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Todeszone: Tatort Malmö

Thriller

von L.C. Frey (Autor:in)
622 Seiten

Zusammenfassung

Ein Serienmörder auf freiem Fuß Eine Stadt in Angst. Und nur eine Frau kann ihn stoppen. Vielleicht. Elsa Mattsson ist eine brillante Kinderpsychologin, die die Polizei gelegentlich bei besonders schweren Fällen berät. Als eine verstümmelte Kinderleiche in einem noblen schwedischen Vorort gefunden wird, ist sie zunächst genauso ratlos wie die Ermittler der Soko. Die Lage eskaliert, als die Ermittlungen in das nahe Problemviertel Rosengard deuten und dort in einem regelrechten Straßenkampf ausarten, während der Serientäter ungehindert weitermordet. Als ein weiteres Mädchen entführt wird, beginnt für Elsa und die Ermittler ein mörderischer Wettlauf gegen die Zeit, und die Psychologin muss erkennen, dass ein schreckliches Geheimnis aus ihrer Vergangenheit sie mit dem sadistischen Killer verbindet. Erleben Sie dramatischen Nervenkitzel auf schwedische Art - in diesem rasanten Psychothriller von Bestsellerautor L.C. Frey!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch

Elsa Mattsson ist eine brillante Kinderpsychologin, welche die Polizei gelegentlich bei besonders schweren Fällen berät. Als eine verstümmelte Kinderleiche in einem noblen Malmöer Vorort gefunden wird, ist sie zunächst genauso ratlos wie die Ermittler der Soko. Die Lage eskaliert, als die Ermittlungen in das Problemviertel Rosengard deuten und dort in einem regelrechten Straßenkampf münden, während der Täter ungehindert weitermordet.

Als ein weiteres Mädchen entführt wird, beginnt für Elsa und die Ermittler ein mörderischer Wettlauf gegen die Zeit, während die Psychologin erkennen muss, dass ein schreckliches Geheimnis aus ihrer Vergangenheit sie mit dem Killer verbindet.

Lektorat: Claudia Heinen

Covergestaltung, Layout und Satz: Ideekarree Leipzig, www.ideekarree.de, unter Verwendung von ©LPK Bakker (Fotolia.com) - 1806091030


Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung von L.C. Frey. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

L.C. Frey, C/o Ideekarree, Alexander Pohl, Breitenfelder Str. 66, 04157 Leipzig, E-Mail: autor@lcfrey.de

Für Krissy.

Und für alle meine Leserinnen und Leser, jedes Mal und immer wieder.

Danke!

Zur Beachtung

Die Handlung dieses Romans ist fiktiv. Einige der im Buch erwähnten Orte existieren in der Realität, aber die lokalen Gegebenheiten wurden mehr oder weniger frei verändert. Beispielsweise hat das Sankt-Lars-Krankenhaus sowie angeschlossene Gebäude als Klinik für psychisch Kranke existiert, diese sind aber seit 2013 geschlossen.

Ebenso existieren die meisten der genannten Nachrichtenmagazine, aber natürlich sind dort nie Artikel über die fiktiven Ereignisse dieses Buches erschienen, ebenso wenig versucht dieses Buch, Zusammenhänge zu erschienenen Artikeln oder tatsächlichen Ereignissen herzustellen.

Alle erwähnten Personen und Zusammenhänge in diesem Buch sind frei erfunden, Ähnlichkeiten zu tatsächlichen Ereignissen oder lebenden Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Bereits im Jahr 2008 kam es im Malmöer Bezirk Rosengård zu gewalttätigen Ausschreitungen nach der Räumung eines muslimischen Gebetsraumes, in deren Anschluss es zu einer Kündigungswelle innerhalb der Malmöer Polizei kam. Seitdem gilt das Stadtviertel mit einer Arbeitslosenrate von über 60% als No-Go-Area, in die sich auch die örtliche Polizei nur selten wagt.


Ein Ende der Eskalation ist bislang nicht in Sicht.

Früher

Der große Mann hat ihr das Klebeband abgemacht. Dafür hat er ziemlich lange gebraucht und es hat an ihrer Haut und ihren Lippen gezogen, aber sie hat nicht geschrien. Er ist nicht sehr geschickt mit seinen Händen, beinahe so, als wären sie zu groß für ihn geraten und er wüsste nicht so recht, was er damit anfangen soll.

Als er das Klebeband von ihrem Hinterkopf reißt, brüllt sie in ihren Knebel. Er hatte es einfach über ihr Haar geklebt und es beim Abmachen büschelweise herausgerissen.

Da kann sie die Tränen nicht länger aufhalten.

Er hockt sich vor sie auf den Boden, blickt stumm auf einen Punkt in der Leere des Kellers irgendwo seitlich von ihr. Sie kann nicht erkennen, was genau er betrachtet, und ob es da überhaupt etwas zu betrachten gibt, und sie glaubt auch nicht, dass das jetzt noch wichtig ist. Auf eine beinahe instinktive Weise versteht sie, dass sie und er jetzt in unterschiedlichen Welten leben. Die ganze Zeit hält er das Messer in seiner großen, ungeschickten Hand.

Wie auf einen Befehl hin, den nur er hören kann, greift er nach einer Einkaufstüte, die etwas abseits auf dem Kellerboden liegt, und hält sie ihr geöffnet hin.

Es sind Süßigkeiten drin, hauptsächlich Schokolade und Kekse. Er hält ihr die Tüte auffordernd hin, dann greift er mit der rechten Hand hinein. Das Rascheln zerreißt die gespenstische Stille des kleinen Raumes. Er zieht eine der bunt verpackten Tafeln heraus, reißt die Verpackung auf und hält ihr dann die Schokolade hin, offenbar soll sie davon essen. Jetzt sieht sie auch, dass die Süßigkeit an den Rändern schon weiß angelaufen ist.

Er gibt einen auffordernden Grunzlaut von sich und sie beugt sich vor und beißt vorsichtig ein Stück ab.

Es ist widerlich.

Die Schokolade ist weich und ekelhaft süß und ihre Kehle schmerzt, als sie einen Bissen davon herunterwürgt, weil sie seit Stunden nichts getrunken hat. Und vom Weinen, natürlich.

Das Mädchen schließt die Augen und er stopft ihr noch mehr von der Schokolade in den Mund, und dabei bemerkt sie, dass neue Tränen ihre Wangen herunterlaufen.

Sie wagt nicht, sie fortzuwischen, obwohl er ihr die Hände losgebunden hat. Er reißt noch mehr Papier von der Schokoladentafel und hält es ihr hin. Gehorsam beißt sie noch ein Stück davon ab, obwohl sie jetzt ernsthaft Mühe hat, das klebrige Zeug herunterzuschlucken. Der Geschmack, vermischt mit dem Gestank in dem düsteren Kellerraum, lässt sie würgen, doch sie versucht tapfer, ihre Übelkeit in den Griff zu bekommen, während sie sich alle Mühe gibt, den ekelhaft süßen Ball aus Schokolade und Speichel zu schlucken.

Er sitzt die ganze Zeit vor ihr, sieht ihr aus nächster Nähe zu und stopft die Schokolade weiter in ihren Mund, kaum, dass sie ihn zum Atmen öffnet. Eine stumme, gnadenlose Tortur.

Als sie das nächste Mal die tränenverschleierten Augen öffnet, hat er offenbar genug. Achtlos wirft er die Schokolade zurück in den Beutel.

Da bemerkt sie, dass er dabei ist, mit der freien Hand seinen Hosenschlitz zu öffnen. Dann kehrt das Leben in seine abwesenden Augen zurück und er ist wieder ganz bei der Sache.

Ganz bei ihr, während er das Messer hebt.

7. November

Eins

Malmö – Rostorp, Beijers Park, 7. November 6:30 Uhr

Der Himmel über Malmö hatte seit Tagen die Farbe von schmutzigem Schnee. Ein nebelschwerer Morgen dämmerte herauf und versprach, zu einem weiteren grauen und feuchtkalten Tag zu werden. Es ging auf den Winter zu, der Herbst hatte längst aufgegeben, der Sommer war zu einem Mythos aus ferner Zeit geworden. Zwischenwetter, das meteorologische Äquivalent zu einer verlassenen Bahnstation am Rande der großen Strecke zwischen dem Damals und dem Morgen, zwischen hier und dort. Seit sieben Tagen regnete es nahezu durchgängig.

Dennoch gab es welche, die sich auch davon nicht von ihren sportlichen Aktivitäten abhalten ließen. Zwei Männer in modernen Thermo-Jogginganzügen liefen eine frühmorgendliche Runde auf dem Spazierweg um den Beijers Park. Beide hatten die wasserabweisenden Kapuzen ihrer kostspieligen Wetterjacken tief ins Gesicht gezogen. Besonders motiviert sahen sie trotzdem nicht aus.

»Ich sage dir, der Alte macht es nicht mehr lange«, sagte der erste Läufer und stieß geräuschvoll die Luft aus seinen Lungen. »In ein, höchstens zwei Jahren bist du der Filialleiter, Blomqvist. Mindestens.«

Blomqvist nickte und presste eine Handfläche in seine schmerzende Seite. Vermutlich würde Martinsson ja recht behalten mit seiner schmeichlerischen Prophezeiung, aber nur, wenn er, Blomqvist, nicht vorher während einer ihrer morgendlichen Laufeskapaden umkippte und an einem verdammten Herzanfall starb.

Martinsson hatte ein wahrhaft mörderisches Lauftempo drauf, fand Blomqvist, aber er würde einen Teufel tun, sich anmerken zu lassen, was es ihm abverlangte, mit dem jüngeren Kollegen Schritt zu halten. Nur wer fit war, kam weiter. Und er musste weiterkommen, schließlich gab es ein Haus abzubezahlen. Abgesehen von gewissen anderen Verpflichtungen der deutlich angenehmeren Art, die aber alle zweierlei gemeinsam hatten: Seine Frau durfte nichts davon erfahren und sie kosteten eine ganze Menge Geld.

Aber das würde schon werden. Der Branche ging es schließlich gut. Wenn man jedoch ein Stück vom großen Versicherungskuchen abhaben wollte, musste man schnell und clever sein und im richtigen Moment zuschlagen, so einfach war das. Blomqvist sog die Luft tief in seine Lungen und zwang seine schmerzenden Beine zu einem schnelleren Schritt, um zu Martinsson aufzuschließen. Ob Martinsson auch so einen Muskelkater hatte oder ob der einfach genetisch gesegnet war? Schließlich gingen sie beide auf die vierzig zu, aber manchmal, insbesondere morgens vor dem Laufen, kam sich Blomqvist beinahe doppelt so alt vor.

»Na jedenfalls wird dieser Posten bald frei, und dann geht’s bestimmt auch für dich weiter«, bekräftigte Martinsson das eben Gesagte. Und ließ es beinahe so klingen, als ob er in dieser Angelegenheit selbst ein Wörtchen mitzureden hätte, was natürlich nicht der Fall war. Überhebliches Arschloch.

»Dein Wort in Gottes Ohr«, schnaufte Blomqvist. »Aber manchmal glaube ich, dass Wallin vielleicht wirklich das ewige Leben hat. Wie alt ist der denn eigentlich mittlerweile? Siebzig?«

»Zweiundsiebzig«, korrigierte Martinsson, der es natürlich wieder ganz genau wusste. Der schickte dem Alten vermutlich an jedem Geburtstag einen Strauß Blumen oder so was. Kein Wunder, dass sie den Schleimer bisher so schnell befördert hatten. Trotz der geringeren Berufserfahrung. Deutlich geringer, wohlgemerkt. Diese Arschlöcher, und Wallin allen voran. Der war sozusagen ihr Arschloch-Anführer.

»Hm«, machte Blomqvist und sagte dann: »Wobei ich glaube, dass es den Leuten allmählich auch auffällt.«

Martinsson blieb stehen, so abrupt, dass Blomqvist beinahe in ihn hineingerannt wäre.

»Was denn?«, fragte er und schaute Blomqvist mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Konnte es sein, dass er das als Einziger noch nicht mitbekommen hatte? Oder war das ein Test? Blomqvist schimpfte sich selbst einen Trottel, weil er mit dem Thema angefangen hatte, aber andererseits war er froh über diese Pause von der dämlichen Rennerei.

»Na ja«, sagte Blomqvist, »als er damit angefangen hat, war das ja praktisch noch die Norm im Büro. Alte Schule und all das.«

»Ich versteh nicht«, sagte Martinsson, stützte die Hände in die Hüften und machte ein paar seitliche Dehnübungen.

»Du weißt schon«, sagte Blomqvist. »Sich erst mal einen genehmigen, bevor es morgens richtig losgeht im Büro. Na, und dann während der Arbeit. Gehörte eben zum guten Ton, damals in den …«

»Damals in den wilden Zwanzigern, meinst du?«, fragte Martinsson grinsend und begann, auf der Stelle zu hüpfen. Beide lachten ein bisschen. Vielleicht ist Martinsson ja doch kein so übler Kollege, dachte Blomqvist. Zumindest war er ganz bestimmt kein solches Arschloch wie Wallin. Aber das war ja auch nicht schwer.

»Na«, sagte Blomqvist, »und nun zeigt sich das wohl ein bisschen. Also das mit der Sauferei.«

»Oh je«, seufzte Martinsson und schaute zerknirscht drein. »Er macht sich doch nicht etwa vor dem versammelten Aufsichtsrat in die Hose oder so was? Sollen wir ihm vielleicht schon mal ein paar Windeln besorgen?«

Blomqvist antwortete mit schallendem Gelächter, das seltsam deplatziert klang in der morgendlichen Stille. Ein paar wenige Vögel beschwerten sich, dann war es wieder ruhig im Beijers Park.

»Ich meinte eher, dass er manchmal in den Meetings ein bisschen wegnickt«, sagte Blomqvist grinsend. »Aber wer weiß, wo das noch hinführt?«

»Verstehe«, sagte Martinsson. »Wollen wir wieder?«

»Gleich«, sagte Blomqvist. »Erst muss ich mal kurz ums Eck.«

»Was denn, hier?«, fragte Martinsson mit hochgezogenen Augenbrauen. »Mitten im Park?«

»Ist doch keiner hier«, erwiderte Blomqvist und machte sich daran, hinter einer kleinen Baumgruppe am Wegesrand zu verschwinden, die von einem niedrigen Gebüsch umstanden war.

»Mach aber schnell«, rief ihm der hüpfende Martinsson hinterher. »Mir ist nämlich schweinekalt!«

Blomqvist setzte über das Gebüsch und lief um einen Baum, hinter dem der Regen einen Teil des Bodens weggeschwemmt hatte, sodass ein kleiner Tümpel entstanden war. Dort zog er seine Jogginghose ein Stück herunter. Nicht mal einen Reißverschluss bauen sie in diese Dinger, vermutlich wegen der Aerodynamik. Lächerlich. Und dann diese verdammten Detox-Smoothies, die Hilda ihn zwang, jeden Morgen zu trinken. Die mochten ja vielleicht dafür sorgen, dass man ein ähnlich astronomisches Alter wie Sören Wallin erreichte, aber Gott, man musste davon Wasser lassen wie das sprichwörtliche Pferd. Noch dazu fiel ihm Hilda dieser Tage sowieso gehörig auf die Nerven, weil sie ständig in Weltuntergangsszenarien schwelgte, seit die kleine Marlis Olsson angeblich verschwunden war. Dabei war das Gör mit Sicherheit freiwillig von zu Hause abgehauen, das wusste jeder, und wer konnte ihr das auch verdenken, bei der Halbverrückten, die sich ihre Mutter schimpfte? Man musste sich vielmehr fragen, wie eine wie die es sich überhaupt leisten konnte, in einer Gegend wie Rostorp zu wohnen. Beziehungsweise gab es da schon eine Antwort drauf, wenn auch nur gerüchteweise, aber diese Antwort machte Hilda und die anderen Ehefrauen alles andere als glücklich. Dabei waren diese Befürchtungen vollkommen lachhaft, zumindest was Blomqvist betraf. Als ob er zu so einer gehen würde, um sich sexuell abzureagieren, bestimmt nicht! Widerlich war das, da konnte man sich ja mit allem Möglichen anstecken.

Der Punkt war einfach der, Leute wie die Olssons passten viel besser nach Rosengård oder Seved. Da musste man sich nicht wundern, dass die Leute, die sich das leisten konnten, mittlerweile ganz aus Malmö wegzogen, raus nach Lund oder so. Was er übrigens auch tun würde, spätestens, wenn der alte Wallin endlich den Löffel abgegeben hatte und er zum Filialleiter …

Blomqvists Gedanken brachen abrupt ab, als er etwas in dem Tümpel entdeckte, in den er gerade uriniert hatte. Er kniff die Augen zusammen und starrte auf die Wasseroberfläche.

Dort schwamm etwas.

Blomqvist sah noch einmal hin.

Was da auf der Wasseroberfläche trieb, mochte ein alter Stoffbeutel sein. Das Ding war wohl mal rot gewesen, aber das war nur schwer zu erkennen, weil es sich komplett mit schlammigem Wasser vollgesogen hatte und jetzt beinahe schwarz war.

Er kniff die Augen zusammen.

Vorn an dem Ding war etwas Weißes dran, das träge hin und her wogte wie eine Seeanemone auf dem Meeresgrund. Demnach konnte es kein Beutel sein, denn das Weiße sah beinahe aus wie eine …

Oh Gott.

Blomqvists Herz setzte für einen schmerzhaften Moment aus. Es sah beinahe aus wie eine Hand! Eine kleine, eindeutig menschliche Hand.

Blomqvist vergaß, seine Hose vollends hochzuziehen und stieg über das Gebüsch, die Augen weiter auf diesen seltsam länglichen Gegenstand gerichtet, der da auf der Oberfläche des Tümpels trieb. Der ein Arm sein konnte mit einer Hand dran, oder auch nicht. Wahrscheinlich nicht, natürlich nicht, aber …

Blomqvist war so in die Betrachtung des seltsamen Objekts vertieft, dass er vergaß, darauf zu achten, wohin er seine Füße setzte. Der Boden am Ufer des Tümpels war trügerisch. Der Regen hatte den Boden tagelang aufgeweicht und ihn in der Nähe des Tümpels in eine schlammige Rutschbahn verwandelt. Blomqvist tat noch einen Schritt, dann kam sein rechter Fuß ins Rutschen. Er schlitterte, riss die Arme nach oben in dem verzweifelten Versuch, sein Gleichgewicht zu halten, doch es war zu spät.

Blomqvist kam gerade noch dazu, einen kleinen Schrei auszustoßen, dann fiel er.

Und landete geradewegs in dem Tümpel, in dessen schlammigen Tiefen er kurz darauf bis zur Brust versank. Panisch schnappte er nach Atem, die Kälte presste die Luft aus seinen Lungen, während er mit aberwitzigen Schwimmbewegungen versuchte, zurück ans Ufer zu gelangen.

Doch etwas kam ihm in die Quere, versuchte, seine Rückkehr zum sicheren Ufer zu verhindern, als hätte es einen eigenen Willen. Blomqvist blinzelte sich das Wasser aus den Augen, während ihm das Herz in der schmerzenden Brust raste, als wäre es fest entschlossen, sich aus seinem Brustkorb zu befreien.

Dann erkannte er, was da auf ihn zugeschwommen war, und endlich auch das blasse Etwas an seinem vorderen Ende.

Es war tatsächlich eine Hand.

Die zu einem Arm gehörte, der in einem ehemals roten, jetzt schmutzigbraunen Anorak steckte.

Blomqvists verzweifeltes Paddeln hatten den Körper auf ihn zugetrieben, und jetzt begann er, sich träge um die eigene Achse zu drehen. Mit einer glucksenden Bewegung tauchte ein weiteres, vollgesogenes Stück Stoff auf, während sich der Körper langsam auf Blomqvist zubewegte.

Blomqvists Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als er das sah. Dann begriff er, dass das Stück Stoff die Kapuze des Anoraks war und dass er in das Gesicht einer Leiche starrte. Der Leiche eines Kindes.

Da begann Blomqvist zu schreien.

8. November

Zwei

Eksjö, Provinz Jönköpings län

»Okay, Elsa«, sagte Kommissar Björklund. »Ich danke dir für deine Bemühungen und all das, aber ich sehe wirklich nicht, wie uns das jetzt noch voranbringen soll.«

Elsa Mattsson wandte ihren Blick von der Scheibe ab, hinter welcher der Junge saß, und musterte den Kommissar. Seit sie in diesem kleinen beschaulichen Örtchen mitten im Urwald Smålands angekommen war, hatten sich die örtlichen Behörden kaum bemüht, die Skepsis an Elsa und ihren Methoden zu verbergen.

Andererseits waren die örtlichen Behörden, auch das hatte sie schnell herausgefunden, völlig überfordert mit einem solchen Fall.

Das kannte sie bereits, die Skepsis und die Ablehnung. Und sie verstand die tiefe Unsicherheit, die der Grund für diese Skepsis war. Elsa Mattsson war jemand, der in Seelen hineinblickte, das war gewissermaßen ihr Beruf oder doch ein wichtiger Teil davon. Was sie dort sah, war selten schön oder besonders beruhigend, besonders nicht, wenn es um ihre kleinen Patienten ging. Kinder, deren ungehörte Stimmen oft so wenig Gehör fanden in dieser Welt des Schnellen und des Lauten. In dieser Welt der Fakten, die den Polizisten so vertraut erschien. Weil die Welt der Fakten zumindest den Eindruck erweckte, auf solidem Grund gebaut zu sein.

»Lasst mich noch eine Sache probieren«, sagte Elsa und versuchte zu ignorieren, dass einer der Polizisten ein herzhaftes Gähnen unterdrückte.

»Bitte, Rasmus.«

»Hör mal, Elsa«, sagte der Kommissar. »Ich weiß, dass du zu den besten deines Faches gehörst und die Kollegen in Malmö dir ganz außergewöhnliche Fähigkeiten beurkunden. Ich will das auch gar nicht in Abrede stellen, versteh mich nicht falsch. Aber vielleicht ist es diesmal wirklich einfach nur das, wonach es aussieht.«

»Und wonach sieht es deiner Meinung nach aus?«, fragte Elsa.

Ihr Blick bohrte sich in die Augen des Kommissars und wie üblich verfehlte das seine Wirkung auch diesmal nicht. Nach Elsas Erfahrung gab es genau zwei mögliche Arten, wie Männer auf diesen Blick reagierten. Die einen starrten zurück, in der Hoffnung, dass das selbstsicher wirken würde, was es jedoch bei den wenigsten tat. Die anderen senkten beinahe augenblicklich die Augen. Kommissar Björklund gehörte zur letzteren Sorte.

»Na, du weißt doch, wie die Eltern heutzutage sind«, murmelte er. »Und die Schüler. Vielleicht gab es Probleme im Unterricht oder er wollte sich an irgendwem rächen …«

Björklund starrte jetzt intensiv in den Raum jenseits der Scheibe, wo der Junge an einem kleinen Tisch saß und ins Leere starrte. Wie er das seit seiner Ankunft getan hatte.

»Filip ist sieben, Rasmus.«

»Ich weiß. Aber …«

Der Kopf des Kommissars ruckte herum, so als hätte er sich spontan dazu entschlossen, Elsa doch noch die Stirn zu bieten. »In dem Alter haben sie doch alle möglichen Fantasien. Die denken sich imaginäre Freunde aus und was weiß ich. Und wenn ihnen in der Schule mal was nicht passt, dann laufen sie zu Mama und Papa, weil sie genau wissen, was dann passiert.«

»Und was passiert dann?«, fragte Elsa.

»Na die Eltern, die klären das. Rennen in die Schule und knöpfen sich den Lehrer vor. Jammern herum, dass man ihren kleinen Schatz zu hart angefasst hat. Drohen damit, die Schule zu wechseln und ein Riesentamtam draus zu machen. Bloß, weil sie selbst nicht in der Lage sind, mal für ein bisschen Anstand und Erziehung zu sorgen. Das ist zumindest meine Meinung dazu.«

Elsas Mundwinkel begann zu zucken, doch Björklund, der erst richtig in Fahrt zu kommen schien, war nicht zu bremsen.

»Und rate mal, wer sich dann in 10 Jahren mit der Bande rumschlagen darf. Da sitzen die dann hinter der Sporthalle, ziehen sich Joints rein und werden noch frech, wenn man sie dabei erwischt, wie sie auf nicht registrierten Mopeds durch die Gegend knattern. Weil die keine wirkliche Erziehung mehr genießen heutzutage und …«

»Oder vielleicht, weil sie sich nicht ernst genommen fühlen?«, fragte Elsa.

Björklund schnaubte verächtlich. Sein Kopf hatte eine tiefrote Färbung angenommen und er sah aus, als stünde er kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Auch das wäre nicht das erste Mal, dachte Elsa niedergeschlagen.

»Okay«, sagte sie. »Ich mach dir einen Vorschlag. Jetzt ist doch sowieso Mittagspause, nicht wahr?«

Björklund nickte kaum merklich.

»Warum nehmt ihr euch nicht für eine halbe Stunde eine Auszeit, geht was essen oder so? Und wenn ihr zurück seid, machen wir es so, wie du gesagt hast. Wir fahren zu den Lehrern, einem nach dem anderen, und befragen die als Zeugen. Und wenn keinem von denen was aufgefallen ist, dann hat sich der Junge wohl wirklich alles nur ausgedacht und wir können die Sache getrost vergessen.«

Dieses Einlenken war so plötzlich geschehen, dass es Björklund kalt erwischte. Völlig verdattert starrte er Elsa an, dann drehte er sich zu seinen Kollegen um und sagte: »Okay. Also, ihr habt’s gehört. Gehen wir was essen. Und in einer halben Stunde geht’s dann los.«

»Danke«, sagte Elsa.

Eine halbe Stunde war nicht viel, aber es würde genügen müssen.

Drei

Während sie den Polizisten nachsah, die kopfschüttelnd in Richtung der Kantine verschwanden, ließ sie sich das, was Björklund gesagt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen.

Allein – es ergab keinen Sinn, beim besten Willen nicht.

Kein Siebenjähriger würde sich so eine Geschichte ausdenken. Und schon gar nicht würde er so was ohne guten Grund seinen Eltern auftischen. Die hatten ausgesagt, dass sie ihrem Sohn die Geschichte förmlich aus der Nase hatten ziehen müssen, nachdem ihnen aufgefallen war, wie ungewöhnlich still und in sich gekehrt ihr Jüngster urplötzlich gewesen war, von einem Tag auf den anderen.

Elsa rechnete ihnen hoch an, dass sie überhaupt auf solche Signale geachtet hatten. Wie viele Eltern mochte es geben, denen so etwas schon gar nicht mehr auffiel?

Sie hatten sich also mit ihrem Sohn hingesetzt, seine Mutter hatte ihn in den Arm genommen und ihn gefragt, was denn los sei. Als sie es ihm endlich entlocken konnten, trauten sie ihren Ohren kaum. Er sei, sagte der Junge, auf dem Nachhauseweg von einem Mann angesprochen und in ein Versteck gelockt worden, wo der Mann mit ihm schlimme Dinge angestellt habe, über die er keinesfalls reden wolle.

Das war alles, danach und seitdem hatte der Junge vehement geschwiegen und daran hatte sich bis zu Elsas Ankunft nichts geändert. Die Psychologin warf einen langen Blick durch die Scheibe zu dem Jungen, der drinnen an einem kleinen Kindertisch saß, umgeben von abgenutztem Spielzeug, das er nicht einmal angerührt hatte, und mit leerem Gesichtsausdruck auf ein weißes Blatt Papier starrte, neben dem ein paar Wachsmalstifte lagen, ebenfalls unberührt.

Elsa atmete einmal tief durch, dann öffnete sie die Tür zu dem kleinen Zimmer.

Sie trat in die Mitte des Zimmers und ging vor dem kleinen Tisch in die Knie, während sie versuchte, den Blick des Jungen zu erhaschen. Als er sie schließlich aus trüben Augen anschaute, lächelte sie ihn an und fragte: »Darf ich?«

Die Brauen des Jungen runzelten sich, er schaute sie verständnislos an.

»Mich setzen?«, vervollständigte Elsa den Satz und deutete auf einen kleinen roten Plastikstuhl, der verloren neben dem Tisch herumstand.

Der Junge nickte schwach und Elsa zog den Stuhl zu sich heran. Dann setzte sie sich neben ihn an den Tisch, wobei sie darauf achtete, ihm nicht zu nahe zu kommen. Noch nicht.

»Langweilig, oder?«, fragte Elsa.

Der Junge reagierte nicht.

»Wollen wir nicht etwas malen?«, versuchte sie es erneut.

Der Junge schwieg beharrlich.

»Ist es okay, wenn ich etwas male?«

Der Junge zuckte mit den Schultern. Elsa lächelte und schnappte sich einen der Wachsmalstifte. Dann begann sie zu zeichnen. Ein Haus, eigentlich nur ein Quadrat mit einem Dreieck obendrauf, aber dann malte sie oben ein Fenster rein, dann noch eins. Ein Seitenblick zu dem Jungen verriet ihr, dass er ihren Zeichenkünsten mit aufmerksamen Augen folgte.

»Noch eins hier oben?«, fragte sie und der Junge nickte kaum merklich. Sie malte ein drittes Fenster ein.

»Die Tür … hm, die muss in die Mitte, ja? Oder ist sie eher an der Seite?«

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Also mehr nach links?«

Er nickte.

Elsa malte die Tür links ein.

»Ein Gartenzaun, nicht wahr? Ein schöner hoher Zaun aus Holz und weiß gestrichen …«

»Rot«, flüsterte der Junge kaum hörbar.

»Rot, verstehe«, sagte Elsa, nahm den roten Stift vom Tisch und malte einen Gartenzaun neben das Haus. Sie spürte, wie der Junge sie sanft am Arm berührte. Dann tippte er leicht auf eine Stelle etwas oberhalb des Zauns, rechts neben dem Haus, dorthin, wo Elsa die Straße gemalt hatte. Zuerst verstand sie nicht, was der Junge meinte, und er sagte auch nichts mehr.

Dann begriff sie es.

»Da stehen Blumen in dem Garten, nicht wahr?«

Der Junge nickte.

Elsa malte zwei grüne Stängel und ein paar Blätter daran. Von unten herauf ließ sie die gemalten Blumen wachsen, bis sie die Höhe des Zauns erreicht hatten.

»Höher«, flüsterte der Junge.

Elsa malte die Stängel so hoch, dass sie beinahe das Dach des Hauses erreichten.

»Eine mehr.«

Nun malte Elsa einen dritten Blumenstängel zu den beiden anderen. Dann wählte sie die Farben gelb und braun, um die Blumen fertig zu zeichnen. So große Blumen konnten nur Sonnenblumen sein. Nicht gerade deren Hochsaison, aber Elsa glaubte sich zu erinnern, irgendwo gelesen zu haben, dass einige der Exemplare auch noch tapfer in den Winter hinein blühten. Einen Versuch war es allemal wert. Als sie fertig war, nickte der Junge wieder.

Nun senkte Elsa ihre eigene Stimme zu einem Flüstern. »Ist das, wo du Verstecken gespielt hast? Mit dem Mann?«

Der Junge antwortete nicht, er war wieder in seine übliche Starre verfallen, er blickte stumpf auf das leere Blatt Papier, das vor ihm lag.

Schließlich nickte er kaum merklich.

»Danke, Filip«, sagte Elsa und stand auf, dann verließ sie das Verhörzimmer.

Vier

»Es ist furchtbar«, sagte Lasse Ekberg, »einfach nur schrecklich. Dass so etwas an unserer Schule passiert sein soll. Hier, in Eksjö.« Er schüttelte den Kopf. »Einfach unvorstellbar ist so was.«

Kommissar Björklund nickte zustimmend und griff dann nach dem Kaffee, den ihnen die Frau des Lehrers auf den Tisch gestellt hatte. In schicken, handgetöpferten Tassen, die offenbar zu einem Set der eher kostspieligen Sorte gehörten.

»Wie meinen Sie das, Lasse?«, wollte Elsa wissen und fing sich einen warnenden Seitenblick von Björklund ein, den sie geflissentlich ignorierte. »Ich darf doch Lasse sagen?«

»Ja, klar«, sagte der Sportlehrer und schenkte Elsa ein einnehmendes Lächeln. »Ich meine, man liest so was ja manchmal in der Zeitung, klar. In Großstädten passiert so was. Aber hier, ich meine, da kennt man sich doch. Ich bin selbst hier zur Schule gegangen, und die Eltern der meisten Kinder ebenfalls. Ich meine …«

»Ich verstehe.«

Ekberg nickte.

»Also, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand aus Eksjö so was tun würde. Vielleicht einer von den Sommertouristen, also, ich will da niemanden schlechtreden, es ist nur einfach … man kennt die eben nicht. Aber wir im Dorf hier …«

»Ihr seid alle eine große Gemeinschaft.«

Elsa lächelte ihn an.

»Ja«, sagte Lasse Ekberg und nickte zustimmend. »Genau.«

Seine Frau legte ihm die Hand aufs Knie, tätschelte es einmal und zog sie dann wieder weg. Interessant, dachte Elsa.

»Es ist ja auch noch gar nicht raus, ob der Junge wirklich …«, begann Björklund zu beschwichtigen. »Ich meine, es besteht die Möglichkeit, dass er sich das alles nur ausgedacht hat. Um irgendwem eins auszuwischen oder so, du weißt doch, wie sie sind in dem Alter.«

»Verstehe.«

»Wir waren ja selbst nicht immer die reinsten Engel, oder?«, sagte Björklund in jovialem Ton. Ekberg lächelte und legte nun seinerseits die Hand auf den Oberschenkel seiner Frau, wo sie liegen blieb.

Na prima, dachte Elsa, Kommissar Björklund ist also ebenfalls an diese Schule gegangen. Hätte mich nicht überraschen sollen. Schließlich kennt man sich hier.

Vom oberen Ende der Treppe war ein Geräusch zu hören und als Elsa hochsah, bemerkte sie das Gesicht eines kleinen Mädchens, das mit großen Augen zwischen den Stäben des Geländers zu ihnen hinunterblickte. Offenbar die Tochter der Ekbergs.

»Das ist Marie«, sagte Ekberg. »Sie ist fünf.«

Alle lächelten ein bisschen und schließlich verschwand das Gesicht der Kleinen wieder. Seine Frau, fiel Elsa auf, hatte zu der gesamten Konversation noch kein Wort beigetragen. Er hatte sie ihnen noch nicht einmal vorgestellt, was ja zumindest bei Björklund auch gar nicht nötig war.

»Gut, Lasse …«, sagte Elsa und stellte ihre Kaffeetasse ab. Machte dann Anstalten, aufzustehen. Genauso hatten sie es schon bei den vier Besuchen gemacht, die sie an diesem Nachmittag bereits hinter sich hatten, und allmählich war ihr jede Lust auf hausgemachten Kaffee vergangen. Björklund hatte sie dabei jedes Mal als Unterstützung aus Malmö vorgestellt. Da hätte er auch gleich sagen können: Eine aus der Großstadt, die sich einmischen will. Haltet bloß die Klappe!

Dementsprechend groß war der Enthusiasmus der Leute gewesen, ihre Fragen zu beantworten. Aber höflich waren sie alle, da war auch Ekberg keine Ausnahme, den ihr Björklund als den Sportlehrer des Jungen vorgestellt hatte. Allerdings, einen Unterschied hatte es schon gegeben.

Elsa stand auf.

Ekberg nahm die Hand vom Oberschenkel seiner Frau, blieb aber sitzen. Die Frau zog ihren Rock glatt und entfernte eine unsichtbare Fussel.

Auch Björklund wuchtete seinen mächtigen Leib aus dem Sessel. Seinem Gesicht war deutlich anzusehen, was er von der ganzen Sache hielt. Vermutlich hatte er gänzlich andere Pläne fürs Wochenende gehabt, bis Filip sie ihm vermasselt hatte. So ein Pech aber auch für ihn.

»Äh, Lasse«, sagte Elsa, während sie sich zur Tür umwandte. »Eins noch, bitte.«

»Klar«, sagte Lasse, »was denn?«

»Sie hatten Filip in der fünften Stunde, das war seine letzte an der Schule, richtig?«

»Wenn Sie das sagen«, sagte Lasse und deutete ein entschuldigendes Lächeln an. »Ich hab ja nicht die Stundenpläne aller meiner Schüler im Kopf.«

»Natürlich nicht.«

Elsa lächelte verständnisvoll, dann kramte sie umständlich ein kleines Notizbuch aus der Tasche, öffnete es und blätterte in den Seiten, die allesamt unbeschrieben waren. Dann tat sie so, als hätte sie eine bestimmte Notiz gefunden.

»Er hat mit mir Verstecken gespielt«, murmelte sie nachdenklich, während sie den Blick nicht von Lasse Ekbergs Hand ließ. Exakt, als sie das Wort Verstecken erwähnte, hatte sich diese unwillkürlich den Oberschenkel seiner Frau gepackt. Eine winzige Bewegung nur, die außer Elsa niemandem auffiel, aber eine verräterische.

»Wie bitte?«, fragte Ekberg, so als hätte er Elsas Gemurmel nicht verstanden. Aber er hatte.

»Verstecken«, wiederholte Elsa und blickte dem Lehrer jetzt direkt in die Augen. »Hab es gerade noch mal nachgesehen. Er hat gesagt, dass er mit mir Verstecken spielen will. In dem Haus. Das waren Filips exakte Worte.«

»Ja, und …?«, schnappte Lasse und auch Björklund musterte Elsa jetzt mit gerunzelter Stirn. Natürlich hatte Filip nichts dergleichen gesagt, aber das konnte der Kommissar ja nicht wissen und Ekberg schon gar nicht.

»Ja«, sagte sie in einem beiläufigen Ton. »Und dann hat Filip uns verraten, wo sich das Versteck befindet. Er sagte …«

Lasse Ekbergs Blick zuckte nur für den Bruchteil eines Augenblicks zur Seite, aber das genügt Elsa.

»Der Keller«, sagte sie, und Ekberg wurde blass. Seine Frau verzog schmerzerfüllt ihr Gesicht, als er seine Finger in ihren Oberschenkel krallte.

»Lasse!«, stöhnte sie leise, doch der Mann schien sie gar nicht zu hören. Er starrte Elsa aus weit aufgerissenen Augen an. Augen, in denen Begreifen zu dämmern begann. Begreifen, dass er soeben in eine Falle getappt war.

Elsa drehte sich zu Björklund um. Dessen Gesichtsausdruck war ein einziges Fragezeichen. Offenbar begriff er überhaupt nichts.

»Was für ein Keller, Elsa?«

»Den Keller der Ekbergs. Da hinten im Flur ist der Zugang, nicht? Den sollten wir uns mal ansehen, finde ich.«

Ein weiterer Blick auf den Sportlehrer zeigte ihr, dass dieser noch ein bisschen blasser geworden war. Seine Pupillen waren deutlich geweitet und zuckten zwischen ihrem Gesicht und dem Björklunds hin und her. Und ich wette, dachte Elsa, deine Handflächen sind jetzt schwitzig wie die einer Jungfrau beim ersten Mal. Dann fiel ihr auf, dass das ein reichlich pietätloser Vergleich war angesichts dessen, was der Sportlehrer vermutlich getan hatte.

Nein, dachte sie, nicht vermutlich. Jetzt nicht mehr. Jetzt bin ich mir sicher.

»Lasse, du tust mir weh!«, zischte die Frau des Sportlehrers und wie abwesend wandte der Mann den Blick langsam hinab zu seiner Hand. Die Knöchel seiner Finger traten weiß hervor. Er ließ ihren Schenkel los, was ihn einige Anstrengung zu kosten schien.

Und ungefähr da begann es auch seine Frau zu begreifen.

»Lasse, du …?«, hauchte sie mit versagender Stimme.

Lasse sagte gar nichts mehr.

Er fragte nicht mal nach einem Durchsuchungsbefehl, was sein gutes Recht gewesen wäre. Wenigstens, dachte Elsa, ist er kein Profi. Auch wenn das freilich ein schwacher Trost ist. Typen wie der, wenn man sie nicht stoppt, machen nämlich immer weiter. Und sie werden jedes Mal besser bei dem, was sie tun.

Ekberg schwieg auch noch, als sie gemeinsam in den Flur traten. Da war eine Holztür, gleich neben den Kleiderhaken, an denen ihre Mäntel hingen. Dorthin war sein Blick gezuckt, als Elsa gesagt hatte, dass der Junge ihr erzählt hatte, wo im Haus sich das Versteck befinden würde.

Die Tür öffnete sich ohne das geringste Geräusch, offenbar wurden die Scharniere regelmäßig geschmiert.

»Wo … äh, wo ist das Licht?«, fragte Björklund.

Er klang ungefähr so schockiert, wie Lasse Ekberg gerade ausgesehen hatte. Auch Björklund ist also offenbar kein Profi, dachte Elsa, aber das würde schon bald nicht mehr ihr Problem sein.

Der Sportlehrer deutete auf eine Kordel, an deren unterem Ende eine Glasperle hing, und Björklund zog daran.

Als das Licht anging, offenbarte der Keller eine Ansammlung höchst unauffälliger Alltagsgegenstände. Eine Waschmaschine stand hier unten, nebst einem kleinen Schrank, der vermutlich die dazugehörigen Utensilien wie Waschmittel und dergleichen enthielt. Ein ausgedienter PC unter einer Staubabdeckung. Einer von diesen Hometrainern, im guten Vorsatz gekauft, dann rasch zum Staubfänger geworden.

»Keine Werkbank, wie?«, fragte Elsa, und Björklund fuhr zu ihr herum.

In seinem Gesicht zeichnete sich seine Verwirrung allzu deutlich ab. Offenbar hatte er erwartet, dass sie hier unten von einer Ansammlung belastender Beweise begrüßt werden würden, und nun, da das offenbar nicht der Fall war, befürchtete er vermutlich erneut, bei der hiesigen Bevölkerung in Ungnade zu fallen, weil er auf die Psychotante aus der Stadt gehört und den Keller eines gänzlich Unschuldigen durchsucht hatte.

»Keine Männersachen, meine ich«, sagte Elsa und deutete auf den Keller. »Wir sollten schauen, ob es nicht vielleicht einen weiteren Raum gibt.«

Es gab einen, und sie mussten sogar eine Weile danach suchen. Was Elsa mit einer stummen Befriedigung erfüllte. Selbst sie hatte bisher wenig mehr als Indizien zutage gefördert, aber die Tatsache, dass der Mann sie bei ihrer Suche nicht unterstützte, war praktisch einem Schuldeingeständnis gleichzusetzen. Offenbar hielt sich in ihm nach wie vor die trügerische Hoffnung, sein alter Schulfreund würde die Sache einfach auf sich beruhen und ihn vielleicht mit einem blauen Auge davonkommen lassen, wenn er nur lang genug stur blieb.

Aber nicht, wenn ich mit dabei bin, dachte Elsa voll stummer Befriedigung, nicht mit der Psychotante aus der Stadt an seiner Seite.

Letztlich fanden sie den Durchgang hinter einem Gestell, das als eine Art Garderobe diente. Ein paar ausgediente Wintermäntel hingen unter einer Plane und verbargen so die dahinterliegende Tür, während sie gleichzeitig den Anschein erwecken sollten, diese wäre ohnehin seit Jahren nicht benutzt worden. Kein besonders ausgefuchstes Versteck, dachte Elsa, aber um ein Haar hätte es dennoch genügt, damit Björklund die Sache abgeblasen hätte. Sie schüttelte den Kopf und damit den spekulativen Gedanken ab, was unter Björklunds Aufsicht noch so alles unbemerkt geblieben war im idyllischen Eksjö.

Besser, nicht darüber nachzudenken.

»Wollen Sie oder sollen wir, Lasse?«, fragte Elsa und verkniff sich dabei jeden Spott. Nicht schwer, wenn man bedachte, weswegen sie hier unten waren. Schließlich hatte der Mann ein bisschen mehr getan als heimlich Schnaps zu brennen oder den Staat um ein paar Steuergelder zu prellen.

Ekberg versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu fummeln, doch seine Hände zitterten so stark, dass der Schlüssel zu Boden fiel, wo er klirrend aufschlug.

Elsa hob ihn auf und steckte ihn ins Schloss, wobei sie darauf achtete, nichts außer dem Schlüssel selbst zu berühren. Björklund war da weniger behutsam. Kaum hörte er das Klicken, mit dem das Schloss aufsprang, packte er die Klinke und zog die Tür vollends auf.

»Scheiße …«, entfuhr es ihm.

Als Elsa an seinen breiten Schultern vorbei ins Innere der kleinen Kammer lugte, konnte sie ihm nur beipflichten.

Der Raum war offenbar mal als kleine Werkstatt angelegt gewesen. Die Werkbank stand noch hier, ebenso ein an die Wand geschraubtes Gitter, an dem man Werkzeuge befestigen konnte. Doch nun hatte das Gitter eine andere Verwendung gefunden. Statt Hämmer, Zangen und Sägen hingen körnige Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die allesamt Kinder zeigten, die meisten davon Jungen, keiner älter als zehn Jahre.

Nichts allzu Verfängliches auf den ersten Blick, denn die Kinder trugen allesamt Kleidung, zumeist Sportsachen. Was die Aufnahmen so furchterregend machte, war die Tatsache, dass die Kinder offenbar nicht mitbekommen hatten, dass sie fotografiert worden waren. Das zusammen mit der Grobkörnigkeit der Bilder ließ darauf schließen, dass Lasse Ekberg die Fotos heimlich gemacht hatte, während sie sich nach dem Sportunterricht umgezogen hatten.

Elsas Blick schweifte weiter durch den Raum.

Die Werkbank war mit einem breiten Streifen weißen Papiers abgedeckt worden und darauf lagen Schlüpfer, aber auch Sportbekleidung – auch diese offensichtlich in Kindergrößen, säuberlich nebeneinander aufgereiht wie Stücke einer Ausstellung. Zu jedem Exponat gehörte ein kleines Papierschild. Als Elsa näher trat, konnte sie darauf die Namen von Kindern lesen, offenbar allesamt Ekbergs Schüler. Der Mann musste diese aus den Schränken in der Umkleide gestohlen haben.

In diesem Moment brach Ekberg ächzend im Türrahmen zusammen. Niemand kümmerte sich um ihn.

»Da haben Sie das Versteck«, sagte Elsa. »Und falls das nicht genügt …«

Sie deutete auf eine Videokamera, die auf einem Stativ in der Ecke stand, ein kleines silbernes Ding mit einem ausklappbaren Display. Nicht eben das neueste Modell. Vielleicht vor Jahren gekauft, um Familienausflüge festzuhalten, und dann vergessen worden wie der Hometrainer im Raum nebenan. Vielleicht, dachte Elsa düster, hat er damit die Geburt seiner Tochter aufgezeichnet, oder das erste Mal, dass sie ihn Papa genannt hat.

Sie ging zu der Kamera und klappte das Display aus, dann drückte sie die mit Play beschriftete Taste. Das Display blieb schwarz. Sie betätigte die Rückspulen-Taste, und ein Junge, der über eine Waldlichtung flitzte, kam ins Bild. Das hätte lustig aussehen können, denn seine Bewegungen waren abgehackt und viel zu schnell und außerdem schien er rückwärts zu laufen.

Es war kein bisschen lustig.

»Es ist Filip«, sagte Elsa.

Der Mann, der hinter ihnen auf dem Boden lag, begann zu schluchzen.

»Ich … also wir haben doch nur … ich wollte ihm doch gar nichts tun.«

Wortlos zerrte Björklund ihn auf die Füße. Seine große Hand packte den Lehrer einfach am Genick, schleifte ihn durch den Raum zurück zur Treppe. Ohne ein weiteres Wort stieß der Kommissar den Sportlehrer die Stufen hoch.

Nach einem letzten Blick auf die widerliche Sammlung folgte Elsa ihnen nach oben.

Der Rest lag jetzt an Filip, beziehungsweise hing vieles davon ab, was er noch aussagen würde, falls und wenn er wieder zu reden begann. Elsa hoffte, dass der Junge seine Sprache wiederfinden würde, wenn er begriff, dass Lasse Ekberg ihm nichts mehr würde tun können. Wenn er das denn jemals wirklich begreifen würde.

Oben verpasste der Kommissar Lasse Ekberg ein Paar Handschellen, aber das bekam dieser vermutlich gar nicht mehr richtig mit. Sein trüber Blick traf die panisch aufgerissenen Augen seiner Frau, die ihre kleine Tochter an sich presste. Als er an ihnen vorbei zur Haustür geführt wurde, kam Ekberg aber noch einmal zurück ins Hier und Jetzt.

Als er an Elsa vorüberging, drehte er den Kopf und spuckte ihr mitten ins Gesicht. Dann ließ er sich widerstandslos abführen, beobachtet von den stummen Augen der Familie und der anwesenden Polizisten. Ekberg starrte seine Haustür an, die er vermutlich zum letzten Mal für eine ganze Weile sehen würde, dann öffnete Björklund diese und schob ihn nach draußen. Die Tür fiel schwer hinter den beiden Männern ins Schloss.

»Darf ich mal Ihr Badezimmer benutzen?«, fragte Elsa und die Ehefrau des Lehrers deutete wortlos in den Flur.

Elsa fand das Badezimmer, öffnete die Tür, schloss sie hinter sich und schob den kleinen Riegel vor. Sie stakste zum Waschbecken, legte die zitternden Finger auf den Rand und blickte in den Spiegel.

Was ihr entgegenschaute, war ein blasses Gesicht mit zitternden Lippen und Augen, die aus einer Spur zu viel Pupille zu bestehen schienen. Und einem feuchtglänzenden Fleck auf der Wange.

Ruhig, sagte sie sich, es ist überhaupt nichts. Nur ein weiterer Fall. Nichts weiter. Nur ein weiteres Schwein hinter Gittern.

Sie atmete ein.

Aus.

Ein.

Aus.

Besser.

Ihre Finger hatten aufgehört zu zittern oder sie zitterten jetzt zumindest nicht mehr so stark. Als sie wieder in den Spiegel schaute, entdeckte sie, dass sie beim Abwischen ihres Gesichts eine Stelle über der linken Braue übersehen hatte. Sie drehte den Wasserhahn auf, um es fortzuspülen, als sie spürte, dass etwas ihre Speiseröhre nach oben schoss, ohne jede Vorwarnung. Sie schaffte es gerade noch, den Klodeckel nach oben zu reißen, der gegen die Wandfliesen knallte, dann brach es geräuschvoll aus ihr heraus.

Als es vorbei war, kniete sie entkräftet vor der Kloschüssel und warf einen angewiderten Blick auf die Reste des Frühstücks, das sie vor ein paar Stunden im Hotel zu sich genommen hatte.

Schade, dachte sie bitter, das ist ein gutes Frühstück gewesen. Das beste vermutlich, das in Eksjö für Touristen zu bekommen war. Denn das war sie, oder? Eine Touristin. Nur auf der Durchreise. Praktisch schon wieder auf dem Weg nach Hause, nachdem sie ihr Werk verrichtet und diese Gemeinde der Ruhe und Eintracht beraubt hatte. Wie ein böser Geist. Wie ein Fluch.

Sie tastete nach dem Knopf und betätigte die Spülung, während sie noch vor der Schüssel kniete. Als ihr Handy klingelte, zog sie es aus der Tasche und lehnte sich sitzend gegen die Wand neben dem Klo.

Es war Henrik.

»Ja?«, sagte sie, nachdem sie das Gespräch angenommen hatte.

»Ich hab dir ein paar SMS geschickt«, sagte Henrik.

»Hab ich gesehen.«

»Oh. Und ich Dummerle dachte, du würdest vielleicht auch zurückrufen.«

»Konnte nicht, war beschäftigt.«

»Verstehe. Geht’s dir gut? Du klingst ein bisschen seltsam, Elsa.«

»Alles gut, muss die Verbindung sein. Ich bin in Eksjö. Die haben hier einen Kinderschänder.«

»Oh.«

»Ja.«

»Und? Ich meine, kommst du gut voran?«

»Bin hier fertig, so gut wie. Sie führen den Kerl gerade ab.«

»Na dann, Glückwunsch!«

»Danke.«

»Und was ist nun mit mir?«

»Mit deinen SMS meinst du?«

»Richtig. Ich weiß nicht, wie Agnes das sieht, aber ich glaube, wir könnten deine Hilfe gebrauchen. Und zwar schon gestern, am besten. Es pressiert ein bisschen, weißt du?«

»Ach nee.«

»Wir stecken hier ziemlich fest. Du würdest mir, also uns einen Gefallen tun, wirklich. Soll ich auf die Knie fallen, damit du kommst?«

»Die Vorstellung hat was«, sagte Elsa und ein kleines Lächeln schlich sich auf ihre blassen Lippen.

»Also? Heißt das, du kommst?«

»Ja, ja. Aber morgen muss ich erst mal an die Uni. Ich habe auch noch einen Brotjob, bei dem ich ab und zu mal auftauchen muss, wie du vielleicht weißt.«

»Klar, weiß ich. Das ist echt spitze, Elsa. Du wärest uns eine große Hilfe. Wenn du es dir nur mal anschauen würdest. Deine Einschätzung abgeben oder so.«

»Okay. Ich bring die Kristallkugel mit.«

»Danke, Elsa. Und …«

»Ja?«

»Fahr vorsichtig, okay?«

»Immer«, sagte sie und legte auf.


Lasse Ekberg saß bereits auf der Rückbank des Streifenwagens, als Elsa aus dem Haus trat. Nur, falls es irgendwer in Eksjö noch nicht mitbekommen hatte, ließ Björklund jetzt die Rundumleuchte auf dem Dach des Wagens laufen. Elsa bemerkte, dass die Gardine hinter dem Fenster am Nachbarhaus beiseitegeschoben wurde und dann in dieser Position verharrte. Bis spätestens heute Abend würde jeder in Eksjö Bescheid wissen. Und dann würden für den Lehrer, seine Frau und ihre Tochter ihre ganz persönlichen Varianten eines Spießrutenlaufs beginnen.

Als er sie erblickte, kam Björklund auf sie zugelaufen und streckte ihr in einer theatralisch anmutenden Geste die Hände hin. So ganz anders als noch vor einer halben Stunde, dachte Elsa. Aber auch das erlebte sie nicht zum ersten Mal.

»Ich muss dir danken, Elsa. Das hast du wirklich toll gemacht.«

Klingt, als wäre ich ein Kind und hätte einen erstklassigen Purzelbaum hingelegt oder versucht, mein erstes Pferd zu malen, dachte Elsa.

»Danke«, sagte sie knapp.

»Sag mal einer, Psychologen wären zu nichts nütze.«

»Ja. Sag mal einer.«

Elsa hätte schwören mögen, dass exakt das vor ein paar Minuten noch die vorherrschende Meinung in Björklunds Kopf gewesen war.

»Ihr hängt das ja ganz schön an die große Glocke«, sagte Elsa und deutete auf den Streifenwagen, der blinkte wie ein Weihnachtsbaum. »Ich möchte jetzt nicht unbedingt in seiner Haut stecken. Oder der seiner Frau.«

Sie deutete auf das Haus, aus dem sie gerade gekommen war. Björklund zuckte nur mit den Schultern.

»Also, danke nochmals«, sagte er. »Und bestell bitte Agnes schöne Grüße von mir.«

Dann stapfte er zum Streifenwagen und stieg ein.

»Mach ich«, sagte Elsa leise.

Ein paar Minuten später stieg sie in ihren eigenen Wagen, einen knallroten Porsche 911 Targa, und brauste in Richtung Malmö davon, Henriks sorgenvolle Bitte um einen vorsichtigen Fahrstil geflissentlich ignorierend.

Nachdem sich die letzten Streifenwagen verzogen hatten, die auch Frau und Tochter des Sportlehrers aufs Revier gebracht hatten, wurde es still vor dem Haus im Vetlandavägen. Die drei einzelnen Sonnenblumen hinter dem rot gestrichenen Zaun ließen traurig ihre zerzausten Köpfe hängen.

9. November

Fünf

Hochschule Malmö, Malmö

»… also ist die Schizophrenie eine geradezu typische Psychose mit Realitätsverlust, der sich insbesondere durch akustische Halluzinationen auszeichnet, mit anderen Worten, dem Hören von Stimmen. Zu beachten dabei ist, dass diese Stimmen entgegen der landläufigen Meinung nur selten befehlenden Charakter haben. Vielmehr beleidigen sie häufig den Hörenden oder verwickeln ihn in Gespräche. Auffällig hierbei ist der häufig irrationale Charakter dieser Themen. So ist für Außenstehende oft nicht wahrnehmbar, wieso der Betroffene beispielsweise fest davon überzeugt ist, dass seine Gedanken von anderen gelesen werden oder er davon überzeugt ist, von Außerirdischen entführt worden zu sein …«

Jemand aus den hinteren Rängen begann, die Titelmelodie von Akte X zu pfeifen.

»Ja, so ähnlich«, sagte Elsa lächelnd und versuchte, gegen das Licht des Projektors anzublinzeln.

Jacob Söderlund grinste sie breit an. Jacob, natürlich. Der hatte sich schon früh in diesem Semester als Klassenkasper erster Güte etabliert. Na ja, dachte Elsa mit einem innerlichen Seufzen, was will man machen? In jeder Jahrgangsstufe gab es so einen. Das Besondere an Jacob war jedoch, dass er nicht nur ein verfehlter Comedian war, sondern gelegentlich ziemlich intelligente Bemerkungen von sich gab und außerdem, um der Wahrheit die Ehre zu geben, verdammt gut aussah. Und das war ihm durchaus bewusst.

»Jacob«, setzte Elsa lächelnd zu einer Retourkutsche an. »Da Sie nun schon mal ein Fan von etwas angestaubten TV-Serien aus den Neunzigern sind, versuchen Sie doch beim nächsten Mal, sich das Ganze aus der Perspektive anzuschauen, dass Mr. Mulder unter einer ausgewachsenen Psychose leidet und seine bezaubernde Mitstreiterin Scully damit nach und nach ansteckt. Sie werden dann sicher feststellen, dass … oh, verdammt. Entschuldigung.«

Elsas Handy hatte in ihrer Hosentasche zu vibrieren begonnen. Normalerweise unterband sie das während der Vorlesungen dadurch, dass sie es in den Flugzeugmodus versetzte, doch heute Morgen musste sie das wohl irgendwie vergessen haben. Sie holte es aus der Tasche, um das jetzt nachzuholen, doch dann verharrte sie mitten in der Bewegung. Das Gesicht von Henrik Andersson erschien auf dem Display.

Mist, sie hatte ihm gestern versprochen, sich auf dem Revier zu melden. Als sie das Gespräch wegdrückte, sah sie, dass er ihr unmittelbar vor diesem Anruf schon gutes Dutzend SMS geschickt hatte. Sie öffnete eine.

Hilfe, Elsa! Ich muss dich sprechen, es ist WIRKLICH dringend! Sitze in der Cafeteria. Kannst du da hinkommen?

Wie der sich das denkt, dachte Elsa, mitten in der Vorlesung. Aber solche Aktionen gehörten normalerweise nicht zu Henriks Repertoire, was vermutlich bedeutete, dass die Sache diesmal wirklich brannte. Im Sinne von: lichterloh in Flammen stand. Mist.

»Okay, Entschuldigung«, sagte sie und wandte sich wieder den Drittsemestern zu.

Jacob Söderlund grinste. Diese Retourkutsche hatte sie dank Henrik gründlich vermasselt. Aber wenigstens enthielt er sich eines anzüglichen Kommentars, zumindest für dieses Mal.

»Ich fürchte, es ist ein Notfall eingetreten«, sagte sie zur Klasse und wandte sich dann an ihre Assistentin. »Freja, könnten Sie für mich einspringen?«

Ein rothaarige, junge Frau Ende zwanzig, die in der ersten Reihe saß, nickte, erhob sich und trat lächelnd zum Pult.

»Einfach die Folien durchspulen und dann sollen sie sich das noch mal im Zimbardo anschauen«, flüsterte Elsa ihrer Assistentin zu.

»Ist gut«, flüsterte Freja zurück und übernahm das Pult, während Elsa durch den Mittelgang zwischen den Sitzreihen nach draußen hastete. Im Vorübergehen bemerkte sie, dass Jacob Söderlunds Grinsen noch etwas breiter geworden war, seit Freja übernommen hatte.

Sechs

Sie musste nicht lange nach ihm suchen. Henrik Andersson saß am einzigen besetzten Tisch in der ansonsten komplett verlassenen Cafeteria.

»Dir ist schon klar, dass meine Professur auch ein paar weltliche Pflichten mit sich bringt, oder? Zum Beispiel muss ich, man mag es kaum glauben, hin und wieder Vorlesungen halten vor diesen, wie heißen sie noch? Ach ja, genau! Studenten!«

»Ich weiß, Elsa«, sagte Henrik und schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln. »Es tut mir auch leid, wirklich. Aber diese Sache konnte einfach nicht warten. Uns fliegt gerade alles um die Ohren, und heute Morgen kam die Meldung rein, dass … Also, dass sie das Mädchen gefunden haben und …«

»Lieber Kommissar Andersson«, sagte Elsa und setzte ein unschuldiges Mädchenlächeln auf, »ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie da reden, das ist Ihnen schon klar, oder?«

»Natürlich, ja«, sagte Henrik und schüttelte den Kopf. »Entschuldige. Also von vorn und schön der Reihe nach, nicht wahr?«

»Das würde es erleichtern, ja.«

»Also, Elsa. Heute Morgen wurde die Leiche eines zehnjährigen Mädchens gefunden«, begann Henrik. »Man hat sie inzwischen als die von Marlis Olsson identifiziert, welche vor einer Woche von ihrer Mutter als vermisst gemeldet worden ist.«

»Okay«, sagte Elsa gedehnt.

»Leider, aber das hast du nicht von mir, haben ein paar Kollegen die Sache offenbar auf eine zu leichte Schulter genommen, zumindest am Anfang. Die Mutter des Mädchens ist in dem Viertel bekannt und da dachten sie wohl, die Kleine sei ihr ausgebüxt.«

»Bekannt?«, fragte Elsa. »Wie meinst du das?«

»Na ja, sie hat keinen allzu guten Ruf, genau genommen. Soll wohl hin und wieder gewisse Dienste gegen Entgelt angeboten haben, die von dem einen oder anderen Herrn aus der Nachbarschaft gern in Anspruch genommen wurden. Und angeblich soll sie sich auch öfter lautstark mit ihrer Tochter gestritten haben, besonders, wenn sie betrunken war. Solche Sachen eben.«

»Ah«, machte Elsa. »Solche Sachen also.«

»Ja«, seufzte Henrik. »Da wird man schnell zum schwarzen Schaf in einer Gegend wie Rostorp.«

»Verstehe. Und natürlich würde keiner der ehrbaren Mannsbilder aus der Nachbarschaft diese gewissen Dienste je offiziell in Anspruch nehmen, aber trotzdem wussten alle irgendwie davon. Und an der Schule, an die die Kleine ging, vermutlich auch.«

Henrik nickte bekümmert.

»So in etwa. Wir haben die Vermisstenanzeige natürlich aufgenommen. Aber als wir uns in der Nachbarschaft umgehört haben, sagten praktisch alle dasselbe aus. Zerrissen sich das Maul über die Frau, erzählten uns von den Streitigkeiten, und dem anderen, und die Beamten …«

Henrik machte eine vage Geste.

»Na ja, du weißt ja selbst, wie das ist, wenn die Kids in dem Alter von zu Hause wegrennen. Die müssen schon gefunden werden wollen …«

»Aber jetzt ist sie gefunden worden, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Henrik. »Von zwei Joggern aus dem Viertel, drüben in Rostorp. Die haben sie im Beijers Park aus einem Tümpel gefischt, so ein Schlammloch, das sich mit Regen gefüllt hatte, und das hat sie wohl irgendwie …« Henrik senkte die Stimme. »Und das hat die Leiche dann irgendwie nach oben gedrückt.«

Elsa nickte. Starker Tobak, das. Vermutlich auch für die beiden Freizeitsportler.

»Habt ihr schon irgendwas zum Täter? Einen Verdächtigen vielleicht?«

Henrik schüttelte den Kopf. »Keinerlei Hinweise bis jetzt. Mann fand allerdings an der Kleinen jede Menge Spuren.«

»Spuren von …?«

»Missbrauch, Elsa. Wobei ich es eher Folter nennen würde. Da waren Schnitte und …«

»Sperma?«

»Hm?«

»Habt ihr schon Spermaspuren gefunden? DNA?«

Wieder schüttelte Henrik langsam den Kopf.

»Und jetzt fliegt euch die Sache um die Ohren, weil …?«

»Weil das Erste, das diese Idioten in Jogginganzügen gemacht haben, war, es überall in Rostorp herumzuerzählen. Bevor wir uns versahen, war die Presse da, und ich meine nicht nur ein paar Fotojournalisten von irgendeinem Käseblatt. Sogar das Expressbladet war dort, das Fernsehen auch, richtig mit Ü-Wagen, das volle Programm.«

»Wow.«

»Ja, oder? Müssen es wohl bei Twitter oder so aufgeschnappt haben. Sogar die Mutter von der Kleinen haben sie vor die Kamera gezerrt, und was die über unsere Ermittlungen zu sagen hatte, war wenig schmeichelhaft, weder für uns noch für ihre Nachbarn. Die das natürlich mitbekamen, standen schließlich alle drum herum. Da gab es beinahe Ausschreitungen und die Presse hält natürlich immer schön drauf.«

»Gefundenes Fressen, wie?«

Henrik nickte.

»Das Ganze kochte derart hoch, dass wir eingreifen und die Frau erst mal in Gewahrsam nehmen mussten.«

Elsa pfiff leise durch die Zähne.

»Okay. Und wie soll ich euch da weiterhelfen?«, fragte sie dann.

»Du könntest einfach mal einen Blick drauf werfen. Dir den Bericht aus der Forensik anschauen, solche Sachen. Vielleicht lässt das irgendwelche Schlüsse auf den Täter zu. Sieh mal, wir haben ein echtes Problem. Wir müssen diesen Kerl schnappen, je eher desto besser. Und wir haben nichts bisher, überhaupt nichts.«

»Du meinst, ich soll mich in ihn hineinversetzen, ja? Und dann ein Profil von ihm erstellen oder so was.«

»So was in der Art, ja. Wenn das geht.«

»Ui«, machte Elsa und grinste. »Wie einer von diesen tollen Profilern aus dem Fernsehen?«

»Blödmann«, sagte Henrik.

»Tut mir leid«, sagte Elsa. »Ist ja auch nicht wirklich witzig, das Ganze. Ich kann’s mir ja mal ansehen, ob mir irgendetwas dazu einfällt. Bloß mach dir keine allzu großen Hoffnungen, ja?«

»Klar«, sagt Henrik, »danke.«

»Weiß Agnes denn Bescheid?«

»Ach«, sagte Henrik und hob die Arme in einer abwehrenden Geste, während er die Augen gen Himmel verdrehte. »Die hat nun wirklich genügend eigene Probleme im Moment. Die Sache mit dem Zeugen aus Rosengård ist drauf und dran, zum Politikum zu werden. Ich meine, bei allem, was da gerade sowieso schon abgeht, hat das gerade noch gefehlt, da hat sie sich echt was geleistet.«

»So schlimm?«

»Schlimmer.«

»Okay, aber ich muss mich trotzdem jetzt erst mal wieder um meine Studenten kümmern.«

»Verstehe ich.«

»Und du schuldest mir was, klar?«

Elsa musterte Henrik mit einem langen Blick, dann lächelte sie.

Er lächelte zurück, ein spitzbübisches Grinsen diesmal. »Wie wär’s mit Abendessen, heute?«

»Geht nicht«, sagte sie. »Da habe ich leider schon eine wichtige Verabredung.«

»Ach so«, sagte Henrik und gab sich keine allzu große Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen.

»Aber Hunger habe ich auch jetzt schon«, sagte Elsa. Dann stand sie auf, packte den völlig verdutzten Henrik an der Hand und zog ihn hinter sich her aus der Cafeteria.

Sieben

Sie stieß ihm ihren heißen Atem in den Nacken.

»Bist ein schlimmer Junge, was?«, hauchte sie in sein Ohr, während sie ihren Körper an ihn presste.

»Wie bitte?«, stöhnte er flüsternd zurück. »Du hast mich doch hier reingezerrt … und, oh fuck, Elsa! Was machst du …?«

Er stöhnte auf, als sie ihn mit ihren Beckenmuskeln bearbeitete.

»Wage es bloß nicht!«, flüsterte sie und stieß dann ihre Zungenspitze in sein Ohr, wohl wissend, was das bei ihm anrichten würde. Aber irgendwann musste er schließlich mal lernen, sich ein bisschen zu beherrschen. Oder auch nicht.

»Du bist verrückt«, stöhnte er, »das ist völlig verrückt! Auf dem Uniklo, ausgerechnet! Wenn nun jemand kommt …«

Nichtsdestotrotz hielt er ihren Hintern fest umklammert, während er sie gegen die Toilettenwand presste und sich mit kräftigen Stößen das holte, was er brauchte. Und sie, ganz ehrlich, brauchte es mindestens genauso dringend.

»Verhafte mich doch, Herr Polizist«, kicherte Elsa leise.

Henrik antwortete mit einem undefinierbaren Grunzlaut.

»Jeden … Moment … könnte hier … jemand reinkommen«, stöhnte Henrik zwischen schweren Atemstößen.

»Ich weiß«, flüsterte Elsa. »Hast du so etwas etwa nie gemacht auf dem Schulklo damals?«

»Was? Nein, natürlich nicht.«

»Ich auch nicht. Daher wollte ich es eben jetzt mal ausprobieren. Jetzt, wo du ein großer Junge bist und ich ein erwachsenes … oh, Gott, ja. Mach damit weiter«, wimmerte sie, während sie ihre Arme um seinen Hals schlang und die kräftigen Muskeln spürte, welche sich unter seiner erhitzten Haut bewegten. Wenn er das nur halb so erregend fand wie sie, hielt er heute wirklich außergewöhnlich lange durch, dachte Elsa und schloss genießerisch die Augen.

Er hatte ihren Rock weiter nach oben geschoben und war ein Stück zurückgetreten. Der Winkel, in dem er sie jetzt nahm, war einfach der Wahnsinn. Einmal ganz von den durch und durch verruchten Umständen abgesehen.

»Gleich …«, stöhnte sie mit geschlossenen Augen. »Bin … gleich … so weit, oh.«

Sie biss sich auf die Unterlippe.

»Im Ernst?«, fragte er ungläubig.

»Blödmann!«, zischte sie. »Halt einfach die Klappe und mach weiter.«

Und das tat er.

Als seine Stöße kräftiger und zunehmend unkontrollierter wurden, war sie tatsächlich kurz davor. Er packte sie an ihren Oberarmen, drückte das vernarbte Gewebe dort zusammen und sie krallte ihre Nägel in seinen Hals. Das würde ebenfalls Spuren hinterlassen, und wenn schon.

Sie spürte noch, dass auch er die Kontrolle verlor, hörte, wie sich ein kräftiges Stöhnen seiner Brust entrang – das man vermutlich auch auf dem Gang draußen hatte hören können, aber wen interessierte das jetzt – und dann ging alles in ihrem Höhepunkt unter.

Als sie die Augen wieder aufschlug, presste er sich zitternd an sie. Sie küsste seinen Hals, knabberte daran herum, schmeckte den Schweiß auf seiner Haut. Nicht schlecht dieses Mal, wirklich.

»Hab ich geschrien?«, fragte sie lächelnd, als sie wieder einigermaßen zu Atem gekommen waren.

»Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Aber beinahe. Ich musste dir den Mund zuhalten.«

»Braver Junge. Und jetzt lass mich runter.«

Er tat es, seine Bewegungen sanft und beinahe vorsichtig jetzt, ganz anders als noch vor ein paar Minuten, als er sie einfach in die Ecke der Kabine gedrückt hatte, als wollte er sie zerquetschen.

Sie zog ihren Rock nach unten, er seine Hose hoch.

»Fuck, Elsa, das war der Wahnsinn«, flüsterte Henrik. »Scheiße, ich komme mir vor wie ein Student, der gerade …«

Sie lachte ihn an.

»Na, dann stopf dir mal in Ruhe das Hemd in die Hose, Herr Student«, sagte Elsa. »Ich muss mich jetzt nämlich ein bisschen frisch machen und dann zurück in die Vorlesung, weißt du?«

»Wahnsinn war das«, murmelte Henrik noch einmal.

Sie sperrte die Kabine auf und lugte durch den Türspalt nach draußen. Die Luft war rein. Noch war Vorlesungszeit, keiner außer ihnen war hier. Glück gehabt.

»Das mit dem Essen ist aber nur aufgeschoben, nicht aufgehoben«, ermahnte sie Henrik lächelnd.

»Klar, Elsa«, sagte der, »wie seh ich aus?«

Sie maß ihm einen raschen Blick zu.

»Gut«, sagte sie und gab ihm einen schnellen Kuss auf den Mund, während sie sein Haar zerzauste. »Wie frisch gefickt.«

Dann schlüpfte sie lachend aus der Kabine.

10. November

Acht

Polizeirevier Malmö-Süd

»Gott sei Dank, dass du da bist«, sagte Henrik, als er sie an der Anmeldung abholte, wo man Elsa ihren Besucherausweis ausgehändigt hatte.

»Ganz schön was los hier«, sagte Elsa und nickte in Richtung des Flurs. Die Hektik, die heute herrschte, war nicht zu übersehen, und dabei war das Revier im Sallerupsvägen nun wirklich kein Ort, an dem es irgendwann einmal besonders ruhig zuging. Aber jetzt herrschte die rege Aufruhr. Uniformierte Polizisten und welche in Zivil hasteten mit gehetzten Blicken durch den Flur, die meisten hatten noch nicht einmal ihren obligatorischen Morgenkaffee in der Hand. Telefone schrillten nahezu durchgängig, dazwischen ereiferten sich allerlei Verhaftete, wie lange man sie eigentlich noch sitzen lassen wolle.

Dazu die drückende, stickige Hitze von zu vielen Menschen in einem nicht gelüfteten und schon gar nicht klimatisierten Raum. Das gnadenlose Licht der Neonröhren an der Decke verpasste allen Anwesenden gleichermaßen ein zombiehaftes Aussehen: kalkweiße Gesichter mit viel zu tief liegenden Augen. Es roch nach Schweiß und den Ausdünstungen zu vieler durchgemachter Nächte.

Und davon abgesehen: Irgendetwas anderes lag ganz gewaltig in der Luft, das war beinahe körperlich zu spüren.

Henrik zerrte Elsa weiter, am Großraumbüro in den Gang hinein, an dessen Ende sich das Zimmer befand, das er sich mit einem halben Dutzend Kollegen von der Abteilung für Gewaltverbrechen teilte. Jetzt war nichts Spielerisches mehr an ihm, der große Junge von gestern Nachmittag hatte sich wieder in einen ernsthaften und durch und durch professionellen Polizisten verwandelt.

»Was ist denn los?«, fragte Elsa, »also ich meine …«

»Oh, jede Menge ist los«, sagte Henrik, als er sie aus der Reichweite des gröbsten Chaos gebracht hatte. Vor der Tür zu seinem Büro machten sie Halt.

»Heute Morgen gab es eine weitere Vermisstenmeldung«, erklärte er. »Noch ein Mädchen.«

»Scheiße«, sagte Elsa.

Das erklärte zumindest den Teil des Chaos, der die übliche Norm überschritt.

»Lilly Ljungberg, neun Jahre alt.«

»Oh je«, sagte Elsa. »Stammt die Kleine auch aus Rostorp wie … wie hieß sie noch, Marlis?«

»Nein. Schlimmer. Lilly wohnt in Kronheim. Ihre Eltern haben heute in aller Früh angerufen. Das Einzige, was mich wundert, ist, dass sie nicht gleich ein halbes Dutzend Anwälte vorbeigeschickt haben. Aber die werden vermutlich nicht lange auf sich warten lassen.«

»Kronheim, Paradies des aufstrebenden Bürgertums, hm?«

Henrik nickte.

»Genau. Und bestimmt kannst du dir auch vorstellen, was da jetzt los ist. Für die Kronheimer steht der Schuldige natürlich schon längst fest, beziehungsweise, aus welchem Viertel der stammen muss.«

»Seved«, sagte Elsa, »oder Rosengård. So in diese Richtung?«

»Freilich. Und die besorgten Bürger haben natürlich seit heute Morgen nichts Besseres zu tun, als uns und jeden, der es lesen will, mit Tweets und Postings zuzuschütten.«

»Und sicher hatten die auch ganz praktische Vorschläge, wie mit den Ausländern in Malmö zu verfahren sei?«, vermutete Elsa.

»Ein Elektrozaun um die sogenannten No-go-Areas war im Gespräch, ja. Und der gehörte noch zu den humaneren Alternativen.«

»Hat die Presse schon Wind davon?«

»Soll das ein Witz sein, Elsa? Die haben sich draufgestürzt wie die Geier. Seit die Sache mit Marlis in der New Epoch zu lesen war, lauern die doch nur auf so was. Wenn es nach denen geht, haben wir es mit einem verrückten Serienkiller zu tun, vorzugsweise einem durchgeknallten Moslem, aber zur Not würden sie sich wohl auch mit einer jugoslawischen Gang von Kinderschiebern zufriedengeben. Solange sie nur einen haben, den sie am nächsten Baum aufhängen können. Mann, manchmal hasse ich das Internet, ehrlich. Oder was es so zutage fördert.«

»Hm«, machte Elsa und kniff die Augen zusammen. »Und was glaubst du, Henrik? Ist es ein Serientäter?«

»Ich weiß rein gar nichts im Moment und ich werde einen Teufel tun und mich zu irgendeiner vorschnellen Äußerung hinreißen lassen, die das Fass zum Überlaufen bringt. Aber vielleicht kannst du uns helfen. Ich meine, das ist doch genau dein Ding. Falls es ein Serienmörder ist, meine ich.«

»Na danke schön.«

»Du weißt, wie ich das meine. Agnes hat heute Morgen die Gründung einer Soko Marlis beantragt und der Nyström hat dem sofort stattgegeben. Es zeigte sich, dass der auch schon sehr früh auf den Beinen war heute. Und die Twitter-App auf seinem Handy installiert hat. Aber so gesehen ist das mal ein positives Resultat. Auch der Polizeichef ist jetzt ganz schön unter öffentlichen Druck geraten. Wer weiß, vielleicht geschieht ja sogar ein Wunder und jemand stellt uns mal ein paar der Mittel zur Verfügung, die wir brauchen würden, um solche Sachen vernünftig anzugehen.«

»Na wunderbar.«

»Ja, Elsa, ganz wundervoll. Ich könnte jetzt schon kotzen, wenn ich daran denke, mit welcher Begeisterung uns die braven Bürger von Kronheim bei dem Versuch unterstützen werden, einigermaßen saubere Ermittlungen vor Ort durchzuführen. Man darf auch nicht vergessen, dass einige von den Typen einen nicht unbeträchtlichen politischen Einfluss haben. Und die meisten von denen stehen definitiv darauf, sich wichtig zu machen, siehe Twitter. Man kann ja nie wissen, wozu es später mal gut sein wird, wenn man in Zeiten wie diesen nach mehr Sicherheit gekräht hat.«

»Na ja, abwarten«, sagte Elsa diplomatisch. Kein Grund, die Pferde scheu zu machen. Die würden ihnen vermutlich noch früh genug von ganz allein durchgehen, haha.

»Und wie schlägt sich …?«

»Äh … frag sie doch am besten selbst«, schlug Henrik vor und deutete über Elsas Schulter.

Als sie sich umdrehte, sah sie dort Agnes Helstrom stehen, derzeitige Revierchefin und damit Henriks Vorgesetzte. Sie musterte Elsa mit einem betont neutralen Gesichtsausdruck, während sie ihre rechte Hand demonstrativ auf dem Deckel der riesigen, kastenförmigen Umhängetasche liegen ließ, welche über ihre Schulter hing.

»Elsa«, sagte sie, bevor sie knapp in Henriks Richtung nickte. »Sind alle da?«

Henrik nickte.

»Na dann los«, sagte Agnes, warf Henrik einen weiteren, schwer zu deutenden Blick zu, dann betrat sie den Raum. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

»Also …«, sagte Henrik und schickte sich an, die Tür für Elsa zu öffnen. Die legte ihre Hand auf seine.

»Ist sie schon länger so?«

Henrik beugte sich zu ihr herüber und flüsterte: »Ich habe was gehört von internen Ermittlungen wegen dieser Sache mit dem Iraker. Der Kerl soll völlig zusammengebrochen sein.«

»Scheiße«, sagte Elsa, »echt jetzt?«

Henrik zuckte mit den Schultern.

»Sie soll auch ein paar private Probleme haben in letzter Zeit, aber das hast du alles nicht von mir, klar?«

»Hm, das erklärt es wohl«, sagte Elsa. »Meinst du echt, es ist okay, wenn ich mich einmische?«

»Blödsinn. Du mischst dich nirgendwo ein. Ich habe dich dazu gebeten, weil du uns bei früheren Fällen schon sehr nützlich warst, das geht also auf meine Kappe. Und ich habe es mit Agnes abgeklärt, sie weiß Bescheid und hatte nichts dagegen. Herrgott, wir können gerade wirklich jede Hilfe brauchen, die wir kriegen können.«

Elsa nickte.

»Also los«, sagte sie.

»Also los«, sagte Henrik und öffnete die Tür.

Neun

»Schön, dass wir jetzt vollzählig sind«, sagte Agnes leicht angesäuert, als Elsa und Henrik das Büro betraten. Man hatte die Schreibtische provisorisch zu einem großen U zusammengestellt und ein paar zusätzliche Stühle herbeigeschafft. In einer Ecke beim Fenster standen einige verwaiste Computerbildschirme samt Tastaturen herum, die man hastig zusammengeschoben hatte.

Insgesamt saßen ein halbes Dutzend Leute um das U herum, am Stirnende Agnes und zwei Inspektoren, die Elsa noch nicht kannte. Ein paar der anderen nickten ihr zu. Sie war im Revier keine Unbekannte mehr, seit sie damals geholfen hatte, den Mord an dem Åström-Jungen aufzuklären.

»Na gut«, sagte Agnes. »Ich nehme an, die meisten von Ihnen kennen Elsa Mattsson, sie ist eine Psychologin und unterrichtet an der Uni. Sie hat uns früher schon gelegentlich unterstützt und Henrik hielt es für eine gute Idee, sie hinzuzuziehen. Na ja, die anderen kennen sich ja.«

Autsch, dachte Elsa, aber Agnes sah noch nicht einmal in ihre Richtung. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Henrik kaum merklich den Kopf schüttelte.

»Henrik wird die Ermittlungen leiten«, sagte sie und deutete in seine Richtung, ebenfalls, ohne ihn anzuschauen. »Ich glaube, ich muss nicht erwähnen, dass ich seit den frühen Morgenstunden praktisch ständig mit Polizeichef Nyström telefoniere, und der hatte heute Morgen auch schon den Justizminister an der Strippe. Die Sache hat für alle im Raum ab sofort absoluten Vorrang. Vor allem anderen.«

Agnes öffnete ihre gewaltige Aktentasche und zog ein paar Mappen daraus hervor, die sie in die Runde gab.

»Das ist, was wir bisher an Berichten haben. Da das aber noch nicht vollständig ist, würde ich dich bitten, uns ein bisschen auf den Stand zu bringen, Henrik.«

»Na klar«, sagte der und schob Elsa ein Exemplar der Mappe hin. »Am Morgen des sechsten November erhielten wir die Vermisstenmeldung zu Marlis Olsson, zehn Jahre alt, aus Rostorp, und zwar von ihrer Mutter, die hier auftauchte und zu Protokoll gab, ihre Tochter seit achtundvierzig Stunden nicht gesehen zu haben.«

Jemand pfiff durch die Zähne.

Ja, dachte Elsa, für ein Mädchen in Marlis’ Alter war das ein seltsam langer Zeitraum, allerdings hatten manche Leute ein nahezu gestörtes Angstverhältnis zu den hiesigen Behörden, und achtundvierzig Stunden war ein Zeitraum, der sich damit durchaus noch erklären ließ, zumindest war das eine Möglichkeit.

Mörder, so wusste sie, riefen üblicherweise innerhalb der nächsten ein bis zwei Stunden nach der Tat an, wenn sie sich selbst stellten. Das Mädchen war außerdem über einen längeren Zeitraum gefoltert und dann in einem Schlammloch versteckt worden. Unwahrscheinlich, dass jemand, der zu so etwas fähig war, gleich danach geplagt von einem schlechten Gewissen die Polizei anrufen würde. Und spätestens das zweite Mädchen, von dem Henrik vorhin gesprochen hatte, schloss die Mutter nahezu komplett als Verdächtige aus.

»Am Morgen des siebenten fanden Jogger die Leiche des Mädchens in einer Senke im Beijers Park in Rostorp unweit ihres Wohnhauses. Der starke Regen in den Tagen zuvor hatte das Erdloch mit Wasser und Schlamm gefüllt. Durch den steigenden Wasserspiegel wurde die Leiche aus einem Erdloch gespült, wo man sie vergraben hatte. Wir gehen davon aus, dass das so nicht geplant war. Wäre der Regen nicht gewesen, hätten wir ihre Leiche wohl erst später gefunden. Aber gefunden hätten wir sie, das steht außer Frage, weshalb wir davon ausgehen, dass der Mörder sie nur loswerden, aber nicht wirklich verstecken wollte.«

Elsa horchte auf. Das war interessant. Wenn man wollte, dass eine Leiche nicht gefunden wurde, gab es in Malmö und Umgebung sicher besser geeignete Orte als ein flaches Loch in einem öffentlichen Park. Der Hafen zum Beispiel, oder man konnte mit einem Boot raus aufs Meer. Wenn man wusste, wo die Strömungen waren, standen die Chancen nicht schlecht, dass das, was man da reinwarf, nie wieder auftauchte.

»Die Gerichtsmedizin fand jede Menge Schnittwunden an Marlis’ Körper«, fuhr Henrik fort, »wir gehen davon aus, dass sie über einen längeren Zeitraum gefoltert wurde, bevor sie starb. Einige dieser Wunden lassen sich durchaus sexuell interpretieren, aber dazu würde ich gern noch Elsas Expertise einholen. Sperma hat man in keiner Körperöffnung gefunden, und auch sonst keine Spuren, die auf den Täter schließen lassen. Was ja nicht weiter verwunderlich ist, immerhin lag sie einige Stunden in der Erde und dann im Wasser. Nackt, übrigens, bis auf eine Socke an ihrem linken Fuß und einen roten Anorak. Beides gehörte ihr und laut ihrer Mutter hat sie die Sachen getragen, als sie verschwand. Fotos finden Sie im Bericht.«

»Und was ist mit ihrem Blut?«, wollte einer wissen. »Ist sie betäubt worden oder so was? Haben wir schon die Ergebnisse aus der Forensik?«

Henrik schüttelte den Kopf.

»Die Berichte haben wir. Die Forensik sagt Nein, keine Betäubung. Sie hat alles bis zum Schluss bewusst erlebt.«

Der gefragt hatte, schüttelte den Kopf und vertiefte sich dann wieder in die Akte, die vor ihm auf dem Tisch lag.

Henrik fuhr fort, den Fall zu erläutern, und brachte das Gespräch dann auf das zweite Entführungsopfer, ein Mädchen namens Lilly, deren Verschwinden seit heute Morgen das Tagesgespräch in Kronheim war, und es in Kürze auch bei denen sein würde, die nicht das Privileg hatten, in diesem Viertel zu wohnen.

Während Elsa mit einem Ohr zuhörte, vertiefte sie sich in den Obduktionsbericht zu der kleinen Marlis, welche die beiden Jogger aus dem Schlammloch in Rostorp gezogen hatten.

Die Fotos waren nur schwer zu ertragen.

Ein kleiner Körper auf einem Tisch aus Edelstahl, schlank und zerbrechlich, am linken Fuß ein pinkfarbenes Rüschensöckchen, den Anorak hatte man ihr ausgezogen. Still lag sie da, beinahe friedlich, wären die blassen Wunden der Einschnitte nicht gewesen, die keinem wahrnehmbaren Muster oder System zu folgen schienen. Wer immer ihr diese Schnitte beigebracht hatte, hatte vermutlich mit einem kleinen Schnitt angefangen und sich dann schnell und gründlich hineingesteigert, immer wieder mit der Klinge regelrecht in sie hineingehackt. Zum Schluss hatte er offenbar ganz die Kontrolle verloren. Ja, danach sah es aus.

Elsa blätterte weiter und las, dass der Tod offenbar durch einen gezielten Stich ins Herz eingetreten war, der von derselben Klinge stammte, mit der man ihr dir anderen Verletzungen beigebracht hatte.

Der untersuchende Arzt stellte aufgrund der entsprechenden Spuren die Feststellung an, dass Marlis während ihres Martyriums gefesselt gewesen war, aber offenbar hatte sie sich vorher wohl noch einmal zur Wehr gesetzt. Unter den Fingernägeln ihrer linken Hand hatte der Gerichtsmediziner Spuren eines gelben Kautschukmaterials gefunden. Es bestand zwar die durchaus realistische Möglichkeit, dass dieses überhaupt nichts mit dem Fall zu tun hatte – möglicherweise hatte das Mädchen vorher mit einem gelben Plastikspielzeug oder etwas Ähnlichem gespielt –, aber Elsa glaubte das nicht. Was immer es war, das Mädchen hatte panisch seine Nägel hineingeschlagen, und so etwas tat ein Kind nicht, wenn es nur spielte.

Elsa schloss die Akte und hob den Blick.

Inzwischen war Henrik fertig mit dem Bericht über das entführte Mädchen namens Lilly. Dieses war gestern Nachmittag aus dem elterlichen Garten verschwunden. Diesmal waren keine vierundzwanzig und schon gar nicht achtundvierzig Stunden vergangen, bis die Eltern reagiert hatten. Allerdings hatten deren erste Gedanken nicht der Verständigung der Polizei gegolten, sondern den sozialen Medien im Internet. Dort hatten sie schon zwei Stunden nach Verschwinden des Kindes um Mithilfe gebeten, und so hatte die Angelegenheit die Runde gemacht wie das sprichwörtliche Lauffeuer. Hinweise auf den Verbleib des Mädchens hatte das allerdings nicht zutage gefördert und so waren die Eltern heute Morgen schweren Herzens zur Polizei gegangen, und auch das hatten sie natürlich live getweetet.

»Okay«, sagte Agnes, »dann starten wir. Am besten fahren wir jetzt allesamt nach Kronheim, bis auf Gunter, der sich bitte darum kümmern wird, dass wir eine zentrale Ablage für gesammeltes Material bekommen. Ingmar Nyström fand es darüber hinaus eine gute Idee, möglichst viel Präsenz vor Ort zu zeigen, also werden wir dem Polizeichef selbstverständlich den Gefallen tun, wenigstens den Versuch zu unternehmen, das Bürgervertrauen in unsere Arbeit wiederherzustellen. Die besorgten Eltern von Kronheim sollen zumindest sehen, dass wir die Sache ernst meinen, klar?«

Darauf nickten ein paar, aber es gab auch eine Menge Kopfschütteln. Ein schwergewichtiger Mann, vermutlich Gunter, kritzelte etwas auf einen Zettel. Elsa vermutete, dass ihn Agnes vor allem deshalb mit einer Aufgabe im Innendienst betraut hatte, weil ein dicker Polizist beim verordneten Präsenzzeigen nicht so gut ankam. Es gab ja auch so schon genügend Klischees über Beamte und Süßigkeiten.

»Okay«, sagte Agnes, »also was immer uns da jetzt erwartet, machen Sie saubere Arbeit und vor allem: Sprechen Sie mit niemandem, schon gar nicht mit der Presse. Nyström wird vermutlich irgendein offizielles Statement abgeben, und das war’s dann erst mal. Für uns heißt das in jedem Fall: kein Kommentar, klar?«

Alle nickten.

»Ähm, Agnes«, meldete sich der dicke Polizist zu Wort. »Wie ist das, wer ist der offizielle Leiter, an den wir uns wenden? Bist du das noch? Ich meine …«

Er wurde knallrot, ein paar andere Polizisten senkten hastig die Köpfe.

»Autsch!«, flüsterte Elsa Henrik zu.

Agnes schenkte Gunter einen Blick, der den untersetzten Mann förmlich gefrieren ließ. Ihre Stimme war eisig, als sie sagte: »Natürlich leite ich die Sache, Gunter, wer denn sonst?«

»Okay«, stammelte er, »es war ja nur, weil …«

Dann winkte er hastig ab, um sich ganz schnell irgendwas auf seinem Zettel zu notieren. Vielleicht ist sein Gewicht ja nicht der einzige Grund, dachte Elsa, dass er heute Schreibtischdienst versehen darf.

»Also«, sagte Agnes und erhob sich. »Auf geht’s!«

Zehn

Malmö-Kronheim

In Kronheim war eine organisierte Version der Hölle ausgebrochen. Irgendwie schien es keiner der Anwohner an diesem Morgen besonders eilig haben, die Gegend zu verlassen, um – beispielsweise – zur Arbeit zu gelangen. Vielleicht sah es auch nur so aus, weil sich alle, deren Job in dieser Hinsicht flexibel war, vor dem Haus der Ljungbergs eingefunden hatten. Und das waren eine Menge.

Fast jeder der herumstehenden Gaffer, Nachbarn und sonstigen Schaulustigen hatte ein Smartphone in der Hand und tippte wild darauf herum, andere filmten minutiös jeden Aspekt des Geschehens mit ihren Handys, auch wenn das angesichts der überreich versammelten Fernsehkameras ein wenig redundant erscheinen mochte. Ein paar besorgte Anwohner gaben den überreich versammelten Presseleuten Interviews, deren Filetstücke man heute und in den folgenden Tagen vermutlich auf allen Kanälen würde bewundern können.

Man musste kein Hellseher sein, um sich ausmalen zu können, was der Grundtenor der meisten Zitate sein würde. Warum tut die Polizei nichts, warum schauen die immer wieder weg? Wenn das nun ihr Kind wäre? Kommen Sie, wir wissen doch alle, in welchem Stadtviertel man nach dem Täter suchen müsste. Ich habe ja nichts gegen Flüchtlinge und so, aber Sie sehen ja, wohin das in Malmö führt, vielleicht wird es allmählich Zeit für eine gesunde Einwandererpolitik.

Und so weiter und so fort. Dinge in dieser Art, vermutlich unter einer reißerischen Überschrift wie: Das Ende des Rechtsstaats – Malmöer Polizei machtlos? Und das Fragezeichen selbstverständlich nur, damit nachher keiner das Käseblatt verklagen konnte.

»Ich wundere mich ein bisschen«, flüsterte Elsa Henrik zu, »dass sie noch keine Bürgerwehr gebildet haben.«

»Kommt bestimmt noch«, flüsterte Henrik zurück und starrte dumpf auf die kleine Menschenmenge jenseits des Absperrbands.

Laut Henriks Schilderungen hatte es zwar auch ein paar vereinzelte Tweets national ausgerichteter Wutbürger gegeben, als man Marlis Olssons Leiche in Rostorp gefunden hatte, doch das war kein Vergleich zu dem, was jetzt passierte – und das angesichts des reinen Verschwindens eines Mädchens. Für dass es – zumindest theoretisch – auch jede Menge Gründe geben konnte, die rein gar nichts mit dem Fall in Rostorp zu tun haben mochten. Offenbar zählten die Ljungbergs jedoch – im Gegensatz zu Marlis’ Mutter – zu den geachteten Bürgern in Kronheim und damit eindeutig zur besseren Gesellschaft. Das waren Menschen auf der richtigen Seite der Straße, die nicht herumhurten oder in der Öffentlichkeit mit einer Flasche in der Hand gesehen wurden – und deshalb stand man ihnen selbstverständlich bei. Frau Olsson dagegen war, indirekt auch von den ermittelnden Polizisten, praktisch sofort verdächtigt worden, ihre Tochter selbst verjagt zu haben oder sich das Ganze nur einzubilden. Zumindest, bis man den kleinen Körper aus jenem Schlammloch im Beijers Park gezogen hatte.

Vermutlich besuchte Herr Ljungberg den richtigen Golfklub und seine Frau traf sich einmal wöchentlich mit den anderen Hausfrauen, um in geselliger Runde hochgeistige Literatur zu diskutieren. Und zum Sommerfest brachten sie immer nur das beste Fleisch für den Grill mit.

So lief das eben.

Elsa schüttelte den Kopf.

Es brachte nichts, mit derart überzogenen Klischees an die Sache ranzugehen, die ohnehin auf nichts als Spekulation beruhten. Das waren bloß Vorurteile, nichts weiter, also Schluss damit. Sie würde die Ljungbergs auf sich zukommen lassen und ihnen völlig neutral gegenübertreten. Eine Tochter zu verlieren, musste für alle Eltern der blanke Horror sein. Respekt war das Mindeste, das sie da verdienten.

Aber hatte nicht auch Marlis’ Mutter ein bisschen davon verdient?


Als sie aus dem Streifenwagen stiegen, den ein junger Polizist durch das Absperrband gewinkt hatte, wurden sie von den bereits anwesenden Polizisten wie auch von den Bürgern jenseits des Absperrbands mit großem Hallo begrüßt. Die Reaktionen auf ihr Erscheinen waren bei Letzteren allerdings gemischt. Zumindest ließ sich keiner zu offenen Beschimpfungen und Buh-Rufen hinreißen, aber viel schien nicht zu fehlen. Eine ältere Frau drängte sich an Henrik heran und klopfte ihm auf die Schulter.

»Hoffentlich unternehmen Sie jetzt endlich mal was gegen die«, redete sie auf Henrik ein.

Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, wen konkret das gute Mütterlein mit die meinte. Den braven Bürgern von Kronheim waren Stadtviertel wie Seved und Rosengård schon seit langer Zeit ein Dorn im Auge. Nach ihrem Geschmack lagen sie deutlich zu nah an ihren idyllisch hergerichteten Grundstücken und Kleingärten. Hier hätte man sicher nichts dagegen gehabt, ganz auf die Problemviertel samt ihrer Einwohner, größtenteils mit Migrationshintergrund, zu verzichten. Oder sie wenigstens an den Stadtrand zu verdrängen, oder noch viel besser auf den Mond.

Agnes war inzwischen ebenfalls aus dem Wagen gestiegen, doch niemand schien sie wahrzunehmen. Nachdem die alte Frau ihr Sprüchlein aufgesagt hatte, ließen die Anwohner das Trio zum Haus der Ljungbergs durch. Bei diesem kleinen Spießrutenlauf wurden sie lediglich von ein paar gemurmelten Beleidigungen und skeptischen Blicken begleitet, aber daran war wohl jeder Polizist inzwischen gewöhnt.

Henrik beugte sich zu Elsa und flüsterte ihr ins Ohr: »Vielleicht sollten wir uns ein paar von den Sprüchen merken, wenn sie das nächste Mal mitten in der Nacht im Revier anrufen, um zu melden, dass aus ihrem Garten ein verdammter Gartenzwerg verschwunden ist.«

Elsa warf Henrik ein angedeutetes Lächeln zu und achtete darauf, dass es nicht zu lange anhielt. Fehlte bloß noch, dass einer von den Pressefritzen sie dabei fotografierte, wie sie vor dem Haus der Ljungbergs Witzchen rissen.

»Shit!«, keuchte Agnes.

Als sie ihrem Blick folgten, sahen sie den Anlass für ihre Äußerungen. Die Tür eines der Polizeikleinbusse hatte sich zur Seite geschoben und aus dem Inneren winkte ein Mann in einem eleganten anthrazitfarbenen Anzug zu ihnen herüber.

»Nyström«, erklärte Henrik.

Elsa nickte. Der Polizeichef und direkte Draht zum Justizministerium.

Besagter Nyström deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Agnes und winkte sie dann zu sich heran.

»Sieht aus, als würdet ihr das Verhör ohne mich führen müssen«, sagte Agnes leise, dann kämpfte sie sich durch die Menschenansammlung in Richtung des Einsatzwagens. Kaum war sie drin, wurde die Tür hinter ihr wieder zugezogen.

»Na viel Spaß«, sagte Henrik lakonisch, dann betraten sie das Haus der Ljungbergs.

Wo sie ebenfalls jede Menge Spaß erwartete.

Elf

Das auffälligste Merkmal der Ljungbergs, zumindest auf den ersten Blick, bestand darin, wie jung sie waren, wenn man die Gegend bedachte. In Kronheim zu wohnen, war ein Privileg, welches den Besitz gewisser, nicht unbeträchtlicher finanzieller Mittel voraussetzte, aber auch kein Viertel, in dem junge, neureiche Hipster sich mit ihrem dotcom-Geld austobten. Kronheim war der Inbegriff des bürgerlichen Wohlstands und die meisten Menschen, die hier wohnten, verspürten den Wunsch nach so viel Bürgerlichkeit, um nicht zu sagen Spießertum, erst irgendwann jenseits der fünfzig.

Die Ljungbergs waren Anfang 30, sie vermutlich noch ein paar Jahre jünger als er, vielleicht Ende zwanzig. Beide gut aussehend, gepflegt, man achtete auf sich. Hilmar Ljungberg, auch das fiel Elsa auf, besuchte offenbar neben einem angesagten Friseursalon auch regelmäßig jemanden, der ihm die Nägel machte. Auch das eher ungewöhnlich für einen Mann seines Alters.

Als sie sich die Hände gaben, bemerkte Elsa jedoch noch etwas anderes. Dem Atem der jungen Frau Ljungberg entströmte ein intensiver Duft nach Pfefferminze, der ganz offensichtlich etwas anderes überdecken sollte. Auch das, in Verbindung mit dem selbst gewählten Exil im Spießerparadies Kronheim, fand Elsa ausgesprochen aufschlussreich.

Nachdem man sich vorgestellt hatte, deutete Hilmar Ljungberg auf die Couch, die der gegenüberstand, auf der er und seine Frau Platz nahmen, der Kaffeetisch aus Glas wie eine Trennlinie zwischen der einen und der anderen Partei.

Beide Eltern, und das traf insbesondere auf Hilmar Ljungberg zu, wirken distanziert, geradezu unterkühlt. Verständlich, dass sie in ihrer Situation nicht gerade vor Freude durch die Wohnung hüpften, aber man würde doch vermuten, dass sie eine gewisse Hoffnung in die Menschen setzen würden, die gekommen waren, um sich gänzlich der Rettung ihrer einzigen Tochter zu widmen.

Was ihnen stattdessen entgegenschlug, verdiente wohl am ehesten die Bezeichnung professionelles Understatement, und vielleicht war das ja auch nur die Art und Weise, wie die Ljungbergs Fremden zu begegnen pflegten. Womit es gewissermaßen auch recht gut zu der Art und Weise passte, wie ihre Nachbarn draußen vor der Tür Fremden zu begegnen pflegten.

»Erzählen Sie doch bitte ein wenig über sich, ja?«, bat Henrik, nachdem sie sich gesetzt hatten. Nicht einmal der obligatorische Kaffee oder wenigstens ein Wasser war ihnen angeboten worden, aber auch das war angesichts der Umstände natürlich zu verzeihen.

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Ljungberg und runzelte die Stirn. »Wozu soll das alles gut sein?«

»Wir müssen uns mit den Hintergründen vertraut machen, verstehen Sie?«, fragte Henrik. »Jedes Detail kann wichtig sein, ganz besonders, wenn es die unmittelbare Umgebung des Tatortes betrifft. Familie, Nachbarn …«

»Tatort«, wiederholte Ljungberg nachdenklich. »Soll das etwa heißen, wir stehen auch unter Verdacht?«

»Das habe ich nicht gesagt, Herr Ljungberg. Was ich sagte, ist, dass wir uns ganz systematisch mit allen Details des Tathergangs beschäftigen müssen. Im Moment sind Sie beide unsere wichtigsten Zeugen, daher fangen wir mit Ihrer Befragung an. Als Zeugen, ja?«

Ljungberg nickte, aber die nachdenkliche Miene behielt er bei.

»Okay«, sagte er und lehnte sich in der Couch zurück. »Was wollen Sie wissen?«

»Wie lange wohnen Sie schon hier?«

»Etwa zwei Jahre«, antwortete Ljungberg. »Ich habe vorher für die Swedbank-Gruppe gearbeitet, mittleres Management, im Bereich Vermögensberatung. Da habe ich Anlagestrategien entwickelt, solche Sachen.«

Er rasselte es runter wie auswendig gelernt, bar jeder Emotion, dachte Elsa. Als ob er das schon ein paar Hundert Mal erzählt hatte.

»Vor etwas über zwei Jahren habe ich mich selbstständig gemacht und bin seitdem als privater Anlageberater tätig.«

»Einträgliches Geschäft?«, fragte Henrik und ließ den Blick ein wenig über die Inneneinrichtung schweifen.

»Wir kommen zurecht«, antwortete Ljungberg diplomatisch und legte den Arm um die Schultern seiner Frau. Merkwürdig, dachte Elsa, irgendwie wirkt auch das ein bisschen wie einstudiert.

»Und …«, begann Henrik etwas, das vermutlich die nächste Frage hatte werden sollen, wurde jedoch sofort von Ljungberg unterbrochen.

»Ich meine, das ist bekanntermaßen eine ruhige Gegend«, sagte der. »Lilly, sie fährt immer mit dem Bus zur Schule, und zum Haus gehört ein kleiner Garten, nach hinten raus … man sagte uns, es wäre eine gute Gegend für Kinder. Eine sichere Gegend.«

Hilmar Ljungbergs Augen wurden glasig, während er den Blick starr auf Henrik richtete. Trotzdem, fand Elsa, hatte man das Gefühl, dass er gar nicht richtig hinsah, sondern eher durch ihn hindurch. Ihr Blick wandte sich jetzt dem Panoramafenster zu, vor dem die beiden saßen. Dahinter war das zu sehen, das Ljungberg lapidar als kleinen Garten bezeichnet hatte. Das gesamte Grundstück mochte gut einen Hektar Grundfläche umfassen, und der Garten im hinteren Teil war von einem weiß gestrichenen Zaun eingefasst, welcher teilweise von Büschen und kleineren Baumgruppen verborgen war. Auf der anderen Seite des niedrigen Holzzauns ging das Gelände praktisch nahtlos in ein Wäldchen über, das zum dahinterliegenden Park gehörte. Der Zaun selbst war eher eine Markierung in der Landschaft als ein wirkliches Hindernis für einen potenziellen Eindringling. Elsa vermutete, dass sich auch das demnächst ändern würde.

»Verstehe. Und was machen Sie so, Frau Ljungberg?«, fragte Henrik.

»Wie meinen Sie das, was sie so macht?«, fragte Ljungberg. Es klang ein bisschen lauernd.

»Entschuldigung«, sagte Henrik und würdigte Ljungberg dabei keines Blickes. »Was Sie beruflich machen, meine ich. Frau Ljungberg?«

Sofia Ljungberg ließ das Taschentuch sinken, das sie sich bis gerade eben an die Lippen gepresst hatte. Ihre Augen ruhten für Sekunden auf dem Gesicht von Henrik, als spräche er aus einer fernen Dimension zu ihr und sie hätte einige Mühe, seiner Stimme zu folgen und dorthin zurückzukehren.

»Ich bin zu Hause«, sagte sie mit tonloser Stimme, und im ersten Moment klang es wie eine allzu offensichtliche Feststellung. Sie sprach ein bisschen schleppend, bemerkte Elsa und setzte innerlich einen Haken an die Vermutung, welcher der Pfefferminzduft nahegelegt hatte.

»Verstehe«, sagte Henrik, »Sie sind demnach Hausfrau?«

»Früher habe ich Jeans verkauft«, führte sie aus, und wieder klang es irgendwie, als wäre es ein bisschen aus dem Zusammenhang gerissen. »In einer Boutique in der City. Stora Nygatan, gleich beim Hansa Center, und …«

»Aber das musst du ja jetzt nicht mehr, Schatz«, unterbrach sie Hilmar Ljungberg und tätschelte sanft ihre Hand. Offenbar war ihm nie der Gedanke gekommen, dass dieser Job seiner Frau vielleicht so etwas wie Freude bereitet haben könnte. Gott, dachte Elsa, es war wirklich schwer, diesen Kerl nicht sofort ins Herz zu schließen.

»Manchmal nähe ich was oder so«, waberte Sofia Ljungbergs ätherische Stimme durch das Wohnzimmer. »Ich habe einen Onlineshop.«

»Äh, ja … okay«, sagte Henrik, offenbar ein bisschen überfordert mit der Situation. »Verstehe. Dann würde ich Sie jetzt gern fragen, was …«

»Wir haben uns was aufgebaut, verstehen Sie?«, warf Hilmar Ljungberg ein. »Dafür haben wir verdammt hart gearbeitet und alle Arten von Opfern gebracht und … und nun so was. Es ist zum Kotzen.«

Ja, dachte Elsa, ihr könnt einem echt leidtun. Und zu einem gewissen Grad stimmte das vermutlich sogar. Sie stand auf.

»Äh, wäre es okay, wenn ich mal Ihr Badezimmer benutzen würde«, fragte sie. »Der viele Kaffee heute Morgen …«

Sie hatte für den Moment genug gehört von diesen beiden. Sich mit ihren Aussagen herumzuschlagen, gehörte ja glücklicherweise nicht zu ihrem Job. Immerhin war sie wenig mehr als Henriks Anhängsel in dieser Sache. Fraglich, dass die Eltern irgendetwas Nützliches zu berichten haben würden. Höchstwahrscheinlich hatte Hilmar Ljungberg, als es passiert war, den Kopf tief in irgendwelchen Aktienportfolios vergraben, während seine Frau sich ihrem gezielten Abschuss hingegeben hatte. So oder so würde Henrik jedenfalls nicht viel weiterkommen.

»Äh, ja, klar«, sagte Hilmar Ljungberg und gab sich kaum Mühe, seine Verärgerung über Elsas Bitte zu verbergen. »Den Flur runter und dann rechts.«

»Danke«, sagte Elsa und ließ Henrik mit den mehr oder weniger bestürzten Eltern allein.

Zwölf

Nyström schenkte Agnes einen intensiven Blick, kaum dass die Schiebetür des Einsatzwagens hinter ihr ins Schloss gefallen war.

»Was für eine Scheiße«, kommentierte er das Geschehen draußen. Eine durchaus treffende Zusammenfassung, wie Agnes fand.

»Also, was haben Sie?«

Was soll ich denn schon haben außer Kopfschmerzen?, fragte Agnes sich im Stillen. Sie widerstand der Versuchung, sich zur Antwort ein bisschen die Schläfen zu massieren.

»Nicht viel Neues, befürchte ich«, sagte sie dann. Jedenfalls nicht, seit Sie mich das letzte Mal per Telefon dasselbe gefragt haben, so vor etwa zehn Minuten.

Nyström nickte und zog die Stirn kraus. Offenbar fand er die Antwort nicht besonders befriedigend.

»Wie kann es sein, dass die Pressefritzen schon da draußen herumspringen, hm? Dass die noch vor uns aufgetaucht sind, an einem Tatort

»Twitter«, antwortete Agnes knapp.

»Wie bitte?«

»Na ja, die beiden Jogger, die Marlis gefunden haben, hatten die grandiose Idee, sich ein bisschen Ruhm für ihren Fund einzuheimsen, also haben sie das einfach mal bei Twitter gepostet. Als dann die kleine Lilly verschwand, hatten deren Eltern offenbar die gleiche tolle Idee, und dann sind die Medien voll drauf angesprungen und haben gleich einen Serientäter draus gemacht, obwohl es bisher nur eine Leiche gibt und niemand weiß, ob die beiden Fälle das Geringste miteinander zu tun haben. Als die ganze Chose im Internet bereits richtig schön am Kochen war, haben sich die Ljungbergs endlich entschlossen, eine Vermisstenmeldung aufzugeben.«

»Wer?«

»Die Ljungbergs. Die Eltern des vermissten Mädchens. Sie heißt Lilly.«

»Ljungberg«, wiederholte Nyström. Wohl, um sich den Namen einzuprägen. »Lilly Ljungberg.«

»Ja«, bestätigte Agnes. »Sie haben wohl zuerst bei den Nachbarn herumgefragt, ob sie die Kleine gesehen haben, und als das nichts brachte, haben sie ein Foto bei Facebook reingestellt. Das haben schon nach ein paar Minuten Tausende geteilt. Ab da war es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis die Presse davon Wind bekommen und eine große Sache draus machen würde.«

»Verstehe«, sagte Nyström und sagte dann noch einmal: »Scheiße.«

Agnes nickte.

»Wir müssen jetzt jedenfalls positiv denken«, sagte sie, »und das auch den Eltern vermitteln. Solange Lilly nicht gefunden wurde …«

»Positiv denken, na, Sie sind gut. Ich habe schon mit dem Minister telefoniert wegen dieser Sache, drei Mal allein heute Morgen, und glauben Sie mir, das waren keine besonders positiven Gedanken, die wir da ausgetauscht haben. Die Sache hier droht zum Politikum zu werden, Agnes. Schon wieder.«

»Ist es wegen dieser Sache mit dem Iraker?«

»Es ist wegen allem, Agnes. Haben Sie überhaupt die leiseste Ahnung, was da draußen gerade los ist?«

»Da draußen?«, fragte Agnes und deutete auf die Tür des Polizeiwagens.

»Nein, Agnes. In Malmö. In Schweden. In den politischen Lagern, in den Pressebüros.«

»Ich habe eine gewisse Vorstellung, ja.«

»Das ist ein Pulverfass, Agnes, das kurz vor dem Explodieren steht. Die Lunte brennt schon und momentan wird noch kräftig gepustet, wenn Sie meinem Bild folgen wollen.«

»Das ist mir klar, Herr Nyström. Ich sagte ja schon, dass mir die Sache leidtut. Unendlich leid, aber …«

»Jetzt vergessen Sie das mal für einen Moment, Agnes. Das Kind liegt bereits im Brunnen, daran ist nichts zu machen. Unschön, aber so ist es nun mal.«

Agnes nickte düster.

Nyström holte tief Luft, dann sagte er: »Der Minister bat mich, einen Plan zu entwerfen für einen Ausnahmezustand.«

»Was?«

»Sie erinnern sich noch, was 2008 in Rosengård los war, als das muslimische Gebetszentrum dichtgemacht wurde?«

»Ja.«

»Gut. Unser oberstes Gebot lautet also, unter allen Umständen zu verhindern, dass es noch einmal zu solchen Ausschreitungen kommt.«

»Ja«, sagte Agnes zögernd. »Klar. Aber ich verstehe nicht, was das mit der Entführung von Lilly Ljungberg zu tun haben soll.«

»Na, raten Sie mal. Die braven Bürger von Rostorp und jetzt auch Kronheim rennen dem Minister schon seit Monaten die Bude ein mit Anträgen, endlich etwas gegen die kriminellen Ausländerbanden in Seved und Rosengård zu unternehmen. Was braucht es noch, fragen die, damit die Politik endlich aufwacht und was unternimmt? Ihnen ist klar, was ich meine?«

»Die wollen, dass man die Viertel dichtmacht. Alle abschiebt oder wie immer die sich das vorstellen.«

»Ganz genau. Und jetzt haben wir plötzlich entführte Kinder, eine minderjährige Tote sogar. Mit Folterspuren, wie ich höre. Was glauben Sie, wonach das bei denen da draußen aussieht?«

»Da bin ich überfragt«, log Agnes.

»Na, nach einem Serientäter. Einem mit einem Trauma von irgendeinem Bürgerkrieg am besten, dem vielleicht selbst mal so was angetan wurde, man weiß ja, dass die da unten nicht gerade zimperlich sind.«

Die da unten, dachte Agnes. Offenbar hatte sich Nyström schon gut mit dem Vokabular der aufgebrachten Meute angefreundet.

»Mit da unten meinen Sie …?«

»Was weiß ich? Al-Askaristan, Irak, Syrien. Und im Übrigen meine nicht ich das, sondern die Bürger, die ihrer Sorge Ausdruck verleihen. Ihrer berechtigten Sorge, wie ich zugeben muss.«

»Verstehe. Und glauben Sie mir, ich habe das größte Interesse daran, diesen Fall schnellstmöglich aufzuklären, bloß – die Menschenmassen da draußen erleichtern uns die Ermittlungen auch nicht gerade.«

»Darum werde ich mich kümmern, Agnes. Aber verstehen Sie – und damit wiederhole ich die Worte des Ministers –, wenn wir diesem Klima nicht alsbald den Wind aus den Segeln nehmen, müssen wir keine Kristallkugel bemühen, um zu wissen, wem die braven Bürger da draußen bei der nächsten Wahl ihre Stimme geben werden.«

»Jedem, der ihnen verspricht, die Grenzen dichtzumachen und jeden, der nicht bis zur dritten Generation schwedische Wurzeln nachweisen kann, rauszuschmeißen? Meinen Sie so etwas?«

»So was in der Art, ja. Mal ehrlich, Agnes. Ich kann diese Leute ja sogar ein bisschen verstehen. Ich meine, Herrgott, Sie wissen doch selbst, was in den No-go-Areas los ist. Wann hat sich da nachts zum letzten Mal überhaupt eine Streife reingetraut?«

»Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Aber das hat nichts mit dem Verhör von Bara al-Askari zu tun. Ich …«

»Herrgott, Agnes, das ist mir klar. Ich bin doch schließlich selbst lange genug Polizist. Ich weiß, was da in einem köchelt, wenn man sich den ganzen Tag den verbalen Dünnpfiff von diesen Möchtegern-Gangstern anhören muss. Und dann noch als Frau.«

»Ich hätte trotzdem nicht so reagieren sollen.«

»Das ist leider wahr, Agnes.« Nyström schüttelte langsam den Kopf. »Und das findet auch der Minister. Ich musste die Sache inzwischen einer internen Kommission übergeben.«

»Was?«

Agnes starrte ihn aus großen Augen an.

»Was soll das werden? Wollen Sie ein Exempel statuieren, bin ich jetzt der Sündenbock für alles?«

»So ist das nicht, Agnes«, wiegelte Nyström ab. »Es ist nur …«

Agnes blickte zu Boden und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ich verstehe schon. Sie müssen den offiziellen Weg einschlagen. Nicht, dass noch jemand auf die Idee kommt, die Polizei hätte etwas gegen Ausländer. Oder gar der Minister.«

»Genau, Agnes. Ich wollte, dass Sie verstehen, dass das in keiner Weise persönlich gemeint ist. Aber sollte uns diese Sache mal um die Ohren fliegen, müssen wir nachweisen, und zwar minutiös, dass wir korrekt gehandelt haben.«

»Ja.«

Und ihr war einigermaßen klar, wessen Kopf in diesem Fall rollen würde. Ihrer.

»Aber ich habe die Hand drauf, damit wir uns verstehen«, sagte Nyström in vertraulichem Ton. »Alles geht über mich und muss von mir abgesegnet werden.«

Das überraschte Agnes nun doch ein bisschen.

»Sie sind eine verdammt gute Polizistin, das wissen Sie und das weiß ich. Man macht Fehler, die macht man in jedem Job. Auch in unserem. Nur werden diese Fehler heutzutage eben gleich zum Politikum. Maßlos hochgeschaukelt von der Presse, wenn Sie mich fragen, aber …«

»Der Herr Minister hat das abgesegnet?«

»Natürlich, wenn auch inoffiziell, aber das verstehen Sie sicher. Er bat mich aber auch, Ihnen klarzumachen, dass es nach wie vor um Ihren Kopf geht, wenn etwas schiefläuft. Ihre weitere Karriere bei der schwedischen Polizei steht auf dem Spiel, Agnes. Daran sollten Sie ab sofort stets denken. Zweimal sollten Sie darüber nachdenken, bevor Sie irgendetwas tun, mindestens. Egal, was.«

»Ich verstehe.«

»Gut. Also, ab sofort arbeiten Sie offiziell unter den Augen der Kommission. Man wird Sie befragen, Sie werden antworten. Nichts verschweigen, nichts dazu erfinden, nur die reine Wahrheit, klar?«

»Klar.«

»Gut. Im Anschluss an diese Untersuchung wird man zu der Entscheidung gelangen, dass Sie sich einen überaus bedauerlichen, aber aufgrund der außergewöhnlichen Stressbelastung nachvollziehbaren Patzer geleistet haben. Man wird Sie verwarnen, Sie werden eine entsprechende Strafe erhalten, vermutlich ein, zwei Runden bei der Beförderung aussetzen, aber …«

Nyström machte eine Pause, um das Drama zu erhöhen. Eigentlich unnötig, fand Agnes.

»Aber Sie werden im Dienst bleiben. Einen Job haben und eine Karriere vor sich, und schon bald, in ein paar Jahren spätestens, wird die Sache für Sie vom Tisch sein.«

»Vielen Dank«, sagte Agnes und meinte es. »Ich danke Ihnen.«

»Schon gut. Jetzt gehen Sie da raus und machen Sie die gute Arbeit, die ich von Ihnen gewohnt bin. Lösen Sie diesen Fall, fangen Sie das kranke Schwein, das dem Mädchen das angetan hat, und fangen Sie den Kerl um Himmels willen schnell. Aber vor allen Dingen: Halten Sie den Kopf dabei unten.«

Agnes schnaubte. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. In Reinkultur.

»Das heißt vor allem: kein Kontakt zur Presse«, fuhr der Polizeichef fort, »jemand will ein Statement? Schön, soll er zu mir kommen. Sie haben alle Hände voll mit den Ermittlungen zu tun. Und das ist vielleicht das Allerwichtigste: Halten Sie sich von den Irakern fern, ganz besonders von diesem Bara al-Askari und seinem Clan. Wenn die Presse davon Wind bekommt, bevor die Zeit reif ist, sind wir geliefert.«

Agnes nickte. Korrektur, dachte sie, nicht wir sind dann geliefert, nicht Sie, Ingmar Nyström, oder der Herr Minister, sondern ich. Ihr werdet euch dann in Betroffenheitsbekundungen ergehen und innerlich werdet ihr euch die Hände reiben, weil ihr einen Buhmann gefunden habt. Schmeißt die Agnes Helstrom raus und schon gibt es kein Ausländerproblem mehr in Seved und Rosengård. Hat es nicht, wird es nie.

»Okay«, sagte Nyström. »Ich muss jetzt da raus und diesen Schmierfinken von der Presse etwas zu tun geben.«

Agnes nickte.

»Bleiben Sie noch ein paar Minuten hier drin, ja?«, sagte der Minister, dann öffnete er die Schiebetür einen Spalt weit, zwängte sich hindurch und sprang nach draußen.

Und damit, dachte Agnes, hat der Tanz auf dem Eis gerade erst begonnen.

Dreizehn

Elsa schloss die Wohnzimmertür mit einem entschuldigenden Lächeln, das Hilmar Ljungberg mit einem knappen Nicken quittierte, dann trat sie auf den Gang. Sie lief ein paar Schritte auf das Bad zu, öffnete und schloss dann die dort befindliche Tür, ohne jedoch wirklich in das Badezimmer einzutreten.

Dann atmete sie ein paar Mal tief durch.

So wie sie die Sache sah, und in derlei Dingen irrte sie sich so gut wie nie, war der Vater des entführten Mädchens das, was man gemeinhin als einen Workaholic bezeichnete. Übersetzung: In seinem Leben gab es außer der Arbeit eigentlich gar nichts, das ihm wesentlich erschien – und das schloss auch seine hübsche, junge, aber irgendwie seltsam farblos wirkende Frau mit ein und die kleine Lilly aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls.

Für Hilmar Ljungberg stellte seine kleine Tochter hauptsächlich einen Störfaktor dar, etwas, das ihn davon abhielt, noch mehr zu arbeiten und noch mehr Geld zu verdienen, mit dem er glaubte, seine Familie zu unterstützen und ihnen so etwas wie Sicherheit verschaffen zu können. Denn hier lag die Krux bei allen Workaholics: Dass sie viel arbeiteten, bedeutete durchaus nicht, dass ihnen die Arbeit Spaß machte, oft war sogar das exakte Gegenteil der Fall. Es ging ihnen vielmehr darum, ein Loch in ihrem Inneren zu füllen, das sich überhaupt nicht füllen ließ. Viele Workaholics definierten ihren Selbstwert einzig und allein durch ihre Arbeit und waren deshalb wie besessen davon. Sie waren daher in aller Regel gut in ihrem Job, selbst, wenn sie ihn insgeheim hassten, kamen schnell voran, man zollte ihnen Respekt. Natürlich begünstigte so was das Vorankommen auf der Karriereleiter, das Privatleben blieb dann aber oft auf dem weit abgeschlagenen zweiten oder dritten Platz zurück. Vermutlich hatte es nicht lang gedauert, bis Hilmar Ljungberg begriffen hatte, dass die Unfähigkeit, Empathie für seine Mitmenschen zu empfinden, für seinen Job alles andere als hinderlich war, sondern im Gegenteil, seine Karriere erst so richtig auf die Überholspur brachte. Sein ausgesprochen rationales Wesen war die ideale Voraussetzung für einen Job an der Börse, denn wer da den Kopf verlor, musste oft mit viel Geld dafür bezahlen – Gefühle hatten in einem Chefsessel nun mal nichts verloren.

Doch auch das Geld, das ein Workaholic üblicherweise im Laufe seiner Karriere anhäufte, diente in erster Linie dazu, seine Selbstbestätigung zu unterfüttern. Selbst beim Kauf von Luxusvillen oder Sportwagen ging es selten um die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse als vielmehr um Prestige. Elsa konnte sich vorstellen, dass die hübsche Frau Ljungberg das Argument, einer müsse ja schließlich das Geld nach Hause bringen, in den letzten paar Jahren schon öfter gehört hatte. Und letztlich war wohl auch die kleine Lilly eine Art Anschaffung aus Prestigegründen gewesen. Etwas, womit man persönlichen Erfolg und berufliche Stabilität nach außen zeigte. Und weitere Kunden gewann, vermutlich. Frau und Kind waren für Hilmar Ljungberg ein Vehikel, mehr nicht.

Vorsichtig zog Elsa ihre Schuhe aus und ließ sie vor der geschlossenen Badezimmertür stehen. Dann schlich sie den Flur in entgegengesetzter Richtung zurück, an der geschlossenen Wohnzimmertür vorbei und die Treppe hinauf, die in den ersten Stock der Villa führte.

Womit wir bei Sofia Ljungberg wären, dachte sie, während sie den Flur entlangschlich. Ihr musste irgendwann während der letzten Ehejahre aufgegangen sein, dass ihr Mann weder die Zeit noch das mindeste Interesse an ihren Emotionen oder auch nur ihrer Meinung hatte, geschweige denn für ihre beruflichen Interessen, die er nur als lächerlich empfinden konnte. Sicher, für eine Weile war alles gut gewesen. Der Mann war attraktiv, erfolgreich, sicher ein guter Unterhalter, vermutlich sogar einfallsreich im Bett. Es hatte Spaß gemacht, mit ihm auszugehen, von ihm umworben zu werden. Anfangs.

Doch irgendwann musste auch die hübsche Sofia begriffen haben, dass sie nichts weiter war als ein Accessoire, das ihr Mann sich zugelegt hatte. Und was die kleine Lilly betraf, so sah er seine Vaterschaft damit erfüllt, dass sie in einem schönen Haus in einer »ruhigen«, sprich exklusiven Gegend leben konnten und dass es weder Sofia noch Lilly an irgendetwas mangelte.

Um den Rest hatte sich gefälligst ihre Mutter zu kümmern, jetzt, da sie nicht mehr als schnöde Verkäuferin in einer Modeboutique in der City arbeiten musste.

Es war deutlich zu spüren, welche Priorität Sofias Job in seinen Augen darstellte. Kleine Fische, den Aufwand nicht wert. Und ihr Onlineshop? Elsa hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wie gut der lief. Eine letzte, leere Seifenblase, ein Überbleibsel von einem Leben, in dem sie noch andere sinnvolle Funktionen versehen hatte, als eine weitere Trophäe an der Wand eines ehrgeizigen Egomanen zu sein.

Sofia Ljungberg liebte ihre Tochter, ganz bestimmt. Mit allem Herzen, das in ihr noch übrig war. Mehr jedoch liebte sie inzwischen den Alkohol – um das herauszufinden, bedurfte es ebenfalls keiner besonderen hellseherischen Fähigkeiten, nur eines durchschnittlichen Geruchssinns.

Blieb die kleine Lilly. Und jetzt kam der besonders garstige Pferdefuß an der Sache: Tief in ihrem Inneren waren beide Elternteile inzwischen vermutlich davon überzeugt, dass die Zeit vor Lilly eigentlich eine bessere gewesen war. Dass sie einen Fehler gemacht hatten, als sie einem Kinderwunsch nachgegeben hatten, auf den sie eigentlich nie wirklich hingefiebert hatten. Weil man das eben so machte. Weil es alle so machten.

Irgendwann hatten sie vermutlich angefangen, wehmütig an das bisschen Sex zurückzudenken, das sie noch gehabt hatten, bevor das Kind auf der Bildfläche erschienen war. Und leider, dachte Elsa, sind die Ljungbergs damit alles andere als ein Einzelfall.

Welche Eltern hatten denn heutzutage überhaupt noch wirklich Zeit dazu, ihre Kinder zu lieben?

Vierzehn

Elsa schlich auf Strümpfen über den Teppich im Flur des ersten Stocks, wo sie Lillys Zimmer vermutete. Henrik mochte sich von den Eltern ein Bild machen, sie hatte das bereits nach ein paar Minuten ziemlich umfassend getan, da erwartete sie keine großen Überraschungen mehr. Zu oft schon hatte sie diese Konstellation mit nur geringfügigen Variationen beobachten können, wenn auch selten in einer so schmucken Umgebung.

Sie fand Lillys Zimmer sofort, es war gleich das erste auf der rechten Seite. Schön und hell, wie in einem Haus wie diesem nicht anders zu erwarten. Und, ebenfalls recht passend zum restlichen Interieur, nahezu spartanisch eingerichtet. Dies schien gar kein richtiges Kinderzimmer zu sein, es glich vielmehr einer Werbefotografie aus einem exklusiven Möbelkatalog.

Ein Schreibtisch mit einem Computer darauf – es handelte sich um ein aktuelles iMac-Modell –, daneben eine kleine Frisierkommode, ein rustikales Holzbett, dessen Laken so penibel unter die Matratze gestopft worden war, dass Elsa sich nur schwerlich vorstellen konnte, dass Sofia Ljungberg dieses Bett gemacht hatte, und schon gar nicht ihre neunjährige Tochter. Vermutlich hatten die Ljungbergs eine Putzfrau, die wahrscheinlich Henriks Idee entsprungen war. Man hatte schließlich genügend Geld dafür, nicht wahr? Was machte es da schon, wenn sich Sofia damit noch ein bisschen nutzloser vorkam?

Elsa wurde beinahe schlecht angesichts der grotesken Sterilität in diesem sogenannten Kinderzimmer. Hier gab es kein Krümel Staub, keine Aufkleber – nicht einmal auf dem Spiegel –, keine Fotos von Freunden, keine aufgeschlagenen Bücher oder Zeitschriften, keine abgenutzten Lieblingsspielsachen. Es gab Bilder an den Wänden, klar, aber diese unterstützten in ihrer austauschbaren Langweiligkeit nur noch mehr den Eindruck eines Möbelhauskatalogs. Ein breites Blumenwiesen-Tryptichon, das Gemälde eines friedlich grasenden Pferdes und eine Kinderzeichnung hinter Glas, offenbar ein Schulprojekt. In der rechten unteren Ecke stand mit etwas ungelenken Buchstaben Lilly Ljungberg, Klasse 4a. Die Zeichnung war überraschend gut für eine Neunjährige, offenbar stellte sie einen Elefanten dar, der von einem Flugzeug in die Höhe gezogen wurde. Beides war gut zu erkennen, auch wenn das Rüsseltier ein etwas comichaftes Grinsen zur Schau stellte. Die Proportionen stimmten im Großen und Ganzen, und beide Objekte waren säuberlich mit Wasserfarbe ausgemalt, ohne über den vorgezeichneten Rand zu schmieren. Lilly hatte Talent, das stand außer Frage. Sicher hatte das Bild einen Preis errungen.

Es gab auch einen prall gefüllten Bücherschrank, der fast die gesamte, dem Bett gegenüberliegende Wand einnahm. Die meisten der versammelten Werke waren populäre Kinderbücher und Endlosreihen wie die Warrior Cats und Percy Jackson und sein ewiger Kampf gegen die wiederauferstandenen Götter der griechischen Antike. Soweit Elsa das beurteilen konnte, waren sie alle vollständig und auf dem neuesten Stand, sahen allerdings so unbenutzt aus, dass sie vermutlich ungelesen waren. Solch ein Regal wäre sicher der Traum so mancher kleinen Lesers gewesen, aber die Ordnung, die in dem Ding herrschte, war beängstigend. Alles war fein säuberlich nach Name und Reihenfolge geordnet, so mancher Buchhändler wäre da neidisch geworden. Ob Lilly auch nur eins ihrer Bücher je gelesen hatte? Ob Sofia ihr jemals daraus vorlas?

Es gab eine Spielkiste, die Elsa öffnete, um einen flüchtigen Blick hineinzuwerfen. Die Absurdität machte auch nicht vor dem Inhalt dieser Kiste Halt. Es gab ein paar Puppen und eine große rot lackierte Holzfeuerwehr darin, und jede Menge verschlossener Kartons, in denen weitere Puppen schliefen, die nie hervorgeholt worden waren. Lillys Interesse schien sich kaum auf den Inhalt dieser Kiste zu erstrecken. Oder auf sonst irgendetwas in diesem Zimmer.

Blieb zu hoffen, dachte Elsa, dass Lilly ihre Freizeit dann draußen und mit zahlreichen Freunden verbrachte und hoffentlich ließ sie es dabei richtig krachen, kam mit Grasflecken auf den Knien ihrer Hose und mit Schürfwunden an den Ellbogen zurück. Aber irgendwie bezweifelte Elsa auch das. Arme Lilly.

Aber es gab doch etwas, das den Eindruck erweckte, hier habe, zumindest zeitweise, ein neunjähriges Mädchen gewohnt anstatt einer jungen Erwachsenen mit einem ausgeprägten Ordnungsfimmel. Auf dem Kopfkissen, selbstverständlich ordentlich zurechtgesetzt, fand Elsa eine kleine Stoffpuppe und diese war ausnahmsweise kein High-end-Produkt eines Markenherstellers.

Das Püppchen war handgenäht, offenbar eine Näharbeit von jemandem, das musste Elsa neidlos eingestehen, der wirklich etwas von diesem Handwerk verstand. Sie nahm die Puppe in die Hand. Blondes Haar aus stabilen Bindfäden bildete den Schopf, das Gesicht war zwar nur aufgemalt worden, dafür aber mit einiger Kunstfertigkeit. Die Puppe lachte übers ganze Gesicht und schaute sie dabei aus großen, verwunderten Augen an. Sie trug ein entzückendes Kleidchen, an dessen Ärmel zwei Stoffkügelchen angenäht waren, welche die Hände bildeten. An sich nichts Besonderes, so war es doch der einzige Gegenstand, der so etwas wie ehrliche Zuneigung zu dem Kind ausdrückte. Fraglos würde Elsa im Onlineshop von Sofia noch mehr solcher Puppen finden. Bedauerlich nur, dass …

Etwas krachte mit einem dumpfen Aufprall gegen das Fenster und Elsa fuhr zusammen.

Als sie hinsah, bemerkte sie den Vogel, welcher jetzt auf dem Fensterbrett lag, mit zuckenden Flügeln um sich schlug und offenbar vergeblich versuchte, wieder auf die Füße zu kommen.

Elsa ging zum Fenster hinüber.

Da war ein Flügelabdruck, wo der Vogel gegen die Scheibe geknallt war, und ein kleiner Blutspritzer daneben. Das kleine Tier zuckte immer noch, eines seiner Beine krallte sich in die Luft, doch die Bewegungen der winzigen Krallenfüßchen wurden bereits schwächer. Es war ein Sperling, erkannte Elsa jetzt. Der Kopf des Vogels war seitlich abgeknickt, aus seinem Schnabel lief ein dünner Blutstrom. Keine Frage, der Vogel starb.

Als Elsa das Fenster hochschob, hörten die letzten Bewegungen des kleinen Tieres abrupt auf und dann lag es still. Behutsam strich Elsa über den linken Flügel, der seltsam verdreht aus dem Rumpf des kleinen Vogels ragte, aber der Spatz reagierte nicht mehr.

Vorsichtig nahm sie ihn in die Hand, ein Fliegengewicht nur, kaum vorhanden. Sie zog ihr Taschentuch aus der Hosentasche und legte den kleinen Körper behutsam hinein. Dann schloss sie das Fenster wieder und ging aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und durch den Flur zurück zum Badezimmer, vor dem noch immer ihre Schuhe standen.

Fünfzehn

Elsa verließ das Haus durch die Hintertür, indem sie dem Flur bis zu seinem Ende folgte. Das mochte ein wenig unhöflich sein, aber einerseits war sie ja sowieso keine richtige Polizistin und außerdem verspürte sie im Moment nicht die geringste Lust, den Ljungbergs nochmals zu begegnen.

Als sie an die frische Luft trat, tat sie einen tiefen Atemzug und sah sich um. Die Sicht zur Straße hin, wo Übertragungswagen standen, während Presseleute, Polizisten und besorgte Bürger ihren jeweiligen Tätigkeiten nachgingen, war von einer über zwei Meter hohen Hecke versperrt. Vermutlich schätzte man in Kronheim nicht nur die gemütliche Geselligkeit von Leuten, die es in finanzieller Hinsicht zu etwas gebracht hatten, sondern offenbar auch eine gewisse Privatsphäre.

Als sie sich auf den Weg zur Straße hin machte, kam sie an ein paar Mülltonnen vorbei, die offenbar zum Haus der Ljungbergs gehörten. Sie öffnete eine davon und ließ den toten Vogel behutsam aus dem Taschentuch fallen. Dann schloss sie die Tonne, steckte das Taschentuch wieder ein und verließ das Grundstück der Ljungbergs, um zum Polizeiwagen zurückzugehen, wo sie auf Henrik warten würde.

Sie wünschte, sie wäre mit ihrem Porsche hierhergefahren, dann hätte sie sich jetzt wenigstens gleich wieder auf den Weg zur Uni machen können. Je früher desto besser, für heute hatte sie eindeutig genug von der praktischen Seite der Psychologie.

Sie fragte einen der Polizisten nach einer Zigarette, die er ihr nur allzu bereitwillig gab, und wartete dann an den Wagen gelehnt auf Henrik. Wie aufs Stichwort erschien der, als ihre Zigarette in den letzten Zügen lag. Elsa schnippte sie unter das Auto.

»Alles klar?«, fragte Henrik. »Du warst ganz schön blass da drin.«

Elsa schüttelte den Kopf.

»Es ist nichts«, sagte sie. »Nur diese Ljungbergs, da fällt es mir manchmal schwer, mich zusammenzureißen.«

»Das war nicht zu übersehen. Ich meine … Denen steckt natürlich noch der Schock in den Knochen. Mit so einer Situation muss man ja auch erst mal klarkommen, irgendwie.«

Elsa kratzte sich gedankenverloren durch die Jacke an ihrem linken Oberarm.

»Ich glaube, die sind vielleicht viel weniger geschockt, als du glaubst.«

»Wie meinst du das? Du denkst doch nicht etwa, die hätten etwas mit der Entführung zu tun gehabt? Ich meine, das wäre auch nicht das erste Mal, dass so etwas passiert, aber bei diesen beiden bin ich mir eigentlich sicher …«

Elsa schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Ich denke nur, dass die viel zu sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt sind, um die Möglichkeit an sich heranzulassen, dass ihre kleine Tochter soeben entführt wurde. Andererseits – vielleicht ist das ja auch eine Art von Schutz. Eigentlich gar nicht mal schlecht, wenn man drüber nachdenkt. Nützlich.«

»Ah«, sagte Henrik. »Du meinst Frau Ljungberg. Und ja, die hatte eine ganz schöne Fahne, ist mir auch aufgefallen. Aber Herrgott, mich betrinken wäre auch nicht gerade die letzte Idee, die mir einfallen würde, in solch einer Situation.«

Elsa nickte. »Geht eben jeder anders mit so etwas um. Aber ich glaube, wir sollten uns jetzt erst mal darauf konzentrieren, Lilly zu finden. Beziehungsweise sollten du und deine Kollegen sich darauf konzentrieren.«

»Worauf du dich verlassen kannst«, sagte Henrik. »Und was mich betrifft, so kann ich wesentlich besser nachdenken und Fälle lösen, wenn ich mir dabei nicht vorkomme wie bei einem Spießrutenlauf.«

Henrik deutete auf die Menschenansammlung außerhalb der Absperrung. Inzwischen waren es noch etliche mehr geworden.

»Verstehe«, sagte Elsa.

Als Henrik um den Streifenwagen ging, um sich an dessen Steuer zu setzen, geriet er zu nahe an das Absperrband. Ein älterer Mann mit einer auffällig großen Hornbrille hielt ihn am Ärmel fest und wandte sich mit zornigem Blick an ihn. Tiefe Falten, fiel Elsa auf, hatten sich in seine Mundwinkel gegraben und verliehen seinem Gesicht so etwas beständig Mürrisches.

Wann die werten Herren von der Polizei denn endlich etwas zu unternehmen gedächten, wollte er wissen und erinnerte Henrik daran, dass man früher abends noch in aller Seelenruhe spazieren gehen konnte und dann, seit die Kanaken drüben in Seved eingezogen seien, würde man als Schwede auf offener Straße angepöbelt und bedroht, und jetzt seien offenbar schon die Kinder dran und wo das noch alles enden solle. Für Elsa hatte er nicht einen einzigen Blick übrig.

Henrik hörte ein paar Minuten aus Höflichkeit zu. Elsa konnte sehen, dass er sich bereits verschiedene Varianten einer entsprechenden Antwort zurechtlegte, doch dann schluckte er sie alle herunter.

»Wir tun, was wir können, mein Herr«, versicherte Henrik dem Mann. »Und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns jetzt unsere Arbeit machen ließen, damit wir sie möglichst schnell zum Abschluss bringen können. Das ist doch sicher in Ihrem Interesse, nicht wahr?«

Der Mann starrte Henrik noch einen Augenblick aus zusammengekniffenen Augen an, dann drehte er sich abrupt um und stapfte davon, ohne sich noch ein einziges Mal umzusehen.

»Soll ich dich an der Uni absetzen?«, fragte Henrik.

»Das wäre toll«, sagte Elsa. »Vielleicht bekomme ich dann ja heute Abend sogar noch etwas von meiner eigentlichen Arbeit fertig. Aber keine Angst, ich werde über diese Sache nachdenken und dich anrufen, sobald mir eine Erleuchtung kommt.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

»Kommissar Andersson?«, rief jemand hinter ihnen.

Henrik verdrehte die Augen gen Himmel und drehte sich um.

»Wie ich bereits jenem Herrn erläutert habe …«, begann er, doch dann bemerkte er, dass kein weiterer besorgter Bürger von Kronheim ihn angesprochen hatte, sondern ein Kollege. Genau genommen ein Streifenpolizist, der von einem zwar etwas beklommen, aber immerhin freundlich dreinblickenden älteren Herrn begleitet wurde.

»Das ist der Herr Berggren«, stellte der Streifenpolizist den Mann vor, der neben ihm stand. »Er wohnt direkt neben den Ljungbergs, und er sagt, dass er glaubt, etwas gesehen zu haben. An dem Nachmittag, als das Mädchen verschwand.«

»Ist ja nicht wahr«, schnaufte Henrik. »Und wieso erfahre ich das erst jetzt?«

»Es wusste ja niemand. Der Herr Berggren ist gerade erst aus seinem Haus gekommen und hat sich dann direkt an uns gewandt.«

»Okay«, sagte Henrik und wandte sich an den Alten. »Ich danke Ihnen, dass Sie auf uns zugekommen sind. Lassen Sie uns doch irgendwo hingehen, wo wir uns ein bisschen ungestörter unterhalten können.«

Berggren nickte.

»Dort«, schlug Elsa vor und deutete in Richtung des Vorgartens der Ljungbergs. »Hinter der Hecke. Die ist hoch genug und ziemlich dicht. Da sollten wir etwas Ruhe haben.«

Sechzehn

»Sie wohnen also nebenan, Herr …?«, begann Henrik, als sie ihr Versteck hinter der Hecke erreicht hatten.

»Berggren, ja«, sagte der Alte, »und ich war mit Lykke draußen, deshalb habe ich es gesehen.«

»Wie bitte?«

Elsa verkniff sich ein kleines Lächeln.

»Lykke«, sagte der Alte, »das ist meine Dackelhündin. Man muss Gassi gehen mit einem Hund, verstehen Sie? Die Runde machen. Hält einen fit, die Bewegung, und sonst gibt es ja nicht viele Gelegenheiten, dass man mal rauskommt an die frische Luft und …«

»Äh ja, schon klar«, unterbrach ihn Henrik. »Sie waren also mit dem Hund draußen, mit Lykke. Und dann?«

»Es hat geregnet an dem Tag, deshalb haben wir nur die kurze Runde gemacht. Sonst gehen wir gern durch den Wald, am Spielplatz vorbei, aber da habe ich sie natürlich an der Leine. Obwohl, die Lykke, die tut keinem was, das ist ’ne ganz Brave.«

»Okay«, sagte Henrik. »Aber gestern haben Sie die große Runde nicht gemacht. Und sie waren nicht im Wald hinter dem Haus mit Lykke.«

»Stimmt.«

»Weil es geregnet hat.«

»Ganz genau.«

»Und was haben Sie nun gesehen?«

»Na ja, also da war Lilly, die Kleine von den Ljungbergs, wissen Sie?«

»Wo genau war Lilly, als Sie sie gesehen haben?«

»Hat im Garten gespielt, hinter dem Haus. Normalerweise hätte ich ja gar nicht drauf geachtet, aber …«

Der Alte schaute sich unbehaglich um und senkte dann die Stimme.

»Na ja, sie hatte nichts Richtiges an.«

»Wie bitte?«

»Also, nicht, dass sie nackt gewesen wäre, natürlich nicht. Aber ich sagte ja schon, dass es geregnet hat. Ach was, geschüttet hat es wie aus Eimern. Und sie spielte da im Garten, hat irgendwas im Boden vergraben, glaube ich. Jedenfalls hockte sie da auf der feuchten Erde und hatte nur ein dünnes Kleidchen oder sowas an, sie muss völlig durchnässt gewesen sein und es war ja auch ziemlich kalt.«

Henrik starrte den Alten an.

»Und da haben Sie nichts unternommen?«

Der alte Mann zuckte hilflos mit den Schultern.

»Entschuldigung«, lenkte Henrik ein. »Das war natürlich nicht Ihre Aufgabe, ich dachte bloß, wo es Ihnen schon aufgefallen ist.«

»Nein, es stimmt schon, es kam mir ja auch seltsam vor, deswegen hab ich noch ein zweites Mal hingeschaut. Da fiel mir auf, dass sie Gummistiefel trug, immerhin. Das waren so knallgrüne Dinger, daher fiel mir das auf.«

»Verstehe«, sagte Henrik. »Knallgrüne Gummistiefel.«

Die nicht im Hausflur standen, dachte Elsa.

»War denn niemand sonst bei ihr?«

Berggren überlegte.

»Doch schon. Ich bin ja extra stehen geblieben, um zu schauen. Ihre Mutter war auf der Veranda und, äh … hat sie ja beaufsichtigt. Da hab ich mir nichts dabei gedacht.«

»Okay«, sagte Henrik. »Was genau hat ihre Mutter auf der Veranda getan, erinnern Sie sich?«

»Ähm …«

Herr Berggren räusperte sich. Die Sache war ihm sichtlich unangenehm, und er senkte die Stimme noch ein bisschen, als er sagte: »Na ja, sie hat gelesen, glaube ich. Ja. Die Frau Ljungberg saß in einem Liegestuhl, eine Decke über den Beinen und ich dachte noch so, dass sie jetzt bestimmt gleich nach der Kleinen rufen wird, dass sie ins Haus gehen und sich etwas Vernünftiges anziehen soll, und wie ich dann mit Lykke zurückgekommen bin, war die Kleine ja auch nicht mehr da, also …«

»Also nahmen Sie an, sie sei ins Haus gelaufen, um sich umzuziehen.«

»Ja«, sagte Berggren und nickte. »Ich meine, zu dem Zeitpunkt habe ich mir auch keine Gedanken weiter über das alles gemacht. Ich wusste ja nicht …«

»Aber jetzt wissen Sie, was passiert ist?«

Berggren nickte.

»Also, da war dann doch etwas komisch, so im Nachhinein. Ihre Mutter, also die Frau Ljungberg, lag immer noch in dem Liegestuhl, als wir zurückkamen, und hatte das Buch auf dem Schoß. Das war so ein dicker Wälzer … und dann dachte ich so bei mir, dass sie wohl gar nicht darin liest, sondern …«

Henrik nickte ihm aufmunternd zu.

Der Alte druckste herum.

»Schläft?«, warf Elsa ein.

Berggren nickte zögernd.

»Und wie ich dann heute erfahren hab, dass die kleine Lilly verschwunden ist, da wurde mir ganz heiß und kalt und ich habe gleich den Heinar Sörensson angerufen, denn der weiß immer alles, was im Viertel so vor sich geht. Und der sagte mir dann, ja, die Kleine sei gestern gegen fünf am Nachmittag verschwunden, und das ist ja nun mal die Zeit, mit der ich immer mit Lykke die Runde mache, und daher kam mir das dann alles wieder in den Sinn.«

»Sie glauben also, dass Lilly entführt wurde, während ihre Mutter ein paar Meter weiter in einem Liegestuhl schlief?«, fragte Henrik und machte aus seiner Skepsis wenig Hehl. Berggren nickte wieder.

»Sie werden es ihr doch nicht sagen?«

»Hm?«

»Dass ich Ihnen gesagt habe, dass sie geschlafen hat und dass die kleine Lilly keine Regensachen anhatte. Ich meine, die arme Frau macht ja nun gerade wirklich genug durch. Ich hoffe ja nur, dass sie ganz schnell wieder auftaucht. Die kleine Lilly, meine ich. So was muss doch schrecklich sein für eine Mutter.«

»Das hoffen wir alle«, versicherte Henrik. »Und ja, ich werde diese Informationen vertraulich behandeln. Sie haben mein Wort drauf.«

Elsa konnte ihm ansehen, dass er dieser im Vertrauen weitergetratschten Information allerdings keinen allzu großen Wert beimaß, abgesehen vielleicht von der erstaunlichen Kaltblütigkeit des Täters, der das Kind direkt vor der Nase seiner schlafenden Mutter geschnappt haben musste. Es war noch nicht mal richtig dunkel gewesen um halb Fünf. Was Lillys Mutter betraf, hatten Berggrens unfreiwillige Investigationen wenig Neues zutage gefördert. Vermutlich hatte die Frau geschlafen, weil sie sturzbetrunken gewesen war, und hatte sich seitdem alle Mühe gegeben, ihre Schuldgefühle in noch mehr Alkohol zu ertränken. Das mochte fahrlässig sein, aber für den Fall schien es wirklich keine große Relevanz zu haben. Außer vielleicht der Frage, ob der Täter gewusst hatte, dass Sofia betrunken sein würde, oder nur einen günstigen Zeitpunkt abgepasst hatte. Momentan gab es keine Möglichkeit, herauszufinden, was davon zutraf.

»Oh, da war ja noch etwas, das ich Ihnen sagen wollte«, sagte Berggren in bester Columbo-Manier und schenkte ihnen ein entschuldigendes Grinsen. »Hätte es beinahe vergessen. Da war jemand im Wald, der hinten an das Grundstück der Ljungbergs grenzt.«

»Im Wald?«, fragte Henrik. »Wer?«

»Das habe ich nicht erkennen können. Aber jemand aus der Gegend, vermute ich. Na ja, zumindest habe ich das gestern noch gedacht.«

»Wieso?«

»Na ja, ich hab ihm gewunken und er hat zurückgewunken.«

»Okay. Das könnte wirklich wichtig sein, Herr Berggren. Haben Sie sein Gesicht erkennen können? Was hat er angehabt? Irgendwelche sonstigen Auffälligkeiten?«

Der Alte überlegte.

»Das Gesicht habe ich nicht erkennen können, dazu war er zu weit weg und außerdem … er trug so eine Regenjacke mit Kapuze.«

»Was für eine Regenjacke genau? Können Sie die irgendwie beschreiben?«

»Ja«, sagte Berggren und nickte heftig. »Eine von diesen knallgelben Dingern aus Gummi. Ich hatte auch mal so eine. Innendrin sind sie blau. Halten den Regen wirklich gut ab, aber man schwitzt ziemlich darin, deshalb habe ich meine irgendwann weggegeben.«

»Und der Mann? Oder die Person?«

»Zuerst dachte ich, er wäre ein Pilzsammler oder so was. Aber ehrlich gesagt kann ich gar nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es überhaupt ein Mann war. Ich meine, was kann man schon erkennen auf die Entfernung?«

Er deutete in Richtung des Waldrandes.

»Gelbes Gummi …«, murmelte Henrik und warf Elsa einen vielsagenden Blick zu. Die nickte.

»Okay, danke, Herr Berggren, Sie haben uns sehr geholfen. Gibt es sonst noch etwas, an das Sie sich erinnern?«

Berggren dachte nach, dann schüttelte er den Kopf.

»Als ich zurückkam, waren sie weg, Lilly und auch die Gestalt im gelben Regenmantel. Das war alles. Lykke und ich sind dann zurück ins Haus gegangen.«

»Okay«, sagte Henrik, »vielen Dank, dass Sie sich bei uns gemeldet haben. Ich glaube, Sie haben uns vielleicht schon geholfen.«

Herr Berggren nickte, dann fragte er furchtsam: »Ist sie denn wirklich entführt worden? Ich meine … von einem der Ausländer?«

Elsa verdrehte die Augen.

»Herr Berggren, dazu kann ich momentan überhaupt nichts sagen. Nur so viel: Es gibt bislang keinerlei Hinweise darauf, welcher Nationalität der Täter angehört. Oder ob es überhaupt einen gibt. Wir haben einen Vermisstenfall, mehr nicht.«

»Verstehe.«

»Ja«, sagte Henrik. »Sie sehen ja selbst, wie schwer es ist, jemanden zu erkennen, der da hinten am Waldrand steht. Geschweige denn, sagen wir mal, die Nationalität einer solchen Person.«

Berggren nickte und wandte sich zum Gehen.

»Äh, Herr Berggren?«, rief Henrik ihm hinterher. Der Alte blieb stehen. »Würden Sie bitte noch einen Augenblick beim Streifenwagen warten? Ich hätte gern, dass Sie jemandem von der Spurensicherung genau die Stelle zeigen, an der sie den Mann im Regenmantel gesehen haben.«

»Also ich weiß nicht, ob …«

»So gut Sie sich erinnern können, okay?«

Berggren nickte und trottete dann davon, in Richtung Streifenwagen.

»Spuren?«, fragte Elsa. »Im Waldboden, nach über zwanzig Stunden Dauerregen?«

»Ist zumindest einen Versuch wert«, sagte Henrik knapp.

»Dieser gelbe Regenmantel«, sagte Elsa nachdenklich. »Glaubst, das könnte das Zeug sein, das sie unter Marlis’ Nägeln gefunden haben?«

Henrik nickte.

»Vielleicht hat sie sich gewehrt, dabei hat sie was von der gummierten Außenhülle abgekratzt.«

»Dann ist es also amtlich. Wir haben es mit einem Serientäter zu tun.«

»Falls es sich tatsächlich um dasselbe gelbe Zeug handelt.«

»Ja, natürlich. Aber … na ja, ich glaube, darauf wird es hinauslaufen.«

»Scheiße«, sagte Henrik und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Mülltonne, dachte nach. Sein brütender Blick war auf das Haus der Ljungbergs gerichtet.

Der Regen hatte wieder eingesetzt.

Nach einer Weile nickte er.

»Hoffen wir, dass kein Serienkiller draus wird.«

Siebzehn

Das Versteck

Ihre Hände sind hinter ihrem Rücken gefesselt, er hat das Klebeband fest um ihre Handgelenke gewickelt. Die Stuhllehne schneidet in die Muskeln ihrer Oberarme, drückt die dort befindlichen Blutgefäße ab. Sie spürt das Kribbeln in ihren Fingerspitzen.

Bald wird sie ihre Finger gar nicht mehr spüren können.

Weitere Streifen des silbergrauen Klebebands um ihre Fußknöchel, die er mit den Stuhlbeinen verbunden hat, sorgen dafür, dass sie nicht aufstehen kann.

Dann beginnt er.

Er lächelt sie an und als sie den Mund öffnet, hat er plötzlich einen schmutzigen weißen Lappen in der Hand und stopft ihn ihr in den Mund. Er schmeckt muffig und riecht nach Öl.

Er streichelt über ihren Kopf, verliert sich in dem weichen, blonden Haar und sein Blick wird abwesend, scheint in weite Ferne zu schweifen.

Nach einer Weile kommt er wieder zu sich und scheint sie jetzt auch wieder wahrzunehmen. Er reißt einen weiteren Streifen Klebeband von der Rolle und klebt ihn ihr quer über den Mund, in dem sich immer noch der Öllappen befindet. Schnaufend zieht sie den Rotz hoch, der ihr aus der Nase läuft, doch sie hat nun keine andere Möglichkeit mehr, Luft zu holen. Eine Blase bildet sich an ihrem rechten Nasenloch und zerplatzt mit einem leisen Ploppen. Das scheint ihn zu freuen, er lacht auf, hell und glockenklar wie ein kleines Kind.

Wo doch sie das Kind hier ist, und nicht er.

Er holt einen anderen Lappen aus seiner Hosentasche, auch dieser ist weiß, aber sauber. Er tupft ihr den Rotz weg, ist ganz sanft dabei, beinahe zärtlich.

Ob er wohl das mit ihr machen will? Weil er es nicht mit anderen Mädchen machen kann, weil die ihn nicht lassen? Weil die stark genug wären, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen? Sie bezweifelt es, er ist ein wahrer Hüne, ein richtiger Bär. Ein bisschen schwerfällig vielleicht, aber auch sehr stark.

Sie sieht zu dem Loch in der Wand, das als Fenster dient. Es dringt nicht besonders viel Licht herein, dazu sind sie zu weit unten und außerdem ist es kaum größer als ein Blatt Papier. Das Licht genügt aber, damit sie die Tiere auf dem improvisierten Tisch am Fenster erkennen kann.

Hauptsächlich Mäuse, oder sind es kleine Ratten? Das Mädchen weiß nicht, woran man den Unterschied erkennen könnte.

Jetzt fällt ihr Blick auf Helgi, oder das, was von dem kleinen Hund noch übrig ist. Der Terrier wird seit über zwei Wochen vermisst, das Mädchen hat sogar bei der Suche geholfen, ist durch die Nachbarschaft gelaufen und hat den Namen des Tieres gerufen und sogar die Erwachsenen gefragt, ob sie ihn vielleicht gesehen hätten.

Dabei war er die ganze Zeit hier gewesen.

Sie spürt, wie etwas Heißes aus ihrem Magen nach oben schießt, und kämpft es mühsam herunter, als sie bemerkt, dass seine Augen nachdenklich zwischen ihr und dem Leichnam des Hündchens hin und her wandern. Während ihr Blick zu den Vögeln und Mäusen hinüberschweift, die er neben dem improvisierten Tisch auf dem Boden aufgereiht hat, wird ihr klar, was er hier tut mit all den toten Tieren, wenn er allein ist. Er studiert sie wie ein Wissenschaftler. Nimmt sie auseinander, um zu schauen, wie sie innendrin funktionieren. Weiß er denn nicht, dass das bei Lebewesen keinen Sinn hat? Dass die kaputt gehen, wenn man sie aufmacht?

Und jetzt, das begreift sie, wird er ein neues Experiment beginnen.

Und zwar mit ihr.

Seine Augen sind dunkel, beinahe schwarz, die fettigen Haare hängen ihm strähnig in die von Pickeln besetzte Stirn. Er ist aufgeregt, natürlich ist er das, aber da ist noch etwas, sie kann es einfach nicht deuten. Ein neuer, unbekannter Ausdruck von Ruhe. So wie jemand, der verzückt der Stimme eines geliebten Menschen lauscht. Aber wenn es eine Stimme ist, kann sie sie nicht hören. Das kann nur er.

Nachdem er ihr Gesicht sorgfältig saubergetupft hat, steckt er das Taschentuch weg, nickt ihr ein Mal zu und richtet sich dann langsam auf. Sitzend reicht sie ihm noch nicht einmal bis zum Bauchansatz. Sie kommt sich winzig vor auf ihrem Stuhl, während er über ihr aufragt wie ein Turm.

Er nickt noch einmal der Wand zu oder sich selbst, dann geht er aus ihrem Gesichtsfeld.

Später taucht er wieder vor ihr auf und beugt sich zu ihr herunter. Der Wahnsinn in seinen Augen ist jetzt deutlich zu sehen, beinahe greifbar.

Diesmal hat er das Messer dabei.

Achtzehn

Psychiatrische Klinik des Sankt-Lars-Krankenhauses, im Süden der Stadt Lund, zwanzig Kilometer nördlich von Malmö

Dr. Sjöberg beeilte sich, sein Büro zu erreichen. Es war das letzte Zimmer am Ende des Ganges, wo kaum Licht hinkam, und besonders geräumig war es darin auch nicht. Ihn störte das nicht, er zog es allemal der unmittelbaren Nähe zum Schwesternzimmer vor, denn die Wände waren nicht besonders dick und ihm fiel deren Geschnatter auch so schon ausreichend auf die Nerven. Ganz besonders allerdings schätzte er die verhältnismäßige Abgeschiedenheit des kleinen Büros.

Besonders, seit sie in sein Leben getreten war.

Das zwischen ihnen war das vollkommene Klischee, na und wenn schon. Sjöberg hatte sich seit Ewigkeiten nicht mehr so lebendig gefühlt. Da war einerseits natürlich das Verbotene an ihrem Arrangement, oder konnte man es schon Affäre nennen? Klar, entschied er und seine Lippen unter dem dünnen Schurrbart verzogen sich zu einem Grinsen. Nennen wir es ruhig eine Affäre, denn schließlich kam sie öfter her, die Kleine schien gar nicht genug von ihm bekommen zu können.

Dr. Sjöberg stellte also zufrieden fest, dass er eine Affäre hatte. Mit einer Studentin. Einer ausgesprochen attraktiven Studentin, wohlgemerkt, oder war sie inzwischen Doktorandin? Sie hatte es ihm gesagt, das wusste er, aber er war viel zu sehr abgelenkt gewesen, um ihr richtig zuzuhören, und das Merken von Nebensächlichkeiten hatte noch nie zu seinen Spezialitäten gehört.

Im Nachhinein wunderte er sich nur, dass er so lange gebraucht hatte, um sich einzugestehen, dass die Kleine ihn wollte. Da konnte man sehen, was die Ehe aus den Männern machte. Aber sie, dieser süße Wirbelwind, hatte ihm sein Selbstvertrauen wiedergegeben. Und seine Manneskraft dazu, oh ja. Sie hatte ihm von Anfang an Signale gesendet, und im Nachhinein betrachtet waren diese sogar ausgesprochen deutlich gewesen.

Woran er sich hingegen auch unter vorgehaltener Waffe vermutlich nicht hätte erinnern können, war, wann er das letzte Mal mit seiner Frau geschlafen hatte. Noch so eine Unwichtigkeit, die zu merken sich nicht lohnte. Vielleicht, überlegte er, hatte ihn aber auch genau das in den Augen der Kleinen attraktiv gemacht: Er war verheiratet, unerreichbar, eine verbotene Frucht – und damit unwiderstehlich. So liefen diese Dinge schließlich. Man musste keinen Doktorgrad der Psychologie besitzen, um solche simplen Zusammenhänge zu begreifen. Aber es half natürlich.

Sjöberg beschleunigte seinen Schritt in froher Erwartung. Heute war Dienstag, und sie würden sich nach seiner Mittagspause sehen.

Er grinste. Ach ja, die Wunder der menschlichen Psyche, und endlich lohnte sich die Sache mal für ihn. Sollte die Kleine sich doch ihren Vater dabei vorstellen, der sie immer vernachlässigt hatte, oder sonst wen, dessen Akzeptanz ihr verwehrt geblieben war, solange er dabei nur auf seine Kosten kam. Nicht nur besaß das Mädchen einen Körper zum Niederknien, sondern schien sie auch über keinerlei Schamgrenze oder Tabus zu verfügen, zumindest keine, die er auch nur im Ansatz auszuloten gewünscht hätte.

Was sie für ihn, abgesehen von ihrer unbestreitbaren äußerlichen Attraktivität, so anziehend machte, war die Tatsache, dass ihr schlicht egal zu sein schien, was er mit ihr anstellte. Sie nahm es einfach hin, bot sich dar, steckte es weg – und das fand er ausgesprochen sexy.

Selbstverständlich wurde auch sie spitz davon, von ihm auf diese Weise benutzt zu werden, was sie ihn deutlich spüren ließ, bis sie mit beinahe beängstigender Regelmäßigkeit gemeinsam mit ihm kam. Er konnte sich nicht erinnern, seiner Frau überhaupt jemals einen Höhepunkt beschert zu haben, bei ihr klappte es jedes Mal. Sie langte sich sogar zwischen die Beine und machte es sich selbst, während sie ihm einen blies, beispielsweise.

Was für ein herrlich versautes, kleines Luder.

Und natürlich bekam auch er jedes Mal, was er wollte, einmal hatte sie es sogar zwei Mal hintereinander geschafft, ihn zum Höhepunkt zu bringen. Wahnsinn. Warum nur war ihm dieses sexuelle Wunderkind nicht schon früher begegnet?

Ungeduldig fummelte Sjöberg den Schlüssel in das Schlüsselloch seiner Bürotür.

Einmal, am Anfang ihres Stelldicheins, hatte er ihr sogar Blumen mitgebracht, weil er das für angebracht gehalten hatte. Sie hatte die Dinger keines Blickes gewürdigt – während ihres stürmischen Liebesspiels war die Vase vom Schreibtisch gefallen und zu Bruch gegangen, und keinen hatte es gekümmert. Er hatte später die Scherben und die Blumen zusammengekehrt und zukünftig auf das Mitbringen von Geschenken verzichtet.

Umso besser.

Man musste den Tatsachen ins Auge blicken: Sie wollte ja gar nicht, dass er sich um sie scherte. Ihr ging umso mehr einer ab, je weniger Interesse er an ihr zeigte, auch wenn ihm das zunehmend schwerer fiel.

Sjöberg bemerkte, dass die Tür nicht verschlossen war. Sollte er es vergessen haben?

Sein Grinsen wurde breiter. Die Vitalität und der hemmungslose Sex waren die eine Sache, aber er begann allmählich, sich wie ein verliebter junger Bursche zu benehmen, kaum noch fähig, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Scheiß drauf, wischte er den Gedanken weg, und wenn schon.

Dann öffnete er die Tür.

»Hallo Doktor.«

Sie war hier.

Saß hinter seinem Schreibtisch, halb verdeckt durch den Computerbildschirm.

Er leckte sich über die Lippen. Spürte, wie das Blut förmlich in seine unteren Regionen schoss und sich dort bereits etwas aufzurichten begann.

Sie stand auf und er bemerkte, dass sie ihren Rock bereits abgestreift hatte. Darunter trug sie nicht etwa rote oder schwarze Spitzenunterwäsche oder ein Seidenhöschen, sondern einen einfachen weißen Baumwollslip, der – zu allem Überfluss – mit kleinen Herzchen bedruckt war. Die Art, wie sie seine Tochter getragen hatte, vor vielleicht zehn Jahren. Bloß, dass sie der nicht halb so gut gestanden hatten. Er spürte, wie sein Penis bei diesem Anblick förmlich aufschnappte wie die Klinge eines Schnappmessers.

»Oh, Gott!«, stöhnte er und drückte die Tür hinter sich ins Schloss.

Allein die Vorstellung, wie sie da auf seinem Bürostuhl gesessen hatte, mit nackten Schenkeln und nichts als diesem Fetzen Stoff über ihrem blitzeblank rasierten Allerheiligsten. Sein Schwanz fühlte sich an, als wollte er bersten.

Sie schenkte ihm einen gespielt unschuldigen Blick und ließ ihre rechte Hand dann langsam an ihrem Körper hinabgleiten, bis sie den Bund ihres Höschens erreichte. Dann schob sie aufreizend langsam zwei Finger hinein.

»Ich habe schon angefangen, während ich auf dich gewartet habe, Doktor«, sagte sie lächelnd. »Bist du jetzt böse mit mir?«

Er schaffte es gerade noch, die Tür hinter sich abzuschließen, dann stürzte er sich auf sie.

Und zeigte dem Mädchen, wie böse der Doktor mit ihr war.

Neunzehn

Polizeirevier Malmö-Süd

»Elsa«, sagte Agnes, »hej. Noch mal.«

»Hej Agnes.«

Die beiden Frauen hatten sich auf dem Gang des Reviers wiedergetroffen, nachdem die meisten Polizisten vom Tatort zurückgekehrt waren. Agnes hatte Elsa zugenickt und dann in Richtung der Kaffeeküche gezeigt. Die war selbstverständlich nicht leer gewesen, aber als Agnes eingetreten war, hatten die anwesenden Polizisten sich eilig zurück in die Büros begeben. Es gab derzeit sonst keinen Ort auf dem Revier, um sich ungestört unterhalten zu können.

Leise schloss Agnes die Tür hinter ihnen.

»Tut mir leid«, sagte Agnes, »aber das ist im Moment der einzige Raum, in dem wir so etwas wie Ruhe haben. Zumindest für einen Moment.«

»Verstehe«, sagte Elsa. »Sogar Henrik musste ja das Büro räumen.«

Agnes nickte.

»Kaffee?«

Elsa nickte und Agnes wandte sich der Kaffeemaschine zu.

»Der wird nur nicht besonders gut sein, fürchte ich. Hat sich nicht viel getan, seit du das letzte Mal hier warst, in dieser Hinsicht. Oder in irgendeiner anderen.«

»Das macht mir nichts. Er ist stark, darauf kommt’s an, oder?«

»Richtig«, sagte Agnes, als sie sich mit zwei gefüllten Tassen umdrehte und eine davon Elsa hinhielt.

»Ist es dir unangenehm?«, fragte Elsa. Es gab schließlich keinen Grund, sich mit Small Talk aufzuhalten, da konnte sie auch gleich zur Sache kommen.

»Was?«, fragte Agnes und kniff lächelnd die Augen zusammen. Vielleicht war es ja doch ein wenig zu direkt gewesen. »Was soll mir unangenehm sein?«

»Dass mich Henrik in die Sache reingezogen hat. In die Ermittlungen. Deine Ermittlungen, ich meine …«

»Henrik hat den eigentlichen Hut auf, Elsa, das weißt du. Ich bin im Moment nur … ich weiß auch nicht. So eine Art repräsentativer Leiter der ganzen Sache. Und aller anderen, die gerade auf meinem Tisch liegen, und das sind nicht wenige. Also mach dir keine Sorgen. Wir alle schätzen deine Hilfe, auch ich.«

»Klar, ist klar«, sagte Elsa und verzog das Gesicht, nachdem sie einen Schluck von dem Gebräu in der Tasse genommen hatte.

»Furchtbar, wie?«, fragte Agnes lächelnd.

»Ziemlich«, sagte Elsa und lächelte auch ein bisschen.

»Henrik hat das Richtige getan, weißt du? Tut er übrigens meistens, wenn du es genau wissen willst. Er wird mal ein guter Revierchef werden.«

Elsa bemerkte das Lächeln, das ihr Agnes schenkte, aber auch das andere, das in ihrem Blick lag. Eine Andeutung, mehr nicht. So etwas wie Schmerz? Wusste sie etwa Bescheid? Nein, entschied Elsa dann, das absolut Vorherrschende unter diesem Lächeln war einfach Müdigkeit. Und dafür hatte Agnes im Moment wahrlich jede Menge Gründe.

»Ich habe von der Sache mit dem Iraker gehört«, sagte Elsa.

»Ach, na toll. Du also auch.«

»Ändert das irgendwas?«

Agnes schnaubte verächtlich. »Außer, dass meine Karriere deswegen auf dem Spiel steht? Außer, dass mir Nyström vorhin unmissverständlich klargemacht hat, dass ich den Buhmann für sie spielen werde, sollte uns die Sache um die Ohren fliegen? Außer dem? Warte, ach ja, meine Ehe liegt in Trümmern und meinen Sohn habe ich das letzte Mal vor ein paar Tagen gesehen. Ich schlafe vielleicht zwei Stunden jede Nacht, und auch das nur mit Schlafmitteln. Reicht das?«

Agnes’ Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, aber sie wandte den Blick nicht von Elsa ab.

Elsa stellte ihre Tasse auf dem Tisch ab und ging auf Agnes zu. Für den Bruchteil einer Sekunde wich diese vor ihr zurück, doch dann ließ sie die Umarmung zu.

»Tut mir leid«, sagte Elsa. »Ich wusste das nicht, zumindest nicht alles. Sag mir, was ich tun kann.«

Sie spürte, wie Agnes’ Gesicht sich an ihrer Schulter bewegte, als diese den Kopf schüttelte. Aber es stimmte, wie hätte ihr Elsa schon helfen sollen?

Elsa trat einen Schritt zurück und zog dann lächelnd ein großes weißes Taschentuch aus ihrer Hosentasche, das sie Agnes reichte.

»Danke«, sagte diese und tupfte sich tapfer die Tränen weg. »Furchtbar. Wie ein kleines Mädchen, was?«

Elsa schwieg. So gern hätte sie Agnes noch mehr gesagt, irgendwelche weisen Worte oder Ratschläge mit auf den Weg gegeben, doch sie wusste nur zu gut, wie vergebens die jetzt waren. Agnes würde allein da durch müssen. Aber das würde sie.

»Du packst das«, sagte Elsa. »Du bist stark.«

Dann nahm sie sich wieder den Kaffeepott vom Tisch. Wenigstens taugte das Zeug, sich die Hände dran zu wärmen.

»Na ja«, sagte Agnes und nahm einen Schluck von dem scheußlichen Gebräu in ihrer Tasse, ohne mit der Wimper zu zucken. »Zumindest werden wir bald wissen, wie stark ich wirklich bin.«

Elsa nickte.

»Also dann ziehe ich das Angebot meines Ausstiegs aus den Ermittlungen hiermit zurück.«

»Ist mir recht, Elsa.«

»Sehen wir zu, dass wir diesen Fall so schnell wie möglich lösen, und ich werde dazu beitragen, was ich kann. Für den Moment kann Freja meine Vorlesungen bei den unteren Semestern übernehmen, und für den Rest fällt mir auch etwas ein.«

»Danke«, sagte Agnes und gab Elsa das Taschentuch zurück. »Wie sehe ich aus?«

»Blendend«, grinste Elsa sie an.

»Blödmann«, murmelte Agnes. Dann straffte sie ihren Oberkörper, setzte ein Lächeln auf und trat hinaus in den Gang. Elsa folgte ihr kurz darauf.

11. November

Zwanzig

Malmö-Rosengård

Arne Dahlberg versuchte, nicht an das Quietschen zu denken. Es funktionierte nur nicht besonders gut, das Geräusch bohrte sich immer wieder in seinen Kopf.

Die Tatsache, dass er gestern vielleicht ein paar Bier zu viel gekippt hatte und seit den frühen Morgenstunden von mörderischen Kopfschmerzen geplagt wurde, machte die Sache sicherlich nicht besser. Blieb das Geräusch. Metall auf Metall, da gab es keinen Zweifel. Irgendetwas schleifte da, vermutlich hinten an der Verriegelung. Wieder mal.

An Arnes Müllauto war ständig irgendwas kaputt. Es war ja auch klar, dass sie ihm für diese Tour nicht gerade die neuesten Fahrzeuge zur Verfügung stellten. Rosengård, wer wollte da schon den Müll abholen? Oder überhaupt hin?

Zumindest besser, als da zu wohnen, das war Arne Dahlbergs lakonische Meinung zu diesem Thema.

Andererseits gab einem diese Tour auch gewisse Freiheiten. So interessierte es beispielsweise niemanden, wenn mal der eine oder andere Container ungeleert blieb. Keiner kam nach Rosengård, um so etwas zu kontrollieren. Nicht mal die Hausverwaltung, welche die Müllgesellschaft immerhin für das Leeren bezahlte. Vermutlich hatten sie alle Hände voll mit eingeschlagenen Fensterscheiben und vollgeschmierten Fahrstuhlkabinen zu tun. Nein, im Großen und Ganzen konnte man mit dieser Tour zufrieden sein, fand Arne. Die Bezahlung stimmte ja auch, und so schlimm war die Strecke eigentlich gar nicht – zumindest nicht tagsüber, besonders in den frühen Morgenstunden, da war es nämlich wie ausgestorben. Klar, dachte Arne Dahlberg, während sich andere auf den Weg zur Arbeit machten, drehten sich die Arbeitslosen in Rosengård wahrscheinlich noch mal im Bett auf die andere Seite. Vierundsechzig Prozent Arbeitslosenquote, das hatte Arne in der Dagbladet gelesen. Da gab es wahrlich wenig Grund für die Bewohner der Plattenbauten, schon in aller Herrgottsfrühe auf den Beinen zu sein.

Einmal hatten sie ihm eine Topfpflanze, samt Topf und allem, auf das Fahrzeug geworfen. Konnte aber auch sein, dass das Ding von ganz allein von irgendeinem Balkon gefallen war. Außer einem Mordsschrecken und einer weiteren Delle im verbeulten Dach der Fahrerkabine war die Sache aber sehr glimpflich ausgegangen. Selbst in Rosengård wollten sie schließlich nicht an ihrem eigenen Müll ersticken und Müll, oh ja, den gab es genug.

Aus dem metallischen Quietschen war mittlerweile ein regelrechtes Kreischen geworden, das Arne Dahlberg nun ernsthaft an den Nerven zerrte. Verdammt. Bei der nächsten Station würde er anhalten und nachsehen müssen, was da los war, da half alles nichts. Keine Chance, das noch die nächsten fünf Stationen durchzuhalten.

Vielleicht hatten sie ja einen Stuhl oder so was in einen der Container gestopft, und jetzt klemmte das Ding an der Entladeklappe fest. Es wäre nicht das erste Mal, dass so was passierte. Diesen Typen waren Begriffe wie Mülltrennung oder gar Sperrmüll völlig unbekannt.

Als Arne den von Lingens väg erreichte, steuerte er auf die Müllcontainer zu, die dort am Straßenrand – und teilweise auch mitten auf dem Fußweg – standen und hielt an. Seufzend betrachtete er die wild umherstehenden Container. Früher waren sie immer mindestens zu dritt gewesen und hatten die Container gemeinsam auf die Hebevorrichtung hieven müssen, doch nun, aufgrund der modernen Kippvorrichtungen am Heck des Wagens schaffte das einer allein.

Bevor er sich den Abfalltonnen am Straßenrand widmete, wandte Arne seine Aufmerksamkeit der Ladeklappe am hinteren Ende des Fahrzeugs zu. Die stand eine gute Handbreit auf, na also. Da klemmte tatsächlich was, das geübte Auge sah das gleich.

Arne betätigte den Hebel mit dem roten Knauf, die Notentladung. Normalerweise, das heißt, in anderen Stadtteilen von Malmö, wäre die Folge eine ziemlich aufwendige Aktion gewesen, die darin bestanden hätte, den gesamten Müll, der noch in der Ladeklappe klemmte, im Anschluss an die Notöffnung von der Straße aufzusammeln und zurück in den Containerwagen zu werfen, gefolgt vom Zusammenkehren des Kleinkrams.

So was konnte einen gut und gerne eine halbe Stunde kosten, sprich: Die gesamte Mittagspause, die sie ihm heutzutage noch gönnten. Na ja, bloß gut, dass das nicht nötig war, da lag der Müll ja sowieso an jeder Straßenecke herum und keinen kümmerte das. Ein bisschen mehr Unrat fiel da gar nicht auf.

Die Ladeklappe senkte sich ab und Arne erkannte den Übeltäter sofort. Ein Fahrradrahmen, verbogen und völlig verrostet, klemmte am oberen Ende der Ladeklappe fest und hatte demnach das Geräusch verursacht.

Klassischer Fall von Sperrmüll, dachte Arne, so was gehört nicht in die Tonne, aber die lernen das sowieso nicht mehr – vermutlich konnten die meisten, die hier lebten, die Schilder über den Müllkästen noch nicht einmal lesen.

Arne rüttelte an dem Fahrradrahmen und betätigte gleichzeitig nochmals den Nothebel, bis das Ding schließlich nachgab und sich aus seiner Verklemmung löste.

Der Rahmen fiel nach innen, in das weiche Bett aus Müll, das sich in der großen Klappe angesammelt hatte. Er würde warten müssen, bis der Nothebel die Klappe ganz nach unten gefahren hatte, bevor er sie wieder schließen konnte, aber immerhin würde es anschließend kein Quietschen mehr geben – ein annehmbarer Preis für diese Verzögerung.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739428451
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (September)
Schlagworte
kinder schweden psychopath mord krimi mörder gewalt entführung thriller killer Psychothriller

Autor

  • L.C. Frey (Autor:in)

„Die ersten Plätze in den Bestsellerlisten ist er gewohnt, in den Kategorien Suspense und Psychothriller rangiert er meistens auf Platz 1. Viele Auszeichnungen schmücken seine Vita. Bestseller-Autor L.C. Frey ist […] sehr bekannt für seine Krimis und Horrorthriller.“ – Angela Baur, Tolino Media Blog
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Titel: Todeszone: Tatort Malmö