Die Geschichte hatte sich erstaunlich schnell herumgesprochen. Die grinsenden Gesichter der Schüler, denen er auf dem Gang begegnete, ließen keinen Zweifel daran. Die ganze Schule wusste Bescheid. Und das, so wurde Ricky mit Entsetzen klar, bedeutete, dass früher oder später auch Mike Skolnick von der Sache Wind bekommen würde. So war Ricky den ganzen Tag durch die Flure geschlichen, in dem Bewusstsein, dass Mike und seine Kumpel jederzeit hinter der nächsten Ecke lauern konnten, um ihm die Hölle heiß zu machen. Aber Mike war an diesem Vormittag nicht in der Schule aufgetaucht, oder Ricky hatte ihn nicht gesehen.
Und dann hatte sich der bislang mieseste Tag in Ricky López' jungen Leben plötzlich in das totale Gegenteil verwandelt, einfach so.
Er war gerade mit Ralph in eine angeregte Diskussion über die geheime Identität von Captain Beyond vertieft gewesen, dessen Vater nach Ralphs Meinung der zwielichtige Doctor Fang-Tastic vom Planeten Draa'kk sein sollte. Was schon allein deshalb ausgesprochener Quatsch war, weil Draa'kk sich in einer völlig anderen Dimension als Kr’llyand, der Heimatplanet des Captains, befand, wie jeder aufmerksame Leser der Reihe spätestens seit Heft Nummer 43 wusste. Als Ricky gerade zum finalen Schlag seiner Gegenargumentation ausholen wollte, sah er Tiffany. Sie kam direkt auf ihn zu, und diesmal ohne ihre dämlichen Freundinnen.
Ricky hatte auf dem Absatz kehrt gemacht, und sich in Richtung Ausgang verdrückt. Er hatte Ralph einfach mitten im Satz stehen lassen und war in die entgegengesetzte Richtung davon gestiefelt.
»Hey, Ricky, warte doch mal!« – und dann war er doch stehengeblieben. Wollte sie ihn etwa nochmals demütigen, hatte sie noch nicht genug? Und wenn schon, was hatte er denn noch zu verlieren? Er war ja ohnehin bereits der König aller Idioten an der Port High, nicht wahr? Da konnte er genausogut stehen bleiben und es hinnehmen wie ein richtiger … Verlierer.
Er hatte sich umgedreht und da stand sie, lächelte ihn an und war atemberaubend wie eh und je – und nun selbst ein wenig außer Atem, weil sie hinter ihm her gerannt war. »Hey«, hatte sie noch einmal gesagt, leiser diesmal.
Hinter ihm her gerannt war?
»Hey.« hatte Ricky erwidert und sich räuspern müssen. »Hey, Tiffany.« Stets originell und wortgewandt, wie es die Leute vom guten alten Rick gewohnt waren. Ein sprühendes Feuerwerk der Schlagfertigkeit.
»Also, Ricky, ich wollte dir was sagen.« Ricky machte sich innerlich bereit für ihren nächsten verbalen Schlag, sicher würde es wieder ein Brüller werden. Alle Energie auf die Schutzschilde, Mr. Sulu.
Sie atmete ein und sagte: »Also. Es tut mir leid, wegen heute Morgen. Das war gemein, das wollte ich dir nur sagen.«
Ricky starrte sie mit offenem Mund an. Entschuldigte sich Tiffany Marshner da gerade bei ihm?
»Naja, ich schätze, das war irgendwie echt mutig von dir. Wegen dem Kino und so. Ich hätte das mit dem Geld nicht sagen sollen. Kannst ja nichts dafür.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.
»Sorry?«
Eine Weile hing sie da zwischen ihnen in der Luft, diese wundervolle, feingliedrige Hand mit den perfekt manikürten Fingernägeln. Dann hatte er danach gegriffen, und dabei auf ihre Hand gestarrt, als sei sie ein Trugbild, das sich möglicherweise innerhalb der nächsten Sekunden auflösen würde.
»Gehen wir ein Stück, ja?« hatte sie gesagt und wieder gelächelt.
Ricky nickte und sie gingen.
»Ich weiß auch nicht, was da in mich gefahren ist«, sagte sie nachdenklich. Wenn sie nachdachte, bekam sie kleine Falten auf der Seite ihrer Nase, fiel Ricky auf. Er fand es umwerfend.
»Kein Problem.« sagte Ricky. Es hatte weltmännisch klingen sollen, aber seine belegte Stimme vereitelte das Unternehmen ein wenig. Sicher war sein Kopf bereits wieder knallrot.
»Cool.« hatte sie gesagt und war stehengeblieben, die Hände in die Seitentaschen ihrer Jacke gestopft. Ihrer ausgesprochen teuren Jacke. Nach einer Pause, die genau die richtige Länge zu haben schien, hatte sie etwas noch viel Unglaublicheres gesagt.
»Also, wenn du willst, können wir ja wirklich mal zusammen ins Kino gehen oder so.«
»Was?« hatte er ausgerufen. Viel zu laut. Viel zu überrascht.
»Weißt du, Ricky, du scheinst ein netter Junge zu sein und, naja … « Sie hatte sich an einen der Metallspinde auf dem Flur gelehnt. Und plötzlich ein bisschen verloren ausgesehen, wie sie da so stand, ohne ihre gackernden Freundinnen. Und ohne Mike Skolnick und seine dämlichen Footballidioten. Sie senkte den Kopf und verriet ihren Schuhspitzen leise ein Geheimnis: »Ich denke, ich würde zur Abwechslung gern mal mit einem netten Jungen ausgehen.«
»Okaaay...« hatte Ricky gedehnt hervorgebracht. Was versuchte sie ihm da zu sagen? War Mike Skolnick denn etwa nicht nett zu ihr? War nicht die gesamte Schule, ja Herrgott, die ganze verdammte Stadt nett zu ihr?
Dann hatte sie ihn wieder angeschaut, forschend, und ein bisschen niedergeschlagen. »Ach so, du meinst, wegen Mike, ja?« Ricky nickte.
»Ach Mike ... weißt du, manchmal glaube ich, er bemerkt mich gar nicht richtig. Als ob ich irgendwie, ich weiß nicht, eine Selbstverständlichkeit für ihn bin. Eine Trophäe, weißt du? Die er sich in eine Vitrine stellt, um damit vor seinen Freunden anzugeben. Wie mit einer seiner Medaillen.« Sie stopfte ihre Hände noch ein wenig fester in die Taschen ihrer Jacke. »Außerdem will er die ganze Zeit nur ... na, du weißt schon.« Jetzt wurde sie ein bisschen rot und grinste schief durch ein paar Haarsträhnen hindurch, die ihr in die Stirn gefallen waren.
»Ich könnte einen richtigen Freund manchmal echt gut gebrauchen.«
»Oh.« war alles, was Ricky dazu einfiel. Es traf die Sache im Kern. War Tiffany Marshner da gerade dabei, ihm ihr Herz auszuschütten? Und lud sie ihn, ganz nebenbei bemerkt, ins Kino ein?
»Also wie steht's, Ricky López?« Plötzlich war sie wieder fröhlich. Ganz die Tiffany Marshner, wie sie die ganze Schule kannte und liebte. Oder vielmehr: zu kennen glaubte. Es war ein wenig beängstigend. »Hast du heute Abend Zeit?« hatte sie gefragt und sich dann elegant von dem Spind abgestoßen. War ihm damit ein paar weitere, kostbare Zentimeter nähergekommen.
Ralph und er hatten eigentlich vorgehabt, heute Abend die neueste Ausgabe des Captain Beyond-Hefts zu lesen, in der Hoffnung, Aufklärung über die gewichtige Frage von Dr. Fang-Tastics Vaterschaft (oder auch nicht!) zu erhalten.
»Klar, Tiffany, ich hab' Zeit.«
»Cool. Um Sieben am Alten Seefriedhof?« Blöde Frage, dachte Ricky. Wer hätte dafür denn keine Zeit gehabt? Tiffany Marshner, heiliger Strohsack! Moment - am alten Friedhof auf dem Potter's Hill? Das war allerdings ein ziemlich ungewöhnlicher Punkt für ein Treffen.
»Klar, das lässt sich machen.« sagte Ricky. Diesmal kam es sogar einigermaßen lässig über seine Lippen. Casanova! Herzensbrecher! Teufelskerl!
»Außer uns wird niemand dort sein, und später können wir ja immer noch ins Kino gehen.« Das hatte seine letzten Zweifel zerstreut. So gesehen, war der halb verfallene Friedhof sogar ein ziemlich romantischer Ort, irgendwie. Dort würde sie jedenfalls niemand stören.
»Okay, ich werd' da sein.«
»Cool«, sagte Tiffany Marshner lächelnd, dann beugte sie sich vor und verpasste Ricky beinahe einen Herzinfarkt. Und einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann war sie davongegangen, die Absätze ihrer Stiefel hatten auf dem Gang geklappert wie die eines Cowboys auf den Dielen eines Western-Saloons. Kurz, bevor sie um die Ecke verschwunden war, hatte sie sich noch mal umgedreht und gesagt:
»Du bist süß, Ricky López.«
Als sie fort war, stand Ricky für einen Moment reglos im Gang und starrte in die Leere, die sie hinterlassen hatte. Dann machte er kehrt und rannte strahlend aus dem Schulgebäude.
Ralph hatte an der Haltestelle auf ihn gewartet, eine einsame, kleine (und deutlich untersetzte) Gestalt. Als Ricky sich ihm näherte, blickte er von seinem Captain Beyond-Heft auf und grinste anzüglich. Offenbar hatte er sie vorhin lange genug belauschen können, bevor er zur Haltestelle gegangen war. Er streckte Ricky seine offene Rechte entgegen, sie klatschten ab und Ralph sagte »Yeah, Mann!«. Es klang ehrlich anerkennend. Dann vertiefte er sich wieder in sein Comicheft. Sie grinsten beide schweigend, bis der Bus kam.