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Kinderspiele

Thriller

von L.C. Frey (Autor:in)
304 Seiten

Zusammenfassung

Das Böse kommt in die Stadt, und mit den Kindern fängt es an… Port, New Hampshire. Am Strand wird eine unbekannte Leiche angespült. Ein Obdachloser wird von beängstigenden Visionen heimgesucht. Ein Schüler folgt einem seltsamen Licht auf dem Friedhof und beginnt kurz darauf, sich zu verändern. Als das Grauen um sich greift, taumelt die Küstenstadt in den Ausnahmezustand. Die Menschen scheinen plötzlich von grausamen fremden Gedanken beseelt und tun sich gegenseitig unaussprechliche Dinge an. Doch wer - oder vielmehr was - ist für diese Fälle spontaner Besessenheit verantwortlich, und wer zieht wirklich die Fäden hinter den Kulissen des scheinbar beschaulichen Küstenstädtchens? Als der dauerkiffende Dämonen-Detektiv Jake Sloburn in den Fall verwickelt wird, ist die Situation bereits weitestgehen außer Kontrolle geraten. Wird Jake Sloburn der Sache auf den Grund gehen können, bevor der gierige Abgrund alle Einwohner von Port verschlingt? Sichern Sie sich jetzt Ihr Exemplar dieses furchteinflößenden Horror-Thrillers von Bestseller-Autor L.C. Frey, denn er wird sie um den Verstand bringen! Die Handlung dieses Jake Sloburn-Romans ist in sich abgeschlossen, die anderen Bände der Reihe sind zum Verständnis nicht nötig!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ÜBER DAS BUCH

Ricky ist ein Außenseiter und nicht sehr beliebt an seiner Schule. Die Jungs verprügeln ihn regelmäßig und seine Angebetete möchte nichts mit ihm zu tun haben. Doch plötzlich wendet sich das Blatt und Ricky bekommt die Möglichkeit, zurückzuschlagen. Doch diese Macht hat ihren Preis …

Am Strand von Port, New Hampshire wird die Leiche eines jungen Mannes gefunden. Schwärme unbekannter Tiere entsteigen dem Meerwasser, seit die Fabrik auf dem Hügel wieder betrieben wird und die Fischer fortgezogen sind. Was hat es mit dem seltsamen Amulett auf sich, dass der angespülte Tote um den Hals trägt?

* * *

Gewidmet meiner Süßen.Wir sind purer Rock'n'Roll!

Wer mit dem Teufel essen will, braucht einen langen Löffel.

Mittelalterliches Sprichwort

* * *

Denn darin liegt das Geheimnis der Nacht: dass sie im Grunde endlos ist.

Aus dem Tagebuch von Jake Sloburn

DONNERSTAG: BABY'S GOT BLUE EYES

Gott, wieso war er nur so ein selten dämlicher Vollidiot? Sie hatte ihn ausgelacht. Aus-ge-lacht!

Na klar, was hatte er denn auch erwartet? Tiffany Marshner. Das beliebteste Mädchen der Schule. High-Flyer der Cheerleadertruppe, natürlich – und außerdem so schön wie der Sonnenaufgang über dem Himalaya, auch wenn Ricky den noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Ehrlich gesagt bezweifelte er sogar, dass irgend ein blöder Sonnenaufgang mit Tiffany Marshners Schönheit mithalten konnte. Sie war gigantisch, überirdisch, perfekt.

Und er? Nun ja, er war eben Ricky López, dazu gab es nicht besonders viel zu sagen. Nur ein Junge, der sich ein bisschen in die Schulschönheit verguckt hatte. Und es sich heute morgen zur Aufgabe gemacht hatte, sich vor der ganzen Schule zu blamieren. Ricky hatte mal gehört, dass den Mutigen die Welt zu Füßen liegt. Und das schloss ja wohl auch Tiffany Marshner ein.

Die Tatsache, dass eben dieses überirdisch schöne Mädchen Ricky gestern nach einer Kippe gefragt hatte, war ganz offensichtlich als viel mehr als die simple Frage nach einer Zigarette zu interpretieren gewesen. Er hatte natürlich keine, Ricky war Nichtraucher. Aber sie hatte trotzdem »Danke!« gesagt und ihn angelächelt. An-ge-läch-elt. Ein ziemlicher Unterschied zu Aus-ge-lacht, nicht wahr?

Und deshalb hatte Ricky sie heute morgen angesprochen. Hatte seinen Mut zusammen genommen und es einfach getan.

Und sich dabei fast in die Hosen gemacht. Als er in ihre Augen geblickt hatte (Sie waren klar und blau und perfekt wie ein munter plätschernder Gebirgsbach.), waren die Worte, die er sich sorgfältig zurechtgelegt hatte, auf und davongeflattert wie ein Schwarm verschreckter Krähen. Und das, was sie in seinem Kopf zurück gelassen hatten, erinnerte an ein zu Boden gefallenes Scrabble-Spiel. Wenig mehr als sinnloses Gestammel, das irgendwie mit ihm und ihr und einem Kinobesuch in unbestimmter Zukunft zusammenhing. Er hatte ihr die Schachtel Zigaretten hingehalten, die er heute morgen extra gekauft hatte, von seinen kläglichen Ersparnissen. Zusammengekratzt vom Lohn zweier Wochenenden des Zeitungsausfahrens, und dabei rauchte er nicht mal. Peinlich war gar kein Ausdruck.

Nachdem er seine kaum verständliche Botschaft stotternd herausgewürgt hatte, hatte das Lächeln immer noch auf ihren sanft geschwungenen Lippen gelegen, milde und gütig wie das einer Marienstatue. Aber über dem munteren Gebirgsbach in ihren Augen hatte sich eine Eisschicht gebildet.

Sie hatte sich eine Zigarette aus der Schachtel genommen, sie wortlos eingesteckt und ihn anschließend lächelnd zu Staub zermalmt. »Ins Kino? Oh, naja, weißt du ... äh, wie war dein Name nochmal?«

»Ricky.« hatte er gehaucht, ein hässlicher Kratzlaut aus seiner ausgedörrten Kehle. Hätte sich in diesem Moment ein Loch im Boden aufgetan, er wäre mit Freuden hineingesprungen.

»Ja, klar. Ricky.« Ihr Blick ruhte für einen Moment auf ihm und nun lag etwas Anderes darin. Vorfreude. »Also, ... Ricky,« Ihre Mundwinkel hatten verdächtig zu zucken begonnen. »ist ja echt nett, dass du mit mir ausgehen willst und so. Aber...«

Sie hatte diese Pause ganz bewusst gelassen, um ein übertrieben nachdenkliches Gesicht zu ziehen. So als müsse sie sich erst erinnern, warum es völlig ausgeschlossen war, dass sie beide jemals etwas zusammen unternehmen würden. Er hätte das akzeptieren und gehen sollen. Einfach seine blöde Klappe halten, nicken und sich verziehen. Aber er hatte natürlich nachfragen müssen.

»Was aber, Tiffany?« Kratz, kratz. Röchel, röchel.

Ihre Lippen waren kaum mehr als ein schmaler Strich, während sie zum finalen Stoß ausholte.

»Aber bist du sicher, dass du dir das auch leisten kannst?«

Ihre Freundinnen, Samantha und Angela, welche dem Gespräch aufmerksam gelauscht hatten, konnten sich nicht länger beherrschen, und auch Tiffany Marhsners Mundwinkel schnellten in die Höhe. Die drei waren in schallendes Gelächter ausgebrochen, während sie abgezogen waren und ihn mit hochrotem Kopf mitten auf dem Gang stehen ließen.

Irgendwie hatte er es noch bis in den Waschraum geschafft, wo sich Ricky López in eine der Kabinen eingeschlossen hatte, um – nachzudenken. Na gut, vielleicht hatte er dabei auch ein kleines bisschen geweint. Falls es so war, sah man es ihm jedenfalls nicht mehr an, als er sich in sein Klassenzimmer schlich und den Rest des Tages nach Kräften versuchte, unsichtbar zu sein. Für heute hatte er genug gelernt.

Das war der Lohn, den man erhielt, wenn man seinen Mut zusammennahm.

Zumindest dann, wenn man keinen reichen Vater hatte wie Mike Skolnick, sondern nur eine Ma, die in Mr. Winslows Ye Olde Shoppe arbeitete, dem wahrscheinlich kleinsten Supermarkt der Welt. Mit den wahrscheinlich unterbezahltesten Angestellten nördlich von Mexiko.

Ralph hatte Recht gehabt. Manchmal war es einfach besser, in den Schatten zu warten, und zu hoffen, dass sie einen in Ruhe ließen bis die Schule aus war. Was so in drei, vier Jahren sein würde.

Manchmal war es besser, unsichtbar zu bleiben.

RICKY IRRT SICH

Die Geschichte hatte sich erstaunlich schnell herumgesprochen. Die grinsenden Gesichter der Schüler, denen er auf dem Gang begegnete, ließen keinen Zweifel daran. Die ganze Schule wusste Bescheid. Und das, so wurde Ricky mit Entsetzen klar, bedeutete, dass früher oder später auch Mike Skolnick von der Sache Wind bekommen würde. So war Ricky den ganzen Tag durch die Flure geschlichen, in dem Bewusstsein, dass Mike und seine Kumpel jederzeit hinter der nächsten Ecke lauern konnten, um ihm die Hölle heiß zu machen. Aber Mike war an diesem Vormittag nicht in der Schule aufgetaucht, oder Ricky hatte ihn nicht gesehen.

Und dann hatte sich der bislang mieseste Tag in Ricky López' jungen Leben plötzlich in das totale Gegenteil verwandelt, einfach so.

Er war gerade mit Ralph in eine angeregte Diskussion über die geheime Identität von Captain Beyond vertieft gewesen, dessen Vater nach Ralphs Meinung der zwielichtige Doctor Fang-Tastic vom Planeten Draa'kk sein sollte. Was schon allein deshalb ausgesprochener Quatsch war, weil Draa'kk sich in einer völlig anderen Dimension als Kr’llyand, der Heimatplanet des Captains, befand, wie jeder aufmerksame Leser der Reihe spätestens seit Heft Nummer 43 wusste. Als Ricky gerade zum finalen Schlag seiner Gegenargumentation ausholen wollte, sah er Tiffany. Sie kam direkt auf ihn zu, und diesmal ohne ihre dämlichen Freundinnen.

Ricky hatte auf dem Absatz kehrt gemacht, und sich in Richtung Ausgang verdrückt. Er hatte Ralph einfach mitten im Satz stehen lassen und war in die entgegengesetzte Richtung davon gestiefelt.

»Hey, Ricky, warte doch mal!« – und dann war er doch stehengeblieben. Wollte sie ihn etwa nochmals demütigen, hatte sie noch nicht genug? Und wenn schon, was hatte er denn noch zu verlieren? Er war ja ohnehin bereits der König aller Idioten an der Port High, nicht wahr? Da konnte er genausogut stehen bleiben und es hinnehmen wie ein richtiger … Verlierer.

Er hatte sich umgedreht und da stand sie, lächelte ihn an und war atemberaubend wie eh und je – und nun selbst ein wenig außer Atem, weil sie hinter ihm her gerannt war. »Hey«, hatte sie noch einmal gesagt, leiser diesmal.

Hinter ihm her gerannt war?

»Hey.« hatte Ricky erwidert und sich räuspern müssen. »Hey, Tiffany.« Stets originell und wortgewandt, wie es die Leute vom guten alten Rick gewohnt waren. Ein sprühendes Feuerwerk der Schlagfertigkeit.

»Also, Ricky, ich wollte dir was sagen.« Ricky machte sich innerlich bereit für ihren nächsten verbalen Schlag, sicher würde es wieder ein Brüller werden. Alle Energie auf die Schutzschilde, Mr. Sulu.

Sie atmete ein und sagte: »Also. Es tut mir leid, wegen heute Morgen. Das war gemein, das wollte ich dir nur sagen.«

Ricky starrte sie mit offenem Mund an. Entschuldigte sich Tiffany Marshner da gerade bei ihm?

»Naja, ich schätze, das war irgendwie echt mutig von dir. Wegen dem Kino und so. Ich hätte das mit dem Geld nicht sagen sollen. Kannst ja nichts dafür.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.

»Sorry?«

Eine Weile hing sie da zwischen ihnen in der Luft, diese wundervolle, feingliedrige Hand mit den perfekt manikürten Fingernägeln. Dann hatte er danach gegriffen, und dabei auf ihre Hand gestarrt, als sei sie ein Trugbild, das sich möglicherweise innerhalb der nächsten Sekunden auflösen würde.

»Gehen wir ein Stück, ja?« hatte sie gesagt und wieder gelächelt.

Ricky nickte und sie gingen.

»Ich weiß auch nicht, was da in mich gefahren ist«, sagte sie nachdenklich. Wenn sie nachdachte, bekam sie kleine Falten auf der Seite ihrer Nase, fiel Ricky auf. Er fand es umwerfend.

»Kein Problem.« sagte Ricky. Es hatte weltmännisch klingen sollen, aber seine belegte Stimme vereitelte das Unternehmen ein wenig. Sicher war sein Kopf bereits wieder knallrot.

»Cool.« hatte sie gesagt und war stehengeblieben, die Hände in die Seitentaschen ihrer Jacke gestopft. Ihrer ausgesprochen teuren Jacke. Nach einer Pause, die genau die richtige Länge zu haben schien, hatte sie etwas noch viel Unglaublicheres gesagt.

»Also, wenn du willst, können wir ja wirklich mal zusammen ins Kino gehen oder so.«

»Was?« hatte er ausgerufen. Viel zu laut. Viel zu überrascht.

»Weißt du, Ricky, du scheinst ein netter Junge zu sein und, naja … « Sie hatte sich an einen der Metallspinde auf dem Flur gelehnt. Und plötzlich ein bisschen verloren ausgesehen, wie sie da so stand, ohne ihre gackernden Freundinnen. Und ohne Mike Skolnick und seine dämlichen Footballidioten. Sie senkte den Kopf und verriet ihren Schuhspitzen leise ein Geheimnis: »Ich denke, ich würde zur Abwechslung gern mal mit einem netten Jungen ausgehen.«

»Okaaay...« hatte Ricky gedehnt hervorgebracht. Was versuchte sie ihm da zu sagen? War Mike Skolnick denn etwa nicht nett zu ihr? War nicht die gesamte Schule, ja Herrgott, die ganze verdammte Stadt nett zu ihr?

Dann hatte sie ihn wieder angeschaut, forschend, und ein bisschen niedergeschlagen. »Ach so, du meinst, wegen Mike, ja?« Ricky nickte.

»Ach Mike ... weißt du, manchmal glaube ich, er bemerkt mich gar nicht richtig. Als ob ich irgendwie, ich weiß nicht, eine Selbstverständlichkeit für ihn bin. Eine Trophäe, weißt du? Die er sich in eine Vitrine stellt, um damit vor seinen Freunden anzugeben. Wie mit einer seiner Medaillen.« Sie stopfte ihre Hände noch ein wenig fester in die Taschen ihrer Jacke. »Außerdem will er die ganze Zeit nur ... na, du weißt schon.« Jetzt wurde sie ein bisschen rot und grinste schief durch ein paar Haarsträhnen hindurch, die ihr in die Stirn gefallen waren.

»Ich könnte einen richtigen Freund manchmal echt gut gebrauchen.«

»Oh.« war alles, was Ricky dazu einfiel. Es traf die Sache im Kern. War Tiffany Marshner da gerade dabei, ihm ihr Herz auszuschütten? Und lud sie ihn, ganz nebenbei bemerkt, ins Kino ein?

»Also wie steht's, Ricky López?« Plötzlich war sie wieder fröhlich. Ganz die Tiffany Marshner, wie sie die ganze Schule kannte und liebte. Oder vielmehr: zu kennen glaubte. Es war ein wenig beängstigend. »Hast du heute Abend Zeit?« hatte sie gefragt und sich dann elegant von dem Spind abgestoßen. War ihm damit ein paar weitere, kostbare Zentimeter nähergekommen.

Ralph und er hatten eigentlich vorgehabt, heute Abend die neueste Ausgabe des Captain Beyond-Hefts zu lesen, in der Hoffnung, Aufklärung über die gewichtige Frage von Dr. Fang-Tastics Vaterschaft (oder auch nicht!) zu erhalten.

»Klar, Tiffany, ich hab' Zeit.«

»Cool. Um Sieben am Alten Seefriedhof?« Blöde Frage, dachte Ricky. Wer hätte dafür denn keine Zeit gehabt? Tiffany Marshner, heiliger Strohsack! Moment - am alten Friedhof auf dem Potter's Hill? Das war allerdings ein ziemlich ungewöhnlicher Punkt für ein Treffen.

»Klar, das lässt sich machen.« sagte Ricky. Diesmal kam es sogar einigermaßen lässig über seine Lippen. Casanova! Herzensbrecher! Teufelskerl!

»Außer uns wird niemand dort sein, und später können wir ja immer noch ins Kino gehen.« Das hatte seine letzten Zweifel zerstreut. So gesehen, war der halb verfallene Friedhof sogar ein ziemlich romantischer Ort, irgendwie. Dort würde sie jedenfalls niemand stören.

»Okay, ich werd' da sein.«

»Cool«, sagte Tiffany Marshner lächelnd, dann beugte sie sich vor und verpasste Ricky beinahe einen Herzinfarkt. Und einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann war sie davongegangen, die Absätze ihrer Stiefel hatten auf dem Gang geklappert wie die eines Cowboys auf den Dielen eines Western-Saloons. Kurz, bevor sie um die Ecke verschwunden war, hatte sie sich noch mal umgedreht und gesagt:

»Du bist süß, Ricky López.«

Als sie fort war, stand Ricky für einen Moment reglos im Gang und starrte in die Leere, die sie hinterlassen hatte. Dann machte er kehrt und rannte strahlend aus dem Schulgebäude.

Ralph hatte an der Haltestelle auf ihn gewartet, eine einsame, kleine (und deutlich untersetzte) Gestalt. Als Ricky sich ihm näherte, blickte er von seinem Captain Beyond-Heft auf und grinste anzüglich. Offenbar hatte er sie vorhin lange genug belauschen können, bevor er zur Haltestelle gegangen war. Er streckte Ricky seine offene Rechte entgegen, sie klatschten ab und Ralph sagte »Yeah, Mann!«. Es klang ehrlich anerkennend. Dann vertiefte er sich wieder in sein Comicheft. Sie grinsten beide schweigend, bis der Bus kam.

MIKE HAT IMMER RECHT

»Oh, Scheiße, Baby, ich habe mich fast bepisst. Das war echt sensationell, ich schwöre es! Der ist dir total auf den Leim gegangen, oh Mann!« rief Mike prustend und umarmte Tiffany. Die hochroten Gesichter der beiden Jungs hinter ihm sprachen ebenfalls Bände. Sie trugen Jeans und identische Jacken wie Mike, Collegejacken mit dem großen, gestickten »P« der Port Buccaneers auf Brust und Rücken.

»Ich schenke dir also nicht genug Aufmerksamkeit, ja?« Mike ließ einen äußerst aufmerksamen Blick über die Rundungen unter Tiffanys Pullover streichen, wie um ihr das Gegenteil zu demonstrieren. »Das könnte ich gleich ändern, weißt du...«, sagte er dann und streckte die Hand nach ihr aus. Tiffany wich auflachend zurück und schlug seine Hand weg. Wenn er ihr noch mal vor den anderen an die Titten fasste, würde sie ihm die Finger brechen.

»Ach Mike. Irgendwie tut er mir fast ein wenig leid.« sagte sie dann.

Mike Skolnicks Blick wurde unvermittelt ernst. »Er hat dich angequatscht, Babe. Das kann ich nicht dulden! Was würde dein Dad dazu sagen?«

Das war ein reichlich unselbständiges Argument für einen so großen Kerl, fand Tiffany, aber ein durchaus zutreffendes. Die Kerle hinter Mike kicherten verstohlen.

»Wahrscheinlich hast du recht, Mike.«

»Na klar hab' ich recht, Baby.« sagte Mike und zog Tiff in seine Arme. Ließ ein wenig die Muskeln unter seiner Jacke spielen. Angeber.

»Ich hab' immer recht.« Sie konnte spüren, dass sich in seiner Hose etwas zu regen begann, als er seine Hände über ihren Hintern gleiten ließ. Tiffany schlug sie kichernd beiseite und entwand sich seinem Griff. Darauf würde Mike noch eine ganze Weile warten müssen. Nein, verbesserte sie sich dann, darauf würde er sogar bis in alle Ewigkeit warten.

Sie griff nach seiner Hand. »Gehen wir, Baby.«

Mikes Freunde liefen hinter ihnen her und machten dabei ihre üblichen Affengeräusche. Es klang ziemlich authentisch, fand Tiffany und war sich ziemlich sicher, dass die beiden ihr unverwandt auf den Hintern glotzten. Sollten sie. Schließlich hatte jeder in Port seine Aufgabe zu erfüllen, wie ihr Vater manchmal sagte. Sogar Mike und seine beiden menschlichen Schimpansen.

METEORITENSCHAUER

So weit oben beim Wald trieb sich Ricky López normalerweise nicht herum. Und auch sonst keiner, soweit er wusste. Zumindest nicht freiwillig, und schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit. Andererseits war es gerade mal früher Abend, als er mit seinem rot lackierten BMX-Rad den Fuß des Potter's Hill erreichte, auf dessen Kuppe der alte Seefriedhof lag. Er trug seine neuen Jeans. Die, welche ihm seine Ma zum siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte und die er sonst nur Sonntags anzog, wenn sie zur Kirche gingen oder Tante Maria aus New York zu Besuch kam. Dazu trug er den blauen Kapuzenpullover der New York Giants, der vor Urzeiten einmal einem von Tante Marias Söhnen gehört hatte. Seine Mutter hatte ihn erst am Vorabend gewaschen und er war noch ein wenig klamm, aber das machte nichts, er hielt ihn trotzdem warm. Viel wichtiger, es war sein Glückspulli.

Er hätte gern ein schöneres Rad besessen oder Tiffany mit einem Wagen abgeholt. Und vielleicht gern einen Anzug getragen, oder wenigstens ein weißes Hemd. Allein, er besaß keines dieser Dinge und noch nicht einmal einen Führerschein. Aber heute würde er der Welt beweisen, dass man diese Dinge überhaupt nicht brauchte, um mit Tiffany Marshner auszugehen. Dass es vollauf genügte, ein netter Junge zu sein. Und dass man sich nur trauen musste, ein Mädchen anzusprechen. Ricky grinste und trat noch etwas schneller in die Pedale.

Das war der Lohn, den man erhielt, wenn man seinen Mut zusammennahm. Ganz recht.

Als er oben beim alten Friedhof angekommen war, lehnte Ricky sein Rad gegen die Steinmauer und sah sich um. Niemand war hier, er war der Erste, und gut eine Viertelstunde zu früh. Er war ziemlich aus der Puste und da er Tiffany nicht verschwitzt und außer Atem gegenüber treten wollte, lehnte er sich an die Mauer, atmete ein paar Mal tief durch und betrachtete die untergehende Sonne, welche ihre letzten Strahlen blutrot über den Horizont in seine Richtung sandte. Er blinzelte ihr zu. Es würde Meteorschauer geben, hatte der Wetterfrosch vorhin im Radio verkündet. Sie würden auf der Mauer sitzen und über die ganze Stadt schauen, während es über dem Meer Sternschnuppen regnete. Tiff würde sich an seine Schulter kuscheln (Oh Mist! Er hätte eine Decke mitnehmen sollen, aber dafür war es jetzt zu spät … ) und vielleicht würden sie sogar ein wenig Händchen halten. Dann würde sie sich zu ihm hinüber beugen und ... Ricky schloss genießerisch die Augen.

Als er sie wieder aufmachte, war die Sonne gänzlich im Meer versunken.

EINE WARNUNG

Ricky warf einen Blick auf seine Uhr, eine billige Timex mit gerissenem Armband, die er in der Hosentasche mit sich herumtrug. Genau Sieben Uhr. Er schaute die Straße den Hügel hinab. Niemand. Kein Rad und auch kein Wagen, was das betraf. Gar nichts und niemand.

Sie würde nicht kommen, natürlich nicht. Sie hatte ihm ihr Herz ausgeschüttet, ja. Und dann hatte sie es sich anders überlegt.

Er drehte sich zum Friedhof um. Er würde trotzdem noch ein paar Minuten warten. Die Illusion war einfach zu schön - so würde er sie wenigstens noch ein wenig länger genießen können.

Und sich anschließend gleich hinten von den Klippen stürzen, wo er schon mal hier war.

Er kickte einen Stein aus dem Staub vor ihm, der gegen das alte Holztor des Friedhofs knallte. Plock! Fast wie ein einzelnes Klopfen. An dem Tor zum Friedhof hing etwas. Etwas, das da nicht hin gehörte. Also ging Ricky näher, um es sich genauer anzusehen.

Es war ein Herz aus rotem Bastelpapier, auf eine dicke Pappe geklebt und mit bunten Bändern verziert, die es ein wenig wie einen Papierdrachen aussehen ließen. Die Bänder flatterten im Wind und hoben das Pappherz bald hierhin, bald dorthin. Ricky berührte es mit den Fingerspitzen. Sie war hier. Es musste so sein. Und er sollte ihr folgen, auf den Friedhof. Ihr seinen Mut beweisen. Wie ein Ritter in einem Märchen. Sir Lancelot schreitet zur Rettung seiner geliebten Königin! Aber das waren Kindergedanken, Ricky wischte sie fort.

Er lächelte trotzdem ein wenig, als er auf das Tor zum Friedhof zutrat. Und er hatte fast keine Angst dabei.

Er öffnete das Holztor zum Friedhof und natürlich quietschte es. Es war niedriger als die dicke Steinmauer, etwa in Hüfthöhe und erschien daher ziemlich zwecklos zur Abwehr von Eindringlingen, falls es überhaupt dafür gedacht war. Nicht, dass nach Rickys Kenntnis jemals irgendwer versucht hätte, heimlich in den Friedhof einzudringen. Nicht bis gerade eben.

Ricky trat durch das Tor auf den schmalen Pfad, der sich zwischen den Gräbern entlangschlängelte. Die Mauer war an vielen Stellen von den Ranken irgend eines Gebüschs bedeckt, es mochte Efeu sein oder vielleicht Ackerwinde. Die gleiche Pflanze wuchs auch auf den meisten der verfallenen Grabsteine – Erinnerungen an die, welche hier begraben lagen und die doch alle längst vergessen waren. Der raue Wind, der von der See herüber wehte, hatte die Steine über Jahrzehnte glatt geschliffen und die meisten Namen waren kaum noch lesbar. Schon gar nicht in der Dunkelheit.

Zu seiner Rechten stand ein großes Kreuz, dessen harte Konturen sich ehrfurchtgebietend gegen den Nachthimmel erhoben. »In Gedenken an ...mes 'Jim' Marsh... stand darauf. Den Rest konnte Ricky beim besten Willen nicht entziffern. Offenbar ein wichtiger Mann, dieser Jim, wenn sich seine Hinterbliebenen ein solch kolossales Kreuz leisten konnten (Vielleicht hatten sie damit auch nur ihre Freude über sein Ableben zum Ausdruck gebracht.). Wichtig oder nicht, nun war er jedenfalls tot, genau wie seine Anverwandten. Und deren Enkel, falls sie welche gehabt hatten.

Inzwischen war Ricky ein gutes Stück auf den Friedhof vorgedrungen und …

Der Junge sog erschrocken seinen Atem ein, als er das Licht erblickte. Ein milder Schimmer wie von einer einzelnen Kerze und gar nicht weit entfernt, vielleicht zehn Meter oder weniger. Vom Eingang aus hatte er es wegen der Büsche, die davor standen, nicht sehen können, aber nun lugte es durch die flachen Gewächse auf dem Boden vor ihm. Es beleuchtete die Umrisse von etwas, das eine Gruft sein mochte. Tiffany. Dort würde sie auf ihn warten, mitten auf dem Friedhof. Ziemlich mutig für ein Mädchen.

PANIK!

Als die Gestalt zwischen den Grabsteinen aus dem Boden emporwächst, beginnt Ricky panisch zu schreien.

Das Wesen ist kaum mehr als ein schwarzer Schemen, aus dem so etwas wie ein Gesicht hervorlugt. Oder vielmehr sitzt an der Stelle, wo das Gesicht sein müsste, eine grauenhaft verzerrte Fratze, die von innen heraus zu leuchten scheint. Ein Netz grober Einschnitte verunziert das schiefe Gesicht und wirft grässliche Schatten.

Dann tauchte noch eine weitere Gestalt an Rickys linkem Gesichtsfeld auf, die sich ebenfalls rasch auf ihn zubewegt. Nachdem der Junge eine Weile mit schreckgeweiteten Augen dagestanden hat, setzen endlich, und mit unvermittelter Wucht, seine Reflexe ein. Er dreht sich um und beginnt zu rennen. Aber er kommt nicht weit. Aus der Dunkelheit vor ihm wächst eine Faust auf ihn zu und knallt ihm wuchtig auf die Nase. Er hört ein Knacken und ein beißender Schmerz rast seinen Nasenrücken hinauf. Die Wucht des Aufpralls ist so heftig, dass Ricky in das weiche Gras vor einem der Grabsteine geschleudert wird.

Und dann sind sie über ihm. Eine der Gestalten lässt sich schwer auf seinen Brustkorb fallen und sitzt dort, während ihre Knie Rickys Oberarme an den Boden pinnen. Ricky brüllt. Vor seinen Augen tanzen winzige Leuchtpunkte und violette Schlieren, die am Rand dunkler auslaufen. Er sieht kleine, hell schimmernde Sterne, als die Hand erneut auf ihn niedersaust, diesmal ist sie offen und verpasst ihm eine schallende Ohrfeige. Und dann noch eine. Und dann fängt die Gestalt an, zu lachen und die anderen Geister stimmen ein.

Und Ricky beginnt zu begreifen. Der »Geist«, bei dem es sich nur um Mike Skolnick handeln kann, steht auf, wobei sich seine Knie ein weiteres Mal schmerzhaft in Rickys Bizeps bohren. Die drei Gestalten beugen sich über den Jungen und nun sieht er, dass ihre Gesichter nichts als billige Halloween-Masken sind, aus dünnem, weißen Plastik, unter die sie Taschenlampen gesteckt haben. Sie beginnen damit, nach dem Jungen zu treten, bis dieser sich vor Schmerzen windet und zu weinen beginnt. Ricky hasst sich dafür, aber er kann es nicht ändern. Es ist nicht so sehr der Schmerz, das wird ihm später klar werden, sondern vor allem die Demütigung. Das Bewusstsein, wieder einmal verloren zu haben, während die Stärkeren um ihn ständig zu gewinnen scheinen.

Der Geist, der Mike Skolnick ist, nimmt endlich seine lächerliche Maske ab, beugt sich zu Ricky hinab und sagt: »Das ist meine einzige Warnung an dich, du kleine Made. Wenn du Tiff auch nur noch ein einziges Mal anschaust, machen wir dich platt, Mann! PLATT! Hast du das verstanden, du Scheiß-Spic!?« Dann tritt er nochmals in Rickys Seite, der Tritt treibt ihm die Luft aus den Lungen.

»Sag schon, du Pisser! Verstehen wir uns?«

»Ja.« haucht Ricky und schnappt nach Luft, dabei schmeckt er das Blut auf seiner Zunge (Es schmeckt nach Metall, wie wenn man an einem Penny leckt.).

»Das ist gut, Bohnenfresser. Das ist gut.« sagt Mike und holt zu einem weiteren Tritt aus.

NOLI TIMERE

Irgendwann waren Mike und seine Freunde mit ihm fertig gewesen und schließlich unter lautem Johlen abgezogen. Ricky hegte den Verdacht, dass sie die an eine Herde Affen erinnernden Geräusche hauptsächlich verursachten, um sich Mut einzuflößen. So, wie er gelegentlich eine besonders fröhliche Melodie zu pfeifen pflegte, wenn er, mit nichts als einer Taschenlampe bewaffnet, in den Keller hinabsteigen musste. Er pfiff dann auch besonders laut. Manchmal half es.

Wenigstens hatten sie ihm die kleine Grabkerze dagelassen. Die steckte in einem Einweckglas und beleuchtete matt die nächtliche Szenerie, was unter anderen Umständen durchaus eine romantische Note gehabt hätte. Ricky schnäuzte sich, und griff im Reflex an seine Nase. Der Schmerz durchzuckte sein Gesicht, aber es war bei weitem nicht so schlimm wie beim ersten Mal. Vielleicht war sie ja doch nicht gebrochen. An seiner Hand klebte etwas Blut. Er schaute an sich hinab. Das Blut war ebenfalls auf seiner Hose und seinem Sweatshirt. Nicht schlimm, das würde Ma wieder auswaschen. Aber sie würde wissen wollen, wie das Blut auf seine Klamotten gekommen war. Auch da würde ihm etwas einfallen. Seine Sonntagshose allerdings war voller Erde und die Naht am rechten Bein war aufgerissen, sodass es jetzt aussah, als trüge Ricky eine halbseitige Schlaghose. Einen halben Hippie, bitte! Nun, das würde Ärger mit Mom geben.

Und wenn schon.

Er wollte gerade aufstehen, als er am Horizont eine einzelne Sternschnuppe sah. Der Meteorit zog einen langen, goldenen Feuerschweif hinter sich her, überquerte den Himmel in einem flachen Winkel um schließlich ins Meer zu stürzen. Ricky stellte sich vor, wie er mit lautem Zischen ins Wasser tauchte und eine mächtige Rauchsäule in den Nachthimmel emporstieg, während der Meteorit langsam auf den Meeresboden hinabsank. Unten würde er sich öffnen wie eine Auster und eine wunderhübsche Meerjungfrau gebären. Na klar, dachte Ricky, und ich bin Sir Lancelot, der Unbesiegbare. Der zufällig gerade mal wieder von ein paar Idioten ordentlich aufs Maul bekommen hat.

Ricky sah eine weitere Sternschnuppe aufblitzen, und dann noch eine. Es wurden immer mehr, und erstaunlicherweise schienen sie den Himmel in alle möglichen Richtungen und Winkeln zu kreuzen, fast wie ein Schwarm aufgeregter Glühwürmchen, und alle schienen das Ende ihrer Bahn vor der Küste von Port zu haben, aber das war sicher eine optische Täuschung. Immer mehr der Sternschnuppen durchzuckten den Himmel und wurden von der fernen Wasseroberfläche gespiegelt, bis sie darin erloschen. Es war wunderschön, überwältigend.

Nach ein paar Minuten war es vorbei, und aus irgend einem Grund fühlte sich Ricky jetzt ein wenig besser. Ihm fiel ein, dass er vor lauter Faszination vergessen hatte, sich etwas zu wünschen, aber das schien ihm gar nicht so schlimm.

Er saß einfach da, schmutzig, blutig und allein. Und er lachte. Er konnte einfach nicht anders. Tiffany Marshner, na klar! Warum hatte er nicht gleich Eheringe mitgebracht? Und eine Kutsche mit vier weißen Schimmeln? Wenigstens mit seinem Porsche hätte er doch vorfahren können!

Als sein Lachanfall allmählich verebbte, schnäuzte er sich erneut und stand auf. Zeit, nach Hause zu gehen.

Vorsichtig hob er das Grablicht vom Boden. Das Glas war heiß, also wickelte er seine Hand in den Ärmel des Sweatshirts, bevor er es aufhob. Dann ging er los, in die Richtung, aus der er gekommen war. Mike und sein kleiner Schlägertrupp waren in die entgegengesetzte Richtung davongegangen, wahrscheinlich hatten sie ihren Wagen am anderen Ende des Friedhofs geparkt, damit Ricky keinen Verdacht schöpfte. Zumindest ihr Plan hatte ganz prima geklappt.

Auch gut, dann würde er wenigstens vermeiden, ihnen nochmals in die Arme zu laufen. Eine blutige Nase pro Abend genügte ihm vollkommen.

Er fragte sich für einen Moment, wessen Idee das Pappherz am Eingang gewesen war und kam gerade zu dem Schluss, dass Mike das Herz von Tiffany geklaut haben musste, als er feststellte, dass ihm dieser Teil des Friedhofs nicht mehr wirklich bekannt vorkam. So allmählich hätte er das Kreuz des guten alten »Jim Marsh… « wieder sehen müssen, aber es war nicht hier. Das war schlecht.

Er blieb stehen und sah sich im spärliche Licht der Grabkerze um. Der Efeu, oder was immer dieses Gebüsch war, war hier, ja. Ebenso die Steinmauer, die in einiger Entfernung um den Friedhof lief. Aber diese beiden Dinge waren vermutlich überall auf dem gesamten Gelände zu sehen. Von Big Jim beziehungsweise seinem Kreuz fehlte dagegen jede Spur. War er etwa doch in die falsche Richtung gegangen? »Mist!« flüsterte Ricky, und es klang ein verloren in der Stille rings um ihn.

Er spürte einen brennenden Schmerz in seinen Fingern und ließ das Glas mit der Kerze fallen, das klirrend auf dem Boden zersprang. Finsternis. Er tastete nach dem Ärmel seines Sweatshirts und befühlte die Löcher, die das Glas hineingebrannt hatte. Großartig, nun war das ebenfalls hinüber! Er öffnete den Mund, um noch einmal »Mist!« oder etwas ähnlich Passendes zu sagen, war sich aber plötzlich nicht mehr so sicher, dass er seine eigene Stimme wirklich hören wollte. Stattdessen steckte er die Finger in den Mund, und lutschte daran herum, um den Schmerz der Verbrennung zu lindern, dabei sah er sich in der Dunkelheit um. Die gar nicht mehr so dunkel war.

Er brauchte ein Weile, um herauszubekommen, woran das lag, dann gewahrte er den bläulichen Schimmer. Er schien von einem der Gräber zu seiner Linken zu kommen. Er hatte genügend Filme der Art »Einsamer nächtlicher Wanderer sieht sich ein seltsames Licht genauer an« gesehen, um zumindest skeptisch zu sein. Wobei das fast so untertrieben war, wie das Naturschauspiel von vorhin als simplen Meteoritenschauer abzutun. In Wahrheit machte er sich vor Angst fast in die Hosen.

Doch dann sah er etwas, das ihn erleichtert aufatmen ließ. Er hatte sich nicht verlaufen, oder zumindest nicht richtig. Denn das blaue Licht riss die Konturen eines scharfkantigen Gegenstandes aus der Finsternis, eines großen Steinkreuzes. Er hatte den alten Jim gefunden, und dieses seltsame Licht hatte ihm dabei geholfen, Gott sei Dank! Offenbar war er eine Grabreihe zu weit südlich herausgekommen, aber dieser Fehler ließ sich leicht korrigieren, sobald er das Kreuz erreicht hatte. Das Kreuz mit dem seltsamen Lichtschein davor. Verdammt, reiß' dich zusammen, dachte Ricky, immerhin besser, als die ganze Nacht hier auf dem Friedhof herumzuirren. Und bevor sein Gehirn auf sein Herz hören und es sich anders überlegen konnte, setzten sich seine Füße in Bewegung, auf das Kreuz zu, und auf den Ausgang, wie er meinte.

Als er das Steinkreuz erreichte, war der Lichtschein so stark, dass er Ricky blendete, und doch sah er hin, er musste einfach. Auf dem Grab des alten Jim vor dem großen Kreuz lag ein blauer Ball, etwa von der Größe eines kleinen Fischglases. Das Licht, welches aus dem Inneren der Kugel strahlte, war von einem reinen, eisigen Blau, nicht unähnlich der Farbe von Tiffany Marshners Augen. Und es war, sogar noch mehr als diese, enorm anziehend. Genaugenommen war es Ricky schlicht unmöglich, den Blick von dem Licht abzuwenden.

»BLEIB.«, schien es zu sagen »BLEIB UND BETRACHTE MICH. NUR EIN WEILCHEN.« Und das tat Ricky. Er blieb und betrachtete die blaue Lichtkugel, und später würde er nicht sagen können, wie lange er so dagestanden und hineingestarrt hatte. Irgendwann war die Kugel erloschen und Ricky hatte den Friedhof mit zielgerichteten, aber etwas mechanischen Schritten verlassen, war auf sein Rad gestiegen und nach Hause gefahren. An nichts davon erinnerte er sich später. Wann immer er versuchte, sich zu entsinnen, was in dieser Nacht nach der Abreibung durch Mike und seine Freunde passiert war, sah er nur ein strahlend blaues Licht, heller als jede Erinnerung. Aber er wusste etwas anderes, eine Wahrheit, die sich tief in sein Bewusstsein eingebrannt hatte. Er wusste: Blau ist die die Farbe der Treue.

DIE FARBE DER TREUE

Als er am nächsten Morgen in seinem Bett erwachte, war Ricky nahe dran, den gesamten vergangenen Abend, inklusive des Zusammentreffens mit Mike Skolnick für ein Produkt seiner Fantasie zu halten. Er fühlte sich prächtig. Seine Nase schmerzte nicht mehr, und als er sich im Spiegel betrachtete, war das ganze Blut verschwunden, auch von seinen Klamotten, in denen er geschlafen hatte. Seine Hose hatte keinen Riss mehr, sie sah aus wie gerade gekauft, genau wie sein Sweatshirt. Und nirgends war ein Krümel Erde oder Schmutz zu finden, noch nicht einmal unter den Sohlen seiner alten Sneakers, in denen er ebenfalls geschlafen hatte. Und da wusste er, dass etwas passiert war in dieser Nacht, etwas Wichtiges. Denn die Sohlen seiner Sneakers waren noch niemals vorher wirklich sauber gewesen, geschweige denn blitzblank.

SAMSTAG: A FATHER'S WORK IS NEVER DONE

»Klar, Mr. Marshner, das müssen wir.« sagte Mr. Periwinkle und schob die runde Nickelbrille auf seinem knochigen Nasenrücken zurecht. Er hatte eine ganz außergewöhnlich schmale Nase, fand Mr. Marshner. Mr. Marshner erinnerte diese Nase ein wenig an einen Schnabel. Ob es der Schnabel eines Raubvogels war, wusste Mr. Marshner momentan noch nicht zu sagen, aber auch das würde sich bald herausstellen.

»Gut, Mr. Periwinkle. Ich werde den Behälter bereit halten. Was ist mit unserem ... Gast?« Soweit Mr. Marshner wusste, besaßen auch Tintenfische einen Schnabel, ganz ähnlich dem eines Papageis. Einem solchen Schnabel ähnelte die Nase von Mr. Periwinkle aber ganz sicher nicht.

»Unser Gast ist seit gestern in der Stadt, und äh … «

»Seit gestern.«

»Ja, Mr. Marshner, das habe ich auch gerade erst erfahren. Ich werde sehen, dass ich ihn sofort...«

Die Tür öffnete sich und ein überaus bezaubernder Blondschopf von ebenso bezaubernden siebzehn Jahren lugte zur Tür hinein.

»Oh, sorry, Dad, ich wusste nicht, dass du Besuch hast.« Die Brauen des Blondschopfs gingen nach oben und ihre Nase kräuselte sich ein bisschen, sodass es den Anschein hatte, ihre großen, strahlend blauen Augen würden noch ein Stück größer, als sie ohnehin schon waren. So süß, dass es kaum zum Aushalten war. Wie sie wohl wusste.

»Schon gut, Tiff. Was gibt es denn, meine Schöne?«

»Naja, ich wollte rüber zu Mike fahren, wir wollten...«

Ihr Vater hob die Hand in der Imitation eines römischen Kaisers. »Schweig, Unwürdige!« sagte er dann im Ausdruck größter Ernsthaftigkeit, was Tiffany Marshner unweigerlich zum Kichern brachte. »Der Imperator weiß Alles! Der Schlüssel, er soll dir gehören.«

Er angelte den Autoschlüssel vom Tisch und warf ihn seiner Tochter zu, die ihn geschickt mit einer Hand auffing.

»Sei aber vor Einbruch der Dunkelheit zurück, ja?« sagte Marshner und sein Blick zuckte für den Bruchteil einer Sekunde zu Mr. Periwinkle hinüber.

»Sonst passiert was? Verwandelt er sich dann zurück in einen Kürbis?« fragte sie lächelnd und wirbelte den Schlüssel ein paar Mal um ihren ausgestreckten Zeigefinger.

»Nein, meine Süße. Sonst wandert dein entzückender, kleiner Hintern für eine Woche in den Stubenarrest. Verstanden?«

»Dad!« rief Tiffany empört und wurde ein bisschen rot. Mr. Periwinkle wurde sogar noch ein wenig roter, und bei ihm war es echt. Tiffany drehte sich um, wobei sie Periwinkle einen langen (wenn auch verstohlenen) Blick auf ihren tatsächlich ganz entzückenden Hintern gewährte.

»Ach noch was, Tiff.«

»Ja, Dad?« fragte Tiff, ohne sich umzudrehen.

»Sag' Mike, er soll sich wie ein Gentleman benehmen, wenn er keinen Ärger mit deinem alten Paps bekommen will.«

Nun drehte sie sich doch um. »Mike ist ein Gentleman!« Sie grinste ihren Vater an, der grinste zurück und Mr. Periwinkle betrachtete fasziniert seine Fingernägel.

»Dann ist ja gut. Dann ist gut.« sagte Mr. Marshner und wandt sich wieder Mr. Periwinkle zu, nachdem seine Tochter die Tür zum Büro wieder geschlossen hatte.

»Kinder!« sagte er milde lächelnd zu Mr. Periwinkle und zuckte mit den Schultern, während seine Augen, die nicht die Bohne lächelten, Periwinkle unverwandt musterten. Schließlich kam Mr. Marshner zu dem Schluss, dass Periwinkles Nase am ehesten dem Schnabel eines Spatzen glich.

DIE BRACCIOLINIS MACHEN EINE SPRITZTOUR

Tiffany hatte bereits die halbe Strecke zum Haus der Skolnicks auf der anderen Seite des Seaside Hill zurück gelegt, als ihr der blaue Toyota Starlet entgegenkam. Das halb verrostete kleine Fahrzeug quälte sich ermüdend langsam den Berg hinauf, was kein Wunder war angesichts der Tatsache, dass er mit mindestens zwei Kleinkindern, einer dicken Frau mit strähnigem, blond gefärbten Haaren und einem unglaublich fetten Italiener vollgestopft war. Zumindest hielt Tiffany den Typen aufgrund seines olivfarbenen Teints und seiner mit reichlich Haaröl zurück gekämmten, schwarz glänzenden Haare für einen Italiener. Als sie den anzüglichen Blick bemerkte, den ihr der Fahrer des Toyota zuwarf, verdrehte sie die Augen und trat aufs Gaspedal ihres BMW.

Francesco »Franky« Bracciolini grinste sie an und leckte sich dabei über seine fleischigen Lippen, ohne es zu bemerken. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich auszumalen, was er mit der kleinen Blondine in dem weißen BMW anstellen würde, wenn sie ihn nur erst ran ließe. Und das würde sie bestimmt, die kleine Schlampe. Sie war immerhin die Tochter vom alten Marshner und wenn sie nur ein bisschen nach ihrer Mutter geraten war ... und das war sie ganz bestimmt. Alle Weiber gerieten nach ihren verdammten Müttern. Da brauchte man sich bloß mal Violet anzusehen. Wurde genauso fett und hässlich wie ihre Mutter, die alte Hexe.

Violet schien die kleine Marshner (die sich Franky manchmal nackt und auf den alten Holzstuhl im Keller gefesselt vorstellte, wenn er es seiner Frau besorgte) nicht bemerkt zu haben, was wahrscheinlich auch ganz gut so war. Es sparte Gezeter. Violet Bracciolini hatte sich zu den Kids auf der Rückbank umgedreht und versuchte gerade, irgendeinen Streit zu schlichten. Die Gören stritten sich andauernd in letzter Zeit und Franky hegte allmählich den Verdacht, dass sie das hauptsächlich taten, um ihn endgültig in den Wahnsinn zu treiben.

All zu viel fehlte dazu ohnehin nicht mehr, und an diesem Zustand waren hauptsächlich die pochenden Kopfschmerzen schuld, die Franky in letzter Zeit ständig überfielen. Zumindest bezeichnete er sie als Kopfschmerzen, in Ermangelung der Kenntnis eines besseren Ausdrucks. Jemand anderes hätte sie vielleicht als schwere Migräne bezeichnet und sich gewundert, wieso die Schmerzen seit April immer stärker geworden waren und ihm seit ein paar Wochen kaum noch eine Pause gönnten. Jemand, der Frankys Zustand als Migräne bezeichnet hätte, wäre vielleicht auch auf die Idee gekommen, zu einem Arzt zu gehen. Und wenn dieser Arzt nicht völlig auf den Kopf gefallen wäre, würde er unzweifelhaft die Symptome des prächtig entwickelten Tumors in Frankys Kopf erkannt haben, der im Laufe des vergangenen Jahres auf die Größe einer Kinderfaust angewachsen war. Aber Franky Bracciolini war kein Typ, der sein Geld für Quacksalber ausgab.

Franky behandelte seine Kopfschmerzen stattdessen mit eigenen Hausmitteln, wozu neben Unmengen rezeptfreier Schmerzpräparate vor allem nicht minder beträchtliche Kontingente billigen Whiskeys gehörten. Eine Kombination, bei der jeder Arzt die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte, noch dazu bei Frankys ausladenden Körpermaßen und wenn ihm Franky von den Schmerzen erzählt hätte, die er gelegentlich auf der linken Seite seiner Brust verspürte.

So war es nicht weiter ungewöhnlich, dass Franky Bracciolini trotz der frühen Stunde bereits einen leichten Dämmerzustand erreicht hatte, in dem andere Leute ihre Wagenschlüssel längst dem Barkeeper anvertraut und nach Hause gelaufen (oder gekrochen) wären. Franky half es lediglich dabei, diese verdammten Kopfschmerzen etwas besser zu ertragen.

Was allerdings überhaupt nicht zu seinem Wohlbefinden beitrug, war das Gezänk auf dem Rücksitz. »Ruhe!« brüllte Franky, während er aus rot geränderten Augen auf die Fahrbahn vor sich starrte. »Ruhe, verflucht noch mal, ihr verdammten Bälger! Marylou! Rocco!« Nicht, dass es die Teilnehmer der angeregten Unterhaltung im Fond des Wagens im Mindesten beeindruckt hätte.

MR. BRACCIOLINI STÖSST AUF EIN HINDERNIS

»Verdammt, Violet, bring' diese Bälger endlich zum Schweigen!« flucht Franky Bracciolini weiter.

»Aber Marylou hat...« greint Rocco und Marylou, der scheinbar für den Moment die Argumente ausgegangen sind, quiekt los, in einem hohen, durchdringenden Ton, etwa so, wie Ferkel das tun, wenn man sie zum Schlachter führt. Violet hat inzwischen aufgegeben und guckt demonstrativ zum Seitenfenster hinaus. Also dreht Franky sich um und lässt die Hand sprechen. Es ist eine große Hand, und kräftig, denn Franky war früher mal Fischer, als es in der Bucht noch etwas zu fischen gab. In letzter Zeit scheint die Hand überhaupt die einzige Möglichkeit zu sein, seine plärrende Brut wenigstens für ein paar Minuten zur Ruhe zu bringen. Also dreht er sich um und scheuert dem Jungen eine. Nicht zu fest, nur damit er sich noch ein Weilchen an die Lektion erinnert und endlich seine verdammte Klappe hält. Der Junge schaut ihn für den Bruchteil einer Sekunde aus großen Augen an, und hält tatsächlich kurz die Klappe, dann plärrt er um so lauter los. Marylou stimmt ein spitzes, schadenfrohes Gelächter an, was irgendwie noch nerviger ist als ihr Ferkel-Quieken von vorhin. Dummerweise dreht sich nun auch Violet wieder zu den Kindern um.

Als Franky Bracciolini bemerkt, dass von der Fahrbahn abgedriftet ist, den Mittelstreifen längst überquert hat und sich mittlerweile auf der Gegenspur befindet, ist es schon zu spät. Er reißt das Steuer herum, aber das nützt dem Jungen auf dem Fahrrad auch nichts mehr.

Der Junge hat die Kapuze seines Sweatshirts tief ins Gesicht gezogen, und während Franky auf ihn zurast, kann er deutlich das Logo der New York Giants auf der Brust des Jungen lesen. Es ist das alte Logo, aus der Zeit, als Phil Simms noch Quarterback für die Giants gewesen war, und nicht diese hässlichen Kleinbuchstaben, die sie heute als Logo haben.

Eine durchsichtige Plastikfolie ist über den Korb am Lenker des BMX gebreitet, unter dem die Zeitungen liegen, die der Junge ausfährt. Es ist der Port Register, Ports überaus respektables (und einziges) Wochenblatt. All das sieht Franky, der plötzlich vollkommen nüchtern ist, mit schmerzhafter Deutlichkeit, selbst seine Kopfschmerzen sind für den Moment vergessen. Das Gesicht des Jungen kann er allerdings nicht erkennen, dazu hat dieser die Kapuze zu tief ins Gesicht gezogen, wahrscheinlich wegen des Regens.

Franky ruft »Cazzo!«, als er den Jungen mit dem nahezu ungebremsten Wagen rammt. Er hört ein lautes »Klonk!«, was ihn aus irgendeinem Grund an die Bremspuffer von Eisenbahnwaggons erinnert und dann geht eine heftige Erschütterung durch den Wagen und Violet knallt mit der Hüfte unsanft an das Armaturenbrett, weil sie immer noch nach inten sieht. Das ungesunde Kreischen der abgenutzten Bremsen des Starlet empfindet er ebenfalls als etwas unbestimmt Bahnhofsmäßiges.

Während Franky in Gedanken noch bei Zügen und Bahnhöfen ist, segeln der Junge und sein Rad in Zeitlupe vor seinen schreckgeweiteten Augen durch die Luft. Für einen Moment verschwindet er sogar komplett aus Frankys Gesichtsfeld, so hoch schwebt er über dem Bürgersteig. Dann ist er wieder zu sehen. Er und das Rad krachen fast gleichzeitig auf den Gehweg, von dem Rad brechen ein paar Teile ab, während es drei, vier Purzelbäume schlägt und schließlich ein paar Meter weiter auf dem Asphalt liegen bleibt. Der Junge schlägt keine Purzelbäume, nachdem er aufgekommen ist. Er liegt einfach nur da und bewegt sich nicht mehr.

Durch die vier Insassen des Wagens geht ein Ruck, als der kleine Wagen bockend vom Bordstein abprallt und zurück auf die Straße geschleudert wird. Da die Stoßdämpfer des Wagens ohnehin kaum mehr als eine symbolische Funktion ausüben, bockt und springt der Wagen wie ein Rodeobulle. Dann endlich kommt der Starlet mit einem lauten Krachen am gegenüberliegenden Bordstein zum Stehen. Wunderbarerweise ist der Wagen noch völlig intakt, von einer tiefen Delle auf der Motorhaube abgesehen, mit der er das Rad des Jungen gerammt hat. Während vier entgeisterte Augenpaare durch die Scheibe hinüber auf den Bürgersteig glotzen, wo der Junge liegt (Rocco und Marylou sind jetzt endlich wirklich ruhig. Genaugenommen herrscht in dem kleinen Wagen etwas, das den Begriff »Totenstille« für Franky völlig neu definiert.), flattern rings um sie grauweiße Schatten durch die Luft wie ein Schwarm aufgeschreckter Tauben. Die »Tauben« landen überall auf der Straße und dem Bürgersteig, ein paar von ihnen auch auf dem leblosen Körper des Jungen. Es sind die Zeitungen aus dem Korb, die der Junge ausfahren wollte. Es scheint, als würden die Bewohner der Siedlung auf dem Seaside Hill heute auf ihre »Neuigkeiten aus Port und der Welt« verzichten müssen.

Kaum dass der Wagen steht, will Violet Bracciolini die Tür aufreißen und zu dem Jungen rennen. Doch Franky beugt sich blitzschnell zu ihr herüber und zieht die Tür mit einem Ruck wieder zu. Dann schaut er in Violets weit aufgerissene Augen (Seine eigenen sind groß und rund und dunkel – sie erinnern Violet an zwei Kohlen, im Gesicht eines Schneemanns) und flüstert zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch: »Nein.« Und Violet versteht. Alkohol am Steuer. Plus Unfall. Ist gleich: Nicht gut.

Als Franky den Schlüssel im Zündschloss herumdreht, springt der Wagen sofort an, was erstaunlich genug ist. Normalerweise braucht er immer um die drei Versuche, im Winter bleibt der Wagen auch gern mal komplett liegen. Mechanisch legt Franky den Rückwärtsgang des Starlet ein und rollt vorsichtig, so als wolle er den Jungen nicht wecken, vom Bürgersteig. Dabei macht er löblicherweise sogar den Schulterblick. Dann kurbelt er das Lenkrad zurück und tritt das Gas durch. Als der Wagen den Berg hinab rast, überschreitet er deutlich die Geschwindigkeitsvorschriften, aber das ist Franky Bracciolini momentan herzlich egal. Er will nur weg von dem verdammten Seaside Hill. Er hat jetzt andere Probleme, ganz andere Probleme.

MRS. SCHMID TÄTIGT EINEN ANRUF

Als Ricky das Quietschen der Reifen des davonrasenden Toyota hörte, kam er schlagartig zu Bewusstsein. Vor seinen Augen tanzten unzählige kleine Lichtpunkte auf hässlichen, grellbunten Schlieren aus Licht und die Dunkelheit an den Rändern seiner Wahrnehmung drohte wieder über ihn hereinzubrechen, aber er kämpfte sie zurück, und Etwas schien ihm dabei zu helfen. Das, was ihn unsanft aus der Bewusstlosigkeit gerissen hatte, hielt ihn auch weiterhin wach. Dieses Etwas sorgte dafür, dass er seinen Oberkörper aufrichtete und den Hals reckte, um den Wagen sehen zu können, der den Hügel hinab und auf das Stadtzentrum zu raste. Dieser Wagen, ein blauer Starlet, war das Einzige, das Ricky in diesem Moment wirklich wahrnahm. Die ihn umgebenden Häuser, die Straße und der blutige Fußweg, auf dem in einiger Entfernung die verbeulten Reste seines Fahrrads lagen – all das versank in der Schwärze, so als blicke Ricky durch einen langen Tunnel, an dessen Ende es nur den kleiner werdenden Toyota und dessen Fahrer gab. Von seiner Stirn tropfte Blut auf seinen Kapuzenpulli, und bildete dort hässliche, dunkle Flecken. Seine Jeans waren an mehreren Stellen aufgerissen, an seinem Knie begann eine lange Schürfwunde, die sich bis zu seinem Oberschenkel fortsetzte, fast bis auf Höhe der Shorts, die er trug. Auf den Shorts waren kleine Bugs Bunnys abgebildet, die in Mohrrüben bissen. Die meisten der Häschen waren nun rot getränkt vom Blut des Jungen.

Er hatte ihre Gesichter deutlich durch die Scheibe gesehen, kurz vor dem Aufprall. Zumindest das des Fahrers. Und er hatte Franky erkannt, weil Franky früher öfter mal mit seinem Dad und ein paar anderen Fischern rumgezogen war. Nicht direkt ein Freund der Familie, aber immerhin ein flüchtiger Bekannter, so wie sich die Fischer in Port eben untereinander gekannt hatten, damals.

Ricky López versuchte aufzustehen und knickte sofort wieder ein, verharrte dann vor Anstrengung zitternd in einer knienden Stellung. Dabei ähnelt er einem mittelalterlicher Knappen, der nach einer ehrenvollen (und ungemein blutigen) Schlacht seinen Ritterschlag erwartet. Die Bänder seines rechten Knöchels waren glatt durchgerissen, der Knöchel selbst begann sich rasch mit Blut zu füllen und anzuschwellen, bis er ganz dunkelblau war und die Größe einer Männerfaust erreicht hatte. Seine Arme waren aufgeschürft und bluteten, zwei Finger an seiner rechten Hand standen in einem unnatürlichen Winkel ab. All das bemerkte Ricky genauso wenig wie die Zeitungen, die über die Straße und den Bürgersteig flatterten. Er hielt seine Arme vorgestreckt und starrte dem kleinen, blauen Toyota hinterher. Der Anblick hatte (von dem ganzen Blut abgesehen) fast schon etwas Komisches, so als wollte er die Insassen auf diese Weise davon abhalten, Fahrerflucht zu begehen. Aber natürlich funktionierte das nicht. Er war schließlich nicht Magneto, er war noch nicht mal Captain Beyond. Er war nur ein Junge.

Seine Hände vollführten ein paar hilflose Gesten in der Luft, zittrig und schwach, dann ging ein Ruck durch Rickys Körper und er erstarrte für einen Augenblick, bevor er erneut leblos auf dem Bürgersteig zusammenbrach.

Ein Schmetterling, dessen Flügel in dem gleichen, metallischen Blauton schimmerten wie die brüchige Lackierung des kleinen Toyota (zumindest an den Stellen, die nicht von Rost zerfressen waren) flatterte vorüber und setzte sich auf den Arm des reglos daliegenden Jungen. Rickys Augen waren fest geschlossen, er hatte wieder das Bewusstsein verloren, aber er konnte den Fahrer des blauen Toyota noch immer deutlich vor sich sehen. Ein sanftes Lächeln der Befriedigung stahl sich auf Rickys blutleere Lippen, als er vollends in die Schwärze hinüber glitt. Der kleine, blaue Schmetterling klappte seine Flügel auseinander und ließ sich von einem Windstoß empor tragen. Dann flatterte er durch den Vorgarten davon, der zum Haus von Eli Schmid gehörte.

Als Mrs. Schmid den Knall auf der Straße hörte, saß sie gerade im ersten Stock auf dem Topf und machte, was eine Dame eben tut, wenn sie auf dem Topf sitzt. Seit Dr. Skolnick ihr die neuen Pillen gegeben hatte, war eine gewisse Regelmäßigkeit in ihre Körperfunktionen zurückgekehrt, ein Umstand, den sie auf eine stille, dankbare Weise genoss. Da Eli Schmid es ratsam fand, erst eine Sache zu Ende zu bringen, bevor sie mit der nächsten begann (Eine Angewohnheit, die dem, was die Leute als Weisheit des Alters bezeichnen, bedenklich nahe kam.), beendete sie zunächst in aller Ruhe ihr Geschäft. Nachdem sie mit den damit verbundenen Handgriffen fertig war, und ihre Wäsche wieder an den rechten Platz gerückt hatte, hievte sie sich von dem Plastiksitz, den ihr Jimbo vor ein paar Jahren auf das Klo gebaut hatte - ihr kleiner, weißer Plastikthron, wie sie manchmal sagte, der den Sinn hatte, ihr nach besagtem Geschäft das Aufstehen zu erleichtern. Wer wollte schon gern auf dem Klo sitzen bleiben und verhungern, weil er nicht wieder hochkam?

Sie wusch sich die Hände in dem kleinen Waschbecken, trocknete sie an dem sauberen Handtuch daneben ab und griff dann nach einem in die Wand eingelassenen Metallbügel, um sich bis zur Klotür zu hangeln, vor der sie ihren Treppenlift geparkt hatte. Dann ließ sie sich auf die Sitzfläche des Lifts fallen und drückte einen Knopf, worauf sich das kleine Gefährt mit einem leisen Surren in Bewegung setzte und sie hinab ins Erdgeschoss des kleinen Häuschens brachte, wo am Treppenabsatz ihr Rollstuhl auf sie wartete. Sie setzte aus dem Lift in den Rollstuhl über und fuhr dann zum Fenster im Wohnzimmer, von dem aus sie auf die Straße vor ihrem Haus hinaus blicken konnte.

Als Erstes fiel ihr die Radkappe auf, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag. Die Sonne war für einen Moment durch die dichte Wolkendecke gebrochen, wie um die Szene zu beleuchten, und ließ das Metall der Radkappe geheimnisvoll blitzen und funkeln.

Dann entdeckte sie den leblosen Jungen, der auf ihrer Seite des Bürgersteigs in einem kleinen See aus Blut lag. Eli Schmid fasste sich an die Brust und ließ sich schwer in ihren Rollstuhl sinken. Dann betätigte sie den Knopf, der den Rollstuhl startete und fuhr auf das kleine Tischchen neben der Tür zum Flur zu, wo neben einer Vase mit einem Strauß Plastikveilchen ihr Telefon stand.

AZULA

Als er fertig war, zog er ihn fast sofort heraus und rollte sich dann von ihr herunter, so wie jedes Mal. Miguel hatte es stets genossen, in ihr zu bleiben, bis ihre gemeinsamen Säfte ihn nach einer Weile aus ihrem Körper gespült hatten. Aber er war nicht Miguel. Und wie jedes Mal stopfte er sich ein Kopfkissen unter den Rücken, angelte nach der Schachtel auf dem Nachttisch und steckte sich eine an. Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr.

»Nicht schlecht, oder, Azula-Baby? Nicht schlecht...« lobte er sich selbst, und nur halb im Scherz.

»Stimmt, Johnny, das war gut.« erwiderte sie. Und es stimmte. Er hatte es ihr besorgt, fast eine Stunde lang, wenn man das Vorspiel dazu zählte. Und das war etwas, das er wirklich gut konnte, sie zerschmolz praktisch unter seinen schlanken, geschickten Händen. Er brachte sie selten zum Höhepunkt, wie es Miguel fast jedes Mal geschafft hatte, aber das war nicht weiter schlimm. Dafür brauchte es Zeit, und Vertrauen. Und beides stand ihnen nur in begrenztem Umfang zur Verfügung. Es hatte ihr trotzdem Spaß gemacht, einer der Gründe, warum Azula López mit Johnny Eton schlief.

Der andere Grund hatte eher mit seinem Job zu tun. Johnny arbeitete als Geldeintreiber für den Duke. Ein Repo-Man, so ähnlich wie die Typen, welche die Autohändler losschicken, um ihre Camaros von den Leuten zurück zu klauen, wenn diese die Raten dafür nicht bezahlen konnten. Nur hatte Azula nun wirklich kein Auto, das zu klauen sich gelohnt hätte. Das einzige, das sie besaß, war ihr fast abbezahltes Haus und die Freuden, die ihr Körper bot.

»Wo ist dein Sohn, Azula-Baby, hm? Ricky, stimmt's?« sagte Johnny Eton, zog an der Zigarette und blies den Rauch an die Decke ihres Schlafzimmers.

»Er fährt die Zeitung aus, Johnny. Ist ein braver Junge.« sagte Azula und dachte: Nur dass dich überhaupt nichts angeht, Johnny Eton. Schließlich bist du nicht sein Vater. Aber das sagte sie natürlich nicht laut.

»Ist er denn auch sonst ein braver Junge? Macht dir keinen Kummer?« fragte Johnny ohne großes Interesse und ließ seinen Blick genießerisch über ihre kleinen, straffen Brüste wandern.

»Ja, er ...« Nun, in letzter Zeit war er nicht immer brav gewesen. In letzter Zeit war er abends länger fort geblieben, als sein Vater ihm das erlaubt hätte, würde er noch leben. Und sie hatte ihn im Verdacht, ein paar Mal die Schule geschwänzt zu haben. Als sie ihren Sohn darauf angesprochen hatte, war er ihr nur mit diesem seltsamen Blick begegnet, kalt und fern, und da hatte sie ihn in Ruhe gelassen. Sie liebte den Jungen und es war ja auch nicht leicht für ihn. Ein Junge brauchte einen Vater, so war das nun mal.

Und sie brauchte noch etwas Zeit. Jeder hat sein Päckchen zu tragen.

»Klar, er ist brav, Johnny. Steckt nur gerade ein bisschen in der Pubertät.« Sie versuchte ein entschuldigendes Lächeln. »Aber ich mache das alles schließlich für ihn, und das weiß er.«

»Hm«, machte Johnny und sah sie ernst an, »wie meinst du das? Das Alles?« Azula wurde rot. Sie spürte, wie Johnnys Samen zwischen ihren Schenkeln antrocknete und zog die Decke enger um ihren schlanken Körper. Es war kalt in dem kleinen Zimmer.

»Ich, ... ich bin gleich wieder da, Johnny.« sagte sie und stand auf. Kurz bevor sie die Badtür erreicht hatte, sagte er:

»Nein, warte. Echt jetzt. Wie meinst du das? Willst du etwa sagen, du fickst nur mit mir wegen dieses Rotzlümmels?«

»Er ist kein Rotzlümmel, Johnny ...«

»Verfluchte Scheiße, Azula, ich glaub's ja nicht!«

»Nein, Johnny, so ist das nicht. Ich ...«

»Halt die Fresse! Halt' deine dumme Fresse, hörst du?«

»Ich mag dich wirklich, Johnny.«

Darauf grinste er, was allerdings kein besonders schöner Anblick war. Er zog seine Mundwinkel nach oben, bis man die Zähne sehen konnte. Es sah boshaft aus, fand Azula, wie ein Wolf oder ein tollwütiger Hund. Boshaft und gefährlich.

»Okay.«, sagte Johnny Eton. »Ist ohnehin besser so.« Dann stand er auf und schlüpfte in seine Hose, zog sein Hemd über, dass er sorgsam über den Stuhl vor dem Bett gehängt hatte. »Bevor der Duke noch Wind von der Sache bekommt, meine ich. Verstehst du? Der Duke will seine Kohle, und er will sie jetzt. Ende der Fahnenstange … «

»Johnny!« Jetzt hatte sie ganz große Augen. Angst stand darin. Das gefiel Johnny Eton, irgendwie fand er es ein bisschen sexy. Er musste aufpassen, dass er keinen Ständer bekam und sie doch noch einmal schnell fickte, bevor er ging. Nein, dachte Johnny, Schluss damit! Die Sache war auch so schon verzwickt genug.

»Johnny, ich … « stammelte sie, »Nächste Woche! Ich kann bestimmt … « Sie versuchte zu lächeln, aber es sah genau so erbärmlich aus wie der billige Lippenstift, der über ihre linke Wange verschmiert war.

»Nein.« sagte Johnny mit Bestimmtheit und richtete eine Manschette am Ärmel seines Dolce & Gabana Hemds. Das hier war nicht mehr sein Problem. Er hätte es überhaupt nicht erst zu seinem Problem werden lassen sollen. »Kein Aufschub mehr. Nächsten Dienstag«, sagte er, ohne Azula anzusehen. »Und du hast das Geld besser hier, wenn ich vorbeikomme. Alles davon.«

DER BLAUE FALKE BLICKT ZURÜCK

An diesem Samstag Abend fühlte Franky Bracciolini sich noch miserabler als sonst. Und das, obwohl er seit dem Mittagessen im Viertelstundentakt abwechselnd Aspirin und Excedrin in sich hinein geschaufelt hatte, die faszinierenderweise genauso wenig Wirkung zeigten wie die halbe Flasche Maker's Mark, die er hinterhergekippt hatte. Mittags waren sie bei Donnie's essen gewesen, einem Burgerladen an der Harbour Lane. Die Kinder und Violet hatten die Burger vor ihren Nasen nur stumm angestarrt, als seien diese eklige Insekten, hatten regelrecht ausgesehen, als würden sie jeden Moment kotzen müssen – er hätte das Geld für die Burger auch gleich in den Gully schmeißen können.

Seit dem Unfall auf dem Seaside Hill hatten sie nur die nötigsten Worte miteinander gewechselt, daran hatte sich auch nach der Rückkehr in ihr kleines, schmutziges Haus am Stadtrand nichts geändert. Einzig Baby Jean hatte hin und wieder leise aus dem Nebenzimmer gequengelt, worauf Violet jedesmal nach drüben gehastet war, als könne sie es gar nicht erwarten, von der Couch wegzukommen, auf der ihr Mann saß und so tat, als folge er den Geschehnissen auf dem Fernsehbildschirm. In Wirklichkeit war Franky Bracciolini jedoch mit einem gänzlich anderen Film beschäftigt, der hinter seinen Augen ablief. Die Kinder hatten sich irgendwann schweigend nach oben verdrückt und waren erst zum Abendessen wieder runter gekommen. Da hatten sie dann wenigstens etwas Hunger gehabt, und Violet auch, was wahrscheinlich an der übersprungenen Mahlzeit lag. Das war gut. Franky hatte Nudeln für die Familie gekocht. Selbstverständlich übernahm er stets das Zubereiten der Mahlzeiten, wenn sie nicht auswärts (also bei Donnie's oder einem anderen Fast-Food-Laden) essen waren. Ganz besonders, wenn es um Pasta ging. Er hatte Violets Kochkünste genau ein Mal ausprobiert und das Ergebnis als ungenießbaren Fraß in Erinnerung, der dem Gaumen eines Italieners in keiner Weise würdig war. Ihre Kochkünste hatte Violet sich offenbar auch von ihrer Mutter abgeschaut.

Nach dem Essen waren die Kinder wieder nach oben gegangen, ins Bett – und zum ersten Mal, seit sie keine Babys mehr waren, ohne Protest. Sie mussten ziemlich müde sein, und auch Violet nickte immer wieder ein, während sie America's Got Talent schauten. Außerdem klagte sie über leichte Kopfschmerzen. Und obwohl seine eigene Migräne ihn immer noch ziemlich schlimm plagte, war Franky aufgestanden, um ihr einen Kaffee aufzubrühen. Sie hatte dankbar gelächelt, als er ihr den Kaffee brachte, aber auch da war dieser verstörte Ausdruck nicht ganz aus ihrem Gesicht gewichen. Der Vorwurf in ihren Augen.

Franky kippte noch zwei Bier, aber er ließ für den Rest des Abends die Finger vom Bourbon. Als Violet die Tasse Kaffee getrunken hatte, zog sie die Beine an ihren Körper und kuschelte sich in das große Kissen. Sie war auf der Stelle fest eingeschlafen.

Franky wartete trotzdem noch etwa eine halbe Stunde und schaute den Singversuchen irgendwelcher Möchtegern-Sternchen auf der Mattscheibe zu, während er wartete. Gegen Elf ließen die Kopfschmerzen endlich etwas nach. Er wusste nun, was zu tun war. Es war Zeit für die Arbeit.

Nachdem er einen weiteren prüfenden Blick auf Violet geworfen hatte, stand Franky Bracciolini auf, ging in die Garage und holte einen Hammer und die Kiste mit den Zimmermannsnägeln. Jesusnägel hat sein Vater die immer genannt, und dann dreckig gelacht.

Franky vermutete, dass sein Vater kein besonders großer Fan der katholischen Kirche gewesen war, obwohl er als Chorknabe in einer kleinen Gemeinde bei Bari gesungen hatte. Am Abend seines sechzehnten Geburtstags war Paolo Bracciolini zum Pfarrer der örtlichen Gemeinde gegangen, hatte den alten Mann halbtot geprügelt war anschließend aus dem Ort verschwunden. Er hatte sich auf dem nächsten Schiff als Handlanger verdingt. Auf diese Weise war er um die halbe Welt geschippert und schließlich in den Staaten gelandet. Dort hatte Frankys Vater als Zimmermann gearbeitet, bis er eines schönen Tages besoffen von einem Dach gefallen war. Er hatte Franky und seine Mama ohne einen Cent zurück gelassen, denn natürlich zahlte die Versicherung nicht, wenn man einen intus hat, oder ein paar mehr, wie in Paolo Bracciolinis Fall.

DIE AXT IM HAUS

Nachdem er das Werkzeug geholt hat, macht sich Franky Bracciolini daran, den Mitgliedern seiner Familie systematisch die Köpfe einzuschlagen, wozu er den Hammer seines Vaters benutzt. Es ist ein guter, handlicher Latthammer mit einem gummierten Griff und einem 600-Gramm-Hammerkopf aus C45 Stahl. Zuerst geht Franky zu den Kindern, und dann kümmert er sich um Violet, die auf der Couch liegt und beinahe alles verpennt hätte. Das geht recht gut und ohne viel Gezeter, weil er ihr und den Kids früher am Abend etwas von dem Excedrin in die Pasta gemischt hatte, und eine Extraportion davon in Violets Kaffee. Rocco erwischt er ziemlich hart, der Junge ist gleich beim ersten Schlag auf seine Stirn mausetot, aber das Mädchen und Violet wachen noch ein paar Mal auf, während er sie in die Küche schleift und dort mit seiner eigentlichen Arbeit beginnt. Sie schreien ein bisschen, wobei sich Violet andauernd gurgelnd an dem Blut verschluckt, was ihr in den Rachen läuft. Vor ihrem Mund bilden sich kleine rosafarbene Blasen, während sie zusammenhanglose Wortfetzen stammelt. Aus der fast kreisrunden Wunde in der Stirn ist Blut in ihr rechtes Auge gelaufen und damit guckt sie ihn jetzt ganz stumpf und dumm an. Die kleine Marylou sagt gar nichts, nur hin und wieder kommt sie kurz zu Bewusstsein, ihre Lider flattern und die Pupillen rollen nach oben, als hätten die Augen keine Kraft mehr, zu schauen die Sterne. Sie sieht aus, als wäre sie ganz furchtbar müde. Manchmal stöhnt sie ein bisschen, als hätte sie einen schweren Traum. Irgendwann wacht Baby Jean auf und quengelt aus dem Wohnzimmer. Aber Franky hat jetzt keine Zeit für das Baby, er wird sich später darum kümmern. Nachdem er alle in die Küche gezerrt hat und mit seiner Arbeit beginnt, stellt er mit großer Erleichterung fest, dass seine Kopfschmerzen nun gänzlich verschwunden sind. Franky grinst und pfeift leise das Riff von »In A Gadda-Da-Vida«, während er sein Werk beginnt.

Marylou macht den Mund auf und bringt sagt etwas, das wie »Oggl.« klingt. Könnte eine Figur aus einem Dr. Seuss-Cartoon sein, findet Franky und lächelt in sich hinein. Dann entleert Marylou ihre Blase auf den Küchenboden und ist wieder ruhig. Sie bewegt sich nun kaum noch, nur hin und wieder geht ein sanftes Zucken durch ihre Beine. Violet ist offenbar zäher, ihr Oberkörper richtet sich hin und wieder taumelnd auf, also wird er logischerweise mit ihr beginnen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739373195
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Dezember)
Schlagworte
dämonen geister john sinclair horror detektiv krimi verbrechen gewalt thriller okkult Krimi Thriller Spannung

Autor

  • L.C. Frey (Autor:in)

Mit über 1.5 Millionen verkauften Büchern ist Alex Pohl alias L.C. Frey einer der meistgelesenen Autoren Deutschlands. Er ist außerdem eine Hälfte des erfolgreichen Bestseller-Autorenduos Oliver Moros, sowie Co-Autor des Nr.1-SPIEGEL-Bestsellers “Abgefackelt” von Michael Tsokos. L.C. Freys Schreibratgeber ‘STORY TURBO: Besser schreiben mit System‘ gilt als das deutschsprachige Standardwerk für moderne Autorinnen und Autoren. Der Autor lebt und arbeitet in Leipzig.
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Titel: Kinderspiele