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Wie viel Angst erträgst du?

Katja Paulsens zweiter Fall

von Lena Viajera (Autor:in)
173 Seiten
Reihe: Katja Paulsen ermittelt, Band 2

Zusammenfassung

Wie weit würdest du gehen, um deine Angst zu besiegen? Eine Serie von Verbrechen erschüttert die Berliner U-Bahn-Nutzer. Die Presse spekuliert wild über die Hintergründe und thematisiert die zunehmende Gewalt in der Hauptstadt. Währenddessen beschleicht Katja Paulsen ein schrecklicher Verdacht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Wie viel Angst erträgst du?

Katja Paulsens zweiter Fall

 

Von Lena Viajera

 

 

Kapitel 1

Die braunen Augen fixierten Katja. Die Detektivin wich keinen Millimeter zurück. Jede Faser ihres Körpers war angespannt. Die Umgebung verschwamm in ihren Augenwinkeln und sie richtete ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit auf ihr Gegenüber. In seinem Blick lag etwas Lauerndes. Er wartete auf den geeigneten Moment, um zuzuschlagen. Die Beute in greifbarer Nähe. Katjas Muskeln verkrampften, aber sie hielt durch, nicht bereit, aufzugeben.

Der melodische Gong der Türklingel unterbrach die Szene. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ihr Blick Richtung Wohnungstür. Dieser, einem Wimpernschlag gleiche Moment genügte dem treuen, alten Schäferhund Fridolin, um den Gummiball, der zwischen Katja und ihm auf dem Boden gelegen hatte, zu schnappen und seine Beute triumphierend im Maul davon zu tragen.

Die Detektivin lachte. Seit er sie bei ihrem letzten Fall unter Einsatz seines Lebens gerettet hatte, existierte eine tiefgehende Verbindung zwischen ihr und dem alten Schäferhund ihres Vaters. Unbewusst betastete Katja die Rippen, die sie sich auf dem Teufelsberg gebrochen hatte, als sie gegen den Unterweltboss Michael Sauer um ihr Leben gerungen hatte. Die körperlichen Wunden waren verheilt und auch Fridolin hatte sich nach schweren Verletzungen zurück ins Hundeleben gekämpft.

 

Katja lief in den Flur, warf einen Blick durch den Türspion und öffnete. Herein strömten ihr Sohn Jonas mit seiner Freundin Nele sowie Katjas Vater und Seniorpartner in der Detektei Rainer Koch.

 

Es herrschte eine ausgelassene Stimmung beim Abendessen. Es hatte keiner besonderen Überredungskunst bedurft, damit Jonas Großvater zum Essen blieb. Der Duft der frisch zubereiteten Lasagne sprach für sich. Und Nele war sowieso seit geraumer Zeit Stammgast im Hause Paulsen. So war der Tisch voll und Katja genoss die Atmosphäre.

Das beherrschende Gesprächsthema war, mal wieder, die Erderwärmung und die Klimapolitik der Bundesregierung. Jonas und Nele engagierten sich in der Fridays for Future - Bewegung und Katja musste zugeben, dass sie sich seitdem bewusster Gedanken über den Klimawandel machte.

Gerade berichtete Jonas mit leuchtenden Augen, wie viele seiner Mitschüler mittlerweile mit dem Fahrrad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schule kamen, statt sich von den Eltern mit dem Auto kutschieren zu lassen.

Auch Katja hatte, nachdem die Diagnose für ihren Mini Cooper nach einem Unfall „wirtschaftlicher Totalschaden“ lautete, auf die Anschaffung eines neuen Autos verzichtet. Seitdem fuhr sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln und erlebte dort nicht selten unterhaltsame Szenen.

 

„Ach, ich wollte euch ja noch von meinem jüngsten U-Bahn-Abenteuer berichten.“, begann sie.

Drei Augenpaare schauten sie erwartungsvoll an. Die Pannen der Ex-Autofahrerin, die jahrelang überall mit ihrem Mini Cooper hingefahren war, und die sich erst mit dem öffentlichen Nahverkehr anfreunden musste, waren beliebtes Gesprächsthema. Nele und Jonas hatten schallend gelacht, als Katja kürzlich berichtete, wie sie stundenlang gebraucht hatte, um mit der S-Bahn an ihr Ziel zu kommen. Sie war in der Ringbahn in die falsche Richtung eingestiegen und hatte ihren Fehler erst nach rund zwanzig Minuten Fahrt bemerkt.

„Ich steige gestern in die U2 ein und freue mich, dass ich einen Sitzplatz habe. Zwar war es ein bisschen kuschelig, weil nicht alle Passagiere in meiner Reihe die genormte U2-Leibesfülle hatten, aber wen kümmert‘s.“, berichtete sie augenzwinkernd.

Die Berliner Linie U2 war schmaler als viele andere U-Bahn-Linien. Dies hatte zur Folge, dass die Fahrgäste nicht in Vierern, je paarweise gegenüber, sondern nebeneinander in langen Reihen, die entlang der Fenster verliefen, saßen. In den älteren Waggons waren Beginn und Ende eines einzelnen Sitzplatzes nicht gekennzeichnet. Es gab einfach zwei durchgehende, sich gegenüberliegende Sitzreihen. Die Frage, wie viele Menschen in eine Reihe nebeneinander passten, wurde von den Fahrgästen unterschiedlich beantwortet. Manche bevorzugten eine Handbreit Abstand zum Nebenmann, andere hatten kein Problem damit, ein bisschen auf Tuchfühlung zu gehen.

„Wir hocken da also wie die Hühner auf der Stange, da kommt ein junger Mann herein. Die Bahn fährt los, er bringt sich in Position und fragt jeden Einzelnen in der Reihe nach Kleingeld.“

Jonas nickte wissend. Die Frequenz der Bettler und Straßenzeitungsverkäufer war hoch in der Berliner U-Bahn. Manchmal stieg in jeder Station jemand Neues ein, der etwas verkaufen wollte oder um eine kleine Spende bat. Die meisten waren harmlos und einigermaßen höflich.

„Eine ältere Dame schaut ihn kritisch von Kopf bis Fuß an und fragt: Junger Mann, wozu brauchen Sie denn das Kleingeld? Der Bettler stutzt kurz, grinst frech und antwortet: Damit ich mir Taschentücher kaufen kann. Die rüstige Lady lächelt erfreut und greift in ihre Tasche.“

Katja machte eine kleine Kunstpause.

„Der Typ rüttelt schon mal voller Vorfreude seinen Pappbecher, in den die Leute ihre Spenden reinwerfen sollen, da holt die Frau ein Päckchen Taschentücher aus ihrer Tasche und hält es ihm freudestrahlend hin!“

Katjas Stimme vollführte einen kleinen Hüpfer, weil sie ihr Lachen nur schwer zurückhalten konnte.

Das Klirren von Besteck auf Porzellan ließ sie aufschrecken. Nele sprang auf, stieß dabei ihren Stuhl um und verließ fluchtartig den Raum. Völlig perplex wanderte Katjas Blick von der Tür, durch die die Jugendliche gerade verschwunden war, zu Jonas. Der hatte sich bereits halb erhoben, um seiner Freundin nachzugehen. Sein Gesichtsausdruck offenbarte eine Mischung aus Bedauern und Sorge.

„Ich erklär es dir nachher.“, sagte er knapp und verließ ebenfalls den Raum.

 

Später am Abend weihte er sie in ein Geheimnis ein.

„Du weißt doch, dass Nele im Moment ein Praktikum macht, oder?“, fragte Jonas. Prüfend sah er seine Mutter an, fast so, als wolle er sich vergewissern, dass sie die Angelegenheit ernst nahm.

Katja nickte.

„Dafür muss sie immer sehr früh morgens mit der U-Bahn los. Da sind dann teilweise auch Leute drinnen, die gerade erst vom Feiern nach Hause fahren.“, fuhr er fort.

Wieder nickte Katja.

„Vor zwei Wochen musste Nele mitansehen, wie eine Gruppe betrunkener Deppen einen Jugendlichen verletzt hat.“

Katjas Augenbrauen schnellten nach oben.

„Erst haben sie wohl nur rumgelabert. Verlangten sein Handy. Als er das Handy nicht rausgeben wollte, hat einer der Typen eine Bierflasche kaputt geschlagen und damit vor dem Gesicht seines Opfers rumgefuchtelt. Der hat den Arm zur Abwehr gehoben und da hat ihn der Vollidiot mit der zersplitterten Bierflasche geschnitten.“

Katja platzte heraus: „Und keiner hat etwas unternommen? Niemand hat geholfen?“

Jonas zuckte mit den Schultern. „Um die Zeit waren noch nicht so viele Leute in der Bahn. Nele hatte jedenfalls total Schiss. Sie war hilflos und überfordert. Sie meinte, den anderen wäre es wahrscheinlich genauso gegangen.“

Katja knirschte mit den Zähnen.

„Als die Deppen das Blut gesehen haben, haben sie die Flucht ergriffen. An der nächsten Station sind sie raus. Eine Frau hat die Notbremse gezogen und jemand hat einen Rettungswagen gerufen. Die Polizei kam und alle mussten eine Aussage machen.“

Pfeifend sog Katja die Luft in ihre Nase.

Jonas setzte erklärend hinzu: „Ich habe Nele versprochen, niemanden davon zu erzählen. Sie kommt nicht gut klar damit, hat Alpträume und in ein paar Tagen hat sie sogar einen Termin bei einem Therapeuten. Ihre Eltern haben den für sie gemacht.“

„Vernünftig.“, murmelte Katja.

Sie registrierte, dass ihr Sohn auch ihr gegenüber geschwiegen hatte. Bis heute.

 

Kapitel 2

Sie zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Mit jeder Stufe, die sie weiter hinunter stieg, wurde die Luft schlechter.

Auf dem U-Bahnsteig vermischten sich Uringestank und der Duft von aufgebackenen Brötchen. Sie musste ein Gefühl von aufkommender Übelkeit unterdrücken.

An eine Treppe gelehnt schlief ein Obdachloser, seine Hände hielten sein weniges Hab und Gut, verpackt in Plastiktüten, fest umklammert. ‚Erstaunlich, dass er bei dieser Geräuschkulisse schlafen kann.‘, wunderte sie sich. Oder schlief er gar nicht? Hatte er bloß die Augen geschlossen, um seine Umgebung auszublenden? Würde er jeden Moment aufspringen und sie womöglich ansprechen?

Eilig lenkte sie ihre Schritte Richtung Backshop. Dort standen einige Leute, die auf die U-Bahn warteten. Sie sahen aus, als seien sie auf dem Weg zur Arbeit. Ihre Nähe vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit. Auch wenn sie wusste, dass dieses Gefühl trügerisch war. Niemand würde ihr helfen.

Kapitel 3

Interessiert las Katja den Inhalt der Akte ein zweites Mal.

Jens Breuer hatte angegeben, sein Auto sei aufgebrochen worden. Allerdings wies das Fahrzeug keinerlei Einbruchsspuren auf. Nicht die kleinste Schramme oder winzigste Delle hatte der Sachverständige gefunden. Da Jens Breuer einen teuren Laptop als gestohlen gemeldet hatte, wollte die Alte Lübecker Versicherung, dass Katja Paulsen den Fall untersuchte.

 

Sie war froh, wieder einen ganz normalen Versicherungsfall bearbeiten zu können. Ihr letzter großer Fall hatte sie aus ihrem gewohnten Ermittlungsumfeld in die Berliner Unterwelt gezwungen und ihr Leben ernsthaft in Gefahr gebracht. Diese Erfahrung wollte sie auf keinen Fall wiederholen.

Katja Paulsen war in zweiter Generation Privatdetektivin. Sie führte die renommierte Detektei Paulsen gemeinsam mit ihrem Vater Rainer Koch als Seniorpartner. Die Klienten der Detektei bestanden größtenteils aus Versicherungen, die Katja Paulsen einschalteten, wenn es um die Auszahlung größerer Versicherungssummen ging und Zweifel an dem Sachverhalt bestanden.

Die Detektei war klein aber fein. Zwei Büros, eine winzige Kaffeeküche und ein geräumiger Flur genügten Katja und ihrem Vater.

Es gab weder nennenswerte Laufkundschaft noch eine Sekretärin oder Empfangsmitarbeiterin. Die Detektei befand sich gemeinsam mit drei Wohnungen in einem Mehrfamilienhaus. Ein schlichtes Messingschild neben der Haustür wies auf die Anwesenheit der beiden Detektive hin.

 

Katja beschloss, einen Termin mit Jens Breuer zu vereinbaren. Sie hatte keinen Grund, an dem Sachverständigengutachten zu zweifeln. Dennoch fand sie die Geschichte spannend und wollte sich ein eigenes Bild von dem Versicherten machen, um seine Glaubwürdigkeit einschätzen zu können.

Spurenloser Einbruch überhaupt möglich?! notierte sie außerdem auf dem Seitenrand des Sachverständigengutachtens. Dieser Frage würde sich ihr Vater, der sich für jede Form von technischer Spielerei begeistern konnte und stets über die neuesten Entwicklungen informiert war, gewiss mit Freude widmen.

Kapitel 4

Ihr Blick huschte von links nach rechts und blieb an einer Frau hängen, die sich während der Fahrt schminkte. Das Ruckeln der U-Bahn schien sie dabei überhaupt nicht zu stören. Seelenruhig tuschte sie ihre Wimpern und bog sie anschließend mit einer Wimpernzange in die gewünschte Form.

Schräg gegenüber saß ein Typ im Blaumann, der die neueste Ausgabe der BZ studierte.

Ein Jugendlicher mit riesigen Kopfhörern wippte im Takt zu einer Musik, die nur er hörte. Gleichzeitig starrte er konzentriert auf sein Smartphone.

Sie entspannte sich ein wenig. Erfreut hatte sie festgestellt, dass sie in einer der neueren U-Bahnen saß, durch die man auch während der Fahrt einmal ganz von vorne bis nach hinten durchgehen konnte. Das reduzierte ihr Gefühl, eingesperrt zu sein. Sie holte ihren E-Book-Reader aus dem Rucksack, und begann, zu lesen.

Kapitel 5

Jens Breuer lächelte sie freundlich an und streckte Katja Paulsen seine Hand zum Gruß entgegen. Zuvor hatte er interessiert ihre Visitenkarte gelesen und in die Brusttasche seines Jeanshemdes gesteckt.

„Möchten Sie vielleicht einen Kaffee? Oder etwas anderes?“, fragte er.

„Ein Kaffee wäre nett.“, antwortete Katja und beobachtete anschließend erfreut, wie er einen kleinen Bialetti-Espressokocher auf den Herd stellte. Dieser Kaffee würde ganz nach ihrem Geschmack werden.

Ihr Blick schweifte durch die großzügige Wohnküche, in die sie Jens Breuer gebeten hatte. Die Einrichtung war hochwertig, aber nicht protzig. Es gab einen großen Tisch aus Massivholz, dessen eindeutige Gebrauchsspuren von häufigem geselligen Beisammensein zeugten. Katja stellte fest, dass sie sich hier wohlfühlte.

 

„Ich habe mir schon gedacht, dass die Alte Lübecker mir nicht glaubt.“, eröffnete Jens Breuer das Gespräch.

Er hatte sich Katja gegenüber gesetzt und zu den Espressi kleine italienische Kekse auf den Tisch gestellt.

„Sie müssen zugeben, dass die Geschichte ungewöhnlich ist.“, antwortete Katja und beobachtet die Reaktion ihres Gegenübers aufmerksam.

Jens Breuer war nur unwesentlich älter als Katja. Er hatte ein sympathisches Gesicht, seine Augen waren von kleinen Lachfältchen umgeben und in seinen Augen blitzte gelegentlich eine Portion Schalk auf.

„Wem sagen Sie das? Ich habe ernsthaft an mir gezweifelt, als ich zu meinem Auto kam, aufschloss, und feststellte, dass der Laptop weg war. Das Auto wirkte völlig unversehrt!“

Innerlich machte Katja sich eine Notiz. Die Bedingungen der Hausratversicherung, die Jens Breuer bei der Alten Lübecker abgeschlossen hatte, sahen vor, dass überhaupt nur Diebstähle aus verschlossenen Autos versichert waren.

„Erzählen Sie mir doch bitte noch einmal, Schritt für Schritt, was sich abgespielt hat.“, bat sie ihn.

Zwar wusste sie, was er in seiner schriftlichen Schadenmeldung gegenüber der Versicherung angegeben hatte. Aber sie hatte die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die logen, beim wiederholten Erzählen der Geschichte unbewusst Variationen einbauten.

Jens Breuer lachte kurz. Ein freundliches Lachen.

„Nun. Ich saß in meinem Auto, wollte los zu einem Termin und stellte fest, dass ich mein Handy hier oben auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte. Meinen Laptop, den ich für den Termin ebenfalls brauchte, hatte ich auf den Beifahrersitz gelegt.“

Er machte eine kleine Pause, trank einen Schluck Espresso.

„Ich bin also ausgestiegen, habe die Tür zugemacht und diesen Knopf gedrückt.“

Er zeigte auf das Symbol mit dem geschlossenen Vorhängeschloss an seinem Autoschlüssel.

„Ich habe das Klacken der Zentralverriegelung gehört.“

Katja quittierte seine Schilderung mit einem Nicken während sie an einem der kleinen, süßen Kekse knabberte.

„Als ich hier oben war, klingelte mein Handy. Ich bin schnell hier rein und habe das Gespräch angenommen. Es dauerte etwas länger, deshalb bin ich nicht sofort wieder runter.“

Wieder nickte Katja.

„Als ich schließlich runterkam und aufschloss, habe ich meinen Augen nicht getraut. Das Auto war genau so, wie ich es verlassen hatte. Keine Schramme, keine eingeschlagene Scheibe, nichts. Aber der Laptop war weg. Als ob er sich in Luft aufgelöst hatte!“

„Wie haben Sie das Auto aufgeschlossen?“, frage Katja zur Kontrolle.

„Na, wie wohl? Ich habe hier drauf gedrückt.“

Dieses Mal zeigte er auf das Symbol mit dem geöffneten Vorhängeschloss an seinem Autoschlüssel.

„Und ja, ich habe das Klacken der Zentralverriegelung gehört!“, setzte er hinzu, und beantwortete damit Katjas unausgesprochene Frage.

Sie runzelte die Stirn. Jens Breuer war beim Erzählen lauter, aber nicht unfreundlich geworden. Auf Katja wirkte er wie ein Mann, der sich der Tatsache bewusst war, dass er etwas erzählte, dass schwer zu glauben war.

 

Er sprang auf, ging um den Tisch herum und berührte Katja am Oberarm.

„Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.“

Überrumpelt stand Katja auf. Jens Breuer stand wartend im Türrahmen, den Autoschlüssel in der einen und den Wohnungsschlüssel in der anderen Hand. Rasch schnappte Katja sich ihre Tasche und gemeinsam liefen sie die Treppen des Altbaus hinunter auf die Straße.

 

Jens Breuers Auto parkte nur wenige Meter von seinem Wohnhaus entfernt. Dort angekommen, nahm er ihre Hand und legte seinen Autoschlüssel hinein. Auffordernd sah er ihr in die Augen. In seinem Blick lag etwas Drängendes, und Katja ahnte für einen Moment, dass dieser Mann keine halben Sachen machte.

Sie drückte auf das geöffnete Schlosssymbol, es klackte und sie konnte die Autotür öffnen. Sie schloss sie wieder, drückte auf das geschlossene Symbol und hörte erneut das Klacken. Prüfend zog sie an dem Türgriff, die Tür war verschlossen.

„Das meinte ich. Genauso hat es sich angehört.“, sagte Jens Breuer energisch.

 

Nachdenklich sah Katja ihn an. Sie hatte nicht den Eindruck, dass der Mann sie anlog. Aber wie war der Laptop dann aus dem verschlossenen Auto verschwunden?

Ihre Randnotiz kam ihr in den Sinn. Sie musste mit ihrem Vater sprechen. Vielleicht konnte er mittlerweile etwas zu der Frage sagen, ob so etwas überhaupt technisch möglich war.

 

„Haben Sie vielen Dank, Herr Breuer. Sollte ich noch weitere Fragen haben, werde ich mich melden. Falls Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte ebenfalls.“, verabschiedete sie sich.

Jens Breuer nickte. In seinem Blick lag jetzt eine Spur von Resignation.

Kapitel 6

Das Buch war so spannend, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass sie bereits einige Stationen zurückgelegt hatte. Prüfend blickte sie aus dem Fenster, um zu sehen, an welcher Station sie sich gerade befand.

Die junge Frau, die sich geschminkt hatte und der Typ in dem Blaumann stiegen aus.

Die Lampen über den Türen blinkten rot und ein gleichmäßiges Tuten kündigte an, dass die U-Bahn im nächsten Moment weiterfahren würde. Sie lehnte sich zurück. Atmete ein, atmete aus.

‚Du darfst dich nicht so verrückt machen.‘, dachte sie.

 

Dann kamen sie.

Lärmend stürmten sie auf die sich bereits schließenden Türen zu. Einer stemmte sich dazwischen. Seine Muskeln zeichneten sich deutlich unter seinem T-Shirt ab, als er mit aller Kraft die Türen aufhielt, damit seine Kumpels noch in die Bahn schlüpfen konnten.

Alle anderen Türen waren bereits geschlossen. Das Tuten dauerte an. Ihr kam es so vor, als würde es lauter, drängender.

Fünf junge Männer hatten sich in letzter Sekunde in die U-Bahn gedrängt. Sie waren laut und aufgekratzt.

‚Wahrscheinlich betrunken.‘, dachte sie. ‚Oder high.‘

Zwei setzten sich neben sie. Die anderen drei setzten sich ihnen gegenüber.

Ihr Herzschlag beschleunigte. Die Angst war wieder da. Dieses mühsam in Schach gehaltene, alles überlagernde Gefühl breitete sich wie eine Welle in ihrem Körper aus. Ließ sie nicht mehr klar denken.

Die Männer unterhielten sich lautstark.

„Dicker, ich bin auf Bewährung. Ich kann sowas nicht machen.“, rief einer und gestikulierte dabei stark.

Sein Gegenüber lehnte sich zurück und streckte seine Arme auf der Rückenlehne aus. Seine Fingerspitzen berührten ganz kurz ihre Schulter.

Sie spürte, wie der Angstschweiß ihr Shirt durchtränkte. Starr vor Angst bewegte sie sich keinen Millimeter. Ihre Augen blickten auf ihren E-Book-Reader, ohne tatsächlich etwas zu erkennen.

„Dicker, erzähl mir nicht, du bist auf Bewährung. Ich, Dicker, ich hab schon gesessen.“, sagte der Mann neben ihr jetzt.

Ein strenger Geruch strömte aus seinen Poren. Schweiß und Alkohol.

Die U-Bahn hielt.

Sie überlegte, zu fliehen. Aufspringen, raus hier.

„Dicker, müssen wir hier raus?“, hörte sie einen der jungen Männer.

‚Oh Gott. Ich alleine mit denen auf dem Bahnsteig.‘, dachte sie.

Allein die Vorstellung verursachte einen neuen Schweißausbruch. Also harrte sie aus.

Die Türen schlossen sich. Keiner der Männer war ausgestiegen. Die Chance zur Flucht vertan.

„Dicker, hier nicht.“, rief einer.

Sie versuchte, sich unsichtbar zu machen. Starrte auf den Reader. Nahm unterbewusst wahr, wie der Bildschirmschoner anging.

„Dicker, nich so laut. Einige lesen hier!“, rief jetzt einer der Typen.

‚Sie haben dich gesehen. Natürlich haben sie dich gesehen. Du bist ja nicht unsichtbar.‘, dachte sie.

„Dicker, die liest nicht.“

„Dicker, woher willst du das wissen, Mann?“

„Dicker, du kannst doch gar nicht lesen!“

Einige lachten laut und gehässig.

„Bitte alle aussteigen. Dieser Zug endet hier.“, ertönte eine laute Durchsage.

Schlagartig sprangen die jungen Männer auf, verließen die U-Bahn und liefen lärmend und johlend den Bahnsteig entlang zum Ausgang.

Sie erhob sich. Sackte zurück. Ihre Knie waren weich wie Butter.

„Bitte alle aussteigen. Dieser Zug endet hier.“, wiederholte sich die Durchsage.

‚Du. Musst. Hier. Raus.‘

Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte. Wankte, gleich einer Betrunkenen, aus dem Zug. Stützte sich mit den Händen gegen die gekachelte Bahnhofswand und wartete darauf, dass sich ihr Atem beruhigte. Starrte auf ihre Fußspitzen.

Kapitel 7

„Es ist möglich, einen Autoschlüssel elektronisch zu manipulieren. Theoretisch könnten Diebe ein Auto auch mit einem selbst programmierten Schlüssel öffnen. Und wieder verschließen.“

Katja lehnte an der Spüle der kleinen Kaffeeküche in der Detektei und hörte gespannt, was ihr Vater zum Thema spurenloser Einbruch recherchiert hatte.

„In den meisten Fällen wird aber mit einem Sender die Funkfernbedienung des Autos blockiert.“, führte Rainer Koch aus.

„Der Autobesitzer denkt, er habe abgeschlossen, weil er wie gewohnt den Knopf drückt, tatsächlich bleibt das Auto aber offen. Er geht weg, die Diebe warten ab und bedienen sich dann in aller Seelenruhe.“

 

Katja grübelte. Jens Breuer hatte berichtet, das Klacken der Zentralverriegelung gehört zu haben. Aber vielleicht hatte er sich das auch nur eingebildet? Weil es das war, was immer passierte, was normalerweise passierte, wenn er den Knopf auf der Fernbedingung drückte?

 

„Die Alte Lübecker kann es sich auf jeden Fall leicht machen.“, hörte sie ihren Vater sagen.

Aufmerksam sah sie ihn an.

„Die Hausratversicherung greift nur, wenn aus einem verschlossenen Auto etwas gestohlen wird. Da es aber laut Sachverständigengutachten keinerlei Einbruchsspuren gibt, kann sich die Versicherung auf den Standpunkt stellen, dass das Auto eben nicht abgeschlossen war.“

Katja verstand.

„Und damit Jens Breuer in die Position versetzen, das Gegenteil beweisen zu müssen.“, vollendete sie Rainer Kochs Gedanken.

Kapitel 8

„Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einem Stuhl.“

Sie lauschte der Stimme des Therapeuten. Aufmerksam sah sie ihn an. Sie hatte es abgelehnt, sich auf eine Couch zu legen. Lieber saß sie dem Mann gegenüber und sah ihm während des Gesprächs in die Augen.

„Verspüren Sie dabei Angst?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

Er nickte bestätigend.

„Und nun stellen Sie sich vor, der Stuhl steht auf einem kleinen Podest auf dem Dach eines Wolkenkratzers ohne Absturzsicherung.“

Sie runzelte die Stirn.

„Haben Sie dann Angst, sich darauf zu setzten?“

Unwillkürlich nickte sie.

„Übertragen auf das U-Bahn-Fahren. Sind Sie selbst vielleicht diejenige, die den Stuhl gedanklich auf den Wolkenkratzer stellt, obwohl er in einem sicheren Raum steht?“

Sie antwortete nicht. In ihrem Gehirn arbeitete es.

Der Therapeut hatte das Gefühl, seine Aussage verdeutlichen zu müssen.

„In jeder U-Bahn gibt es mehrere Ausgänge, eine Notbremse und Videoüberwachung. Machen Sie sich diese Sicherheitselemente bewusst, bevor Sie einsteigen. Steigen Sie in den ersten Waggon, direkt beim Fahrer ein. Dann ist garantiert immer jemand da, der sie hört und Ihnen helfen kann.“

 

Ihr Gehirn verarbeitete das Gehörte.

‚Ich kann die Kontrolle übernehmen.‘, dachte sie.

Ihr Kiefer malte, ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie spürte, wie ihre Fingernägel sich in die Handflächen gruben. Kurz bevor sie den Schmerz nicht mehr aushielt, lockerte sie den Griff.

‚Ich werde die Kontrolle übernehmen.‘

Kapitel 9

Nachdenklich beobachtete Katja Paulsen ihren Sohn mit dessen Freundin.

Jonas und Nele knieten im Wohnzimmer auf dem Fußboden. Sie hatten ein altes Bettlaken ausgebreitet und bemalten es mit einem Slogan für die nächste Demo.

Katja lehnte an der Küchenzeile und sah ihnen dabei durch die geöffnete Tür zu. Ihre Finger umschlossen einen Becher Kaffee. Sie war stolz, dass sich Jonas für ein so wichtiges Thema aufrichtig engagierte.

Er wartete auf die Ergebnisse seiner MSA-Prüfungen, aber große Sorgen um das Bestehen machte er sich nicht. Katja freute sich, dass er anschließend Abitur machen wollte. Jonas war ein begnadeter Zeichner und hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, direkt nach dem MSA auf eine Zeichenschule zu gehen. Zwar unterstützte Katja ihren Sohn und hätte sich nicht vorstellen können, ihn zum Abitur zu zwingen. Dennoch war sie froh, dass er von sich aus entschieden hatte, weiter zur Schule zu gehen. Danach konnte er immer noch tun, wozu er Lust hatte.

Katja wünschte sich für ihren Sohn, dass er in einem Beruf arbeiten konnte, für den er echte Begeisterung aufbrachte. Sie selbst hatte das große Glück, in ihrem Traumberuf zu arbeiten und damit genug Geld zu verdienen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Die geschiedene Mutter erinnerte sich nur zu gut an die Zeit, als sie ihren Ex-Mann zum Teufel gejagt hatte. Damals hatte ihr das Detektivsein Halt gegeben und Freude bereitet.

 

Katja ging nicht aus dem Kopf, was Jonas ihr über Neles Angst vor dem U-Bahn-Fahren erzählt hatte.

Die Detektivin wusste, was Angst war. Während ihres letzten Falls war sie mehr als einmal in eine beängstigende Situation geraten. Sie hatte Angst um ihr Leben gehabt. Wenn sie ehrlich war, hatte sie bis heute nicht alles verarbeitet, was ihr damals widerfahren war.

Sie versuchte, sich in Neles Lage hineinzuversetzen. Es musste grauenvoll sein, bei jedem Betreten einer U-Bahn Angst zu empfinden.

Katja spürte, wie sie wütend wurde. Wütend über Typen, die einfach in eine U-Bahn stiegen und glaubten, sie könnten von einem anderen das Handy verlangen.

 

Das Klingeln ihres eigenen Handys riss sie aus ihren Gedanken. Sie nahm das Gespräch an.

„Frau Paulsen?“, hörte sie die Stimme von Jens Breuer fragen.

„Guten Abend Herr Breuer.“, antwortete sie und wartete gespannt auf den Grund seines Anrufs.

„Sie haben Ihre Jacke bei mir vergessen.“, sagte er.

Katja warf einen Blick auf ihre Garderobe. Es stimmte. Da hing keine helle, ausgewaschene Jeansjacke. Sie hing an dem alten Ding. Und modern waren die ja inzwischen auch wieder.

„Ich fürchte, das ist meine Schuld. Ich habe Sie ja quasi in Windeseile zu meinem Auto genötigt.“, sagte Jens Breuer lachend.

Katja stimmte in das Lachen ein.

„Wollen Sie sie nicht morgen Abend bei mir abholen?“, fragte Jens Breuer jetzt.

Katja stutzte.

Jens Breuer deutete ihr Zögern richtig.

„Das soll kein Date sein. Aber ich würde Sie gerne einem Bekannten vorstellen, der zwei Häuser weiter wohnt. Er erzählte mir heute, sein Auto sei wie von Zauberhand leergeräumt worden.“, sagte er.

Das klang in der Tat interessant.

„Er wird morgen Abend mein Gast sein und ich dachte, vielleicht stehe ich weniger als Spinner dar, wenn es noch einen weiteren Geschädigten gibt.“, sagte er lachend.

„In Ordnung. Ich komme vorbei.“, sagte sie spontan zu.

Kapitel 10

„Krass!“, entfuhr es Jonas.

Alarmiert sah Katja zu ihrem Sohn. Der lümmelte sich mit seinem Laptop auf dem Sofa.

„Schau dir das an!“, forderte er sie auf.

Katja warf einen Blick über seine Schulter. Jonas startete ein Video.

 

Es war etwas unscharf und in der linken oberen Ecke schien ein Schmutzfleck auf der Linse zu sein. Trotzdem konnte man gut erkennen, dass das Video in einer Berliner U-Bahn aufgenommen worden war. Vermutlich mit einem Smartphone.

Vier junge Männer saßen in der Bahn und unterhielten sich. Das Video war ohne Ton, aber anhand der Gesten und der lachenden Gesichter konnte man erahnen, dass es ein lautstarkes, fröhliches Gespräch war. Die Gruppe trank Energydrinks und schien nicht viel von ihrer Umgebung mitzubekommen.

Die Bahn verlangsamte, hielt an. Durch ein Fenster konnte man erkennen, dass sie in einer Station angehalten hatte.

Das Bild wackelte auf einmal heftig. Der Filmende bewegte sich offenbar. Kurz war der Fußboden zu sehen, dann der Bahnsteig, schließlich konnte der Zuschauer durch das Fenster der U-Bahn weiter verfolgen, was in deren Inneren vor sich ging.

Die Gesichter der Männer verzogen sich zu Fratzen, in denen sich Ekel und Entsetzen widerspiegelten. Einer erbrach sich heftig, allen liefen Tränen über die Gesichter. Panisch versuchten sie, die U-Bahn zu verlassen. Die hatte sich jedoch bereits wieder in Bewegung gesetzt.

Das Video endete mit dem Bild eines jungen Mannes, der verzweifelt sein Gesicht an den kleinen Spalt des geöffneten Waggonfensters presste, um etwas frische Luft abzubekommen.

 

Katja spürte, dass sie sich während des Films verkrampft hatte. Sie bewegte ihre Schultern.

„Was ist das für ein Video? Ist das echt?“, fragte sie ihren Sohn und in ihrer Stimme schwang blankes Entsetzen mit.

„Das kursiert seit einer Stunde überall im Netz.“, antwortete Jonas.

„Das sieht aus wie ein Giftgasanschlag!“, rief Katja.

„Wer das wohl gefilmt hat?“, murmelte Jonas.

 

Katja schaltete den Fernseher ein. Sie wollte mehr über dieses Video wissen.

Im Regionalfernsehen lief eine Dokumentation über Wüstenspringmäuse. Am unteren Bildrand lief jedoch ein Fließtext entlang, der den Zuschauer darüber informierte, dass es einen Anschlag in der Berliner U-Bahn gegeben habe und in wenigen Minuten eine Sondersendung dazu folgen werde.

Bis sie begann, lief Katja im Raum auf und ab und überlegte. Wer machte sowas? Das Video hatte weder Ton noch eine Botschaft enthalten. Da blieb eine Menge Raum für Spekulationen.

 

„Meine Damen und Herren, wir begrüßen Sie zu der angekündigten Sondersendung.“, war jetzt eine Stimme im Fernseher zu vernehmen.

Katja setzte sich auf das Sofa und zog ihre Knie bis unter das Kinn. Gebannt starrten Jonas und sie auf den Bildschirm.

„Vor wenigen Stunden ereignete sich ein Anschlag in der Berliner U-Bahn. Ein unbekannter Täter hat in einem Waggon mit vier Fahrgästen Buttersäure freigesetzt. Die vier jungen Männer wurden mit zum Teil schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht, der Täter ist auf der Flucht.“

Die Moderatorin machte eine kleine Pause und schaute ernst in die Kamera, um ihre Worte wirken zu lassen.

Dann drehte sie sich ein wenig nach rechts und sagte: „Wir begrüßen zunächst im Studio Frau Dr. Schulte. Sie ist Chemikerin und wird uns über Buttersäure informieren.“

Die Kamera schwenkte auf eine Frau in Katjas Alter. Sie schien sich unwohl vor der Kamera zu fühlen. Ihre Hände umklammerten einen Kugelschreiber und ihre Augen huschten unstet im Raum umher. Sie erwiderte die Begrüßung der Moderatorin und kam dann schnell zum Punkt.

„Buttersäure ist eine farblose, durchsichtige Flüssigkeit. Sie riecht nach Essigsäure und ranziger Butter und reizt sowohl die Augen als auch die Atemwege.“, erklärte die Chemikerin mit ruhiger Stimme.

Das Sprechen über einen Bereich, in dem sie sich auskannte, schien ihr Sicherheit zu verleihen.

„Es existiert ein Video von der Tat. Darin sehen wir, dass sich die Opfer übergeben müssen.“, sprach die Moderatorin weiter.

„Ja, denken sie an ranzige Butter oder Erbrochenes. Und stellen Sie sich das Ganze noch viel, viel stärker vor. Dann wissen Sie, weshalb die jungen Männer sich übergeben mussten.“, erwiderte die Chemikerin.

Die Moderatorin verzog kurz das Gesicht. Dann setzte sie wieder eine zum Thema passende, ernste Miene auf.

„Vielen Dank, Frau Dr. Schulte.“

Die Verabschiedete nickte knapp und schien froh, dass ihr Auftritt vorüber war.

„Unser nächster Gast ist Pressesprecher der Polizei. Guten Abend, Herr Beutgen.“

Ein großer Mann mit ebenfalls ernstem Gesicht wurde gezeigt, der den Gruß der Moderatorin erwiderte.

„Was wissen Sie zum jetzigen Zeitpunkt über die Hintergründe der Tat?“, fragte die Moderatorin.

„Nun, wir stehen noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Die Videoaufzeichnungen aus der U-Bahn und von dem Bahnsteig, an dem die U-Bahn zum Tatzeitpunkt gehalten hat, werden aktuell ausgewertet.“, antwortete der Pressesprecher.

Die Moderatorin versuchte, konkretere Informationen aus dem Mann herauszubekommen.

„Im Netz kursiert ein Video von der Tat. Was können Sie uns dazu sagen?“

Herr Beutgen richtete seinen Blick nun von der Moderatorin direkt in die Kamera.

„Wir sind dabei, auch dieses Video zu analysieren. Die Identität der Person, die es aufgenommen hat, ist uns bisher nicht bekannt. Wir fordern diese Person dringend auf, sich bei uns zu melden. Wir gehen davon aus, dass er oder sie ein wichtiger Zeuge ist.“

In einem Fließtext am unteren Bildrand wurde eine Telefonnummer eingeblendet, unter der sich der Zeuge melden sollte.

„Was können Sie uns zum Motiv der Tat sagen? Gibt es ein Bekennerschreiben oder Ähnliches?“, fragte die Moderatorin nun.

Der Pressesprecher schüttelte den Kopf.

„Wie gesagt, unsere Ermittlungen stehen noch am Anfang. Sachdienliche Hinweise aus der Bevölkerung werden ebenfalls unter der eingeblendeten Nummer oder von jeder Polizeidienststelle entgegengenommen.“

„Eine letzte Frage, die alle Berlinerinnen und Berliner aktuell beschäftigt: Ist es noch sicher, mit der U-Bahn zu fahren? Sollten die Berlinerinnen und Berliner die öffentlichen Verkehrsmittel meiden?“

Die Antwort des Pressesprechers kam prompt: „Über eine akute Gefährdung ist uns nichts bekannt. Die Präsenz der Kolleginnen und Kollegen wurde präventiv erhöht.“

Die Moderatorin bedankte sich bei Herrn Beutgen und versprach den Zuschauern, sie über alle weiteren Entwicklungen unverzüglich zu informieren.

 

Als das Programm fortgesetzt wurde, schaltete Katja den Fernseher ab.

Sie schaute zu ihrem Sohn und stellte fest, dass er mindestens genauso betroffen war, wie sie selbst. Für einen kurzen Moment wünschte sie sich wieder ein Auto, nur um sich anschließend bewusst zu machen, dass sie in einem Auto auch nicht vor allen Gefahren dieser Welt in Sicherheit war. Menschen starben bei Autounfällen. Und wer wusste schon, ob ein Verrückter nicht auch einen Anschlag auf Autofahrer verüben würde? Die Tat in der U-Bahn musste doch von einem Verrückten durchgeführt worden sein, oder?

Jonas unterbrach ihre Gedanken. Er seufzte schwer und sagte dann: „Jetzt wird Nele wahrscheinlich keinen Fuß mehr in eine U-Bahn setzen. Und es war auch ohne die Aktion dieses Geisteskranken schwer genug.“

Katja starrte ihren Sohn an. Eine Mischung aus Verwunderung und Bewunderung überkam sie. Verwunderung, weil ihr Sohn wie selbstverständlich annahm, ein Geisteskranker sei für die Tat verantwortlich. Bewunderung, weil seine erste Sorge offenbar nicht ihm selbst, sondern seiner Freundin Nele galt.

„Ich rufe sie am besten mal an.“, verkündete Jonas dann und verschwand in sein Zimmer.

Kapitel 11

Am nächsten Abend ging Katja gedankenverloren zu der Wohnung von Jens Breuer. Glücklicherweise wohnte der nicht weit von ihrer eigenen Wohnung entfernt. Das bedeutete, sie musste sich keine Ausrede einfallen lassen, um nicht mit der Bahn zu ihm zu fahren. Sie konnte einfach zu Fuß gehen und den Spaziergang genießen.

Obwohl von Genuss keine Rede sein konnte. Ihre Gedanken kreisten um den gestrigen Anschlag. Bisher waren keine weiteren Fakten veröffentlicht worden. Die Presse behalf sich daher mit wilden Spekulationen und heizte die Ängste der Menschen damit an. Auch Katja konnte sich dem nicht vollständig entziehen. Obwohl sie versuchte, genau dies nicht zuzulassen.

Natürlich fragte sie sich, was einen Menschen dazu brachte, Buttersäure in einer U-Bahn freizusetzen. Und sie fragte sich, wer das Video gemacht hatte. Je länger sie darüber nachdachte, und dabei berücksichtigte, dass derjenige im richtigen Moment ausgestiegen war, desto mehr ging sie davon aus, dass das Video von dem Täter stammte. Falls dies stimmte, warum hatte er oder sie das Video anschließend ins Internet gestellt? Welche Botschaft wollte er oder sie damit verbreiten?

 

Katja hatte ihr Ziel erreicht und drückte auf das Klingelschild mit dem Namen „Breuer“.

 

Die Tür zu Jens Breuers Wohnung war angelehnt, von innen drang der Ton einer Fernsehsendung auf den Hausflur. Katja betrat die Wohnung und schloss die Tür hinter sich.

Jens Breuer kam aus dem Wohnzimmer, der Quelle des Fernsehtons, gelaufen und schüttelte ihr die Hand zum Gruß.

„Bitte entschuldigen Sie. Normalerweise begrüße ich meine Gäste an der Tür und der Fernseher läuft auch nicht den ganzen Tag. Aber das hier,“, er deutete mit dem Daumen über seine Schulter nach hinten, „interessiert mich.“

Katja folgte ihm in das Wohnzimmer. Im Fernseher lief eine Diskussion über den Buttersäure-Anschlag in der U-Bahn. Gerade wurde darüber diskutiert, ob die Videoüberwachung im öffentlichen Nahverkehr überhaupt einen Sinn habe. Ein Sachverständiger für Filmtechnik ließ sich über die schlechte Bildqualität aus.

„Auf den Videos kann man wohl nicht mal richtig erkennen, ob der Täter eine Frau oder ein Mann war.“, hörte sie Jens Breuer sagen.

Er reichte ihr ein Glas Weißwein. Verdutzt ergriff sie das Glas.

„Bernd, also Herr Flieger, müsste auch jeden Moment eintreffen.“, sagte Jens Breuer und verschwand wieder in der Küche.

Katja folgte dem köstlichen Duft, der aus der Küche kam. In einem großen Topf schien allerlei Fleisch und Gemüse auf kleiner Flamme vor sich hin zu köcheln. Der ganze Raum war von einem Duft nach Rosmarin, Gemüse und Fleisch erfüllt. Katja spürte, wie sie Hunger bekam.

Es klingelte wieder und Jens Breuer betätigte den Summer. Katja fiel auf, dass er nicht fragte, wer da sei. Stattdessen warf er einen Blick auf einen kleinen Monitor. Die Überwachungskamera, die unten im Hauseingang angebracht sein musste, war Katja gar nicht aufgefallen. Zwar hatte sie sich gewundert, dass er auf ihr Klingeln einfach so geöffnet hatte, aber das taten vermutlich eine Menge Leute.

 

Bernd Flieger entpuppte sich als der Nachtischbeauftragte. Er balancierte eine große Schüssel mit Mousse au Chocolat vor sich her, als er die Wohnung betrat. Er nickte Katja freundlich zum Gruß zu. Die wunderte sich so langsam, wer das alles essen sollte.

 

„Prost!“, Bernd Flieger streckte Katja sein Glas Weißwein hin und sie stieß mit ihm an.

„Ich habe gehört, Sie untersuchen die merkwürdigen Diebstähle, die sich hier in den letzten Wochen ereignet haben.“, eröffnete er das Gespräch.

Er erinnerte Katja an ein kleines Wiesel. Er hatte kleine Augen und offenbar Schwierigkeiten, still zu sitzen. Ständig stand er auf, rührte mal im Kochtopf, schnitt eine Scheibe Ciabatta ab oder lief einfach auf und ab.

„Bis jetzt kenne ich nur Herrn Breuers Fall.“, antwortete sie zurückhaltend.

„Jens hat ja aber auch richtig Pech gehabt! So ein teurer Laptop. Ich würde mir in den Hintern beißen. Bei mir ist nur ein fast leeres Portemonnaie verschwunden. Ich hatte zwar Rennerei mit dem Kartensperren und neuen Ausweis beantragen, aber der finanzielle Schaden hält sich in Grenzen.“, berichtete Bernd Flieger eifrig.

Katja war neugierig. „Wie ist Ihr Portemonnaie denn weggekommen?“, fragte sie.

 

Ein erneutes Klingeln an der Tür unterbrach ihr Gespräch. Weitere Gäste betraten die Wohnung. Jeder hatte etwas zu Essen oder zu Trinken im Arm, jeder wurde fröhlich begrüßt und alle nahmen Katja wie selbstverständlich in ihre Gespräche auf.

Irgendwann eröffnete Jens Breuer das Buffet und jeder suchte sich ein Plätzchen an dem großen Holztisch in der Küche und alle begannen, zu essen.

 

Später am Abend, den Katja wie selbstverständlich mit den ihr bis dahin unbekannten Menschen verbracht und genossen hatte, stellte sich Jens Breuer neben sie. Sie trank bereits ihr viertes oder fünftes Glas von dem köstlichen Weißwein und spürte, dass sie leicht beschwipst war.

„Ich habe gar nichts beigesteuert.“, bemerkte sie schuldbewusst.

Jens Breuer lachte. Wieder dieses offene, fröhliche Lachen, das tief aus seinem Inneren zu kommen schien und vollkommen ehrlich wirkte.

„Beim nächsten Mal.“, sagte er und legte ihr kurz seine Hand auf den Arm.

Auf Katjas erstaunten Blick hin erläuterte er: „Wir treffen uns ungefähr einmal pro Woche. Jeder bringt was mit und wir tratschen ein bisschen. Sind alles Nachbarn hier.“ Er machte eine halbkreisförmige Bewegung mit dem Arm. „Ich bin Jens.“, sagte er dann und hielt ihr sein Glas zum erneuten Anstoßen hin.

Kurz überlegte Katja, ob es in Ordnung wäre, Jens Breuer zu duzen. Schließlich würde sie vermutlich in Kürze einen Bericht an die Alte Lübecker schicken, in dem es um seinen Versicherungsfall ging. Dann wischte sie ihre Bedenken beiseite, hob ihr Glas und sagte lächelnd: „Ich bin Katja.“

 

Ihr letzter Fall und die Ängste, die sie dabei ausgestanden hatte, hatten ihren Blick auf das Leben und die Prioritäten etwas verschoben. Hier und jetzt fühlte sie sich wohl und sie freute sich darauf, Teil der nachbarschaftlichen Gemeinschaft um Jens Breuer zu werden.

 

„Was sagst du eigentlich zu Bernds Geschichte?“, fragte Jens sie neugierig.

Schuldbewusst zuckte Katja mit den Schultern.

„Bis jetzt weiß ich nur, dass ihm sein Portemonnaie abhandengekommen ist.“

Lachend rief Jens Breuer seinen Nachbarn herbei.

„Bernd! Komm doch mal rüber. Du musst Katja noch erzählen, wie du dein Portemonnaie losgeworden bist!“

Der Angesprochene drehte sich um, unterbrach sein Gespräch mit einer Frau Ende fünfzig, und ging zu Jens und Katja.

„Auf längeren Autofahrten nehme ich mein Portemonnaie immer aus der Tasche.“, begann er, zu erzählen. „Sonst habe ich das Gefühl, eine Delle im Hintern zu bekommen.“, sagte er schmunzelnd und klopfte sich zur Bestätigung einmal auf die rechte Hinterbacke.

„Ich habe also geparkt, bin ausgestiegen und habe begonnen, meinen Krempel aus dem Auto zu laden. Ich bin Fotograf und habe immer allerlei Zeug dabei. Ich hatte also eine Tasche hier,“, er zeigte auf seine Schulter, „und eine Tasche hier.“ Er zeigte auf seine andere Schulter.

Katja nickte. Die anschauliche Art, in der Bernd Flieger erzählte, ließ sie schmunzeln.

„Mein Portemonnaie hab ich erstmal vergessen. Aber ich hab das Auto zugemacht. Per Knopfdruck!“, er rollte mit den Augen.

Katja musste grinsen.

„Böser Fehler!“, rief Bernd Flieger aufgekratzt.

Das eine oder andere Glas Weißwein hatte auch bei ihm Spuren hinterlassen.

„Als ich wieder runterkam, war mein Auto offen und mein Portemonnaie weg.“, sagte er und hob theatralisch die Arme.

„Mal blöd gefragt,“, sagte Katja, „es kann aber nicht irgendwo anders sein?“

„Er hatte es auch auf den Beifahrersitz gelegt!“, rief Jens Breuer jetzt aufgeregt dazwischen.

Bernd Flieger nickte eifrig.

Gespannt schauten die beiden Männer Katja an. Die beschloss, die beiden an ihrem Wissen teilhaben zu lassen.

„Ich habe mich bereits schlaugemacht und weiß, dass es Störsender gibt, mit denen das Signal der Schlüsselfernbedienung gestört wird. Ihr denkt, ihr schließt ab, tatsächlich hat das Knopfdrücken aber keine Wirkung. Die Täter warten irgendwo im Versteck und nehmen sich dann aus dem Auto, was sie gerne hätten.“

Bernd Flieger schlug Jens Breuer gegen die Brust.

„Dann hast du also Chancen, die Kohle von der Versicherung wiederzubekommen!“, freute er sich.

Doch Jens Breuer hatte Katjas Gesichtsausdruck richtig gedeutet.

„Da hab ich so meine Zweifel ...“, sagte er in Katjas Richtung gewandt.

Die nickte betreten und berichtete von den Versicherungsbedingungen und ihrer Vermutung, wie sich die Alte Lübecker wahrscheinlich verhalten werde.

Kapitel 12

Voller Vorfreude startete sie das Video erneut. Sie konnte gar nicht sagen, wie oft sie es schon angesehen hatte.

Das Hochgefühl, das sich beim Anschauen einstellte, hätte sie dafür umso besser beschreiben können. Aber es fragte ja keiner. Natürlich nicht.

Sie hatte Macht ausgeübt. Sie hatte die Kontrolle gehabt und ihre Angst besiegt. An Stelle der Angst war dieses übermächtige Gefühl getreten. Sie konnte anderen Angst einjagen. Die ganze Stadt schien Angst zu haben. Alle, außer ihr.

Sie fühlte sich unbesiegbar.

Kopfschüttelnd erinnerte sie sich an all die U-Bahn-Fahrten, bei denen sie unsicher nach links und rechts geblickt hatte, ob vielleicht einer einstieg, der sie zum Opfer machen könnte.

Sie hatte die Therapie abgelehnt, als überflüssigen Quatsch abgetan. Sie war davon ausgegangen, dass ihr keiner helfen konnte. Aber in diesem Punkt hatte sie sich geirrt. Der Therapeut hatte ihr geholfen. Er hatte ihre Gedanken in eine neue Richtung gelenkt. Ihren Horizont erweitert. Sie auf den richtigen Pfad gelenkt.

Sie kicherte leise.

Und ergötzte sich ein weiteres Mal an dem Anblick der heulenden, kotzenden Typen in der U-Bahn.

Kapitel 13

Seufzend nahm Katja die Finger von der Tastatur und lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück.

 

Sie hatte den Bericht für die Alte Lübecker fertiggestellt.

Er enthielt zwei Sachverständigengutachten.

Eins stellte das Fehlen von Einbruchsspuren an dem Auto von Jens Breuer fest.

Das andere enthielt Ausführungen zu der generellen Möglichkeit von spurenlosen Einbrüchen in Fahrzeuge mittels manipuliertem Schlüssel oder Störsender für die Funkfernbedienung.

Darüber hinaus enthielt der Bericht auch eine Wiedergabe der Aussagen von Jens Breuer sowie Bernd Flieger.

Katja hatte detailliert geschildert, weshalb sie die beiden Männer für glaubwürdig und ihre Aussagen für glaubhaft hielt. Sie waren in sich stimmig und frei von Widersprüchen und die Geschädigten hatten auch bei mehrfachen Nachfragen ihre Angaben nicht abgewandelt.

Ergänzt hatte Katja den Bericht um die Aktenzeichen der Polizei, die beide Diebstähle aufgenommen, aber bisher keinen Täter ermittelt hatte.

Abgerundet wurde Katjas Bericht mit einem Hinweis auf die Beweislast des Bestohlenen.

 

Katja zögerte. Sollte sie den letzten Absatz zu der Beweislast weglassen? Sicherlich würde die Versicherung auch von selbst darauf kommen. Die Detektivin beschlich das Gefühl, sie schreibe diesen Absatz nur deshalb, weil sie Jens Breuer mochte und deshalb gegenüber ihrer Auftraggeberin besonders souverän wirken wollte.

 

Ein erstauntes Auflachen aus dem Nachbarbüro unterbrach ihre Überlegungen. Neugierig stand Katja auf und steckte ihren Kopf durch die Bürotür ihres Vaters.

Rainer Koch war im Begriff, ein Telefonat zu beenden. Er winkte seine Tochter herein.

„Na, hast du deinen Bericht abgeschlossen?“, fragte er sie, nachdem er aufgelegt hatte.

Katja nickte.

„Wie geht es eigentlich Nele?“, erkundigte sich Rainer Koch.

„Besser. Die Therapie scheint zu helfen. Jedenfalls muss der arme Charly nicht mehr so häufig mit der U-Bahn fahren.“, antwortete Katja grinsend.

 

Charly war der Terriermischling ihres Sohnes. Der Hund fuhr überhaupt nicht gerne mit der U-Bahn. Sobald er durch die Türen eines Waggons sollte, versteifte er die Beine und musste hineingetragen werden. Aber in der letzten Zeit hatte Jonas seinen Hund öfter in die U-Bahn mitgenommen, weil er Nele ständig irgendwo abgeholt hatte.

Kapitel 14

Die Wirkung ließ nach.

Das Video war abgespielt und die junge Frau schaute mit leerem Blick auf das Display. Es hatte nicht mehr die gleiche Wirkung.

Ein neues Video wäre die Lösung.

Aber das würde bedeuten, sie müsste erneut ...

Das Risiko war groß. Zu groß?

 

Wenn dieses Verlangen nicht wäre. Wenn sie nie in den Genuss dieses Hochgefühls, dieser Macht gekommen wäre.

Doch sie hatte davon gekostet. Und sie konnte nicht vergessen.

Kapitel 15

Katja stand am Bahnsteig und wartete auf die Bahn.

 

Ihre Gedanken wanderten zu Jens Breuer und ihrer Verabredung am Abend. Gestern hatte er sie angerufen und sich erkundigt, ob sie ihren Bericht für die Versicherung abgeschlossen habe. Er hatte sich nicht erkundigt, was drinnen stand, sondern wollte nur wissen, ob sie fertig sei. Nachdem sie die Frage bejaht hatte, hatte er sie zum Abendessen eingeladen. „In ein richtiges Restaurant, nicht in meine Küche.“, hatte er hinzugefügt. Und anschließend verdeutlicht: „Ja, es wäre ein Date.“ Spontan hatte Katja zugesagt. Und wunderte sich seitdem über sich selbst.

Eigentlich hatte sie geglaubt, seit ihrer Scheidung mit dem Thema Männer durch zu sein. Hatte sich eingebildet, in jedem Mann, den sie kennenlernte, nur einen weiteren Lügner zu erkennen. Doch dieses Gefühl hatte sie bei Jens Breuer nicht gehabt.

 

Die Bahn fuhr ein. Ein altes, klappriges Modell mit getrennten Waggons und schummriger Beleuchtung.

Katja wunderte sich immer wieder, wie alt die Waggons teilweise waren. Manchmal landete sie in einer hochmodernen Hightech-Bahn mit kaltem LED-Licht und unzähligen Monitoren. An anderen Tagen fühlte sie sich in Nachkriegszeiten versetzt, wenn sie in schlecht beleuchtete Waggons mit durchgesessenen Sitzen stieg, bei denen entweder gar keine Heizung funktionierte, oder die Fahrgäste unfreiwillig gekocht wurden.

Katja setzte sich ans Fenster und ihre Gedanken wanderten wieder zu ihrer Verabredung. Mit Jens.

 

Kurz bevor die Bahn den nächsten Bahnhof erreichte, beobachtete Katja durch die Waggontür, wie in dem Wagen vor ihr plötzlich ein Tumult ausbrach. Schmerzerfüllte Schreie drangen an ihr Ohr und dunkler Rauch breitete sich aus. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte Katja vergeblich, Einzelheiten in dem Wagen vor ihr zu erkennen.

„Oh Gott! Nicht noch ein Anschlag!“, schrie eine Frau in Katjas Waggon.

Ein Jugendlicher hatte sein Smartphone gezückt und filmte alles.

Katja wollte die Notbremse ziehen, aber die Bahn hatte bereits im Bahnhof gehalten. Die Menschen verließen fluchtartig die Wagen. Der Rauch quoll aus dem Waggon auf den Bahnsteig. Ein Mann saß auf dem Boden und schrie erbärmlich. Als Katja sah, warum der Mann so schrecklich schrie, stockte ihr der Atem. Dort, wo normalerweise die rechte Hand des Mannes war, befand sich ein blutüberströmter Klumpen. Katja zählte nur noch drei Finger. Sie musste sich abwenden, um die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken.

Eine Frau mit einem Kinderwagen rannte schreiend den Bahnsteig entlang. An der Treppe angekommen, riss sie ihr Kind aus dem Wagen, ließ ihn einfach stehen und rannte, was das Zeug hielt, die Treppen hinauf. Das Kind auf ihrem Arm schrie in den höchsten Tönen.

Aus den Lautsprechern drang eine männliche Stimme: Verehrte Fahrgäste! Bitte bewahren Sie Ruhe! Hilfe ist unterwegs!

Die Szene erschien Katja unwirklich.

Plötzlich wimmelte der Bahnsteig nur so von Sanitätern und Polizisten. Ein Notarzt kümmerte sich um den verstümmelten Mann. Die Sanitäter führten einige hustende Menschen aus dem Bahnhof. Die Polizisten sorgten dafür, dass sich die Menschen nicht zu weit entfernten. Sie wurden noch als Zeugen gebraucht.

Katja bemerkte eine Frau, die fasziniert alles mit ihrem Smartphone filmte. Sie hatte blonde Haare, die unter einem tief ins Gesicht gezogenen Basecap hervorquollen. Sie war vollkommen schwarz und schlabberig angezogen, unmöglich, ihre Figur zu beschreiben. Katja machte einen Schritt auf die Frau zu, und versuchte, deren Gesicht zu erkennen.

Abrupt drehte sie sich von Katja weg und steuerte auf das Ende des Bahnsteigs zu. Ohne nachzudenken, folgte Katja ihr. Die Frau wurde immer schneller. Katja beschleunigte ebenfalls.

Ein dicker Mann versperrte Katja den Weg. Er atmete schwer und war auf dem Weg zu einem der Metallsitze für die Wartenden. Nur für den Hauch eines Augenblicks wandte Katja ihm ihren Blick zu.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752141894
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (April)
Schlagworte
weibliche Heldin Kuschelkrimi Kriminalroman Cosykrimi Angststörung Berlinkrimi Hauptstadtkrimi Angst Krimi mit Hund Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Lena Viajera (Autor:in)

Was gibt es Schöneres, als ein Buch zu lesen? Eins zu schreiben! Mit ihren Geschichten möchte Lena Viajera unterhalten, zum Nachdenken anregen und ihren Leserinnen und Lesern ein paar vergnügte Stunden bescheren. Was sie zum Schreiben gebracht hat? In Büchern ist alles möglich. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt und jede Idee kann Wirklichkeit werden.
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Titel: Wie viel Angst erträgst du?