gestellt. Sie alle treten aber nicht als abstrakte, akademische Preisfragen auf, über die man gemütsruhig diskutiert, um am Ende mit Pilatus in philosophischem Skeptizismus achselzuckend auszurufen: »Was ist Wahrheit?« Sie bedrängen vielmehr das Proletariat und seine verantwortlichen Führer in der Gluthitze des Kampfes mit unerbittlichen, rücksichtslosen Feinden, die danach trachten, das Proletariat in die alte Ausbeutung und Sklaverei zurückzuwerfen. Sie bedrängen es Tag für Tag, gebieterisch Antwort heischend, in konkreter Gestalt. Von der Entscheidung über ein gegenrevolutionäres Flugblatt bis zu Urteilen, die unter qualvollen Gewissenskämpfen gefällt werden.

Das alles im Banne der Revolution, die die alten sozialen Tafeln über die Bindungen von Mensch zu Mensch zerschlägt, ehe noch die neuen, höheren fertig beschrieben sind, in Zeiten, wo der stürmische Wirbel des geschichtlichen Vergehens und Werdens an die Oberfläche reiht, was in friedlichen Tagen in der Tiefe der Menschenbrust und der Gesellschaft ruht. Nicht immer bloß lauteres Gold, auch Schlamm und vulkanische, ausgebrannte Schlacken. Und der Krieg ist ein schlimmer »Erzieher«, mag er zwischen den Völkern oder den Bürgern eines Landes toben. Er reißt die Gitter der Zivilisation, der Menschlichkeit nieder und lässt wilden Bestien gleich Neigungen, Triebe, Leidenschaften hervorbrechen, die den Menschen aus dunkler, tierischer Vergangenheit überkommen sind und für gewöhnlich unter der Schwelle des Bewusstseins schlummern. So sind es schwerste Belastungsproben für die politische und menschliche Reife, die die Diktatur des Proletariats diesem, seiner führenden Partei, jedem Revolutionskämpfer bringt. Gewissenskonflikte, die sich nicht durch Schlagworte und allgemeine geschichtliche Wahrheiten übertäuben lassen, die bei jedem neuen Fall aufs Neue durchgerungen werden müssen, und bei denen es um mehr geht, als um die persönliche Seelenruhe der Entscheidenden: um das Wohl der Millionen, deren Schicksal in dem Auswirken der proletarischen Revolution beschlossen liegt.

Rosa Luxemburgs kritische Gedankengänge über die bolschewistische Politik der proletarischen Diktatur sind beherrscht von dem klaren Wissen um die Schwierigkeit des von der Geschichte aufgerollten Problems und der Schwere der Verantwortlichkeit für jene, die sich damit auseinanderzusetzen haben. In knappen Worten, oft nur in Andeutungen spricht dabei ihr historischer Sinn, wie ihre tiefe, reine Menschlichkeit, die so stark des »Daseins unendliche Kette« empfand, die alles Lebende mit einander verbindet. Die gründliche Kennerin der Geschichte der Revolutionen, die scharfsinnige, revolutionäre Denkerin misst die Härten der proletarischen Diktatur und die Furchtbarkeit des Terrors, wie sie ihres Dafürhaltens in der bolschewistischen Politik Ausdruck gefunden haben, nicht an der Elle bürgerlicher Moral. Sie benutzt auch nicht die billige Gelegenheit, um die bolschewistische Politik im Allgemeinen und den Terror im Besonderen »grundsätzlich« entrüstet zu verdammen. Sie ist frei von der sich so überlegen gebärdenden und doch so kindlich-hilflosen Illusion, als ob das von der Gegenrevolution heraufbeschworene, harte geschichtliche Muss sich bannen lasse durch feierliche Eidschwüre für die »Demokratie«, die »gerechte und milde« Handhabung der proletarischen Diktatur und die grundsätzliche Verwerfung des Terrors. Der Terror ist ein taktisches, kein grundsätzliches Problem. Er kann »als Grundsatz« weder beschworen, noch verworfen werden. Er ist geschichtlich zu begreifen aus den jeweiligen tatsächlichen Verhältnissen heraus, unter denen er auftritt.

Rosa Luxemburg betrachtet die bolschewistische Diktaturpolitik in Hinblick auf die Sicherung und Weiterentwicklung der proletarischen Revolution. Ihrer Meinung nach hat diese Politik die oben aufgezeigten Grenzen überschritten und damit besorgniserregende Gefahren für die proletarische Revolution selbst entfesselt, die sie zu verteidigen wähnte. Man erinnere sich der einschlägigen Stellen der Nachlassbroschüre über die »‚Erdrückung der Demokratie« durch die Knebelung der Presse-, Vereins- oder Versammlungsfreiheit; über die schonungslose Bekämpfung der Menschewiki, der Sozialrevolutionäre, kurz aller nicht-bolschewistischen Parteien; den Terror gegen die Bourgeoisie. Diese Stellen sind oben wörtlich wiedergegeben, wie auch die Ausführungen über die nach Rosas Meinung drohenden Folgen der bolschewistischen Politik: die Verarmung und Verrohung des öffentlichen Lebens, das Aufkommen einer selbstherrlichen und korrupten Bürokratie, das Umschlagen der Klassenherrschaft und Klassendiktatur des Proletariat in Parteiherrschaft, in Cliquenwirtschaft, in Diktatorentum Einzelner. Die allgemeinen Schlussfolgerungen, die Rosa Luxemburg mit der ihr eigenen unerbittlichen Logik zieht, stehen fest wie Mauern. Allein es fragt sich doch: ist die konkrete Grundlage ebenso fest, auf die sie aufgebaut sind, von der sie ausgehen? Das ist die Frage, deren Beantwortung für das Urteil über die bolschewistische Politik entscheidend ist.

Im Gegensatz zu ihrer Arbeitsgepflogenheit, allgemeine Schlüsse durch Tatsachen zu begründen, lässt es Rosa Luxemburg in ihren Darlegungen über die Ertötung des öffentlichen Lebens in Sowjetrussland durch die bolschewistische Politik an tatsächlichem Beweismaterial fehlen. Sie gibt eine allgemeine Charakterisierung und ein einziges Beispiel. Die 200 »Sühneopfer« der sozialrevolutionären Verschwörung, die zur Ermordung des deutschen Gesandten von Mirbach führte. Dieser Fall soll in einem anderen Zusammenhang erörtert werden. Das eine Beispiel, so erschütternd es ist, dünkt mir als Beweismaterial mager.

»Was bedürfen wir des weiter Zeugnis?« werden die patentierten Schützer der »Demokratie« ausrufen. Sie alle, von Miljukow bis Crispien, über Stampfer und Martow, die unter Kautskys hohepriesterlicher Führung auf den Bolschewismus deutend, den Regierungen der Ententeimperialisten zu kreischen: »Kreuziget ihn! Kreuziget ihn!« Für sie ist der vollgültige Beweis für die bolschewistische Terrorschuld erbracht durch das, was die russischen »Antibolschewisten« jeder Schattierung darüber in Umlauf gesetzt haben. Durch die Beschuldigungen, Verwünschungen, Beschimpfungen, Klagen und Anklagen, die gegen die »Bolschewiki« erhoben werden von Liberalen, Demokraten, Menschewiki, Sozialrevolutionären, Volkstümlern, kurz von allen Parteien, von deren Politik die Arbeiter und Bauern in der Novemberrevolution erklärten: »Gewogen und zu leicht befunden«. Dazu der Chor von Großgrundbesitzern, Fabrikanten, Großkaufleuten, Finanziers, Spekulanten, Wucherern, für die das Land des »Umsturzes« eine Stätte des Grausens wurde, weil die proletarische Staatsgewalt die respektlose Faust nach dem Eigentum dieser Herrschaften ausstreckte, und die flüchteten, so viel als möglich von ihrem Reichtum mit freundlicher Hilfe der deutschen Gesandtschaft über die Grenze verschiebend, oder »die in Kellerlöchern zitterten«, wo sie ängstlicher als ihr Leben ihre Schätze hüteten.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752141832
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
Sozialismus Rosa Luxemburg Oktoberrevolution Sowjetunion

Autoren

  • Clara Zetkin (Autor:in)

  • Sascha Staničić (Autor:in)

Sozialistin und Mitbegründerin des internationalen Frauentags
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Titel: Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution