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Gefährliche Begierden

The Darkness of Love: Cassidy & Liam

von Jean Dark (Autor:in)
460 Seiten

Zusammenfassung

Der BILD-Bestseller - einer der heißesten Romane des Jahres! Liebe, Leidenschaft und mörderische Intrigen. Skandale und Affären in der Welt der Reichen und Mächtigen. Ein dunkles Geheimnis, das bis in die höchsten Ränge der Londoner Gesellschaft reicht. Macht, Unterwerfung und ein Verrat, bei dem es um viel mehr als nur Millionen geht. Und mittendrin die Studentin Cassidy Jones, die sich von allen Männern ausgerechnet in den Falschen verlieben muss … »Mir geht es nicht um Liebe, Miss Jones«, sagt er, als ein spöttisches Lächeln seine Lippen umspielt. »Mit geht es einzig darum, zu besitzen.« Liam McConaughey ist schwer reich, sieht verdammt gut aus und ist noch mit nicht mal 30 Jahren ein prominenter Staranwalt und Chef einer der bedeutendsten Consultingfirmen Londons. Doch er ist auch ein Mann mit Geheimnissen, der gern mit dem Feuer spielt. Er ist Mitglied des legendären Hell Fire Club, eines geheimen Ordens, dessen Mitglieder es sich zur Aufgabe gemacht haben, jede noch so geheime Leidenschaft auszuleben, getreu dem Motto: "Tu was du willst!« Als sich ihre Wege kreuzen, ahnt Cassidy nicht, welche folgenschweren Entscheidungen das nach sich ziehen wird. In ihrer Verzweiflung schließt sie einen teuflischen Pakt mit den Gläubigern ihres Vaters, um den Ruf ihrer Familie zu retten. Ein Pakt, der sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringt - und ein ungeahntes, dunkles Verlangen in ihr weckt. Dieses Buch enthält explizite Liebesszenen. Es wird daher empfohlen für Leserinnen und Leser ab 18 Jahren. Der Roman ist in sich abgeschlossen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Liebe Leserin, lieber Leser,

vielen Dank für dein Interesse an meinem Buch! Als kleines Dankeschön möchte ich dir gern einen meiner neuesten Romane schenken, den auf meiner Website kostenlos erhältst.

Die Lehrerin Sandy führt ein beschauliches Leben in der Kleinstadt Havenbrook, bis Jake, ihre Sandkastenliebe aus Kindertagen, plötzlich wieder auftaucht - aus dem Lausbuben von früher ist ein superheißer Bad Boy geworden, der in Sandy wilde Leidenschaften weckt.


Doch Jake zu lieben ist ein Spiel mit dem Feuer, bei dem sich Sandy mehr als nur die Finger verbrennen könnte ...


Um das Buch zu erhalten, folge einfach diesem Link:

www.Jean-Dark.de


Ich freue mich auf dich!

Deine

Jean Dark

Prickelnde Dark Romance Thriller von Jean Dark:

  • THE DARKNESS OF LOVE: Gefährliche Begierden
  • KISS ME, KILLER
  • TOUCH ME - Berühre Mich!
  • HIS DARKEST FLOWER - Dark Romance

Weitere Informationen finden Sie auf der Website der Autorin

www.Jean-Dark.de

Für meine Leserinnen und Leser.


Und für alle, die sich trauen, ihre Leidenschaften zu leben. Gebt acht auf euch!

Initiation

Prolog

Die Novizin wird in einen dunklen Raum geführt, der lediglich von wenigen Kerzen in seiner Mitte erhellt wird. Sie kann nicht erkennen, wie groß der völlig fensterlose Raum ist oder wie viele Personen sich darin befinden. Eins aber ist sicher: Die oberen Grade des Ordens sind hier versammelt, um dieser, ihrer letzten Prüfung beizuwohnen.

Das Mädchen, das bereits mehr als zwei Stunden des erschöpfenden Aufnahmerituals hinter sich gebracht hat, unterzieht sich nun dem letzten Teil der Prüfung. Hier und jetzt wird sich der weitere Verlauf ihres Schicksals unwiederbringlich entscheiden. Eine zweite Chance wird es nicht geben.

Die Novizin geht auf den niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes zu, auf dem die Kerzen stehen. Drei weiße Stumpenkerzen und davor ein paar Seiten Pergament und eine Schreibfeder. Sie kniet vor dem Tischlein nieder und wendet sich an den Meister, den sie in dem dunklen Raum nicht erkennen kann. Vermutlich trägt auch dieser eine Maske, so wie sie es seit Stunden tut. Ihr ist bewusst, dass ihr Meister alles über sie weiß, ihr jedes noch so geheime Detail entlockt hat, in den Monaten, die dem Gesuch um die endgültige Aufnahme in den Orden vorausgingen. Er kennt sie inzwischen besser als sie selbst, doch allen anderen muss ihre wahre Identität ebenso verborgen bleiben, wie sie niemals die Gesichter ihrer Gegenüber kennenlernen wird, so intim sie mit jedem von ihnen auch zweifellos werden wird in der kommenden Zeit.

Die Adeptin ist nun bereit, ihre Ausbildung ist beinahe abgeschlossen.

Das Mädchen löst die Schnüre vor der Brust ihrer weißen, schmucklosen Bluse und öffnet sie vorn. Der Stoff gleitet von ihren Schultern und entblößt einen üppigen, wohlgeformten Busen. Für den Bruchteil eines Augenblicks gedenkt sie der Zeit, nur wenige Monate ist es her, da es ihr unmöglich erschienen wäre, sich selbst eine solche Blöße vor anderen zu geben. Sie wäre vor Scham vergangen. Doch all das liegt nun längst hinter ihr.

Der Meister beginnt, aus dem Dunkel zu sprechen: »Sind Sie sich bewusst, Novizin, dass Sie sich mit der Aufnahme in den Orden neue Verbindlichkeiten aufbürden und dass Sie Ihre natürliche Freiheit als Bürgerin damit unwiederbringlich einschränken? Haben Sie bedacht, dass Sie sich verpflichten, Dinge zu tun, die Ihnen möglicherweise unangenehm sind?«

Sie antwortet ohne Zögern: »Ja, all das habe ich bedacht. Ich bin Herr meines Willens und überzeugt, dass ziellose Ausgelassenheit und bedenkenlose Freiheit den Menschen schädlich sind. Ich bin sicher, dass es notwendig ist, die mir innewohnenden Begierden zu leiten, um mich vollends entfalten zu können, als freier Mensch unter freien Menschen.«

»Ich lobe Ihre Gesinnung. Sie entspricht dem Sinne der hier beiwohnenden Gesellschaft. Doch bevor ich Ihnen den Eintritt in den Orden der Ritter und Ritterinnen des Heiligen Sankt Francis gestatte, will ich die Bedingungen hören, unter denen Sie bereit sind, in den Orden einzutreten.«

Sie sagt, auch diesmal, ohne zu zögern: »Ich übertrage die Verantwortung für meinen Geist, meinen Körper, mein seelisches wie leibliches Wohlergehen dem Orden des Heiligen Sankt Francis. Dafür verpflichte ich mich, gehorsam zu sein und alle meine Kräfte zur Ehre und zum Besten des Ordens zu verwenden.«

»Ihr Begehren ist gerecht und vernünftig. Ich verspreche Ihnen daher im Namen des Ordens, aller nahen wie entfernten Mitglieder Schutz und Beistand, so lange Sie auf dieser Erde leben. Jedoch ...«

Aus dem Nichts schießt die Spitze eines Degens heran und findet ihr Ziel auf der linken Brust des Mädchens, genau über dem Herzen. Die messerscharfe Spitze ritzt die nackte Haut der Knienden, und ein Blutstropfen tritt hervor, welcher rasch größer wird.

»Solltest du jedoch zu einer Verräterin oder Meineidigen werden, so siehe hier in jenem Degen alle und jedes einzelne Mitglied des Ordens gegen dich versammelt. Niemals wirst du sicher sein, wohin auch immer du fliehen magst. Die Schande und Vorwürfe deines Herzens und die Rache deiner dir unbekannten Brüder und Schwestern werden dir folgen, bis du zur Strecke gebracht bist. Dann wirst du dich dem Urteil des Ordens stellen und beugen müssen. Verbannung und Tod werden dein Schicksal sein, wenn du dich gegen die Gesetze des Ordens stellst.«

»Ich habe verstanden«, sagt das Mädchen. Schweiß glänzt auf ihrer nackten Haut. Das lange rabenschwarze Haar fällt über ihre Schultern auf den Rücken herab.

»Ich gelobe ewiges Stillschweigen und Gehorsam allen Mitgliedern und den Gesetzen des Ordens gegenüber. Jetzt und immerfort, in alle Ewigkeit. Ich verzichte hiermit auf die Privilegien eines losgelösten Individuums und den selbstständigen Gebrauch meiner Kräfte und Fähigkeiten. Ich verpflichte mich, das Beste des Ordens als mein eigenes zu begreifen und bin bereit, dem Orden mit meinem Blut, meinem Körper und meiner Freiheit zu dienen.«

»Dies schwöre ich.«

»Dann erhebe dich jetzt als Mitglied des Ordens des Heiligen Sankt Francis«, tönt die Stimme aus der Dunkelheit.

Der Degen wird zurückgezogen, und die junge Frau erhebt sich in einer fließenden, eleganten Bewegung.

Dann führt man sie in einen anderen Raum.

Kapitel Eins

Cassidy

»Der Ruf eines Mannes ist alles, das er je zu besitzen hoffen kann.«

– Sir Geoffrey Jones

London, heute

Ich bin vierundzwanzig und eigentlich ein ganz normales Mädchen. Dachte ich zumindest. Ich dachte sogar, ich hätte so etwas wie eine Zukunft vor mir. Und dass mir irgendwann der Richtige einfach so vor die Nase laufen würde. So irgendwie zwischen dem Abschluss mit Auszeichnung und meinem Aufstieg zum Vorstandsmitglied.

All das dachte ich mal.

Ich bin noch nicht mal besonders ehrgeizig. Finde zumindest ich. Es ist nur so: Wenn ich eine Sache anfange, ziehe ich sie auch durch. Ganz oder gar nicht. Das habe ich vermutlich von Dad. Der war auch schon immer so ein stadtbekannter Sturkopf. Na ja, zumindest, bis das mit Mom passierte. Ich glaube, das hat ihn ganz schön aus der Bahn geworfen und wer wollte ihm da einen Vorwurf machen? Danach war er nie wieder derselbe wie vorher.

Auch mir ist etwas passiert, das mich zu einem anderen Menschen hat werden lassen. Ja, ich glaube, das drückt es am besten aus. Seltsam, wenn man dachte, sich selbst einigermaßen zu kennen – nur, um einen Augenblick später in den Spiegel zu schauen und sich nicht mehr wieder zu erkennen, gewissermaßen.

Lisa, meine Mitbewohnerin, findet, ich würde mich um nichts anderes außer dem Studium kümmern. Aber ich bin keine Streberin, das liegt einfach in der Natur der Sache, wenn man Wirtschaftsrecht studiert. Haben Sie eine Ahnung, wie schwer es ist, ein Praktikum in einer der führenden britischen Beraterfirmen für Wirtschaftsunternehmen zu bekommen oder in Amerika (mein heimlicher Traum)? Ich habe das Gefühl, dass ich seit Monaten nichts anderes mache, als an meinen Bewerbungen zu feilen und ... na ja, vielleicht hat Lisa doch ein bisschen recht, wenn sie meint, ich vernachlässige mein Studentenleben. Aber was kann ich denn dafür, wenn mir eben gerade nicht so wirklich nach Party und Jungs zumute ist?

Ganz oder gar nicht, wie gesagt.

Apropos Jungs: Lisa meint auch, ich solle mich dringend mal flachlegen lassen. Jedenfalls öfter beziehungsweise ständig. So wie sie und Felix das beispielsweise praktizieren, und dank der ausgesprochen dünnen Wände in dem kleinen Häuschen, das wir uns teilen, bekomme ich das auch jedes Mal mit. Manchmal frage ich mich, wann Lisa denn überhaupt noch Zeit findet, zu schlafen oder – Gott bewahre! – was fürs Studium zu tun. Ich liebe sie wie eine kleine Schwester, aber in mancher Hinsicht sind wir das komplette Gegenteil voneinander.

Einmal hat sie mich sogar gefragt, ob ich nicht Lust hätte auf einen Dreier. In einem beiläufigen Ton, als erkundige sie sich, ob ich ihr vielleicht beim Abwaschen helfen mag. Wir waren beide ein bisschen beschwipst, ich sogar ein ganzes Stück mehr als sie, und später hat sie darauf bestanden, es sei nur ein Scherz gewesen. Aber ich glaube, für den Moment war das ihr voller Ernst. Felix ist ein netter Junge und ziemlich attraktiv, keine Frage. Aber es gibt Dinge, die muss ich nicht erst ausprobieren, um zu wissen, dass sie nur in einem Desaster enden können.

Lisa dagegen ist ausgesprochen experimentierfreudig. Was das betrifft, hat sie in Felix wohl echt ihren Seelenverwandten gefunden. Den stört es genauso wenig wie sie, dass ich durch die dünnen Wände alles mitbekomme. Und ich meine wirklich alles.

Aber letzte Nacht hat der Sache die Krone aufgesetzt.

Kapitel Zwei

Lisa und Felix

Ein großer Hund hat sich in meinen Traum geschlichen und knurrt mich wütend an. Zumindest glaube ich das noch im ersten Moment nach dem Aufwachen, dann erwache ich irgendwann vollends.

Es ist stockfinster und ich merke, dass ich wohl auf der Couch im Wohnzimmer eingeschlafen sein muss. Mal wieder. Wir teilen uns das große Wohnzimmer und das Bad im Erdgeschoss, oben sind unsere Schlafzimmer und ein Gästezimmer, das wir zu einem kleinen Fitnessstudio umgemodelt haben.

Und ich liebe die Couch. So sehr, dass ich manchmal darauf einschlafe.

Besonders in den letzten Monaten habe ich eine sehr intensive Beziehung zu ihr entwickelt, während ich mich auf die Prüfungen vorbereitet habe und versuchte, herauszufinden, wie man die perfekte Bewerbung auf ein Praktikum bei einer der bekanntesten Beratungsunternehmen der Welt verfasst. Schon möglich, dass ich dabei auch begonnen habe, meine Leidenschaft für blumige Rotweine zu entdecken. Die in meinem Fall übrigens vom Supermarkt an der Ecke stammen und nicht aus einem Weinkeller, wofür mich Dad vermutlich enterben würde, wenn er es wüsste. Aber ich mag nun mal keinen Wein, der schmeckt, als bisse man in ein Stück Torf.

Da liege ich also, den Laptop auf dem Bauch, und erwache aus unruhigen Träumen von knurrenden Hunden. Bloß dass aus dem kehligen Knurren eher so etwas wie ein Hecheln wird, als ich aufwache. Erst dann bemerke ich, dass das Ganze von rhythmischen Quietschlauten begleitet wird. Also definitiv kein Hund, es sei denn, er hat seinen Spielknochen dabei.

Aber dann sagt der Quietschknochen etwas, das ich zwar nicht verstehe, aber in dem Moment wache ich vollends auf. Weil das Geräusch nämlich nicht von oben aus Lisas Schlafzimmer kommt.

Die Geräuschquelle ist näher. Viel näher.

Inzwischen habe ich die Theorie des spielenden Hundes komplett über Bord geworfen und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass niemand eingebrochen ist. Demnach müssen das Lisa und Felix sein, die sich vergnügen. Und zwar direkt hinter dem Rücken der Couch, auf der ich liege.

Mist. Ich halte den Atem an.

Vermutlich hat mein Gesicht gerade eine verblüffende Ähnlichkeit zu einer reifen Tomate, aber zum Glück ist der Raum ja stockfinster. Bis jetzt.

Dann verstummen urplötzlich das Quietschen und Knurren und auch die rhythmischen Stöße gegen den Wohnzimmerteppich hören auf.

Shit, denke ich, sie haben mich entdeckt.

Aber das haben sie nicht.

»Du hast den Kerl angestarrt«, sagt eine raue Stimme, »und er hat zurückgestarrt.« Felix, unverkennbar. Dann irgendetwas, das verdächtig nach Flittchen klingt.

»Und wenn es so ist?«, gibt Lisa zurück.

Ein heftiger Stoß, der die Vasen auf dem TV-Schränkchen zum Erzittern bringt, ist die Antwort, woraufhin Lisa ein wohliges Seufzen ausstößt.

»Wolltest du den Kerl ficken?«, fragt Felix, gefolgt von einem weiteren Stoß, gefolgt von einem Laut himmlischen Entzückens seitens Lisa. Gefolgt von einem Fragezeichen in meinem fraglos knallroten Gesicht.

Was treiben die beiden da bloß? Haben die Sex oder streiten die sich? Oder beides zugleich?

»Nein«, stöhnt sie.

»Was dann?« Rasche Stöße, denen das Hundeknochen-Quietschen antwortet. Lisa kann offenbar eine Menge verschiedenster Geräusche machen. Interessant.

»Ich wollte, dass du mich nimmst, dort mitten auf der Tanzfläche.«

Also waren sie im Club, denke ich zerstreut und höre weiter zu. Ich kann gar nicht anders.

»Ich wollte, dass du mir den Rock hochschiebst und mich im Stehen vögelst. Gleich dort, an der Wand neben der Bar. Und dass sie uns alle dabei zuschauen. Und dass ... oh ... oh, Gott!«

Lisas Stimme zittert, und als ihre langjährige Mitbewohnerin weiß ich, was das zu bedeuten hat. Nur zu gut. Die Wände sind ziemlich dünn, wie gesagt. Was ich bisher noch nicht wusste, war, mit welchen abartigen Fantasien die beiden ihr Liebesleben aufpeppen. Im Club, vor allen Leuten, geht’s noch?

Doch dann kommt mir ein schockierender Gedanke: Was, wenn es sich nun gar nicht um Fantasien handelt?

Ich bemerke, dass sich auch in meinem Kopf Bilder formen. Nicht von Felix, natürlich. Er ist süß, klar, und ich hab ihn schon ab und zu mit nichts als einem Handtuch bekleidet aus unserer Dusche kommen sehen und ja, ich kann absolut verstehen, was Lisa an ihm findet – mal davon abgesehen, dass sie offenbar beide die gleiche schmutzige Fantasie teilen. Aber mit ihm? So etwas könnte ich nie und nimmer. Schließlich ist Lisa meine beste Freundin.

Ich bemerke mit einigem Entsetzen, dass auch mich die Fantasie der beiden durchaus nicht kalt lässt. Gott, allein die Vorstellung, es in irgendeinem Club vor den Augen all der Fremden zu treiben, die dort versammelt sind, sendet mir mehr als nur wohlige Schauer über den Rücken. Vermutlich halten Sie mich jetzt für prüde, aber diese Art von Fantasien hatte ich bisher noch nie, okay?

Unter uns, offengestanden genügt mir häufig schon die Erinnerung an eine romantische Sexszene aus einem Film, oder es mir vorzustellen, wie mich die muskulösen Arme eines Mannes umgeben, um ... na ja, und den Rest tut meist der Duschkopf in der Badewanne.

Aber es geht ja jetzt nicht um mich. Unten auf dem Teppich vor der Sofalehne, hinter der ich mich verstecke, geht das muntere Treiben derweil weiter und erreicht zielsicher seinen Höhepunkt.

»Ich will, dass du mich auf einen Tisch wirfst ...«, bettelt Lisa und gibt sich nun nicht mal mehr Mühe, zu flüstern. Vielleicht kann sie sich auch nicht mehr konzentrieren. Gott, sie klingt, als würde sie jeden Moment kommen – und das nicht mal eine Armlänge von mir entfernt.

»Ja«, stöhnt Felix, »ich zerre das Tischtuch runter und das ganze Zeug fliegt durch die Gegend, dann knalle ich dich auf das nackte Holz.«

Wow, Felix kann ja richtig poetisch sein, denke ich und bekomme einen kleinen Schock, als ich bemerke, dass meine Hand gerade dabei ist, unter dem Bund meiner bequemen Jogginghose zu verschwinden. Hastig ziehe ich sie zurück.

»Oh ja«, seufzt Lisa, »und was machst du dann mit mir?«

»Ich reiße dir dein Kleidchen vorne auf, damit sie alle deine prächtigen Brüste sehen können.«

Und da lügt er kein bisschen, Lisa hat wirklich schöne Kurven und neben ihren wohlgeformten Brüsten übrigens auch echte Endlosbeine. Wobei ich sagen möchte, dass meine eigenen Kurven auch nicht schlecht sind, wenn auch ein ganzes bisschen, na ja ... kurviger, eben.

Zurück zu den beiden hinter der Couch.

Da liegt sie nun also mit aufgerissenem Kleidchen und ich höre, wie Felix umsetzt, was er ihr gerade versprochen hat. Ich höre es nur all zu deutlich, während meine Hände jetzt wieder auf Wanderschaft gehen, und diesmal schaffe ich es nicht, sie zurückzuziehen. Irgendwie ist das jetzt alles auf einmal: erregend, faszinierend und superpeinlich. Und eine kleine akrobatische Leistung, weil ich mich unter meinem Shirt und zwischen meinen Beinen berühre, während ich gleichzeitig meinen Laptop auf dem Bauch balanciere. Dunkel wird mir bewusst, dass mich jetzt keine Ausrede der Welt vor einer gigantischen Peinlichkeit bewahren kann, sollte plötzlich das Licht angehen und die beiden mich entdecken. Oh Gott, was, wenn die beiden die ganze Zeit nur so tun als ob, um mich reinzulegen? Was, wenn sie wissen, dass ich hier auf der Couch liege und sie hören kann.

Der nächste lang gezogene Stöhner von Lisa straft meinen Verdacht Lügen. Das hier ist nicht gespielt, es ist verdammt echt.

»Und dann ...«, sagt Felix, und jetzt ist auch er gehörig außer Atem, »dann kommen sie alle näher. Sie ... fassen dich an. Frauen, Männer, alle. Überall an deinem ... an deinem Körper, da sind überall ihre Hände und ich ... und du ... oh, oh FuckfuckFUCK!«

Die letzten Worte hat er regelrecht herausgebrüllt, davon wäre ich vielleicht sogar aufgewacht, wenn ich oben in meinem Zimmer gelegen hätte, wie ich es hätte tun sollen.

Ich beiße mir auf die Lippen, denn in diesem Moment bekomme ich ernsthafte Schwierigkeiten mit meinem kleinen Balanceakt mit dem Laptop auf meinem Bauch und der Hand in meiner Hose. Ein letzter sanfter Druck meines Zeigefingers auf diese ganz besondere Stelle, dann gibt es kein Zurück mehr.

Ein Stöhnen bricht aus mir hervor, und ...

Ein heißes Kribbeln schießt durch meine Körpermitte, und mein letzter bewusster Gedanke ist: Oh, mein Gott, das können die unmöglich nicht mitbekommen!

Aber dann ist auch das egal.

Mein Körper scheint nur noch aus Flammen zu bestehen, während ich versuche, geräuschlos zu kommen. Und der einzige Grund, warum die beiden das nicht hören, ist vermutlich, dass es ihnen in diesem Moment genauso geht, nur brüllen sie dabei wie Tiere, wofür ich ihnen ausgesprochen dankbar bin.

Oh, Shit, denke ich, während mein kleiner Höhepunkt in sanften Wellen nachklingt. Was zur Hölle war denn das gerade?

Irgendwann später beginnen die beiden, hinter der Couch ihre Klamotten zusammenzusuchen, schleichen davon und geben sich dabei sogar richtig Mühe, leise zu sein. Das ist aus zwei Gründen der reine Hohn: Erstens wäre wohl jeder in diesem Haus (und den Nachbarhäusern vermutlich ebenso) von dem Geschrei aufgewacht, das sie zum Schluss veranstaltet haben, und zweitens quietscht die Treppe jämmerlich, als sie nach oben gehen.

Als ich höre, wie die Tür von Lisas Schlafzimmer oben leise ins Schloss gezogen wird, ist mir klar, dass ich ein Riesenproblem habe. Wenn ich jetzt da hochgehe, werden sie das mitbekommen.

Shit.

Und dann werden sie wissen, dass sie eine heimliche Zuhörerin hatten, und das ... das ginge einfach nicht. Ich könnte ihnen nie wieder in die Augen schauen. Komisch, philosophiere ich, wenn eine Wand zwischen uns ist, können wir am nächsten Morgen ganz einfach so tun, als wäre in der Nacht überhaupt nichts passiert, und es funktioniert. Seltsam, wie sechs Zoll Gipskarton über das Ausmaß einer solchen Peinlichkeit entscheiden können.

Also entscheide ich mich dafür, noch ein bisschen auf der Couch liegen zu bleiben, in der Hoffnung, dass die da oben zu müde oder zu betrunken für eine zweite Runde sind. Sobald sie eingeschlafen sind, werde ich nach oben in mein Zimmer gehen. Dieser Plan kommt mir auch entgegen, weil meine Knie sich immer noch wie Wackelpudding anfühlen.

Gott!

Ich schaue auf meine Uhr, es ist drei. Ich denke, so gegen vier dürfte die Luft rein sein, dann kann ich nach oben schlüpfen, und wenn ich nur die äußersten Bereiche der Stufen benutze, dann werden sie hoffentlich nicht all zu sehr quietschen und ...

Ich schaffe es nicht mal, diesen Gedanken zu Ende zu denken, bevor ich wieder eingeschlafen bin.

Kapitel Drei

Frühstück

Ich erwache von Kaffeeduft, der mir in die Nase steigt.

Es dauert ungefähr zwei Sekunden, dann fällt mir wieder ein, wieso ich auf der Couch liege – anstatt in meinem Bett, wo ich eigentlich sein sollte. Schlagartig werde ich ganz wach. Zunächst mal lege ich meinen Laptop, der den Rest der Nacht auf meinem Bauch verbracht hat, auf den Tisch. Dann richte ich mich vorsichtig auf und spähe durch die Durchreiche in Richtung Küche. Dort klappert Lisa mit dem Geschirr und ich sehe Neonfarben aufblitzen. Sie war joggen, natürlich, und wie üblich in aller Herrgottsfrühe. Wie viel Schlaf mag sie wohl bekommen haben in dieser Nacht? Zwei Stunden? Drei?

Aber dann überlege ich, dass mir das vielleicht die Möglichkeit bietet, halbwegs glimpflich aus der Sache rauszukommen. Ich stehe leise auf und husche in den Flur, wobei ich die Anrichte angstvoll im Auge behalte. Lisa rührt irgendetwas um, das auf dem Herd köchelt, und bewegt dabei rhythmisch ihren – zugegeben wohlgeformten, schließlich geht sie sehr oft joggen – Hintern hin und her. Ich sehe die weißen Kabelenden, die aus ihren Ohren kommen, sie hört irgendeine Musik mit Kopfhörern, um mich nicht zu wecken.

Wie lieb, denke ich voller Zuneigung und schlüpfe ins Bad – unbemerkt! Yes! Ich mache drei Kreuze, sobald ich die Tür hinter mir geschlossen habe. Ein Blick in den Spiegel enthüllt mir, dass ich so aussehe, wie sich Lisa fühlen sollte, wenn dies eine gerechte Welt wäre. Ist es aber nicht.

Ich spritze mir ein bisschen Wasser ins Gesicht und werfe mir ein aufmunterndes Lächeln zu, das allerdings zur einer Grimasse verkommt, als ich denke: Du kleine Spannerin, du. Hattest du Spaß gestern Nacht?

Und ich denke es mit Lisas Stimme. Oh je.

Zumindest sehe ich nun wieder einigermaßen passabel aus. Ich streiche mir eine rotbraune Strähne aus dem Gesicht, drehe mich um und mache mich geräuschvoll am Verschluss der Badtür zu schaffen, damit Lisa auch wirklich mitbekommt, dass ich nicht aus dem Wohnzimmer komme. Dann gehe ich raus und schließe die Tür, so laut ich kann, ohne dass es vollkommen lächerlich wirkt. Hoffe ich zumindest.

»Morgen, Schatz!«, brüllt Lisa und ich zucke zusammen, woraufhin sie sich mit einem entschuldigenden Lächeln die Stöpsel aus den Ohren pult.

»Hab dich gar nicht runterkommen hören, Liebes«, sagt sie. »Schön geschlafen?«

Ich nicke. Ja, oder so ähnlich. Und hat sie da nicht gerade den Kopf ein wenig schief gelegt, während sie mich angrinst? Ich überwinde meinen kleinen Panikanfall in der Hoffnung, dass sie ihn nicht bemerkt und ich mich damit vollends verrate.

»Wie ein Stein«, lüge ich.

»Dann ist ja gut«, kichert sie. Und ich weiß auch, warum sie kichert. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie weiß, dass ich weiß, dass sie es weiß. Oh je, geht’s noch ein bisschen komplizierter?

»Kaffee?«, fragt sie und macht eine sexy kleine Bewegung zur Kaffeemaschine hin wie eine dieser Frauen, die beim Glücksrad immer die Buchstaben umdrehen. Was das betrifft, wäre Lisa ein echter Hingucker, sie macht das wirklich gut.

»Du bist ein Schatz«, sage ich und schlurfe zum Kühlschrank. »Die Milch ist alle«, seufze ich. Also kein Müsli heute. Mal wieder.

»Oh, tut mir leid, Schatz«, sagt Lisa. »Hab vergessen, einzukaufen. Ich, äh ...«

»Ich geh dann«, sage ich. Vermutlich ist sie gerade wieder ein bisschen knapp bei Kasse und vermutlich haben ihre ständigen Clubbesuche etwas damit zu tun. London ist eine ausgesprochen teure Stadt. Es ist mir ein Rätsel, wie sie das und ihr Studium auf die Reihe bekommt. Und Felix, natürlich. Ich komme mir für einen Moment unheimlich alt und mütterlich vor. Und mit Recht. Immerhin trennen uns ganze zwei Jahre.

»Ach und wegen der Miete ...«, sagt sie und setzt einen Blick auf, den sie vielleicht mal bei unserem Vermieter probieren sollte. Höchstwahrscheinlich würden wir ein Jahr mietfrei hier wohnen. Das Blöde daran: Bei mir funktioniert er auch.

»Kein Problem«, sage ich, denn das ist es ja nun wirklich nicht. Nicht, wenn man einen Dad wie ich hat, der mein Studentenleben so überaus großzügig unterstützt. Wenn man an einer Elite-Uni studiert, ist die Miete für ein kleines Häuschen an den Londoner Outskirts nämlich das kleinste Problem. Oder, wie Dad es stets auszudrücken pflegt: Wahrer Reichtum zeigt sich durch Großzügigkeit.

Na klar, Dad, denke ich. Und außerdem wird Lisa ihren Anteil natürlich irgendwann zurückzahlen. Nur halt ein bisschen später, ein zinsloses Darlehen, sozusagen. Oder ich könnte versuchen, es als Eintrittskarte zu der kleinen Vorführung zu begreifen, die mir die beiden gestern Nacht geboten haben.

Schnell versuche ich, an etwas anderes zu denken, und verschütte dabei ein wenig von dem Kaffee, den Lisa mir hingestellt hat. Ärgerlich wische ich es weg und führe die Tasse wieder zum Mund. Köstlich. Stark. Kochend heiß. Noch etwas, das Lisa wirklich gut kann.

Ich seufze. Genau, was ich jetzt brauche.

Glücklich strahle ich Lisa an, und die strahlt zurück. Die reine, studentische Unschuld. Und das soll dasselbe Mädchen gewesen sein, das sich gestern auf dem Teppich hinter der Couch gewunden und sich vorgestellt hat, von Fremden begrapscht zu werden, während ihr Freund sie hart rangenommen ...

Genug!

Jeder von uns hat nun mal ein dunkles Geheimnis und das ist eben das Geheimnis der beiden. Oder das dachten sie zumindest. Und was ich denke? Sollen sie. Was immer eine glückliche Partnerschaft ausmacht. Nicht mein Problem. Ich freue mich für sie.

»Wir wollten heut Abend mal in die Stadt, diesen neuen Club auschecken«, sagt sie und wirft mir einen fragenden Blick zu. »Lust, mitzukommen?«

Ein Clubbesuch, schon wieder? Die Party-Energie dieses Mädchens scheint grenzenlos zu sein. Vermutlich hätte sie locker ein Stipendium in der Tasche, wenn sie nur halb so viel Zeit in ihre Abendgestaltung investieren würde. Ich meine, ich habe ein Stipendium, aber ich muss wirklich hart arbeiten, es zu behalten.

»Keine Zeit«, sage ich also und zucke bedauernd mit den Schultern. »Muss noch was für die Uni machen. Und Bewerbungen.«

»Cassidy Jones«, sagt sie und droht mir spielerisch mit dem Zeigefinger, »du solltest dringend mal ein bisschen entspannen.«

»Das kann ich noch, wenn ich ...«, schnappe ich, vielleicht ein wenig zu aggressiv. Aber sie lässt mich gar nicht ausreden.

»Und vor allen Dingen solltest du dich dringend mal wieder flachlegen lassen.«

Na bitte, da ist es wieder. Dreht sich denn in Lisas Leben eigentlich alles nur um Sex?

»Lisa!«, rufe ich und verschütte wieder etwas Kaffee. Mal wieder flachlegen lassen? Wenn die wüsste. Aber vermutlich weiß sie. Man wohnt nicht über zwei Jahre im selben Haus, ohne so was zu wissen.

»Das ist mein voller Ernst«, sagt sie und macht ein grimmiges Gesicht, was natürlich nur noch komischer aussieht. »Du bist eine echte Schönheit, und das solltest du nutzen, solange du noch jung und knackig bist. Die Männer würden dir zu Füßen liegen heute Abend ...«

»Ich bin keine Schönheit«, erwidere ich. Ich meine, ich bin auch nicht gerade hässlich, aber ...

Sie schüttelt nur langsam den Kopf. Offenbar sieht sie diesen Punkt als nicht verhandelbar an.

»Und ich verspüre kein Bedürfnis, mich von irgendeinem dahergelaufenen Aufreißertypen flachlegen zu lassen.«

Nun hör sich einer an, wie ich spreche. Aufreißertyp? Die Neunziger haben angerufen und wollen ihr Wort zurück.

Findet vermutlich auch Lisa, weil sie ein bisschen kichern muss. Dann sagt sie aber nur: »Wie du meinst. Aber es ist eine echte Verschwendung, mit dir entgeht der Männerwelt wirklich was. Und umgedreht.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ja, schon klar, denke ich. Und ich kenne ein Mädchen, das es offenbar heiß findet, wenn ihr die gesamte Männerwelt dabei zuschaut, wie sie ... aber so bin ich nun mal nicht. Überhaupt nicht.

»Ich will eben erst mal Karriere machen«, kontere ich mit meinem ewig gleichen Argument. Das mir noch nie so schwach vorgekommen ist wie jetzt.

»Siehst du, das ist ja gerade der Punkt«, sagt Lisa. »Du wirst es nicht für möglich halten, aber auch in der Geschäftswelt gibt es Männer. Männer mit Geld, Einfluss, Macht.«

»Ja, und?«, frage ich, weil ich nicht kapiere, worauf sie damit hinauswill.

»Diese Männer spielen gern. Und sie stehen auf Frauen, die diese Spiele mitspielen.«

»Spiele?«, frage ich, »was für Spiele meinst du denn?«

Plötzlich schaut sie kurz zur Seite, dann strahlt sie mich wieder an.

»Macht, Einfluss«, sagt sie, »und Geld. Solche Spiele. Und natürlich jede Menge Sex.«

»Das, meine Liebe«, sage ich, »nenne ich mal eine ziemlich verquere Vorstellung von der Geschäftswelt und der Welt im Allgemeinen. Besonders für jemanden, der Wirtschaftsrecht studiert.«

Meine Liebe? Oh Gott. Habe ich das gerade gesagt oder Jessica Fletcher aus Mord ist ihr Hobby?

»Das findest du dann verquer, Teuerste?«, sagt sie und stößt ein Lachen aus, »was meinst du denn, wieso der Premierminister ...«

Aber sie kommt nicht weiter, denn in diesem Moment klingelt mein Handy. Ich haste zurück ins Wohnzimmer, wo es verräterischerweise immer noch auf dem Couchtisch neben meinem Laptop liegt. Beinahe so, als hätte ich die Nacht auf der Couch verbracht – welch ein lächerlicher Gedanke, Teuerste!

Als ich auf das Display meines Telefons schaue, sehe ich, dass es Dad ist.

Das ist ja merkwürdig, denke ich, um diese Uhrzeit ruft er sonst nie an.

Kapitel Vier

Mortimer

Das, was als strahlender Morgen begann, hat sich in den letzten dreißig Minuten in ein typisches Londoner Schmuddelwetter verwandelt. Glücklicherweise hat Lisa sich bereit erklärt, mich in ihrem Mini mitzunehmen und einen kleinen Umweg zu fahren, was mir die Kosten für ein Taxi erspart. Nachdem ich mich in aller Eile in mein weißes Businesskleidchen gezwängt habe, werfe ich noch meinen kurzen Regenmantel über. Das Outfit ist hübsch und auch einigermaßen passend für den Anlass, aber vermutlich werde ich meine Entscheidung bereuen, falls es später kühler und noch stärker regnen wird.

Aber bis dahin ist es wenigstens ein hübscher Anblick.

An all das denke ich nur flüchtig, denn da war etwas in Dads Stimme, das mir gar nicht gefallen hat. Seit Moms Tod ist er einfach nicht mehr derselbe Mann. Er verlässt kaum noch die unmittelbare Umgebung seines Cottages und verbringt die meiste Zeit im weitläufigen Garten hinter dem Haus. Ich kenne den Garten und das Haus sehr gut, immerhin bin ich dort aufgewachsen und habe den Großteil meiner Kindheit da verbracht.

Von Mom habe ich allerdings deutlich weniger mitbekommen, als ich mir das als kleines Mädchen gewünscht habe. Sie war oft geschäftlich auf Reisen, und das, was ich am deutlichsten von ihr in Erinnerung habe, ist ihre Liebe für die Rosen, welche Dad hinter dem Haus für sie gezüchtet hat.

Unzählige Male hat er mir die Geschichte erzählt, dass sie damals, als sie ein neues Zuhause suchten, bei der Besichtigung einen Strauß wilder Rosen hinter dem Haus entdeckt haben. Damit war die Kaufentscheidung sofort gefallen. Ist das nicht unglaublich romantisch?

In den folgenden Jahren hat Dad diese Rosen veredelt, und so wurde das Gärtnern zu seinem liebsten Hobby neben dem Golfen und dem Sammeln edler Weine, die für mich leider nur als ungenießbar einzustufen sind.

Mom war eine ausgesprochen schöne Frau, das bezeugen die wenigen Fotos, die ich von ihr habe. Sie hatte wunderbares kohlrabenschwarzes Haar, das sie meistens offen trug. In meiner Erinnerung war sie außerdem eine perfekte Frau, was vielleicht daran lag, dass ich sie so selten zu Gesicht bekommen habe. Die Mystik des Unerreichbaren oder so was. Ich weiß, dass Dad sie abgöttisch liebte – und das wohl auch heute noch ungebrochen tut. Ich weiß von keinem einzigen Date, seit Mom vor zwei Jahren nach einem kurzen Kampf plötzlich an Krebs verstarb. Ich glaube, das hat ein Loch in sein Herz gerissen, das nie wieder verheilt ist.

Und vielleicht hat er auch keine rechte Lust, es heilen zu lassen. Noch nicht, hoffe ich.

Davon abgesehen, dass ich gern mehr über meine Mom erfahren hätte, die mir immer so etwas wie eine nette Fremde blieb, hat mich als Kind das Alleinsein nie gestört. Auch Dad, der eine der erfolgreichsten Baufirmen Londons leitet, war selten daheim. Ich wurde hauptsächlich von verschiedenen Kindermädchen großgezogen.

Das mag Ihnen vielleicht seltsam vorkommen, aber mir hat das wirklich nichts ausgemacht. Es gab einfach zu viel zu lernen und zu entdecken in dem riesigen Cottage, oder zumindest kam es mir als kleines Mädchen so vor. Ich bildete mir alle möglichen Abenteuer ein, während ich durch die vielen Zimmer streifte und mich vor Unholden verstecken musste oder unbekannte Kontinente entdeckte. Und wenn mir die Fantasie ausging, schnappte ich mir ein Buch aus Dads gigantischer Bibliothek und machte es mir in seinem Lesesessel gemütlich.

Ich hatte tausend Fragen, ständig und zu allen möglichen Themen. In dieser Hinsicht muss ich ein ungeheurer Quälgeist gewesen sein. So kam rasch ein Privatlehrer zu dem Kindermädchen, um meinen Wissensdurst zu stillen. Außerdem wusste ich ja, dass mein Dad jeden Abend in mein Zimmer kommen würde. Das tat er immer, egal, wie spät er nach Hause kam, um mir einen Gutenachtkuss zu geben. Ohne konnte ich nämlich nicht einschlafen, ausgeschlossen!

Doch ich schätze, es ist etwas anderes, wenn man weiß, dass man für immer allein sein wird. Dass der letzte Gutenachtkuss geküsst und das letzte »Ich hab dich lieb« gesagt worden ist. Manchmal, wenn Dad glaubt, ich sehe nicht hin, fällt sein Gesicht richtig in sich zusammen, dann wirkt er ganz schwach und krank. Einsam und zurückgelassen. Dann gehe ich hin und drück ihn ganz fest, bis er mir übers Haar streicht und mich beruhigt. Es sei alles in Ordnung, sagt er, und er komme bestimmt bald wieder ins Lot.

Ich hoffe wirklich, dass das stimmt.

Ich vermute, das ist der Grund, warum er sich weitestgehend aus dem Baugeschäft zurückgezogen hat, das er damals mit Graham Marsden, seinem Partner, gegründet hat. Anfangs nannte er das Auszeit, dann Sabbatjahr. Das ist jetzt über zwei Jahre her.

Okay, Themenwechsel.

Lisa schafft es irgendwie, durch den morgendlichen Londoner Verkehr zu kurven, ohne uns beide dabei umzubringen, was ich ihr hoch anrechne. Sie rast wirklich wie eine Furie, wie jeder andere auch im Londoner Berufsverkehr, aber ich bange jedes Mal um mein Leben, wenn ich in ihren aufgemotzten Mini steige. Das kleine Ding ist höllisch schnell. Allerdings hat ihr Fahrstil diesmal einen Vorteil, nämlich den, dass ich noch beinahe pünktlich zu meinem Termin mit Charles Mortimer erscheine. Mr Mortimer gehört zu meinen Kindheitserinnerungen beinahe ebenso wie die unzähligen Kindermädchen, die Rosen und meine Lesestunden in Dads Bibliothek. Er ist geradezu das Klischee eines englischen Lords, mit seinem mächtigen schlohweißen Backenbart und seiner Halbglatze, die er schon hatte, seit ich denken kann. Er trägt stets und ständig einen maßgeschneiderten Anzug von Kilgour, French & Stanbury, und ich habe ihn noch nie in einem anderen Zustand als absolut perfekt geschniegelt erlebt.

In seiner Gegenwart fühle ich mich immer auf eine seltsame Art geborgen, so als wäre der alte Anwalt eine schützende Mauer zwischen mir und der bösen Welt da draußen, die voller Spinner ist, die einen ständig verklagen wollen. Das hat zumindest Dad immer gesagt, und dann haben die beiden gelacht, während sie in der Bibliothek vorm Kamin saßen und an dem Scotch in ihren Gläsern nippten.

Mittlerweile bin ich alt genug, um zu begreifen, dass das nicht wirklich witzig war, sondern eher eine Art Galgenhumor. Erfolg bringt nun mal jede Menge Neid und Missgunst mit sich, und mein Dad war in seinem Geschäftsleben immer ein überaus erfolgreicher Mann.

Ich hopse aus dem Auto auf den Fußweg und Lisa braust davon.

Mir ist, als schütte jemand Wasser aus Eimern über meinem Kopf aus, also stöckele ich hastig in meinen High Heels über den Fußweg und werfe mich unter den schützenden Vorsprung über der Eingangstür wie ein Flügelstürmer beim Rugby. Bloß ist der Schlussmann, gegen den ich pralle, mir in jeder Hinsicht überlegen.

Unser kurzes Tackling endet nach einer knappen Sekunde. Und zwar damit, dass ich in einer Pfütze auf dem Fußweg liege.

Kapitel Fünf

Der Grobian

Der Kerl, der die Tür zu Charles Mortimers Kanzlei genau in dem Moment geöffnet hat, als ich das Haus betreten wollte, ist ein wahrer Riese von einem Mann. Vielleicht kommt mir das aber auch nur momentan so vor, weil ich zu seinen Füßen in einer Pfütze liege. Seine Silhouette ragt über mir auf wie der Turm in einer mittelalterlichen Burg, während der Regen unbarmherzig auf uns einprasselt.

Ich schaue auf, in dem festen Vorsatz, diesem Grobian einen wütenden Blick zuzuwerfen, aber ...

Oh. Selbst von hier unten fällt mir auf, wie unglaublich attraktiv besagter Grobian ist. Während der nächsten Sekunden registriere ich die eleganten Lederschuhe an seinen Füßen, fraglos eine italienische Maßanfertigung, während mein Blick an den Hosenbeinen seines anthrazitfarbenen Maßanzugs nach oben gleitet. Sein Jackett trägt er offen, ihm scheint der strömende Regen irgendwie weniger auszumachen als mir. Von hier unten ist nicht der Ansatz eines Bauches über seinem Hosenbund zu sehen. Was ich aber sehr wohl erkenne, ist das tadellose, anthrazitfarbene Hemd, das von einer silberfarbenen Krawatte mit passender Krawattennadel veredelt wird. Keine Ahnung, wieso ich dieses beinahe nutzlose kleine Stück Metall an einer Krawatte so unsagbar sexy finde.

Mein Rugbyverteidiger ist jedenfalls eine ausgesprochen elegante Erscheinung. Seine Kleidung drückt so viel Understatement aus, dass es fast schon protzig wirkt. Aber der Kerl kann es wirklich tragen. Meine Güte ...

Und dann erreichen meine Augen sein Gesicht, und in dem Moment beginnt die Zeit urplötzlich, im Schneckentempo zu vergehen. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass mein Unterkiefer herunter klappt, als ich Zeuge dieses beeindruckenden Naturschauspiels werde. Den Anzug und den ganzen Rest habe ich sofort vergessen. Die Welt um uns versinkt zu reinem Hintergrundrauschen, und alle Leute bewegen sich plötzlich in Zeitlupe, so als würden sie durch unsichtbares Gelee waten.

Oh. Mein. Gott. Diese Augen. Dieses Gesicht!

Dunkler Teint. Männliche Züge und volle Lippen, an denen ich auf der Stelle herumknabbern möchte. Und ...

Aber natürlich möchte ich das nicht. Ich kann das nicht wollen. Ich liege schließlich immer noch in einer Pfütze, und der Kerl, der mich hineingestoßen hat, macht noch nicht mal Anstalten, mir aufzuhelfen.

Aber für einen Moment vergesse ich auch das. Sein schwarzes Haar ist zu einer leicht verstrubbelten Scheitelfrisur gelegt. Ich schwöre, es ist wirklich kohlrabenschwarz, ich habe noch nie so dunkles Haar gesehen, und es ist ganz sicher nicht gefärbt oder so was. Seine Haut schimmert in einem seidigen, dunklen Ton, vermutlich von einem kürzlich verbrachten Urlaub an der Riviera, der so gar nicht in das nasskalte, spätsommerliche London passt. Hat der es gut.

Ich blinzle, weil mir dieser Anblick fast zu viel wird. Ungefähr da bemerke ich die breiten Schultern, die sich unter seinem perfekt sitzenden Jackett abzeichnen, weil er sich nun doch zu mir herunterbeugt. Ich liege derweil immer noch in der Pfütze und sauge mich mit Schmutzwasser voll wie ein Schwamm. Londoner Schmutzwasser, zu allem Überfluss. Meine Klamotten werde ich anschließend wegschmeißen können.

Dann ist es vorbei, und ich greife nach seiner Hand. Sie ist groß und kräftig, und als sie sich um meine schließt, verspüre ich beinahe einen Anflug von Geborgenheit. Ich bemerke seine gepflegten Nägel, während ich draufstarre. Ich bemerke auch, dass er eine schwere Breitling am Handgelenk trägt. Wie schön für ihn. Er zieht mich mühelos hoch wie ein Kind, das seinen Stoffteddy aufhebt, der in eine Pfütze gefallen ist. Und ich bin der Teddy.

Er sagt nichts, er lächelt nicht. Er entschuldigt sich nicht.

Er nickt mir nur flüchtig zu. In diesem Moment treffen sich unsere Augen, und mir ist, als würden meine Beine unter mir versagen und mich gleich wieder zurück in die Pfütze befördern, in der ich soeben wenig elegant mein morgendliches Bad genommen habe.

Sie sind nicht wirklich schwarz, diese Augen, das sah nur von unten so aus. In Wahrheit sind sie von einem eigentümlich dunklen Blau. Wie ein Ozean bei Gewitter. Kurz bevor der Sturm losbricht.

Für einen Moment glaube ich fast, dass sein Blick ebenfalls ein wenig länger an mir Hängen bleibt, als normal wäre. Was allerdings ist schon normal an dieser Begegnung? Eine Haarsträhne fällt ihm in die Stirn und ich beiße mir auf die Lippen, was ich erst merke, als es beginnt, wehzutun.

Oh, mein Gott, diese Augen.

Als er einigermaßen sicher zu sein scheint, dass ich von allein stehen kann (ich selbst bin da allerdings überhaupt nicht sicher), nickt er mir nochmals zu, und ich glaube fast, er lächelt ein bisschen, aber das ist vielleicht nur Wunschdenken. Dann dreht er sich um und geht in Richtung Straße. Erst jetzt sehe ich, dass da eine ziemlich beeindruckende schwarze Limousine steht und daneben ein Chauffeur, der ihm die Tür aufhält. Er steigt ein, und kurz bevor der Chauffeur die Tür sanft ins Schloss drückt, treffen sich unsere Blicke noch ein letztes Mal. Dann ist er für immer hinter blickdicht getöntem Glas verschwunden.

Sein Chauffeur gleitet um den Wagen herum, der kurz darauf aus der Lücke schießt, um sich in den vorbeidrängelnden Verkehr zu quetschen, der das mit wildem Hupen quittiert, dem großen Wagen aber dennoch sofort Platz macht. Der berühmte Londoner Fahrstil eben. Ich glaube, es ist ein Bentley oder so was.

Dann ist er verschwunden, und ich komme langsam wieder zu mir. Beinahe glaube ich, gerade aus einem Tagtraum erwacht zu sein, doch dann blicke ich an mir hinab und bemerke mein ruiniertes Kleid und meinen schmutzigen Mantel. Mein Outfit ist vollkommen ruiniert, und dieser arrogante Schnösel hat sich nicht einmal dafür entschuldigt.

Na ja, vielleicht war es auch ein bisschen meine Schuld.

Kopfschüttelnd mache ich einen zweiten, etwas vorsichtigeren Versuch, die Tür zu der Kanzlei zu öffnen. Diesmal gelingt es, und ich trete in den Empfangsbereich. Charles’ Sekretärin wirft mir eine typisch Londoner Andeutung einer hochgezogenen Augenbraue zu, dann schnappt ihr Gesicht zurück in den Ausdruck gleichgültiger Gelassenheit, mit dem sie den Zustand meiner Kleidung ignoriert, oder vielmehr so tut, als ob. Ich kann ihr das nicht übel nehmen. Ich an ihrer Stelle hätte wohl die Security gerufen.

Sie flüstert etwas in das Mikrofon ihrer Gegensprechanlage und deutet auf die Tür zu Charles Mortimers Büro. Ich folge dem Wink. Witzigerweise glaube ich bis zu diesem Moment, mein kleiner Ausrutscher draußen auf der Straße wäre schon der absolute Tiefpunkt dieses Tages gewesen.

Aber natürlich liege ich damit komplett daneben.

Kapitel Sechs

Pleite!

»Guten Morgen, Miss Jones«, sagt Charles Mortimer, als er von seinem gigantischen Queen- Victoria-Schreibtisch aufsteht und mir mit offenen Armen entgegenkommt.

Ich glaube, es gibt auf der Welt höchstens ein halbes Dutzend Menschen, die je in den Genuss einer Umarmung mit Charles Mortimer gekommen sind, und es erfüllt mich mit beinahe kindlichem Stolz, eine von dieser Handvoll Personen zu sein. Aber damit endet unsere Vertrautheit auch schon. So lange ich denken kann, hat er Miss Jones zu mir gesagt: Vermutlich auch schon, als ich ein Baby war. So lange kennen wir uns nämlich schon. Und ich würde im Leben nicht auf die Idee kommen, ihn Charles zu nennen. Nicht mal, wenn ich hundert Jahre alt wäre.

Er lässt einen raschen Blick über mein ruiniertes Kleid streifen, dann umarmt er mich aber trotzdem, auch wenn er seinen unvermeidlichen Tweedanzug vermutlich direkt im Anschluss an unser Treffen in die Reinigung geben wird, um einen frischen und ansonsten völlig identischen Maßanzug anzuziehen. Im Gegensatz zu seiner Sekretärin ignoriert er den Zustand meiner Klamotten allerdings nicht.

»Es ist ein furchtbares Wetter heute Morgen«, sagt er mit einem wehmütigen Blick zum Fenster, »soll ich Eliza bitten, Ihnen einen Mantel oder so was zu besorgen?«

»Nein«, sage ich, »es geht schon. Nur ein bisschen Spritzwasser.«

Jep. Nur stammt das aus einer Pfütze mitten in der vermutlich schmutzigsten Stadt der Welt.

»Wie Sie wünschen«, sagt er diplomatisch, »dann vielleicht etwas zum Aufwärmen? Einen Brandy?«

Schockiert ziehe ich die Augenbrauen in die Höhe. Einen Brandy, um zehn Uhr morgens? Keine Ahnung, ob er das ernst gemeint hat. Bei Charles Mortimer weiß man nie.

»Ein Kaffee wäre toll«, sage ich und er nickt mir lächelnd zu, bestellt das Getränk über die Gegensprechanlage. Was mir vermutlich einen weiteren von Elizas berühmten Augenbrauenblicken einbringen wird. Aber was soll’s? Ich brauche wirklich dringend etwas Warmes.

»Wird Geoffrey sich verspäten, Miss Jones?«, fragt er und bringt es dabei zustande, diese förmliche Frage trotzdem ein bisschen herzlich klingen zu lassen. Natürlich weiß er, wie es um Dad steht. Dann deutet er auf einen der bequemen Sessel, die dem Schreibtisch gegenüberstehen. Ich setze mich.

»Mein Vater wird nicht kommen«, sage ich, »er fühlt sich nicht so gut, fürchte ich.«

Was eine glatte Untertreibung ist, weil es irgendwie unbestimmt nach einer Erkältung klingt. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein, wem versuche ich etwas vorzumachen? Am Telefon klang Dad vollkommen fertig. Er war seit fast zwei Jahren nicht mehr in der Stadt. Oder sonst irgendwo außerhalb der Grenzen des Grundstücks. Und ich habe wirklich alles versucht, bis ich kapierte, dass ich ihn nicht umstimmen kann. Das kann nur er selbst. Manche Dinge brauchen einfach ihre Zeit, glaube ich.

»Ich verstehe«, sagt Charles, »aber ich fürchte, damit wird unser Treffen hier ziemlich hinfällig. Ich habe ihn gebeten, unbedingt persönlich zu erscheinen.«

»Ja, ich weiß«, sage ich, »er hat’s mir erzählt, am Telefon. Aber er ...« Ich stocke. Keine Ahnung, wie ich Charles das erklären soll. »Es geht einfach noch nicht.«

»Ich verstehe«, sagt er wieder und setzt sich neben mich in den Besuchersessel, anstatt an seinen gewohnten Platz gegenüber dem Schreibtisch. Etwas in meinem Bauch krampft sich zusammen. Das hat er noch nie gemacht. Das kann einfach nichts Gutes bedeuten.

Für eine Weile starrt er auf das Bild, das hinter seinem Bürosessel an der Wand hängt. Ein Landschaftsgemälde von Richard Wilson, selbstverständlich ein Original.

Die Tür öffnet sich, und Eliza stellt ein Tablett mit Kaffee und dem üblichen Zubehör auf das Tischchen neben meinem Sessel. Ich sehe dankbar zu ihr auf, und diesmal bleibt mir ihre Augenbraue erspart. Sie lächelt kurz zurück, und ich glaube, einen Anflug von Mitleid in ihrem Blick zu sehen, aber da kann ich mich auch irren. Geräuschlos verschwindet sie aus dem Zimmer.

Charles seufzt, dreht sich auf seinem Sessel zu mir um, zupft am Knie seines rechten Hosenbeins und schlägt es über sein linkes Knie. Dann greift er nach meiner Hand und sieht mir in die Augen. Das Mitleid scheint von Elizas Gesicht auf seines übergesprungen zu sein, während er mich anlächelt. Der Krampf in meinem Magen wird schmerzhaft.

»Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten, Cassidy.«

Nein, denke ich, Sie haben keine schlechten Neuigkeiten, Mister Mortimer, Sie haben erschütternde Neuigkeiten! Dabei bekomme ich gar nicht mit, dass er mich soeben bei meinem Vornamen genannt hat, vermutlich zum ersten Mal in seinem ganzen Leben.

»Und eigentlich bin ich nicht berechtigt, diese jemand anderem als Ihrem Vater mitzuteilen.« Er seufzt. »Aber da ich nun schon so lange sein ... vielmehr, Ihr Anwalt bin, glaube ich, es ist in Ordnung.«

»Mein Vater«, sage ich, »er hat mir gesagt, dass Sie mir alles sagen können, egal, was es ist. Sie können Ihn gern anrufen und es sich bestätigen lassen.«

»Das wird nicht nötig sein«, sagt er schließlich, dann nickt er. »Na gut. Es betrifft Jones & Marsden Construction. Es gibt offene Forderungen. Erhebliche Forderungen.«

»Oh«, sage ich, aber dann fällt mir etwas ein. »Aber Dad war seit zwei Jahren nicht mehr in der Firma, um das alles hat sich Graham gekümmert.«

»Mr Marsden, ja«, sagt Charles und schüttelt den Kopf. »Der ist leider seit einigen Tagen unauffindbar und es ist zu vermuten, dass dieser Umstand in Zusammenhang steht mit ... nun ja, den nicht beglichenen Außenständen. Es fehlt eine ziemliche Menge Geld.«

Ich begreife noch gar nicht recht, was Charles mir da zu sagen versucht.

»Wie viel Geld? Ich ... meine«, stottere ich, »Graham hätte nie ... er würde meinem Dad so etwas nie antun, sie sind Freunde. Partner. Schon seit Ewigkeiten.«

Charles nickt und schaut mich traurig an. »Leider besagen die Bücher da etwas gänzlich anderes. Ich habe natürlich bereits Einsicht genommen, und auf den ersten Blick sehen die Zahlen ... nun ja, schockierend aus.«

»Aber«, sage ich, »dann ist Graham dafür verantwortlich. Ich verstehe nicht, was das mit Dad zu tun hat. Er war seit fast zwei Jahren nicht mehr in der Firma.«

»Zunächst ist es nach wie vor zur Hälfte Geoffreys Firma, und das schließt alle Verbindlichkeiten ein. In diesem Fall leider bis hin zu seinem Privatvermögen.«

»Wie bitte? Seinem Privatvermögen?«

»Er haftet in vollem Umfang, und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann, Miss Jones. In dieser Hinsicht sind mir leider vollkommen die Hände gebunden. Es war der ausdrückliche Wunsch Ihres Vaters, das so zu regeln.«

Oh Dad, denke ich. Ich weiß, wieso du das gemacht hast. Der gute Name einer Firma war für ihn schon immer das Wichtigste, einhergehend mit dem Namen einer Firma. Der Ruf eines Mannes ist alles, das er je zu besitzen hoffen kann. Das hat er immer gesagt. Erst jetzt begreife ich, welch gigantisches unternehmerisches und privates Risiko er damit einging. Und das von einem der versiertesten Geschäftsleute, die ich kenne. Ich begreife einfach nicht, wie mein Vater so etwas machen konnte.

»Wie konnten Sie das zulassen?«, fahre ich Charles an, und als ich seinen verletzten Blick sehe, tut mir mein scharfer Ton sofort leid.

»Ich bin sein Anwalt und sein Freund«, sagt er, »aber wenn Ihr Vater sich etwas in seinen Kopf setzt ...«

Ich schaue zu Boden. Ich weiß nur zu gut, was er meint. Ich habe nämlich denselben Sturkopf wie mein Vater.

»Es tut mir leid«, sage ich, und das tut es wirklich. Schließlich kann Charles nichts für diese Misere. »Was können wir also tun?«

»Im Moment nicht all zu viel, fürchte ich. Solange Mr Marsden unauffindbar bleibt, wird sich die Gegenseite mit ihren Forderungen direkt an Ihren Vater wenden. Und er wird diese Forderungen erfüllen müssen, zumindest in dem Rahmen, in dem er es kann.«

»In dem Rahmen?«, schnappe ich. »Von wie viel Geld reden wir hier überhaupt?«

»Mehrere Millionen, meiner vorsichtigen Schätzung nach.«

»Aber ... so viel Geld hat Dad doch gar nicht. Schon gar nicht in Privatvermögen.« Der Firma ging es gut, und wir hatten nie wirkliche finanzielle Sorgen, aber mehrere Millionen? Dann begreife ich allmählich.

»Das Cottage«, kann ich nur noch hauchen.

Charles nickt mitfühlend.

»Er würde alles verlieren, und zwar in einem öffentlichen Prozess.«

Also auch seinen Namen. Und das wäre das Allerschlimmste für Dad. Ich bezweifle, dass er den Verlust des Cottages ohne Probleme verkraften würde. Die Rosen, die ihn an Mom erinnern. Es wäre furchtbar. Aber dass er öffentlich als Betrüger und unlauterer Geschäftsmann dargestellt würde, das würde er keinesfalls verkraften. Er würde ... er würde vielleicht etwas ganz und gar Dummes anstellen. Das kann ich keinesfalls zulassen.

»Das geht nicht«, sage ich, »es würde ihn ruinieren. Und ich meine damit nicht nur das Geld.«

»Ich verstehe«, sagt Charles.

Und ich verstehe durch einen roten Nebel aus Trauer und Wut, dass es wirklich nicht mehr gibt, das er dazu sagen oder tun könnte. Meine hervorragende Ausbildung war schließlich nicht umsonst. Auch wenn ich die natürlich jetzt auch ebenfalls in den Wind schreiben kann. Bald werden wir kein Geld mehr für etwas zu essen haben, ganz zu schweigen von den laufenden Kosten für unser kleines Häuschen, und mein Stipendium werde ich dann vermutlich auch verlieren.

Mir kommen die Tränen. Und dennoch gibt es einen kleinen Teil meines Gehirns, der davon völlig unbeeindruckt zu rattern beginnt. Nach einer Lösung sucht wie eine gefangene Maus, die sich in ihrer Falle immer wieder um den eigenen Schwanz dreht.

»Wer ist die Gegenseite?«, schluchze ich, und der stets vorbereitete Charles Mortimer streckt mir eine Box mit Papiertaschentüchern hin. Ich nehme dankbar eins.

»Das kann ich nicht sagen«, sagt Charles.

»Wie bitte?«

»Ich weiß es nicht. Sie haben einen Anwalt geschickt, den sie mit der Sache betraut haben. Alles, was dieser mir unter die Nase gehalten hat, waren Dokumente, in denen die Stellen geschwärzt waren, welche den Gläubiger betreffen. Aber wir dürfen davon ausgehen, dass sie diese Dokumente tatsächlich auch besitzen und die Sache vor Gericht beweisen können. Die Schulden und den Betrug.«

»Den Betrug?«

»Ja. Die Zahlen machen ziemlich deutlich, dass die Jones & Marsden Construction bei mehreren Projekten deutlich mehr Material und Arbeitskräfte verkauft hat, als sie letztlich zur Verfügung gestellt haben. Darunter sind auch staatliche Bauvorhaben. Wenn das an die Öffentlichkeit gerät ...«

»Er könnte ins Gefängnis gehen?«, flüstere ich entsetzt. Diese Möglichkeit ist mir bisher noch gar nicht eingefallen. Aber natürlich besteht sie. »Oh, mein Gott.«

»Ich sehe nur eine Chance, Cassidy«, sagt Charles und legt seine Hand sanft auf meinen Arm. Am liebsten würde ich mich jetzt einfach in seine Arme flüchten und heulen wie ein kleines Kind. Bloß, dass ich jetzt nicht mehr in einer Welt lebe, in der die Sorgen einfach dadurch verschwinden, dass man ein bisschen heult und eine Nacht drüber schläft. Ich bin kein kleines Mädchen mehr, diese Erkenntnis trifft mich jetzt mit aller Macht.

»Es gibt eine Chance, auch wenn es eine sehr kleine ist«, sagt Charles und ich horche sofort auf.

»Was?«

»Als Ihr Vater sich zur vorläufigen Ruhe setzte, also etwa vor zwei Jahren, könnte er mit Marsden eine Art Erklärung verfasst haben.«

»So etwas wie eine Abtrittserklärung?«

»In der Art. Irgendein offizielles Dokument, das beweist, dass er in der fraglichen Zeit nichts mit den geschäftlichen Entscheidungen der Firma zu tun hatte. Das könnte helfen, zumindest vorläufig.«

»Das würde die Sache aussetzen, bis Graham Marsden wieder auftaucht, und es würde Dads Namen reinwaschen. Schließlich konnte er nicht wissen, welchen Mist sein Partner baut, sobald er ihm nicht über die Schulter schaut.«

»Ja«, sagt Charles. »Falls ein solches Dokument existiert, könnte es helfen.«

»Ich muss auf der Stelle zu Dad«, sage ich und stehe auf.

»Das würde ich auch vorschlagen, Miss Jones«, sagt Charles und erhebt sich ebenfalls, um mir zur Tür voranzugehen. »Ich lasse Eliza ein Taxi rufen. Finden Sie heraus, ob solch ein Dokument existiert, und veranlassen Sie Ihren Vater in jedem Fall, sich bei mir zu melden.«

Ich verspreche es.

»Er muss mich auf jeden Fall anrufen, hören Sie? Wenn wir diesen Schlamassel noch irgendwie abwenden wollen, müssen wir rasch und entschlossen vorgehen.«

Ich stimme ihm zu, und in einer spontanen Anwandlung gehe ich doch einen Schritt auf den alten Anwalt zu und umarme ihn, was er ein bisschen hölzern erwidert.

Dann stürme ich aus dem Büro.

Kapitel Sieben

Narben

Der Mann steht breitbeinig vor der Pritsche, auf der sich der junge Körper windet, der genauso schweißüberströmt ist wie sein eigener. Da, wo den Rücken des Stehenden alte, schlecht geheilte Narben zieren, sind rote Striemen auf Bauch und Brust seines Opfers, das auf der harten Pritsche liegt. Sie bilden ein sauberes Muster, das nur jemand geben kann, der im Umgang mit der Peitsche extrem versiert ist.

Jahrelange Erfahrung hat den Mann zu einem Meister im Umgang mit der Peitsche gemacht – und all den anderen Werkzeugen, die in gleichem Maße Lust wie Schmerz versprechen. Für den Mann sind dies identische Begriffe, und er wird dafür sorgen, dass sein Opfer das schon bald ebenso empfindet.

Er holt ein weiteres Mal aus.

Sein eigener schweißglänzender Körper wird von dem Kerzenlicht des Raumes in einen bronzenen Schein getaucht. Die kräftigen Muskeln seines Oberarms wölben sich unter seiner Haut, dann schnalzt die Spitze der Peitsche durch die Luft. Sie landet exakt auf der empfindlichen Brustwarze der linken Brust. Sein Opfer bäumt sich auf und brüllt seine Lust in den Knebel, über dem sich volle, weiche Lippen spannen.

Es werden keine Narben zurückbleiben. Der Mann hat die Peitsche gut gewählt und er beherrscht sie so virtuos wie ein versierter Musiker sein Instrument. Die Schläge verursachen Schmerzen, aber er sorgt dafür, dass nur die obersten Hautschichten verletzt werden, die Schläge aber nicht durchdringen bis auf das darunterliegende Fleisch. Nichts, das nicht durch eine Einreibung mit Melkfett zu beheben wäre. Der Mann hat es mit speziellen Kräutern versetzt, um die Heilung zu beschleunigen, und in den nächsten Tagen wird er sich persönlich um die frischen Wunden kümmern. Nach der Heilung wird die nächste Stufe folgen. Noch intensivere Schmerzen, ein überwältigender Rausch der Lust für beide, welche durch die Peitsche verbunden sind. Dann die nächste und immer so weiter, bis die Perfektion erreicht ist. Die Fähigkeit, alles zu ertragen. Und dann: Es zu genießen wie einen guten, alten Wein. Schluck für köstlichen Schluck.

»Disziplin ist Freiheit«, sagt der Mann in den Raum und lässt die Peitsche erneut auf dieselbe Stelle herabfahren.

Sein Opfer windet sich und brüllt gedämpft.

»Schmerz ist Wonne«, sagt der Mann und meint jedes Wort.

Ein weiteres rotes Zeichen bildet sich auf dem geschundenen Fleisch, aber sie sind noch lange nicht fertig. Als der Mann mit dem Daumen eine Träne von der Wange seines Opfers wischt, bemerkt er das Zittern, das durch den strammen, jungen Körper geht. Er ist beinahe überrascht, wie sehr es ihn erregt.

»Lust ist Seligkeit«, sagt er. »Bald wirst du es verstehen.«

Schöne blaue Augen starren ihn an, weit aufgerissen vor Schmerz und Erregung. Und dann senken sich die Lider kurz und sein Opfer nickt. Will, dass es weitergeht. Will den Weg gehen, so weit es nötig ist.

Um zu verstehen.

Gut.

»Ich liebe dich«, sagt der Mann, während er erneut ausholt.

Der nächste Schlag wird den rechten Nippel treffen und die empfindliche, rosafarbene Haut aufplatzen lassen. Und vielleicht wird an dieser Stelle wirklich eine kleine Narbe zurückbleiben. Und wenn schon. Eine Erinnerung. Es ist romantisch.

Nur der kann ein vollkommener Meister werden, der einst ein vollkommener Sklave war, das weiß der Mann nur zu gut. Die Narben auf seinem Rücken und seinen Oberschenkeln sprechen ganze Bände davon.

Und damit beginnt die Ausbildung.

Kapitel Acht

Daddy

»Cassy«, ruft er und kommt auf mich zugelaufen mit seiner grünen Gartenschürze und dem Sonnenhut, den ich ihm letztes Jahr eingeredet habe, damit er keinen Sonnenstich kriegt. Jetzt trägt er das Ding ständig, auch bei Regen. Aber so ist Dad nun mal.

Seine Gummistiefel sind schlammbespritzt, und er hat eine alte Wattejacke übergeworfen, welche der Regen schon ein bisschen aufgeweicht hat, während er sich – höchstwahrscheinlich – mit den Rosen hinter dem Haus beschäftigt hat. Und er lächelt, als hätten wir einen strahlenden Sommernachmittag. Als ich begreife, dass das hauptsächlich mit mir zu tun hat, steigt ein Kloß in meiner Kehle hoch, und ich laufe ihm ein Stück entgegen, um mich in seine Arme zu werfen.

»Hey, Vorsicht!«, ruft er lachend und lässt die Gartenschere fallen, die im Gras stecken bleibt. Es tut so gut, ihn lachen zu hören. Ich presse mich an ihn und genieße seine Wärme und die Kraft, die von seinem Körper ausgeht. Bei ihm fühle ich mich immer noch geborgen, und ich will, dass das niemals aufhört. Wie damals, als ich ein kleines Mädchen war. Es hat sich so wenig verändert.

»Was ist denn?«, fragt er, während er die Umarmung erwidert. »Ist alles in Ordnung, Cassy?«

Er ist der einzige Mensch auf der Welt, der mich Cassy nennen darf.

»Alles gut«, sage ich und wische ein paar Tränen an der durchnässten Wattejacke ab. Jetzt habe ich wenigstens eine Ausrede, sollte ihm auffallen, dass meine Wangen nass sind. »Ich freue mich nur, dich zu sehen, Dad.«

»Ich freu mich auch, dich zu sehen«, sagt er, »also lass dich aber auch mal ansehen, Mädchen. Groß bist du geworden!«

Das ist eine Art Witz zwischen uns, mit dem er mir zu verstehen gibt, dass ich ihn viel zu selten besuche. Womit er ja recht hat, aber das Studium und die Bewerbungen ...

Ich lasse seinen prüfenden Blick über mich ergehen, und dann sagt er: »Mit dir haben wir wirklich ganze Arbeit geleistet.«

Er strahlt mich an und fragt: »Was sagt der alte Zausel?« Damit meint er Charles Mortimer. Und mir wird klar, dass das hier sehr schwer werden wird.

»Er ... er bestellt schöne Grüße«, sage ich. »Wollen wir reingehen? Ich könnte einen Tee gebrauchen.«

Oder einen doppelten Gin, mindestens. Oh Gott, das wird nicht schwer, das wird unmöglich. Er nickt.

»Na klar. Willst du dir vorher noch kurz die Rosen anschauen?«

Die Rosen, natürlich.

»Klar, Dad.«

Er führt mich auf die Rückseite des Cottages, und sie sind wirklich wunderschön. Die Regentropfen, die an den rosafarbenen Blütenblättern hängen, verleihen ihnen ganz bestimmt etwas Märchenhaftes. Dann wäre er der König und ich die Prinzessin. Bloß dass kein Prinz um meine Hand anhält und Dad gerade dabei ist, weit mehr zu verlieren als nur das halbe Königreich. Und nirgends eine Spindel in Sicht, die mich in einen tausendjährigen Schlaf versetzt, so lieb mir das im Moment auch wäre.

»Sie sind immer noch Nachfahren der Rosen von damals«, sagt er, und der Kloß beginnt wieder, meinen Hals emporzukriechen. »Die, welche ich damals mit Liana hier gefunden habe. Und sie werden mit jedem Jahr schöner, so wie du.«

Als er sich jetzt zu mir umdreht, glänzen seine Augen feucht. Barkeeper, machen Sie bitte zwei doppelte Gin draus, okay?

»Sie hatte damals eine Menge Verehrer, deine Mutter«, sagt er und mir kommt das Wort seltsam altmodisch vor. Verehrer. Was er wohl damit meint? Liebhaber? Exfreunde? Oder Männer, die sie einfach nur ergebnislos angehimmelt haben? Alles davon scheint möglich, denn meine Mutter war wirklich eine sehr schöne Frau, beinahe bis ganz zum Schluss. Und der Kloß will jetzt offenbar ganz dringend aus meiner Kehle springen. Verdammt!

»Ich werde wohl nie ganz begreifen, wieso sie sich ausgerechnet für mich entschieden hat«, sagt Dad und ich beuge mich ganz tief über die Rosen und rieche an den zarten Blüten, damit er meine Tränen nicht sieht.

Das läuft ja echt prima bisher.

»Weil du ein prima Kerl bist«, murmele ich und umarme ihn wieder, »und der beste Dad der Welt.«

Später sitzen wir in der Bibliothek beim Tee und ich glaube, dass ich nun wirklich etwas Stärkeres vertragen könnte. Er hat ein kleines Feuer angefacht, und die Hitze, die vom Kamin ausgeht, spendet eine wunderbare, angenehme Wärme.

Bald wird das alles nicht mehr uns gehören, denke ich, und schon ist mir wieder zum Heulen.

Ich bekomme es auch beim zweiten Anlauf nicht hin, ihm zu sagen, was mir Charles Mortimer erzählt hat. Dass unsere Familie praktisch ruiniert ist. Andererseits ...

»Dad?«, frage ich und er dreht sich zu mir um mit diesem gütigen Lächeln auf den Lippen. Wie er da so sitzt in seiner Strickjacke, die Untertasse in der einen Hand, den Henkel der Teetasse in der anderen, weiß ich, dass er einfach nichts mit den Machenschaften zu tun haben kann, die man ihm vorwirft. Nicht dieser Mann, der sein Leben lang hart geschuftet hat, um sich einen Namen als seriöser Geschäftsmann aufzubauen. Nicht mein Dad.

»Es ist wegen Charles, also ...«

»Ja?«

Ach Mist, ich fange das ganz falsch an.

»Also Charles, du weißt ja, wie er ist, er wollte wissen ...«

»Ja?«

Noch mal.

»Als du damals aus dem Geschäft ausgestiegen bist ...«

»Ich für eine Weile ein bisschen kürzer getreten bin, meinst du.«

Er lächelt und nickt mir bestimmt zu. So als würde er morgen einfach aufstehen und in die Firma fahren. Morgens um fünf, wie er es jeden Tag getan hat, bis auf die letzten zwei Jahre. Aber das wird er natürlich nicht. Nie mehr, vermutlich.

»Ja, Dad, also Charles wollte wissen, ob du da vielleicht eine Art Vereinbarung mit Graham getroffen hast.«

»Graham!«, sagt er und deutet mit dem Zeigefinger auf mich, so als würde er ein kleines Kind ermahnen. »Der wollte sich auch längst schon mal wieder bei mir melden. Es ist schlimm, Cassy. Dein alter Dad gerät offenbar allmählich in Vergessenheit.«

»Er ist ... also, er ist sehr eingespannt«, lüge ich.

Das fällt mir leichter, als ich gedacht habe. Jetzt ist es also raus, ich belüge meinen eigenen Vater nach Strich und Faden, den ehrlichsten Menschen, den ich kenne.

»Da ist ein großes Bauvorhaben, und er kann gerade nicht weg.«

Dad seufzt.

»Natürlich«, sagt er, »und er hat ja recht. Die Firma geht vor, natürlich. Er weiß, dass ich das genauso sehe.«

Oh, denke ich, dieser Mistkerl Graham weiß noch eine ganze Menge mehr, als du glaubst, Dad. Immerhin hat er uns das alles eingebrockt.

»Jedenfalls hat Charles sich erkundigt, ob du damals eine Art vorläufiger Abtrittserklärung oder so was aufgesetzt hast. Damit Graham die Geschäfte auch ohne deine Unterschrift regeln kann. Nur, bis es dir wieder besser geht, natürlich.«

»Wofür hält mich dieser alte Kauz?«, sagt Dad und lacht ein bisschen. »Für senil, offenbar.«

Bitte, denke ich, bitte, Dad, sag mir, dass es da einen Vertrag gibt. Ein Schriftstück. Irgendwas. Bei dem, was er dann sagt, fällt mir ein Stein vom Herzen.

»Natürlich habe ich eine Erklärung mit ihm aufgesetzt. Nicht, dass ich glaube, dass es jemals nötig sein wird, diese irgendwem zu zeigen. Aber für den Fall der Fälle ist man besser vorbereitet. Immerhin geht es dabei nicht nur um den Namen der Firma, sondern auch den unserer Familie.«

»Oh, Dad!«, rufe ich aus und springe auf, wobei ich meinen Tee ein bisschen verschütte. Egal. Ich falle ihm um den Hals. »Oh, Dad, das sind großartige Neuigkeiten!«

»Na, wie du meinst«, sagt er und schaut mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Habe ich ja auch nicht mehr, vor Glück. Dann steht er auf.

»Können wir’s holen?«, frage ich. »Ich würde es Charles gern gleich in die Kanzlei bringen, es schien dringend zu sein.«

Klar, das würde das Problem nicht aus der Welt schaffen, und Dads Firma wäre trotzdem zerstört. Nur wäre er wenigstens raus aus der Sache, und es würde mir etwas mehr Zeit verschaffen. Das ist im Moment das Einzige, das wirklich zählt. Alles andere werde ich ihm schon irgendwie beibringen. Ich könnte tanzen vor Glück.

Wir gehen in Dads Arbeitszimmer, und ich sehe auf den ersten Blick, dass er hier schon eine ganze Weile nicht mehr war. Es sieht richtig verlassen aus und unordentlich, und außerdem ist es ziemlich kalt. Die Heizung hier drin läuft wohl schon eine ganze Weile nicht mehr.

»Hm«, sagt er, und als ich ihn anschaue, sehe ich, dass er die Stirn runzelt, als er seinen Blick durch den Raum schweifen lässt. Dann bleibt er an einem ganz bestimmten Punkt an der Wand hängen und murmelt:

»Seltsam.«

»Was?«, frage ich, und etwas in mir krampft sich zusammen. »Was ist seltsam, Dad?«

Er antwortet mir nicht, sondern geht schnurstracks auf das Fenster zu. Es ist offen. Zumindest denke ich das im ersten Moment, als ich ihm folge. Na klar, deshalb ist es ja auch so kalt hier drin. Aber das ist nur die halbe Wahrheit und das Problem ist auch nicht dadurch zu lösen, dass man das Fenster wieder zumacht.

Die Scheibe ist eingeschlagen und auf dem Teppich vor der Fensterbank liegen ein paar große Scherben.

»Oh mein Gott«, flüstere ich, während Dad auf den großen Schreibtisch zugeht. Er umrundet ihn, dann klappt er das Gemälde zur Seite, das dahinter an der Wand hängt. Das heißt, es hängt nicht wirklich wie ein normales Bild, sondern es ist mit der Holzvertäfelung dahinter verschraubt, und die lässt sich an zwei Scharnieren aufklappen wie eine Tür. Das weiß ich, weil ich weiß, dass dahinter Dads Safe ist.

Und der ist jetzt offen. Dad zieht die kleine Stahltür vollends auf.

»Leer«, kommentiert er das Offensichtliche.

»Jemand hat eingebrochen!«, sage ich und drehe mich instinktiv mit dem Rücken zur Wand, als befürchte ich, jeden Moment von einem Verbrecher angesprungen zu werden. Das ist natürlich eine völlig irrationale Angst, weil die Einbrecher wohl schon vor Tagen hier waren, und natürlich sind sie längst wieder verschwunden. Nachdem sie geholt hatten, weswegen sie gekommen waren.

»Aber wer würde so was tun?«, fragt Dad nachdenklich. »Hier war doch nichts weiter drin als Tante Cecilias Silberbesteck und ein bisschen Bargeld. Kaum der Mühe wert.«

Aber mir ist längst klar, was der oder die Einbrecher hier gesucht haben. Und wieso sie den Safe nicht einmal aufsprengen mussten oder so was. Denn natürlich kannten sie die Kombination. Weil Graham sie kannte.

Mit zitternder Stimme frage ich: »Und die Abtrittserklärung?«

»Oh ja«, sagt er. »Klar. Die war natürlich auch da drin. So ein Pech.«

So ein Pech?!

Ich will hingehen und ihn schütteln und ihn anbrüllen, wie er nur so leichtsinnig hat sein können und ... aber natürlich tue ich nichts davon.

»Na ja«, sagt er und lächelt mich entschuldigend an. »Dann werde ich den guten Charles wohl enttäuschen müssen, was diese Erklärung betrifft. Wirklich bedauerlich.«

Dann verschließt er den Safe wieder und zuckt mit den Schultern. »Lohnt kaum, die Polizei zu rufen, denn um das Silberbesteck ist es wirklich nicht schade«, plappert er. »Ich fand es schon immer ziemlich scheußlich. Und die Scheibe wird mir der Constable wohl auch nicht ersetzen können. Da werde ich wohl den Glaser bemühen müssen.«

Er redet immer weiter, während er den Safe schließt und die Holzverkleidung wieder zuklappt, aber da bin ich schon aus dem Raum gestürmt.

Kapitel Neun

Das Telefonat

Charles Mortimer geht nach dem ersten Klingeln ran. Ich habe mich in die Bibliothek zurückgezogen und Dad eingeredet, dass ich dort ein paar Minuten ungestört sein möchte, weil ich etwas für die Uni machen muss. Das stimmt sogar irgendwie.

»Miss Jones«, sagt er.

Ich sage erst mal gar nichts, weil ich damit beschäftigt bin, zu versuchen, mich zu beruhigen. Was mir natürlich kein bisschen gelingt. Dann erzähle ich ihm, was passiert ist. Ich muss schnell reden, damit ich nicht wieder zu weinen anfange.

Dann ist er es, der erst mal schweigt.

»Das sieht nicht gut aus«, sagt er schließlich.

Die Untertreibung des Jahrhunderts. Aber es wird noch besser oder vielmehr schlimmer. Inzwischen habe die Gegenseite ihre Forderungen übermittelt, sagt er. Es gehe um die unvorstellbare Summe von fünf Millionen Pfund. Und das sei nur eine erste vorsichtige Schätzung des tatsächlichen Streitwerts.

»Oh Gott, so viel wird Dad in hundert Jahren nicht aufbringen können«, sage ich.

»Die Papiere sind hieb- und stichfest, fürchte ich«, entgegnet Charles. »Mr Marsden muss diese Sache von Anfang an geplant haben, in der festen Absicht, sich mit dem Geld abzusetzen, sobald die Sache ... nun ja, bevor es brenzlig für ihn wurde. Und scheinbar ist ihm genau das gelungen.«

»Ich bekomme das immer noch nicht in meinen Kopf. Sie sind doch Freunde, Dad und Graham, sie kennen sich schon seit dem Studium.«

»Es geht um sehr viel Geld«, gibt Charles zu bedenken, und natürlich hat er recht. Das tut es. Verdammt viel Geld sogar.

»Und es gibt wirklich keinen Weg, wie Dad aus dieser Sache rauskommt, ohne das Gesicht zu verlieren?«, frage ich und sinke auf dem Sessel vor dem Kamin zusammen.

»Ich fürchte, ich sehe keinen«, sagt Charles.

Das wird Dad umbringen, das wissen wir beide. Vermutlich noch bevor der Prozess überhaupt gestartet ist. Er wird einfach vor Scham tot umfallen. Oder notfalls ein bisschen nachhelfen. Oh Gott. Und es gibt nichts, das ich jetzt noch für ihn tun kann. Oder?

Dann habe ich eine letzte, verzweifelte Idee. Und verzweifelt ist genau der richtige Ausdruck.

Kapitel Zehn

Die Gegenseite

»Gibt es vielleicht eine Möglichkeit«, frage ich mit viel Enthusiasmus, aber ohne große Hoffnung, »Kontakt zum Gläubiger aufzunehmen?«

»Schwierig«, sagt Charles nach einigem Zögern. »Bis zur offiziellen Eröffnung des Prozesses wird er sich vermutlich im Hintergrund halten. Mr McConaughey hat etwas in dieser Richtung angedeutet.«

»McConaughey«, frage ich. »Ist das der Anwalt der Gegenseite?«

»Ja, meine liebe Miss Jones, und der ist, unter uns gesagt, ein wirklich harter Brocken. Ich habe ein paar Erkundigungen über ihn eingeholt und er ist ... nun ja, er ist geradezu berüchtigt dafür, die Forderungen seiner Klienten zu erwirken. Jedes Mal mit der Zuverlässigkeit eines Schweizer Uhrwerks und stets bis auf den letzten Cent. Wer immer Ihrem Vater diesen Terrier auf den Hals gehetzt hat, meint es offenbar sehr ernst.«

»Dann möchte ich wenigstens versuchen, mit diesem Mr McConaughey zu sprechen. Das muss doch irgendwie gehen.«

»Ich fürchte, das wird nicht so ohne Weiteres möglich sein. Streng genommen sind Sie in diese Sache ja nur indirekt verwickelt, wenn überhaupt.«

»Charles«, sage ich, »wenn Dad dieses Verfahren an den Hals bekommt, kann ich mein Studium vergessen. Dann war alles umsonst. Dann kann ich von Glück sagen, wenn ich irgendwo noch Burger braten darf. Ist das verwickelt genug für Sie?«

»Ich verstehe«, sagt er, und vielleicht tut er das wirklich erst jetzt in vollem Umfang. Ein paar Sekunden sagt er gar nichts, schließlich scheint er sich zu einem Entschluss durchgerungen zu haben.

»Ich werde versuchen, den Kontakt zu Mr McConaughey herzustellen, Cassidy.«

»Sie sind ein Engel, Mr Mortimer.«

»Aber ich kann nichts versprechen; Miss Jones. Wenn Mr McConaughey keine Lust verspürt, sich mit Ihnen zu treffen, gibt es nichts auf der Welt, das ihn dazu zwingen könnte.«

»Ja, ich weiß.«

»Was haben Sie überhaupt vor? Ich glaube nicht, dass er sich ins Gewissen reden lassen wird.«

Natürlich wird er das nicht. Auch einen Ruf als harter Brocken muss man sich schließlich erarbeiten. Und welchen Plan ich habe? Ganz einfach. Gar keinen. Ich weiß nur, dass ich irgendetwas unternehmen muss, und zwar sofort. Ich kann einfach nicht herumsitzen und zusehen, wie Dad und mir der Himmel auf den Kopf fällt.

»Da fällt mir schon was ein«, sage ich und versuche, zuversichtlich zu klingen. »Bestimmt.«

»Sie wollen eine außergerichtliche Einigung erwirken, nicht wahr? Irgendetwas in der Art?«

»Nein«, sage ich, »ich muss eine Einigung erwirken. Wenn diese Sache öffentlich bekannt wird, ist das das Ende, Mr Mortimer. Von allem. Und Mr Mortimer?«

»Ja?«

»Sagen Sie Dad nichts davon, okay?«

»Haben Sie es ihm etwa immer noch nicht gesagt?«

»Nein«, sage ich und schüttele den Kopf, obwohl er das natürlich gar nicht sehen kann. »Ich konnte es einfach nicht. Er ist ... Es hat einen anderen Menschen aus ihm gemacht, das mit Mom. Er hat sie so geliebt.«

»Das hat er«, sagt Charles und dann: »Na gut. Ich setze damit auch meine eigene Karriere gehörig aufs Spiel, das muss Ihnen klar sein.«

»Ja.«

Und ich setze alles aufs Spiel. Und dabei bin ich noch nicht mal mit der Uni fertig. Wenn das hier schiefgeht, ist meine Karriere vorüber, bevor sie begonnen hat.

»Gut«, sagt er. »Ich tue das einzig um der alten Freundschaft willen, die mich mit Ihrem Vater verbindet. Achtundvierzig Stunden, das ist die absolute Obergrenze. Wenn ich nicht mit Ihrem Vater gesprochen habe, komme ich in echte Schwierigkeiten. Und die werden sich auch auf den Fall und damit auf Sie beide auswirken.«

»Danke«, sage ich, »achtundvierzig Stunden.«

Dann lege ich auf. Bloß habe ich nicht die geringste Ahnung, wie ich diese nächsten achtundvierzig Stunden sinnvoll dazu verwenden kann, das drohende Unheil abzuwenden.

Aber zunächst muss ich nach Hause und versuchen, einen einigermaßen klaren Kopf zu bekommen. Ich rufe mir ein Taxi, und einen Tee später klingelt es. Ich umarme Dad zum Abschied ein weiteres Mal und konzentriere mich auf mein verzweifeltes Mantra.

Alles wird gut werden.

Wird es?

Dad winkt mir zum Abschied zu und widmet sich wieder seinen Rosen. Der Anblick, wie er da ganz versunken an ihnen herumschnippelt, den lächerlichen Hut auf dem Kopf, lässt mich die gesamte Heimfahrt heulen.

Ich habe keine Ahnung, was der Taxifahrer von mir denkt. Vielleicht, dass ich gerade mit meinem Freund Schluss gemacht habe oder so was. Plötzlich wird mir bewusst, dass solche Dinge vor der entsprechenden Kulisse zu geradezu lächerlichen Problemen verblassen. Ich nehme mir vor, diesen Gedanken für bessere Zeiten zu bewahren. Sollten jemals bessere Zeiten kommen.

Als ich Lisas Mini vor der Tür stehen sehe, wische ich die Tränen eilig fort, drücke dem Taxifahrer das Geld in die Hand und steige aus dem Auto.

Kapitel Elf

Daheim

Es muss wohl der Schock sein, aber irgendwie schaffe ich es, jeden Gedanken an das, was mir heute so passiert ist, beiseite zu schieben, als sich Lisa zu mir in die Küche gesellt. Die Küche eines Hauses, aus dem ich vermutlich schon sehr bald ausziehen muss. Ich war noch kurz im Bad und habe meine Mascara fortgewischt, das sich in unzähligen rußigen Spuren über meine Wangen verteilt hatte.

Lisa merkt natürlich trotzdem sofort, dass etwas nicht stimmt.

»Alles in Ordnung, Süße?«, fragt sie und setzt Teewasser auf. Sie schaut mich fragend an, und ich nicke, den Tee betreffend. Dann erkläre ich, dass ich mir wohl eine Erkältung eingefangen haben muss, kein Wunder bei dem Wetter und so weiter.

»Außerdem hat mich irgend so ein Grobian umgerannt, und ich bin in eine Pfütze gefallen«, sage ich. »Ist das zu glauben? Die Strümpfe kann ich jedenfalls wegwerfen und den Rock vielleicht auch.«

»Armes Baby«, sagt sie und drückt mich.

Das tut verdammt gut. Ich erwidere die Umarmung vielleicht eine Spur zu lang und innig. Auch das wird schon bald zu meiner Vergangenheit gehören. Ich glaube nicht, dass Lisa noch viel Zeit für mich haben wird, wenn ich erst die mittellose Tochter eines überführten Kriminellen bin.

»Was wollte denn der alte Zausel?«, fragt sie, und für einen Moment schaue ich sie verdutzt an. Sie hat Charles Mortimer doch nie kennengelernt! Woher kennt sie seinen Spitznamen?

»Du hast mir erzählt, dass dein Dad ihn so nennt«, lacht sie, »den alten Zausel. Und ich finde das Wort irgendwie witzig.«

Klar, stimmt. Vermutlich habe ich ihr das schon ein Dutzend Mal erzählt. Mann, ich sollte mal runterkommen.

»Oh, es ging um irgendwelche Papiere aus Dads Firma. Ich wollte ihn ja sowieso besuchen, also ...«

»Also hast du den Laufburschen gespielt.«

»Ja«, sage ich. Oder den Überbringer der Botschaft. Der es nur leider nicht hinbekommt, seine Botschaft auch zu überbringen.

Sie schweigt, steht vor dem dampfenden Teekessel und strahlt mich an. Offenbar hat auch sie Neuigkeiten. Und wenn ich sie so dastehen sehe, kann ich nicht anders und muss zurücklächeln. Das müsste ich vermutlich auch, wenn ich gerade dabei wäre, in einem Moor zu versinken. Das hat ihr Lächeln einfach so an sich.

»Also, was ist los?«, frage ich und blinzele sie an.

Sie wird ein bisschen rot und senkt den Kopf. Betrachtet ihre Zehenspitzen und kichert leise.

»Ääääh?«, mache ich, weil ich nicht kapiere, worauf sie mit dieser Kleinmädchenvorstellung hinaus will. Dann bemerke ich, dass sie gar nicht auf ihre Füße schaut, sondern auf ihre Hände, die sie auf den Oberschenkeln ineinander verschränkt hat. Und dann bemerke ich endlich den Ring. Ein süßes, kleines Ding, die Definition des Wortes entzückend. Wie das Lächeln meiner Freundin Lisa.

»Oh mein Gott!«, rufe ich, »Felix?«

Sie nickt, aber ich kann es gar nicht fassen.

»Felix? Im Ernst?« Sie nickt wieder und hebt den Kopf, und diesmal ist sie es, der die Tränen in den Augen stehen. Was am heutigen Tag wirklich eine willkommene Abwechslung ist, zumal es bei ihr ganz offensichtlich Tränen des Glücks sind.

Ich springe auf, umarme sie und dann tanzen wir für eine Weile durch die Küche, als hätten wir den Verstand verloren. Ich freue mich so sehr für sie, dass ich für einen Augenblick sogar vergesse, dass mein eigenes Leben sich vor ein paar Stunden in einen Scherbenhaufen verwandelt hat.

Kapitel Zwölf

Erster Traum

Ich stehe auf einem mittelalterlichen Marktplatz, mit etwas Fantasie könnte es der Trafalgar Square sein, aber alles ist anders, als ich es kenne. Dann bemerke ich, wieso. Die neueren Gebäude, ein paar der Statuen und vor allem die bunten Plastiklöwen fehlen, die man im letzten Jahr im Rahmen eines Kunstprojekts dort aufgestellt hat. Außerdem sehe ich keine Spur von den Heerscharen von Touristen, die den Platz sonst zu jeder Tages- und Nachtzeit bevölkern.

Stattdessen steht hier eine Menschenansammlung wie angewurzelt und starrt mich an. Keiner sagt etwas oder bewegt sich auch nur ein Stück. Welche seltsamen Klamotten die Leute tragen! Ich sehe Kniebundhosen und Oberbekleidung, die ich nur unter der Bezeichnung »Wams« kenne. Die Frauen haben ihre langen Haare unter Hauben versteckt und am Rand steht sogar ein kleines Grüppchen von Mönchen, in langen dunkelbraunen Gewändern, die aussehen wie Kartoffelsäcke mit Ärmeln und Kapuze.

Ich begreife, dass ich mich im Mittelalter befinde, aber das kommt mir nicht komisch vor, weil einem in einem Traum schließlich nur selten etwas merkwürdig vorkommt.

Einige der Menschen haben hölzerne Mistgabeln dabei, andere tragen Fackeln. Ich sehe Kinder, und als ich meinen Blick weiter nach unten schweifen lasse, entdecke ich geflochtene Körbe, die bis zum Rand gefüllt sind mit fauligem Obst. Und sie alle starren unverwandt in meine Richtung.

Wenn ich bloß begreifen würde, warum sie das tun.

Um es herauszubekommen, blicke ich an mir herab, halbwegs in der Erwartung, dass ich feststellen werde, dass ich splitternackt bin. Diesen Traum habe ich übrigens auch öfter, bloß reise ich dabei üblicherweise nicht ins Mittelalter zurück, sondern nur in die achte Klasse, wo ich mal einen Vortrag halten musste. In der Nacht vor diesem Vortrag träumte ich zum ersten Mal, dass mich die ganze Klasse auszulachen beginnt, bis ich schließlich feststelle, dass ich mein Plädoyer ohne einen Fetzen Kleidung am Leib halte, und das ist der Punkt, an dem ich schweißgebadet erwache.

Nicht dieses Mal.

Dieser Traum ist anders, ich muss keinen Vortrag halten, ich bin auch nicht nackt. Stattdessen trage ich ein wunderschönes weißes Kleid. Eins von der Art, das die Disneyprinzessinnen in diesen Märchenfilmen immer tragen. Mit Rüschen und Puffärmeln und einem ziemlich gewagten Ausschnitt, der meine Kurven in ein äußerst vorteilhaftes Licht rückt.

Allerdings komme ich nicht lange dazu, meine aktuelle Haute Couture zu bewundern, weil mich plötzlich starke Hände an den Oberarmen packen und auf die Knie herunterzwingen. Ich erhasche einen Blick auf den Mann, der wie ein Turm über mir aufragt und mir aus stürmischen blauen Augen finstere Blicke zuwirft. Oh Gott, nein!, denke ich. Es ist der Kerl, in den ich vor Charles Mortimers Kanzlei hineingelaufen bin. Dann ist er aus meinem Gesichtsfeld verschwunden. Ohne dass ich mitbekomme, wie das passiert ist, befinden sich meine Handgelenke plötzlich in schweren, handgeschmiedeten Eisenfesseln, die mit fingerdicken Bolzen verschlossen sind.

Als ich wieder an mir herabsehe, ist mein Kleid ausgefranst und schmutzig und ich knie in einer widerlichen Schlammpfütze. Mein eben noch hübsches Kleid saugt sich mit der schmutzigbraunen Brühe voll. Dann wird mein Kopf an den Haaren zurückgerissen und der gut aussehende Folterknecht legt mir irgendeine Vorrichtung um den Hals, in die sodann auch meine gefesselten Hände gestopft werden.

Jetzt kann ich das schöne Kleid nicht mehr sehen, aber ich spüre, dass es sich mit dreckigem, stinkendem Wasser vollsaugt, und ganz schwer an mir herabhängt und mittlerweile überhaupt nicht mehr entzückend aussieht. Jetzt fällt mir ein, wie man das Ding nennt, das ich nun um den Hals trage und das mich zwingt, den Blick wieder auf die gesichtslose Masse des Publikums zu richten.

Es heißt Schandgeige, und man benutzte es im Mittelalter als Folterinstrument mit der besonderen Raffinesse, dass es den Gefangenen gleichermaßen quält wie es ihn öffentlich verhöhnt. Und jetzt bin ich offenbar die Gefangene.

Der Unbekannte, der mir das Ding um den Hals gelegt hat, verschließt es jetzt mit ein paar weiteren Bolzen und so knie ich mitten auf dem Marktplatz im Dreck und schaue hoch zu den Leuten. Hinter mir entfernen sich die schweren Schritte meines unbekannten Peinigers, dann bin ich ganz allein.

Das ist unglaublich demütigend.

Sie alle starren mich aus ihren ausdruckslosen Gesichtern an, und alles, was ich darin lesen kann, ist Ekel und Abscheu. Über mich, und was immer es ist, weswegen ich hier angeklagt und offenbar soeben schuldig gesprochen wurde.

Dann fliegt der erste Apfel.

Ich sehe das Ding wie in Zeitlupe durch die Luft segeln, und während es sich gemächlich um seine eigene Achse dreht, sehe ich, dass die Unterseite schon komplett braun und matschig ist. Da sind ein paar weiße Schimmelflecken.

Dann erwischt mich das Ding am Kopf. Überraschenderweise tut der Aufprall überhaupt nicht weh, als das überreife Obst zerplatzt und sein matschiges Inneres über meine Haare und mein Gesicht verteilt, wo es in großen Brocken herabtropft.

Es ist widerlich.

Ich öffne den Mund, um den Leuten zuzurufen, dass das alles doch gar nicht meine Schuld ist, aber ich bringe kein Wort heraus. Der nächste Apfel fliegt, und dann noch einer und dann fliegen alle Arten von Gammelobst in meine Richtung, besudeln mein Gesicht und meinen Körper mit ihrer süßlichen Fäule.

»Nein!«, schreie ich und »Aufhören!«, aber auch das ist nicht zu hören, nicht einmal für mich. Ich bin stumm, habe keine Stimme mehr.

Dann entdecke ich Dad.

Er steht zwischen all diesen Leuten und schaut mich traurig an. In der Hand hält er eine Rose, die er jetzt anhebt, als überlege er, sie ebenfalls durch die Luft segeln zu lassen. Dann sieht er mich an, und in seinem Blick liegt nichts als Enttäuschung.

Über mich.

Weil ich versagt habe.

»Dad!«, rufe ich, doch er dreht sich einfach um und verschwindet zwischen den Leuten.

Nur die Rose bleibt auf dem Pflaster zurück.

Die groben Schuhe der wütenden Meute trampeln auf ihr herum, während ich weiter mit Faulobst und allem möglichen Abfall beworfen werde. Ohne dass ein einziges Wort aus meinem Mund kommt, bettle und flehe ich sie an, mir doch endlich zuzuhören. Niemand hört mir zu, während sie mich immer weiter quälen und demütigen. Ich bin völlig hilflos in dieser hölzernen Vorrichtung, auf Gedeih und Verderb der Laune des wütenden Mobs ausgeliefert.

Und der Mob hat noch lange nicht genug.

Dann erwache ich, nach Luft schnappend wie ein Fisch auf dem Trockenen, schweißnass und – ausgesprochen verwirrt.

Kapitel Dreizehn

Der Mann im Sessel

Einige der Frauen dienen als Möbel, andere als Kerzenständer oder schlicht zur optischen Auflockerung des Raumes.

In der Ecke stehen zwei, die auf den ersten Blick in inniges Liebesspiel vertieft zu sein scheinen, bloß dass sie sich dabei überhaupt nicht bewegen. Ganz so, als wäre die Zeit genau in dem Moment eingefroren, in dem sich ihre intimsten Stellen berührten, die Lippen zum immerwährenden Kuss aufeinandergepresst, ihre geschmeidigen Körper in inniger Umarmung verschlungen.

Bei näherem Hinschauen hätte ein Zuschauer bemerkt, dass die beiden Mädchen von Seilen, die geschickt um ihre Taillen und die schlanken Glieder geknüpft waren, in dieser Position gehalten werden. Die beiden tragen eng anliegende Halsbänder aus Leder, an deren Vorderseite jeweils ein großer Metallring befestigt ist, fraglos dazu gedacht, eine Hundeleine oder etwas Ähnliches daran zu befestigen.

Alle Frauen im Raum tragen diese Art von Halsschmuck, und jede von ihnen trägt eine mit Federn geschmückte Maske auf dem Kopf, die wenig mehr als geheimnisvolle Augen und perfekt geschminkte Lippen erkennen lässt.

Der große Mann sitzt versunken in einem Ledersessel, dessen unauffällige Eleganz vermuten lässt, dass dieses Sitzmöbel mehr gekostet hat als ein durchschnittlicher Mittelklassewagen. Der Mann saugt gedankenverloren an einer Zigarre, deren Asche er gelegentlich in einen schweren Aschenbecher abdreht, den er auf die Lehne des Sessels gestellt hat.

Er blickt in das Halbdunkel des Raumes, in dessen Mitte ein kleines Podest aufgestellt ist. Mit beiläufigem Interesse betrachtet er das schlanke Mädchen, das gemessenen Schrittes die Stufen zu dem Podest emporschreitet. Ihre kleinen, festen Brüste wippen aufreizend bei jedem ihrer Schritte. Bis auf die Maske und das Halsband ist das Mädchen vollkommen nackt.

In einer grazilen Bewegung beugt die Frau ihren schlanken Hals und legt sich anmutig auf einen lederbespannten Hocker, der in der Mitte des Podests aufgestellt ist. In dieser knienden Position verharrt sie absolut reglos. Inzwischen haben sich mehrere Männer um das Podest versammelt.

Auch sie tragen Masken, wenn diese auch nicht mit Federn geschmückte Vogelköpfe darstellen sollen, sondern eher an venezianische Masken erinnern, auf deren glatt polierten Oberflächen sich das dezente Kerzenlicht des Raumes spiegelt.

Ein weiteres Mädchen taucht auf. Sie trägt neben der obligatorischen Kombination aus Maske und Halsband einen hautengen Ganzkörperanzug aus einem auf Hochglanz polierten nachtschwarzen Material, der kein Detail ihres perfekten Körpers verbirgt. Vor sich her trägt sie ein rotes Samtkissen, auf dem eine lange Peitsche liegt, wie man sie etwa von Löwendressuren kennt. Den Rücken kerzengerade durchgedrückt, schreitet sie auf den ersten der Männer zu und geht langsam vor ihm auf die Knie, während sie ihm die Peitsche über ihren Kopf hinstreckt.

Der Mann greift nach der Peitsche, entrollt sie langsam, wobei er das geschmeidige Leder genussvoll durch seine Finger gleiten lässt. Er wiegt das Schlaginstrument in seiner Hand, um die Balance zu testen, dann holt er aus. Die Peitsche pfeift geräuschvoll durch die Luft, dann ist ein Knall zu hören, als sie ihr Ziel trifft.

Das Mädchen auf dem Bock zuckt kaum merklich zusammen.

Auf ihrem Rücken ist jetzt ein breiter roter Striemen zu sehen, wo die Peitschenschnur sie getroffen hat. Der Mann legt die Peitsche zurück auf das Kissen. Die Trägerin erhebt sich, schreitet grazil zum nächsten Zuschauer, geht vor ihm mit derselben Bewegung auf die Knie. Dieser Gast greift nicht sofort nach dem Schlaginstrument, sondern öffnet stattdessen die Hose seines maßgeschneiderten Anzugs.

Gehorsam öffnet die Trägerin den Mund und nimmt den aufgerichteten Schwanz des Mannes mit einem Zug fast komplett in ihrem Mund auf, während das Kissen über ihrem Kopf sich keinen Zentimeter bewegt. Sie beginnt, zu saugen, wobei sie leise glucksende Geräusche von sich gibt. Der maskierte Mann vollführt ein paar korrigierende Bewegungen mit seinem Becken, dann ist er offenbar mit der Position zufrieden.

Erst dann greift er nach der Knute und wie bei seinem Vorgänger findet sie in vollendeter Perfektion ihr Ziel auf dem Rücken des Mädchens auf dem Bock. Ihren Lippen entringt sich ein kaum wahrnehmbares Stöhnen, das begleitet wird von den saugenden Geräuschen des Mädchens, das die Peitsche gebracht hat.

Der Mann legt die Peitsche auf das Kissen zurück und übergibt es einem dritten Mädchen, das inzwischen aufgetaucht ist. Dann drückt er den Kopf der jungen Schönheit zu seinen Füßen kräftig hinab auf seine Männlichkeit. Sie lässt diese grobe Behandlung ohne den geringsten Widerstand geschehen.

Der Mann auf dem Sessel blickt weiter teilnahmslos auf das Schauspiel, aber natürlich trägt auch er eine Maske, weshalb man sein Verhalten auch für stoisches Interesse halten könnte. Dann vibriert das Telefon in der Anzugtasche des Mannes. Er holt es heraus, wirft einen Blick auf das Display des teuren Geräts, und plötzlich ist sein Körper gespannt.

Seine Hast nur mühsam verbergend, erhebt er sich und verlässt den Raum.

Kapitel Vierzehn

Ein Terminvorschlag

Ich fühle mich krank, als ich erwache, und das in mehr als einer Hinsicht. Für einen Moment überlege ich, ob ich nicht einfach liegen bleiben soll. Mich unter meiner Decke verkriechen, bis dieser ungeheure Shitstorm an mir vorübergezogen ist. Bloß wird er das nicht, und das ist mir durchaus bewusst.

Der richtige Shitstorm steht uns erst noch bevor.

Also quäle ich mich aus dem Bett, und genau in diesem Moment kommt mir wieder dieser seltsame Traum in den Sinn, den ich gestern Nacht hatte. Eine Art mittelalterliche Lynchparty, und ich mittendrin. Als das Opfer.

Ich schüttele den Kopf, um die Erinnerung loszuwerden.

Auch wenn Sigmund Freud bestimmt jede Menge Spaß mit der Analyse meiner Träume gehabt hätte, ich bin einfach nicht in Stimmung, mir den Tag schon vor dem Frühstück verderben zu lassen. Noch mehr verderben zu lassen, sollte ich wohl sagen.

Irgendwann später ertappe ich mich dabei, am Küchentisch zu sitzen und in mein Porridge zu starren, ohne die geringste Ahnung zu haben, wie lange ich das eigentlich schon tue. Ich habe mir auch einen Kaffee gemacht, stelle ich mit einiger Verwunderung fest, und der ist inzwischen eiskalt. Ich habe ihn genauso wenig angerührt wie das Porridge in meiner Schüssel.

Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist und ein Blick aus dem Fenster hilft mir da auch nicht besonders weiter. Nassgraue, trübe Londonbrühe. Irgendwann zwischen morgens sechs und abends acht, demnach. Als ob das eine Rolle spielen würde.

Lisa ist nicht da. Hat sie einen frühen Termin an der Uni oder so was? Ich weiß es nicht, bin mir aber sicher, dass sie mir das gesagt hätte. Vielleicht ist sie wieder joggen gegangen, wer weiß? Und freut sich nebenbei ein Loch in den Bauch, weil sie bald heiraten wird.

Wie schön für sie.

Nein, ermahne ich mich, das will ich nicht denken, das ist gemein und außerdem hat sie ja mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun. Lisa ist meine beste Freundin, und ich gönne ihr von Herzen ein erfülltes Liebesleben.

Mein Blick fällt auf mein Handy und ich bemerke, dass ich zwölf verpasste Anrufe habe. Ich verdrehe die Augen und entsperre das Handy, um zu sehen, wer es ist.

Dann erstarre ich.

Es ist die Nummer von Charles Mortimer, der seit acht Uhr morgens etwa im Minutentakt versucht hat, mich anzurufen. Ich Idiotin muss das Handy gestern vor dem Einschlafen auf lautlos gestellt haben. Verdammt!

In dem Versuch, es zu entsperren, hantiere ich so hastig an dem Teil herum, dass mir mein armes Telefon beinahe in die Tasse fällt. Ich kann es zwar im letzten Moment retten, dafür flute ich den Tisch mit kaltem Kaffee.

»Guten Morgen, Miss Jones. Schön, dass Sie zurückrufen. Ich habe Neuigkeiten.«

»Oh, aber das ist gut, oder?«

In meiner jetzigen Situation können Neuigkeiten ja wohl kaum noch dazu beitragen, irgendetwas zu verschlimmern. Oder?

»Offengestanden bin ich mir selbst noch nicht so recht im Klaren darüber, Miss Jones, ob dies gute oder schlechte Neuigkeiten sind.«

Na wunderbar!

»Ich habe Mr McConaughey erreicht. Und er hat einem Treffen zugestimmt.«

»Wunderbar!«, rufe ich. »Das sind ganz wundervolle Neuigkeiten. Sie sind ein Schatz, Charles. Vielen Dank!«

Keine Ahnung, woher ich diesen Enthusiasmus eigentlich nehme.

»Hm«, brummt er. »Wissen Sie, wo das Solomon Building ist?«

»Dieser riesige Klotz mitten in Knightsbridge, den man vom gesamten Hydepark aus sehen kann? Na klar. Ist es da in der Nähe?«

»Es ist in dem Gebäude, Miss Jones. Genau genommen gehört der McConaughey Consulting Group das gesamte Gebäude.«

»Oh.«

»Und ich sollte vielleicht noch hinzufügen, dass Mr McConaughey nicht besonders angetan von meinem Vorschlag klang, aber das kann selbstverständlich auch an der Telefonverbindung gelegen haben.«

Charles, immer die Höflichkeit in Person.

»Und noch etwas, Miss Jones. Mr McConaughey ist in Geschäftskreisen nicht als besonders geduldiger Mensch bekannt. Es geht die Geschichte um, dass er einmal einen besonders dreisten Anwalt aus seinem Büro warf, und zwar eigenhändig.«

Ich schlucke vernehmlich. Das klingt nach einem sehr entspannten Zeitgenossen. Es wäre interessant zu wissen, ob er den Anwalt zur Bürotür hinauswarf oder gleich durchs Fenster. Vermutlich Letzteres.

»Sie sollten sich auf das Meeting gut vorbereiten und sich möglichst kurz fassen«, rät mir Charles. Kurz fassen? Na klar. Kein Problem. Sobald mir eingefallen ist, was um aller Welt ich dem ungeduldigen Mr McConaughey eigentlich anzubieten habe.

»Okay«, verspreche ich, »ich werde gut vorbereitet sein. Ich werde den gesamten Tag heute nutzen, um mir etwas zurechtzulegen.«

»Oh«, sagt Charles, »ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Der Termin ist in einer Stunde.«

»In einer ...?«, schnappe ich und bin plötzlich hellwach. Ausnahmsweise ohne Kaffee. »Aber das geht nicht. Ich kann unmöglich ...«

»Tut mir leid«, sagt Charles, und jetzt klingt er ein wenig angesäuert. Und zu Recht, verdammt! »Aber das ist alles, was ich für Sie tun kann, Miss Jones.«

»Ja«, sage ich, »na klar. Ich werde das schon irgendwie packen.« Was auch immer ich da eigentlich zu packen gedenke. »Vielen Dank, Mr Mortimer, ich rufe mir gleich ein Taxi, dann schaffe ich es noch.«

»Gut, Miss Jones«, sagt Charles, jetzt wieder ganz der gütige alte Fuchs von Anwalt, als den ich ihn kenne. »Und vergessen Sie bitte nicht unsere Vereinbarung bezüglich Ihres Vaters. Achtundvierzig Stunden.«

»Ja«, sage ich, »klar, kein Problem.«

Ich verabschiede mich etwas abrupt und lege auf, während ich schon ins Bad haste und die Dusche aufdrehe. Ein Ultimatum jagt das nächste, na wundervoll. Andererseits, in zwei Stunden wird mein Leben aller Voraussicht nach ohnehin so derart im Eimer sein, dass Charles’ zweites Ultimatum mich kaum noch interessieren dürfte. Dann wird all das zerbrochen sein, das ich gestern um diese Zeit noch für mein Leben hielt.

Wie hat das alles so schnell passieren können?

Ich reiße mir die Klamotten vom Leib und stelle mich unter die Dusche. Dann brülle ich auf, weil ich das verdammte Ding aus Versehen auf kochend heiß gestellt habe.

Ich könnte heulen.

Bloß habe ich gerade keine Zeit für solchen Luxus.

Kapitel Fünfzehn

Taxi

Als ich in das Taxi steige, sind meine Haare noch feucht, weil ich keine Zeit hatte, sie zu föhnen. Und dummerweise regnet es ausgerechnet an diesem Morgen mal nicht, sodass ich noch nicht mal eine Ausrede haben werde, wenn ich vor Mr McConaugheys Büro stehe und wie ein begossener Pudel aussehe.

Wunderbar.

Ich werde vor dem eisernen Mr McConaughey stehen, als wäre ich gerade nach einer durchzechten Nacht aufgestanden. Bestimmt wird seine Sekretärin schon voller Schadenfreude die Sekunden zählen, bis er mich aus dem Büro wirft. Vielleicht sogar eigenhändig. Dann könnte ich zur weiteren Legendenbildung dieses ausgesprochen harten Brockens beitragen. Toll. Einfach wundervoll.

Erst als ich in den Spiegel im Badezimmer geblickt habe, ist mir aufgefallen, dass man mir deutlich ansieht, wie schlecht ich letzte Nacht geschlafen habe. Meine Augen waren zu schmalen Schlitzen verquollen, umrandet von dunklen Ringen in einem ansonsten leichenblassen Gesicht. Ein Anblick zum Davonlaufen, gekrönt von einer Frisur, die man wohl eher in einem Supermarkt in Peckham vermutet hätte. Ich schminkte mich, so gut es eben ging, und entschied mich im letzten Moment dagegen, das Ensemble mit einem zerknautschten Jogginganzug zu krönen. Gut gepasst hätte der auf jeden Fall, bloß wäre ich vermutlich nicht mal an Mr McConaugheys schadenfroher Sekretärin vorbeigekommen.

Daher entschied ich mich für meinen schwarzen Bleistiftrock, den ich mir hauptsächlich für mein Referendariat gekauft habe, als ich noch geglaubt habe, dass ich mal eins machen würde. Dazu eine raffiniert (aber nicht zu raffiniert) geschnittene weiße Bluse, die so geknöpft ist, dass sie gerade genug von meinem Dekolleté zeigte, um interessierte Blicke darauf zu ziehen, aber nicht genug, um billig zu wirken. Na ja, das hoffe ich zumindest. Dazu meinen schwarzen Blazer, passend zum Rock. Der mir jetzt im Spiegel vielleicht eine Spur zu hoch geschlitzt und eine ganze Ecke zu figurbetont vorkommt.

Was soll’s, denke ich mit einem Anflug von Fatalismus. Lisa sagt, ich habe hübsche Beine und angeblich trifft das auch auf meinen Hintern zu. Ich finde, der untere Teil meiner Kurven ist vor allem eines: nicht zu übersehen.

Ich warf einen letzten prüfenden Blick auf mein Äußeres, schnappte mir noch meine Handtasche und stürmte nach draußen, wo schon das Taxi wartete.

Der Taxifahrer ist ein Inder mit einer Haut wie Milchkaffee und einem weinroten Turban auf dem Kopf. Er wirft mir einen verblüfften Blick zu, als ich auf ihn zugestürmt komme, dann verzieht sich sein Mund zu einem schiefen Lächeln und entblößt jede Menge strahlend weißer Zähne. Er überschlägt sich fast, mir die Tür aufzuhalten.

Doch zu viel des Guten? Nun ist es jedenfalls nicht mehr zu ändern.

Okay, denke ich, dieser Part meines Outfits funktioniert also, und es ist schön, dass ich es wenigstens noch einmal getragen habe, bevor ich mich von allen Träumen von einer Karriere endgültig verabschiede. Dann schießt mir ein anderer Gedanke durch den Kopf, und zwar genau in dem Moment, als ich einsteige und mir der Rock ein Stückchen weiter nach oben rutscht, als ich das beabsichtigt habe. So weit, genau genommen, dass ich dem Taxifahrer eine detaillierte Aussicht auf die Strumpfbänder meiner halterlosen Seidenstrümpfe gewähre, was der damit honoriert, dass sein Grinsen noch ein bisschen breiter wird, bevor er die Tür zuwirft und um das Auto hastet, um sich hinter das Steuer zu quetschen. Ich frage mich nämlich für einen Augenblick, wie weit ich gehen würde, um besagten Shitstorm von Dad und mir abzuwenden.

Wie weit ich wirklich gehen würde.

Ich schließe die Augen und sinke seufzend in die Polster. Bleibt zu hoffen, dass mich Mr McConaughey nicht rauswerfen lässt, weil er mich für eine Professionelle hält, die sich in der Zimmertür oder im Gebäude geirrt hat. Denn daran, dass er mich rauswerfen wird, zweifle ich inzwischen überhaupt nicht mehr.

Der Fahrer schenkt mir ein letztes Lächeln, bevor er sich auf den Verkehr konzentriert.

Dann rasen wir los.

Kapitel Sechzehn

Vorzimmerdamen

Ich habe mich geirrt. Die McConaughey Consulting Group verfügt nicht über einen Pförtner im Eingangsbereich, der mich übel gelaunt anranzt, was ich hier verloren habe und welchem viel beschäftigten Mitarbeiter ich die wertvolle Zeit stehlen möchte.

Stattdessen haben sie eine ganze Eingangshalle voller Empfangstresen.

Das Ganze erinnert an die Schalterhalle eines Flughafens, nur sieht alles sehr viel teurer und gediegener aus als in einer solchen Abfertigungszentrale, und das schließt auch die meisten Menschen ein, die an diese Schalter herantreten. Als ich auf einen freien Schalter zutrete, lächelt mich eine hinreißend hübsche Blondine an und ich werfe einen raschen Blick auf die anderen Plätze zu meiner Linken und Rechten. Da sitzen ausschließlich Blondinen, und alle sind gleichermaßen hübsch. Ist das deren Ernst? Ich bin mir ziemlich sicher, dass das gegen irgendwelche Gleichstellungsauflagen verstößt. Aber vielleicht wechseln sie hier die Haarfarbe tageweise aus, und ich habe nun mal den Blondinentag erwischt.

»Miss?«, fragt das Püppchen jenseits des Tresens und strahlt mich an. Sie trägt einen blauen Blazer über einem einfachen weißen Blüschen. Diese Uniform tragen sie alle, und es verstärkt den Eindruck einer Schalterhalle noch. Fast bin ich versucht, ihr ein Flugticket auf den Tresen zu werfen. Dann bleibt mein Blick an ihrem Hals hängen, genau genommen an einem dünnen schwarzen Halsband aus Samt. Vorn dran ist eine winzige silberne Schmuckapplikation. Mit zusammengekniffenen Augen erkenne ich, dass es sich um zwei stilisierte Glieder einer Kette handelt, die ineinandergreifen.

Hübsch, aber auch ein bisschen merkwürdig.

»Miss Jones«, stelle ich mich hastig vor, als ich bemerke, dass eine Spur von Ungeduld in ihr professionelles Strahlen schleicht. »Ich habe einen Termin bei Mr McConaughey.«

Sie ist ein Profi, aber ich sehe trotzdem, wie ihre perfekten Augenbrauen für den Bruchteil einer Sekunde nach oben schießen. Ja, meine Süße, denke ich. Ich darf zum großen Obermacker. Und das, obwohl ich so aussehe, wie ich nun mal aussehe. Falls ich mittlerweile überhaupt noch einen Termin habe, heißt das. Aber keine Sorge, es wird ein kurzes Gespräch.

Sie schaut in ihren Terminkalender oder was immer sonst sich gerade auf dem Monitor abspielt, der vor ihr auf dem Tresen steht. Halb rechne ich damit, dass sie mir freundlich zu verstehen gibt, ein solcher Termin existiere nicht, und mich mit einer Mischung aus Abscheu und professionellem Mitleid betrachtet, bevor sie den Knopf drückt, der den Sicherheitsdienst auf den Plan ruft.

Aber dann nickt sie.

»Mr McConaughey wird Sie im Penthouse Office empfangen. Darf ich bitte Ihren Ausweis sehen?«

Penthouse Office. Natürlich. Wo sonst?

»Miss?«

Wie in Trance ziehe ich meinen Ausweis aus der Tasche und halte ihn dem Blondchen hin.

Sie wirft einen Blick drauf und sagt: »Vielen Dank, das ist in Ordnung.«

Na, das ist gut zu wissen, denke ich. Auch wenn es das erste Mal ist, dass ich mich zu einem Geschäftstermin ausweisen muss.

»Sie sind ein bisschen spät dran«, erinnert sie mich mit einem Lächeln, das zu einhundert Prozent aus überzuckerter Liebenswürdigkeit besteht und nichts anderes bedeuten kann als: An deiner Stelle würde ich meinen Hintern jetzt hoch ins Penthouse bewegen, und zwar schleunigst. Allerhöchste Eisenbahn, Teuerste!

Ich halte das für einen weisen Ratschlag und wende mich zum Gehen.

»Schöner Anhänger übrigens«, sage ich und deute auf ihr Hundehalsband. Ich kann es mir nicht verkneifen. Das Ding ist einfach zu auffällig.

»Vielen Dank«, sagt sie und strahlt noch breiter.

Ich nicke, drehe mich um und schreite in Richtung der Aufzüge, in die sie netterweise deutet. Dann erst fällt mir das Relief an der Wand auf. Zwei ineinander verschlungene Kettenglieder, die aus einer gigantischen Marmorplatte ragen und darunter in metallenen Buchstaben eingelassen der Name der Firma: The McConaughey Consulting Group.

Kopfschüttelnd haste ich zum Aufzug und erwische einen leeren, den ich demzufolge ganz für mich allein habe. Ich suche eine Weile nach dem Bedienfeld, dann stelle ich fest, dass es in die matte Metallfläche links neben der Tür eingelassen ist. Äußerst stilvoll und so schwer zu entdecken, dass das vielleicht auch schon ein kleiner Intelligenztest ist. Ich drücke den Knopf mit der Aufschrift »P«, der ganz oben über allen anderen in der Mitte thront.

Auf der Fahrt nach oben muss ich wieder an den seltsamen Anhänger am Hals der Blondine denken. Man würde doch meinen, ein Silberschild am Revers würde etwas besser zu dem dezenten Schick der Empfangsdamen passen, als ihnen so ein Samtband mit dem Firmenlogo um den Hals zu legen, als wären sie Eigentum von McConaughey & Partner. Menschliches Inventar. Andererseits, vielleicht sind genau das die Spielchen, die ein knallharter Machtmensch wie McConaughey spielt, um seinen Besuchern sofort klarzumachen, wer hier der Platzhirsch ist? Wer weiß schon, was im Kopf des verknöcherten, alten Haifischs vor sich geht, der er zweifellos sein muss?

Ich jedenfalls nicht. Aber ich hasse ihn jetzt schon. Ich stelle ihn mir vor wie Mr Burns von den Simpsons. Aber nicht mal das kann mich jetzt zum Lachen bringen.

Als ich oben aussteige, pralle ich einen kleinen Schritt zurück vor dem Anblick, der sich mir bietet. Hier besteht alles aus Glas. Der Raum ist riesig, der Boden hat einen perfekt kreisrunden Grundriss, sodass man von hier eine atemberaubende Aussicht auf London hat, wenn man sich nur ein mal um die eigene Achse dreht.

In einiger Entfernung entdecke ich die Umrisse des Eye. Ich kann sogar ein paar Gondeln erkennen. Ich blicke mich hilfesuchend um. Auch hier gibt es die Empfangstische, die ich schon von unten kenne, allerdings sind es hier nur vier. Auch sie sind ausschließlich von Blondinen mit Modelkörpern besetzt, offenbar Mr McConaugheys private Vorliebe. Wie dumm, dass ich nicht in dieses Beuteschema passe.

Drei schauen nicht mal von ihrer Arbeit hoch, als ich aus dem Fahrstuhl trete, die vierte hebt das Köpfchen und schaut mich mit dem neutralsten Gesichtsausdruck an, den ich je an einem lebenden Menschen wahrgenommen habe. Ich glaube, sie lächelt sogar ein bisschen, aber sicher bin ich da nicht.

Ich trete auf sie zu. Als ich vor dem Tresen stehe, der ebenfalls komplett aus Glas besteht, erkenne ich, dass auch sie eins von diesen dünnen Halsbändern aus schwarzem Samt trägt, an ihrem ist der Anhänger allerdings aus Gold, was mich noch ein bisschen mehr an eine Hauskatze denken lässt. Natürlich hat sie eine absolut umwerfende Figur, die in einem anthrazitfarbenen Businesskleid steckt, dessen stilistisches Understatement vermutlich daran erinnern soll, dass man einen perfekten Körper nicht extra in Szene setzen muss, damit er sexy wirkt. Eine schlichte Erinnerung, die so um die dreitausend Pfund gekostet haben dürfte.

»Miss Jones«, sagt sie und bittet mich, noch einen Moment auf einem der lederbezogenen Besucherstühle Platz zu nehmen, Mr McConaughey habe gleich Zeit für mich. Und dann blitzt doch so etwas wie die Andeutung eines Lächelns auf.

Schön, denke ich und setze mich.

Einen Vorteil zumindest hat diese atemberaubende Aussicht über London: Sie nimmt mich so derart gefangen, dass ich für einen Moment vergesse, warum ich hier bin, und dass es vermutlich das letzte Mal sein wird, dass ich ein solches Gebäude von innen zu sehen bekomme.

Einen Moment später werde ich aus meinen trüben Gedanken gerissen, als die Hauskatze mir mitteilt, seine Majestät sei jetzt bereit, mich zu empfangen. Vielleicht hätte ich ein paar Hühner oder Schafe mitbringen sollen, um ihn gnädig zu stimmen, denke ich, oder einen Karren mit Kartoffeln – für diese Sekunde schnappen meine Gedanken zurück zu dem seltsamen Traum, den ich letzte Nacht hatte, der vom Marktplatz und dem Fallobst, und in welchem seltsamen Zustand der Verwirrung mich das alles zurückgelassen hat.

Dieser Zustand bessert sich kein bisschen, als ich das Büro von Mr McConaughey betrete. Als ich sehe, was mich dort erwartet, bricht die Welt endgültig über mir zusammen wie ein morscher Dachstuhl über einer verfallenen Ruine.

Das hier ist der absolute Worst Case.

Kapitel Siebzehn

Mr McConaughey

Okay. Jetzt weiß ich auch, wieso ich an diesen verwirrenden Traum denken musste, in dem mich die groben Hände eines muskulösen Kerls in eine Schlammpfütze drücken und mich der wütende Mob mit Fallobst bewirft. Mein Unterbewusstsein muss es die ganze Zeit geahnt haben.

Völlig logisch, denn der Kerl, der mich in meinem Traum vor aller Augen auf die Knie zwang, steht jetzt vor mir, und plötzlich ergibt alles einen Sinn.

Die Pfütze vor Charles Mortimers Kanzlei, in die mich der Kerl mit dem Körper eines Rugby-Schlussmannes befördert hat, bevor er mir nach kurzem Zögern wieder aufhalf? Der, dessen Blick mir durch Mark und Bein ging? Dieser junge umwerfend sexy Typ mit der Limousine und dem Chauffeur?

Genau der steht jetzt vor mir.

Das ist Mr McConaughey.

Unpassenderweise fällt mir genau in diesem Moment ein, dass ich mir noch nicht mal die Zeit genommen habe, nach ihm oder seiner Firma zu googeln oder sonst irgendwelche Erkundigungen einzuholen. Das sind die verdammten Basics, Cass, denke ich. Ich habe das irgendwie total verschwitzt.

Und nun das hier.

»Miss Jones«, sagt er und schaut mich an. Neutral, an der Grenze zu desinteressiert. Etwa so, wie er wohl einen millionenschweren Kunstschinken betrachten würde, den man ihm auf einer Ausstellung unter die Nase hält, die er sowieso nur aus gesellschaftlichen Gründen besucht. Andererseits: Besucht so ein Kerl überhaupt irgendetwas, das ihn nicht interessiert? Hat er das nötig? Äußerst zweifelhaft. Vielleicht interessiert er sich ja sogar wirklich für Kunst? Und wieso schießen mir all diese absolut sinnlosen Gedanken durch den Kopf?

Keine Ahnung.

Eine Sekunde später kneift er die Augen kurz zusammen und mustert mich eingehender.

Gott, was für ein unglaubliches Blau. Heute stürmt die See darin noch mehr als bei unserem letzten Treffen. Er muss sofort aufhören, mich so zu mustern, sonst geht das hier schief, bevor ich den ersten Satz gesagt habe. Als ob das eine Rolle spielt ...

Dann erkennt er mich und ein verräterisches Zucken umspielt die Mundwinkel seiner perfekten Lippen. Es verschwindet genauso schnell, wie es gekommen ist.

Ja, Mr McConaughey, ich bin’s. Der Trampel aus der Pfütze.

Ich kann derweil nichts anderes tun, als auf diese unvorstellbaren Lippen zu starren und mir vorzustellen, wie es wohl sein muss, sie auf meinen zu spüren.

Was?! Habe ich das gerade wirklich gedacht?

Ruckartig wende ich den Blick ab. Wenigstens ist er so professionell, unser erstes, ungeschicktes Zusammentreffen nicht zu erwähnen. Natürlich ist er professionell, Herrgott! Er ist Anwalt – und der Boss einer der wichtigsten Consultingfirmen in der Stadt. Die Einzige, die sich völlig unprofessionell verhält, bin ich. Gott, diese schwarzen, leicht verstrubbelten Haare. Ist ihm eigentlich bewusst, wie verdammt sexy er ist?

Ein Blick auf seinen anthrazitfarbenen Anzug lässt nur einen Schluss zu: Ja, das ist ihm durchaus bewusst, und höchstwahrscheinlich ist ihm auch die Wirkung klar, die seine Erscheinung auf Frauen hat. Die Kätzchen da draußen vor seiner Tür haben sich bestimmt gegenseitig die Augen ausgekratzt, um an diesen Posten zu seinen Füßen zu kommen. Zu seinen Füßen? Wo kommt das denn nur schon wieder her?

Ich schüttele den Kopf, um ihn klar zu kriegen.

»Ist Ihnen kalt, Miss Jones?«, fragt er, und ich zwinge mich, ihn wieder anzusehen. Dabei fällt mir auf, dass seine Hand, groß und kräftig, mit gepflegten Nägeln, immer noch meine umschließt, was ich bislang noch gar nicht mitbekommen habe. Gott, wie lange stehen wir schon so bescheuert hier herum?

»Äh, nein«, sage ich und das ist bei Weitem das Intelligenteste, das mir im Moment einfällt. Toll, Cass!

»Ich mag es etwas kühler«, sagt er und ich denke: Klar, wenn man so heiß ist wie er, braucht man keine Heizung. »Es fördert die Konzentration.«

Das muss ein schlechter Witz sein, denn das bisschen Konzentration, das ich heute Morgen noch hatte, verschwand genau in dem Augenblick, in dem ich diese Eishöhle betrat.

»Einundzwanzig«, sagt er in den Raum und irgendwo springt mit einem leisen Klicken eine Maschine an, vermutlich die Klimaanlage. Die selbstverständlich absolut geräuschlos läuft.

»Wir müssen nicht damit sparen«, sagt er und reitet damit weiter auf einem Thema herum, das mich eigentlich gar nicht interessiert. Aber egal, solange sich nur diese Lippen bewegen, um irgendwelche Worte zu formen, kann er von mir aus auch das Telefonbuch vorlesen. »Die Scheiben sind mit Solarzellen ausgestattet. Es filtert die UV-Strahlung und versorgt gleichzeitig die gesamte Etage mit Energie.«

»Oh«, mache ich und schenke ihm ein Lächeln, das vermutlich als grenzdebile Grimasse bei ihm ankommt. Ich versuche wirklich angestrengt, auf das zu hören, was er sagt, weil es bestimmt sehr interessant ist. Keine Chance.

»Das Schöne daran ist, dass diese Methode ohne giftige Chemie auskommt. Der Basisstoff ist eine Algenart. Ein Geschenk eines Klienten.«

»Das ganze ... Geschoss?«, frage ich und bin ein bisschen stolz auf mich, dass es mir gelungen ist, den Faden nicht völlig zu verlieren. Trotz der Tatsache, dass sich unsere Hände immer noch berühren.

Er nickt und lächelt ein bisschen. Oh Gott, diese Zähne sind einfach nicht real. Absolut gerade, strahlend weiße Zähne und ... Gott, ist mir da für einen Moment der Gedanke durch den Kopf geschossen, dass er damit an mir herumknabbert? Ich muss wirklich kurz davor sein, den Verstand zu verlieren. Ganz klar, das ist stressbedingter, vorübergehender Wahnsinn! Direkt im Anschluss an das hier werde ich den Psychiater meines Vertrauens aufsuchen.

Schließlich nimmt er seine Hand weg, und mein erster Impuls ist, seine einfach festzuhalten wie ein kleines Kind, das nicht in den Kindergarten abgeschoben werden möchte. Was soll er schon dagegen unternehmen? Den Sicherheitsdienst rufen, weil ich seine Hand festhalte?

Aber natürlich lasse ich ihn los, so weit ist es mit meinem Wahnsinn doch noch nicht. Gott, hat der Mann Schultern unter diesem Jackett. Ich könnte beschwören, dass sich da ein gewaltiger Bizeps unter dem gespannten Stoff abzeichnet, wenn er den Arm bewegt. Dieser Typ könnte mich einfach anheben und durch die Luft wirbeln wie eine Marionette.

Stopp! Ich muss auf der Stelle aufhören, mir so was vorzustellen!

Und das ist der Kerl, den Charles Mortimer, der mit allen Londoner Wassern gewaschene Anwalt, als harten Brocken bezeichnet? Kein Wunder, vielleicht zerquetscht er einfach die Gegenseite, wenn ihm keine anderen Mittel mehr einfallen. Und Gott, würde ich gern mal von ihm zerquetscht werden.

Okay, denke ich, es reicht. Es geht um Daddy. Und das genügt wirklich, um mich wieder auf Kurs zu bringen, zumindest vorübergehend.

Mr McConaughey, der Rugby-Riese, nimmt hinter seinem Schreibtisch Platz, einem Koloss aus schwarzem Marmor, für den er vermutlich irgendeinen vorzeitlichen Tempel hat schleifen lassen. Das Ding sieht aus, wie man sich den Altar einer schwarzen Messe vorstellt. Vermutlich ist er ein wesentlicher Teil seiner Einschüchterungstaktik.

Ich stelle fest, dass es funktioniert, als ich ihm gegenüber in die Polster des lederbezogenen Besuchersessels sinke und brav die Beine übereinanderschlage. Als ich fertig damit bin, meinen Rock glatt zu streichen, bemerke ich, dass er unverhohlen auf meine Schenkel starrt, und das auch noch eine ganze Weile tut, bevor er den Blick seiner marineblauen Augen schließlich mir zuwendet.

Das hilft.

Ich ziehe den Saum meines Rockes noch ein Stück nach unten. Er mag sexy sein und aussehen wie ein fleischgewordener Gott, aber ich bin nicht hier, um mich anstarren zu lassen. Ich bin keine der Miezen vor seiner Tür, die er vermutlich im Stundenrhythmus »zum Diktat bittet«. Vielleicht werde ich alles verlieren, aber das letzte bisschen Würde lasse ich mir auch von ihm nicht nehmen. Da bin ich fest entschlossen.

Er legt seine Hände flach vor sich auf den Tisch. Noch so eine Machogeste, die vermutlich bedeuten soll: »Jetzt wird gegessen, und du bist die Vorspeise.« Soll er ruhig, denke ich. Erst jetzt fällt mir der Ring an seinem Finger auf. Das gleiche Symbol, das auch in der Empfangshalle an der Wand prangt und an den seltsam deplatziert wirkenden Samthalsbändern seiner Büroflittchen – inzwischen bin ich mir absolut sicher, dass er sie nach rein repräsentativen Aspekten ausgesucht hat, und die eigentliche Arbeit vermutlich von hässlichen, aber ausgesprochen fähigen Büroangestellten im Keller des Gebäudes erledigt wird.

Er bemerkt, dass ich auf den Ring starre, und sagt:

»Das ist das Symbol unserer Firma seit 1776. Allerdings hieß sie da noch nicht McConaughey Consulting Group. Die ineinander verschlungenen Kettenglieder symbolisieren das Vertrauen zwischen der Firma und unseren Klienten. Hübsch, nicht?«

Hübsch ist vor allem, wie er ganz beiläufig hat einfließen lassen, dass die Firma ein uraltes Traditionsunternehmen ist, dessen Name erst kürzlich geändert wurde. Und zwar in seinen Nachnamen. Arroganter Fatzke.

»Ja«, sagte ich und gebe mir keine Mühe, den angesäuerten Ton in meiner Stimme zu verbergen. Gott, heute ist wirklich nicht mein Tag für diplomatische Glanzleistungen.

»Gut, Miss Jones«, sagt er, »was verschafft mir die Freude Ihres Besuches?«

Er bekommt dabei das Kunststück zustande, leicht gelangweilt zu wirken und mich gleichzeitig mit den Augen zu verschlingen. Das verunsichert mich noch ein bisschen mehr, falls das überhaupt möglich ist.

»Es geht um Jones & Marsden Construction«, sage ich.

»Das ist mir klar«, sagt er. Natürlich ist es ihm klar. Er ist schließlich kein Idiot. Verdammt.

»Ich wollte fragen«, sage ich und bleibe stecken. Die Idiotin bin eindeutig ich, und noch dazu eine Idiotin, die sich nicht im Geringsten auf dieses Gespräch vorbereitet hat.

»Ja?«, fragt er und zieht eine Augenbraue leicht hoch. Und ich stelle fest, dass ich immer noch dabei bin, unter seinem Blick zu zerschmelzen wie ein Schneemann im Hochsommer. Ich senke den Blick und starre auf den Verschluss meiner Handtasche, die mir jetzt wie ein billiges Stück Ramsch aus einer Shoppingmall vorkommt. Natürlich signalisiere ich ihm damit, dass ich mich geschlagen gebe. Aber ich kann ihn einfach nicht weiter anschauen, wenn das hier zu irgendeinem sinnvollen Ergebnis führen soll.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739406640
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
Liebesroman Millionär BDSM Alpha Spannung Verführung thriller romantik Erotik Krimi Thriller Liebe

Autor

  • Jean Dark (Autor:in)

Jean Dark interessiert sich für die mysteriöse, dunkle Seite der Liebe. Ihr Roman "Darkness of Love: Gefährliche Begierden" basiert auf dem "Hellfire Club", einem tatsächlich existierenden Orden, welcher 1719 in London gegründet wurde. Was, wenn dieser exklusive Club der Reichen und Mächtigen bis heute existiert, um das Verlangen seiner Mitglieder nach exklusiver Leidenschaft zu erfüllen?
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Titel: Gefährliche Begierden