»Es ist furchtbar«, sagte Lasse Ekberg, »einfach nur schrecklich. Dass so etwas an unserer Schule passiert sein soll. Hier, in Eksjö.« Er schüttelte den Kopf. »Einfach unvorstellbar ist so was.«
Kommissar Björklund nickte zustimmend und griff dann nach dem Kaffee, den ihnen die Frau des Lehrers auf den Tisch gestellt hatte. In schicken, handgetöpferten Tassen, die offenbar zu einem Set der eher kostspieligen Sorte gehörten.
»Wie meinen Sie das, Lasse?«, wollte Elsa wissen und fing sich einen warnenden Seitenblick von Björklund ein, den sie geflissentlich ignorierte. »Ich darf doch Lasse sagen?«
»Ja, klar«, sagte der Sportlehrer und schenkte Elsa ein einnehmendes Lächeln. »Ich meine, man liest so was ja manchmal in der Zeitung, klar. In Großstädten passiert so was. Aber hier, ich meine, da kennt man sich doch. Ich bin selbst hier zur Schule gegangen, und die Eltern der meisten Kinder ebenfalls. Ich meine …«
»Ich verstehe.«
Ekberg nickte.
»Also, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand aus Eksjö so was tun würde. Vielleicht einer von den Sommertouristen, also, ich will da niemanden schlechtreden, es ist nur einfach … man kennt die eben nicht. Aber wir im Dorf hier …«
»Ihr seid alle eine große Gemeinschaft.«
Elsa lächelte ihn an.
»Ja«, sagte Lasse Ekberg und nickte zustimmend. »Genau.«
Seine Frau legte ihm die Hand aufs Knie, tätschelte es einmal und zog sie dann wieder weg. Interessant, dachte Elsa.
»Es ist ja auch noch gar nicht raus, ob der Junge wirklich …«, begann Björklund zu beschwichtigen. »Ich meine, es besteht die Möglichkeit, dass er sich das alles nur ausgedacht hat. Um irgendwem eins auszuwischen oder so, du weißt doch, wie sie sind in dem Alter.«
»Verstehe.«
»Wir waren ja selbst nicht immer die reinsten Engel, oder?«, sagte Björklund in jovialem Ton. Ekberg lächelte und legte nun seinerseits die Hand auf den Oberschenkel seiner Frau, wo sie liegen blieb.
Na prima, dachte Elsa, Kommissar Björklund ist also ebenfalls an diese Schule gegangen. Hätte mich nicht überraschen sollen. Schließlich kennt man sich hier.
Vom oberen Ende der Treppe war ein Geräusch zu hören und als Elsa hochsah, bemerkte sie das Gesicht eines kleinen Mädchens, das mit großen Augen zwischen den Stäben des Geländers zu ihnen hinunterblickte. Offenbar die Tochter der Ekbergs.
»Das ist Marie«, sagte Ekberg. »Sie ist fünf.«
Alle lächelten ein bisschen und schließlich verschwand das Gesicht der Kleinen wieder. Seine Frau, fiel Elsa auf, hatte zu der gesamten Konversation noch kein Wort beigetragen. Er hatte sie ihnen noch nicht einmal vorgestellt, was ja zumindest bei Björklund auch gar nicht nötig war.
»Gut, Lasse …«, sagte Elsa und stellte ihre Kaffeetasse ab. Machte dann Anstalten, aufzustehen. Genauso hatten sie es schon bei den vier Besuchen gemacht, die sie an diesem Nachmittag bereits hinter sich hatten, und allmählich war ihr jede Lust auf hausgemachten Kaffee vergangen. Björklund hatte sie dabei jedes Mal als Unterstützung aus Malmö vorgestellt. Da hätte er auch gleich sagen können: Eine aus der Großstadt, die sich einmischen will. Haltet bloß die Klappe!
Dementsprechend groß war der Enthusiasmus der Leute gewesen, ihre Fragen zu beantworten. Aber höflich waren sie alle, da war auch Ekberg keine Ausnahme, den ihr Björklund als den Sportlehrer des Jungen vorgestellt hatte. Allerdings, einen Unterschied hatte es schon gegeben.
Elsa stand auf.
Ekberg nahm die Hand vom Oberschenkel seiner Frau, blieb aber sitzen. Die Frau zog ihren Rock glatt und entfernte eine unsichtbare Fussel.
Auch Björklund wuchtete seinen mächtigen Leib aus dem Sessel. Seinem Gesicht war deutlich anzusehen, was er von der ganzen Sache hielt. Vermutlich hatte er gänzlich andere Pläne fürs Wochenende gehabt, bis Filip sie ihm vermasselt hatte. So ein Pech aber auch für ihn.
»Äh, Lasse«, sagte Elsa, während sie sich zur Tür umwandte. »Eins noch, bitte.«
»Klar«, sagte Lasse, »was denn?«
»Sie hatten Filip in der fünften Stunde, das war seine letzte an der Schule, richtig?«
»Wenn Sie das sagen«, sagte Lasse und deutete ein entschuldigendes Lächeln an. »Ich hab ja nicht die Stundenpläne aller meiner Schüler im Kopf.«
»Natürlich nicht.«
Elsa lächelte verständnisvoll, dann kramte sie umständlich ein kleines Notizbuch aus der Tasche, öffnete es und blätterte in den Seiten, die allesamt unbeschrieben waren. Dann tat sie so, als hätte sie eine bestimmte Notiz gefunden.
»Er hat mit mir Verstecken gespielt«, murmelte sie nachdenklich, während sie den Blick nicht von Lasse Ekbergs Hand ließ. Exakt, als sie das Wort Verstecken erwähnte, hatte sich diese unwillkürlich den Oberschenkel seiner Frau gepackt. Eine winzige Bewegung nur, die außer Elsa niemandem auffiel, aber eine verräterische.
»Wie bitte?«, fragte Ekberg, so als hätte er Elsas Gemurmel nicht verstanden. Aber er hatte.
»Verstecken«, wiederholte Elsa und blickte dem Lehrer jetzt direkt in die Augen. »Hab es gerade noch mal nachgesehen. Er hat gesagt, dass er mit mir Verstecken spielen will. In dem Haus. Das waren Filips exakte Worte.«
»Ja, und …?«, schnappte Lasse und auch Björklund musterte Elsa jetzt mit gerunzelter Stirn. Natürlich hatte Filip nichts dergleichen gesagt, aber das konnte der Kommissar ja nicht wissen und Ekberg schon gar nicht.
»Ja«, sagte sie in einem beiläufigen Ton. »Und dann hat Filip uns verraten, wo sich das Versteck befindet. Er sagte …«
Lasse Ekbergs Blick zuckte nur für den Bruchteil eines Augenblicks zur Seite, aber das genügt Elsa.
»Der Keller«, sagte sie, und Ekberg wurde blass. Seine Frau verzog schmerzerfüllt ihr Gesicht, als er seine Finger in ihren Oberschenkel krallte.
»Lasse!«, stöhnte sie leise, doch der Mann schien sie gar nicht zu hören. Er starrte Elsa aus weit aufgerissenen Augen an. Augen, in denen Begreifen zu dämmern begann. Begreifen, dass er soeben in eine Falle getappt war.
Elsa drehte sich zu Björklund um. Dessen Gesichtsausdruck war ein einziges Fragezeichen. Offenbar begriff er überhaupt nichts.
»Was für ein Keller, Elsa?«
»Den Keller der Ekbergs. Da hinten im Flur ist der Zugang, nicht? Den sollten wir uns mal ansehen, finde ich.«
Ein weiterer Blick auf den Sportlehrer zeigte ihr, dass dieser noch ein bisschen blasser geworden war. Seine Pupillen waren deutlich geweitet und zuckten zwischen ihrem Gesicht und dem Björklunds hin und her. Und ich wette, dachte Elsa, deine Handflächen sind jetzt schwitzig wie die einer Jungfrau beim ersten Mal. Dann fiel ihr auf, dass das ein reichlich pietätloser Vergleich war angesichts dessen, was der Sportlehrer vermutlich getan hatte.
Nein, dachte sie, nicht vermutlich. Jetzt nicht mehr. Jetzt bin ich mir sicher.
»Lasse, du tust mir weh!«, zischte die Frau des Sportlehrers und wie abwesend wandte der Mann den Blick langsam hinab zu seiner Hand. Die Knöchel seiner Finger traten weiß hervor. Er ließ ihren Schenkel los, was ihn einige Anstrengung zu kosten schien.
Und ungefähr da begann es auch seine Frau zu begreifen.
»Lasse, du …?«, hauchte sie mit versagender Stimme.
Lasse sagte gar nichts mehr.
Er fragte nicht mal nach einem Durchsuchungsbefehl, was sein gutes Recht gewesen wäre. Wenigstens, dachte Elsa, ist er kein Profi. Auch wenn das freilich ein schwacher Trost ist. Typen wie der, wenn man sie nicht stoppt, machen nämlich immer weiter. Und sie werden jedes Mal besser bei dem, was sie tun.
Ekberg schwieg auch noch, als sie gemeinsam in den Flur traten. Da war eine Holztür, gleich neben den Kleiderhaken, an denen ihre Mäntel hingen. Dorthin war sein Blick gezuckt, als Elsa gesagt hatte, dass der Junge ihr erzählt hatte, wo im Haus sich das Versteck befinden würde.
Die Tür öffnete sich ohne das geringste Geräusch, offenbar wurden die Scharniere regelmäßig geschmiert.
»Wo … äh, wo ist das Licht?«, fragte Björklund.
Er klang ungefähr so schockiert, wie Lasse Ekberg gerade ausgesehen hatte. Auch Björklund ist also offenbar kein Profi, dachte Elsa, aber das würde schon bald nicht mehr ihr Problem sein.
Der Sportlehrer deutete auf eine Kordel, an deren unterem Ende eine Glasperle hing, und Björklund zog daran.
Als das Licht anging, offenbarte der Keller eine Ansammlung höchst unauffälliger Alltagsgegenstände. Eine Waschmaschine stand hier unten, nebst einem kleinen Schrank, der vermutlich die dazugehörigen Utensilien wie Waschmittel und dergleichen enthielt. Ein ausgedienter PC unter einer Staubabdeckung. Einer von diesen Hometrainern, im guten Vorsatz gekauft, dann rasch zum Staubfänger geworden.
»Keine Werkbank, wie?«, fragte Elsa, und Björklund fuhr zu ihr herum.
In seinem Gesicht zeichnete sich seine Verwirrung allzu deutlich ab. Offenbar hatte er erwartet, dass sie hier unten von einer Ansammlung belastender Beweise begrüßt werden würden, und nun, da das offenbar nicht der Fall war, befürchtete er vermutlich erneut, bei der hiesigen Bevölkerung in Ungnade zu fallen, weil er auf die Psychotante aus der Stadt gehört und den Keller eines gänzlich Unschuldigen durchsucht hatte.
»Keine Männersachen, meine ich«, sagte Elsa und deutete auf den Keller. »Wir sollten schauen, ob es nicht vielleicht einen weiteren Raum gibt.«
Es gab einen, und sie mussten sogar eine Weile danach suchen. Was Elsa mit einer stummen Befriedigung erfüllte. Selbst sie hatte bisher wenig mehr als Indizien zutage gefördert, aber die Tatsache, dass der Mann sie bei ihrer Suche nicht unterstützte, war praktisch einem Schuldeingeständnis gleichzusetzen. Offenbar hielt sich in ihm nach wie vor die trügerische Hoffnung, sein alter Schulfreund würde die Sache einfach auf sich beruhen und ihn vielleicht mit einem blauen Auge davonkommen lassen, wenn er nur lang genug stur blieb.
Aber nicht, wenn ich mit dabei bin, dachte Elsa voll stummer Befriedigung, nicht mit der Psychotante aus der Stadt an seiner Seite.
Letztlich fanden sie den Durchgang hinter einem Gestell, das als eine Art Garderobe diente. Ein paar ausgediente Wintermäntel hingen unter einer Plane und verbargen so die dahinterliegende Tür, während sie gleichzeitig den Anschein erwecken sollten, diese wäre ohnehin seit Jahren nicht benutzt worden. Kein besonders ausgefuchstes Versteck, dachte Elsa, aber um ein Haar hätte es dennoch genügt, damit Björklund die Sache abgeblasen hätte. Sie schüttelte den Kopf und damit den spekulativen Gedanken ab, was unter Björklunds Aufsicht noch so alles unbemerkt geblieben war im idyllischen Eksjö.
Besser, nicht darüber nachzudenken.
»Wollen Sie oder sollen wir, Lasse?«, fragte Elsa und verkniff sich dabei jeden Spott. Nicht schwer, wenn man bedachte, weswegen sie hier unten waren. Schließlich hatte der Mann ein bisschen mehr getan als heimlich Schnaps zu brennen oder den Staat um ein paar Steuergelder zu prellen.
Ekberg versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu fummeln, doch seine Hände zitterten so stark, dass der Schlüssel zu Boden fiel, wo er klirrend aufschlug.
Elsa hob ihn auf und steckte ihn ins Schloss, wobei sie darauf achtete, nichts außer dem Schlüssel selbst zu berühren. Björklund war da weniger behutsam. Kaum hörte er das Klicken, mit dem das Schloss aufsprang, packte er die Klinke und zog die Tür vollends auf.
»Scheiße …«, entfuhr es ihm.
Als Elsa an seinen breiten Schultern vorbei ins Innere der kleinen Kammer lugte, konnte sie ihm nur beipflichten.
Der Raum war offenbar mal als kleine Werkstatt angelegt gewesen. Die Werkbank stand noch hier, ebenso ein an die Wand geschraubtes Gitter, an dem man Werkzeuge befestigen konnte. Doch nun hatte das Gitter eine andere Verwendung gefunden. Statt Hämmer, Zangen und Sägen hingen körnige Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die allesamt Kinder zeigten, die meisten davon Jungen, keiner älter als zehn Jahre.
Nichts allzu Verfängliches auf den ersten Blick, denn die Kinder trugen allesamt Kleidung, zumeist Sportsachen. Was die Aufnahmen so furchterregend machte, war die Tatsache, dass die Kinder offenbar nicht mitbekommen hatten, dass sie fotografiert worden waren. Das zusammen mit der Grobkörnigkeit der Bilder ließ darauf schließen, dass Lasse Ekberg die Fotos heimlich gemacht hatte, während sie sich nach dem Sportunterricht umgezogen hatten.
Elsas Blick schweifte weiter durch den Raum.
Die Werkbank war mit einem breiten Streifen weißen Papiers abgedeckt worden und darauf lagen Schlüpfer, aber auch Sportbekleidung – auch diese offensichtlich in Kindergrößen, säuberlich nebeneinander aufgereiht wie Stücke einer Ausstellung. Zu jedem Exponat gehörte ein kleines Papierschild. Als Elsa näher trat, konnte sie darauf die Namen von Kindern lesen, offenbar allesamt Ekbergs Schüler. Der Mann musste diese aus den Schränken in der Umkleide gestohlen haben.
In diesem Moment brach Ekberg ächzend im Türrahmen zusammen. Niemand kümmerte sich um ihn.
»Da haben Sie das Versteck«, sagte Elsa. »Und falls das nicht genügt …«
Sie deutete auf eine Videokamera, die auf einem Stativ in der Ecke stand, ein kleines silbernes Ding mit einem ausklappbaren Display. Nicht eben das neueste Modell. Vielleicht vor Jahren gekauft, um Familienausflüge festzuhalten, und dann vergessen worden wie der Hometrainer im Raum nebenan. Vielleicht, dachte Elsa düster, hat er damit die Geburt seiner Tochter aufgezeichnet, oder das erste Mal, dass sie ihn Papa genannt hat.
Sie ging zu der Kamera und klappte das Display aus, dann drückte sie die mit Play beschriftete Taste. Das Display blieb schwarz. Sie betätigte die Rückspulen-Taste, und ein Junge, der über eine Waldlichtung flitzte, kam ins Bild. Das hätte lustig aussehen können, denn seine Bewegungen waren abgehackt und viel zu schnell und außerdem schien er rückwärts zu laufen.
Es war kein bisschen lustig.
»Es ist Filip«, sagte Elsa.
Der Mann, der hinter ihnen auf dem Boden lag, begann zu schluchzen.
»Ich … also wir haben doch nur … ich wollte ihm doch gar nichts tun.«
Wortlos zerrte Björklund ihn auf die Füße. Seine große Hand packte den Lehrer einfach am Genick, schleifte ihn durch den Raum zurück zur Treppe. Ohne ein weiteres Wort stieß der Kommissar den Sportlehrer die Stufen hoch.
Nach einem letzten Blick auf die widerliche Sammlung folgte Elsa ihnen nach oben.
Der Rest lag jetzt an Filip, beziehungsweise hing vieles davon ab, was er noch aussagen würde, falls und wenn er wieder zu reden begann. Elsa hoffte, dass der Junge seine Sprache wiederfinden würde, wenn er begriff, dass Lasse Ekberg ihm nichts mehr würde tun können. Wenn er das denn jemals wirklich begreifen würde.
Oben verpasste der Kommissar Lasse Ekberg ein Paar Handschellen, aber das bekam dieser vermutlich gar nicht mehr richtig mit. Sein trüber Blick traf die panisch aufgerissenen Augen seiner Frau, die ihre kleine Tochter an sich presste. Als er an ihnen vorbei zur Haustür geführt wurde, kam Ekberg aber noch einmal zurück ins Hier und Jetzt.
Als er an Elsa vorüberging, drehte er den Kopf und spuckte ihr mitten ins Gesicht. Dann ließ er sich widerstandslos abführen, beobachtet von den stummen Augen der Familie und der anwesenden Polizisten. Ekberg starrte seine Haustür an, die er vermutlich zum letzten Mal für eine ganze Weile sehen würde, dann öffnete Björklund diese und schob ihn nach draußen. Die Tür fiel schwer hinter den beiden Männern ins Schloss.
»Darf ich mal Ihr Badezimmer benutzen?«, fragte Elsa und die Ehefrau des Lehrers deutete wortlos in den Flur.
Elsa fand das Badezimmer, öffnete die Tür, schloss sie hinter sich und schob den kleinen Riegel vor. Sie stakste zum Waschbecken, legte die zitternden Finger auf den Rand und blickte in den Spiegel.
Was ihr entgegenschaute, war ein blasses Gesicht mit zitternden Lippen und Augen, die aus einer Spur zu viel Pupille zu bestehen schienen. Und einem feuchtglänzenden Fleck auf der Wange.
Ruhig, sagte sie sich, es ist überhaupt nichts. Nur ein weiterer Fall. Nichts weiter. Nur ein weiteres Schwein hinter Gittern.
Sie atmete ein.
Aus.
Ein.
Aus.
Besser.
Ihre Finger hatten aufgehört zu zittern oder sie zitterten jetzt zumindest nicht mehr so stark. Als sie wieder in den Spiegel schaute, entdeckte sie, dass sie beim Abwischen ihres Gesichts eine Stelle über der linken Braue übersehen hatte. Sie drehte den Wasserhahn auf, um es fortzuspülen, als sie spürte, dass etwas ihre Speiseröhre nach oben schoss, ohne jede Vorwarnung. Sie schaffte es gerade noch, den Klodeckel nach oben zu reißen, der gegen die Wandfliesen knallte, dann brach es geräuschvoll aus ihr heraus.
Als es vorbei war, kniete sie entkräftet vor der Kloschüssel und warf einen angewiderten Blick auf die Reste des Frühstücks, das sie vor ein paar Stunden im Hotel zu sich genommen hatte.
Schade, dachte sie bitter, das ist ein gutes Frühstück gewesen. Das beste vermutlich, das in Eksjö für Touristen zu bekommen war. Denn das war sie, oder? Eine Touristin. Nur auf der Durchreise. Praktisch schon wieder auf dem Weg nach Hause, nachdem sie ihr Werk verrichtet und diese Gemeinde der Ruhe und Eintracht beraubt hatte. Wie ein böser Geist. Wie ein Fluch.
Sie tastete nach dem Knopf und betätigte die Spülung, während sie noch vor der Schüssel kniete. Als ihr Handy klingelte, zog sie es aus der Tasche und lehnte sich sitzend gegen die Wand neben dem Klo.
Es war Henrik.
»Ja?«, sagte sie, nachdem sie das Gespräch angenommen hatte.
»Ich hab dir ein paar SMS geschickt«, sagte Henrik.
»Hab ich gesehen.«
»Oh. Und ich Dummerle dachte, du würdest vielleicht auch zurückrufen.«
»Konnte nicht, war beschäftigt.«
»Verstehe. Geht’s dir gut? Du klingst ein bisschen seltsam, Elsa.«
»Alles gut, muss die Verbindung sein. Ich bin in Eksjö. Die haben hier einen Kinderschänder.«
»Oh.«
»Ja.«
»Und? Ich meine, kommst du gut voran?«
»Bin hier fertig, so gut wie. Sie führen den Kerl gerade ab.«
»Na dann, Glückwunsch!«
»Danke.«
»Und was ist nun mit mir?«
»Mit deinen SMS meinst du?«
»Richtig. Ich weiß nicht, wie Agnes das sieht, aber ich glaube, wir könnten deine Hilfe gebrauchen. Und zwar schon gestern, am besten. Es pressiert ein bisschen, weißt du?«
»Ach nee.«
»Wir stecken hier ziemlich fest. Du würdest mir, also uns einen Gefallen tun, wirklich. Soll ich auf die Knie fallen, damit du kommst?«
»Die Vorstellung hat was«, sagte Elsa und ein kleines Lächeln schlich sich auf ihre blassen Lippen.
»Also? Heißt das, du kommst?«
»Ja, ja. Aber morgen muss ich erst mal an die Uni. Ich habe auch noch einen Brotjob, bei dem ich ab und zu mal auftauchen muss, wie du vielleicht weißt.«
»Klar, weiß ich. Das ist echt spitze, Elsa. Du wärest uns eine große Hilfe. Wenn du es dir nur mal anschauen würdest. Deine Einschätzung abgeben oder so.«
»Okay. Ich bring die Kristallkugel mit.«
»Danke, Elsa. Und …«
»Ja?«
»Fahr vorsichtig, okay?«
»Immer«, sagte sie und legte auf.
Lasse Ekberg saß bereits auf der Rückbank des Streifenwagens, als Elsa aus dem Haus trat. Nur, falls es irgendwer in Eksjö noch nicht mitbekommen hatte, ließ Björklund jetzt die Rundumleuchte auf dem Dach des Wagens laufen. Elsa bemerkte, dass die Gardine hinter dem Fenster am Nachbarhaus beiseitegeschoben wurde und dann in dieser Position verharrte. Bis spätestens heute Abend würde jeder in Eksjö Bescheid wissen. Und dann würden für den Lehrer, seine Frau und ihre Tochter ihre ganz persönlichen Varianten eines Spießrutenlaufs beginnen.
Als er sie erblickte, kam Björklund auf sie zugelaufen und streckte ihr in einer theatralisch anmutenden Geste die Hände hin. So ganz anders als noch vor einer halben Stunde, dachte Elsa. Aber auch das erlebte sie nicht zum ersten Mal.
»Ich muss dir danken, Elsa. Das hast du wirklich toll gemacht.«
Klingt, als wäre ich ein Kind und hätte einen erstklassigen Purzelbaum hingelegt oder versucht, mein erstes Pferd zu malen, dachte Elsa.
»Danke«, sagte sie knapp.
»Sag mal einer, Psychologen wären zu nichts nütze.«
»Ja. Sag mal einer.«
Elsa hätte schwören mögen, dass exakt das vor ein paar Minuten noch die vorherrschende Meinung in Björklunds Kopf gewesen war.
»Ihr hängt das ja ganz schön an die große Glocke«, sagte Elsa und deutete auf den Streifenwagen, der blinkte wie ein Weihnachtsbaum. »Ich möchte jetzt nicht unbedingt in seiner Haut stecken. Oder der seiner Frau.«
Sie deutete auf das Haus, aus dem sie gerade gekommen war. Björklund zuckte nur mit den Schultern.
»Also, danke nochmals«, sagte er. »Und bestell bitte Agnes schöne Grüße von mir.«
Dann stapfte er zum Streifenwagen und stieg ein.
»Mach ich«, sagte Elsa leise.
Ein paar Minuten später stieg sie in ihren eigenen Wagen, einen knallroten Porsche 911 Targa, und brauste in Richtung Malmö davon, Henriks sorgenvolle Bitte um einen vorsichtigen Fahrstil geflissentlich ignorierend.
Nachdem sich die letzten Streifenwagen verzogen hatten, die auch Frau und Tochter des Sportlehrers aufs Revier gebracht hatten, wurde es still vor dem Haus im Vetlandavägen. Die drei einzelnen Sonnenblumen hinter dem rot gestrichenen Zaun ließen traurig ihre zerzausten Köpfe hängen.