»Guten Morgen, Miss Jones«, sagt Charles Mortimer, als er von seinem gigantischen Queen- Victoria-Schreibtisch aufsteht und mir mit offenen Armen entgegenkommt.
Ich glaube, es gibt auf der Welt höchstens ein halbes Dutzend Menschen, die je in den Genuss einer Umarmung mit Charles Mortimer gekommen sind, und es erfüllt mich mit beinahe kindlichem Stolz, eine von dieser Handvoll Personen zu sein. Aber damit endet unsere Vertrautheit auch schon. So lange ich denken kann, hat er Miss Jones zu mir gesagt: Vermutlich auch schon, als ich ein Baby war. So lange kennen wir uns nämlich schon. Und ich würde im Leben nicht auf die Idee kommen, ihn Charles zu nennen. Nicht mal, wenn ich hundert Jahre alt wäre.
Er lässt einen raschen Blick über mein ruiniertes Kleid streifen, dann umarmt er mich aber trotzdem, auch wenn er seinen unvermeidlichen Tweedanzug vermutlich direkt im Anschluss an unser Treffen in die Reinigung geben wird, um einen frischen und ansonsten völlig identischen Maßanzug anzuziehen. Im Gegensatz zu seiner Sekretärin ignoriert er den Zustand meiner Klamotten allerdings nicht.
»Es ist ein furchtbares Wetter heute Morgen«, sagt er mit einem wehmütigen Blick zum Fenster, »soll ich Eliza bitten, Ihnen einen Mantel oder so was zu besorgen?«
»Nein«, sage ich, »es geht schon. Nur ein bisschen Spritzwasser.«
Jep. Nur stammt das aus einer Pfütze mitten in der vermutlich schmutzigsten Stadt der Welt.
»Wie Sie wünschen«, sagt er diplomatisch, »dann vielleicht etwas zum Aufwärmen? Einen Brandy?«
Schockiert ziehe ich die Augenbrauen in die Höhe. Einen Brandy, um zehn Uhr morgens? Keine Ahnung, ob er das ernst gemeint hat. Bei Charles Mortimer weiß man nie.
»Ein Kaffee wäre toll«, sage ich und er nickt mir lächelnd zu, bestellt das Getränk über die Gegensprechanlage. Was mir vermutlich einen weiteren von Elizas berühmten Augenbrauenblicken einbringen wird. Aber was soll’s? Ich brauche wirklich dringend etwas Warmes.
»Wird Geoffrey sich verspäten, Miss Jones?«, fragt er und bringt es dabei zustande, diese förmliche Frage trotzdem ein bisschen herzlich klingen zu lassen. Natürlich weiß er, wie es um Dad steht. Dann deutet er auf einen der bequemen Sessel, die dem Schreibtisch gegenüberstehen. Ich setze mich.
»Mein Vater wird nicht kommen«, sage ich, »er fühlt sich nicht so gut, fürchte ich.«
Was eine glatte Untertreibung ist, weil es irgendwie unbestimmt nach einer Erkältung klingt. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein, wem versuche ich etwas vorzumachen? Am Telefon klang Dad vollkommen fertig. Er war seit fast zwei Jahren nicht mehr in der Stadt. Oder sonst irgendwo außerhalb der Grenzen des Grundstücks. Und ich habe wirklich alles versucht, bis ich kapierte, dass ich ihn nicht umstimmen kann. Das kann nur er selbst. Manche Dinge brauchen einfach ihre Zeit, glaube ich.
»Ich verstehe«, sagt Charles, »aber ich fürchte, damit wird unser Treffen hier ziemlich hinfällig. Ich habe ihn gebeten, unbedingt persönlich zu erscheinen.«
»Ja, ich weiß«, sage ich, »er hat’s mir erzählt, am Telefon. Aber er ...« Ich stocke. Keine Ahnung, wie ich Charles das erklären soll. »Es geht einfach noch nicht.«
»Ich verstehe«, sagt er wieder und setzt sich neben mich in den Besuchersessel, anstatt an seinen gewohnten Platz gegenüber dem Schreibtisch. Etwas in meinem Bauch krampft sich zusammen. Das hat er noch nie gemacht. Das kann einfach nichts Gutes bedeuten.
Für eine Weile starrt er auf das Bild, das hinter seinem Bürosessel an der Wand hängt. Ein Landschaftsgemälde von Richard Wilson, selbstverständlich ein Original.
Die Tür öffnet sich, und Eliza stellt ein Tablett mit Kaffee und dem üblichen Zubehör auf das Tischchen neben meinem Sessel. Ich sehe dankbar zu ihr auf, und diesmal bleibt mir ihre Augenbraue erspart. Sie lächelt kurz zurück, und ich glaube, einen Anflug von Mitleid in ihrem Blick zu sehen, aber da kann ich mich auch irren. Geräuschlos verschwindet sie aus dem Zimmer.
Charles seufzt, dreht sich auf seinem Sessel zu mir um, zupft am Knie seines rechten Hosenbeins und schlägt es über sein linkes Knie. Dann greift er nach meiner Hand und sieht mir in die Augen. Das Mitleid scheint von Elizas Gesicht auf seines übergesprungen zu sein, während er mich anlächelt. Der Krampf in meinem Magen wird schmerzhaft.
»Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten, Cassidy.«
Nein, denke ich, Sie haben keine schlechten Neuigkeiten, Mister Mortimer, Sie haben erschütternde Neuigkeiten! Dabei bekomme ich gar nicht mit, dass er mich soeben bei meinem Vornamen genannt hat, vermutlich zum ersten Mal in seinem ganzen Leben.
»Und eigentlich bin ich nicht berechtigt, diese jemand anderem als Ihrem Vater mitzuteilen.« Er seufzt. »Aber da ich nun schon so lange sein ... vielmehr, Ihr Anwalt bin, glaube ich, es ist in Ordnung.«
»Mein Vater«, sage ich, »er hat mir gesagt, dass Sie mir alles sagen können, egal, was es ist. Sie können Ihn gern anrufen und es sich bestätigen lassen.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagt er schließlich, dann nickt er. »Na gut. Es betrifft Jones & Marsden Construction. Es gibt offene Forderungen. Erhebliche Forderungen.«
»Oh«, sage ich, aber dann fällt mir etwas ein. »Aber Dad war seit zwei Jahren nicht mehr in der Firma, um das alles hat sich Graham gekümmert.«
»Mr Marsden, ja«, sagt Charles und schüttelt den Kopf. »Der ist leider seit einigen Tagen unauffindbar und es ist zu vermuten, dass dieser Umstand in Zusammenhang steht mit ... nun ja, den nicht beglichenen Außenständen. Es fehlt eine ziemliche Menge Geld.«
Ich begreife noch gar nicht recht, was Charles mir da zu sagen versucht.
»Wie viel Geld? Ich ... meine«, stottere ich, »Graham hätte nie ... er würde meinem Dad so etwas nie antun, sie sind Freunde. Partner. Schon seit Ewigkeiten.«
Charles nickt und schaut mich traurig an. »Leider besagen die Bücher da etwas gänzlich anderes. Ich habe natürlich bereits Einsicht genommen, und auf den ersten Blick sehen die Zahlen ... nun ja, schockierend aus.«
»Aber«, sage ich, »dann ist Graham dafür verantwortlich. Ich verstehe nicht, was das mit Dad zu tun hat. Er war seit fast zwei Jahren nicht mehr in der Firma.«
»Zunächst ist es nach wie vor zur Hälfte Geoffreys Firma, und das schließt alle Verbindlichkeiten ein. In diesem Fall leider bis hin zu seinem Privatvermögen.«
»Wie bitte? Seinem Privatvermögen?«
»Er haftet in vollem Umfang, und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann, Miss Jones. In dieser Hinsicht sind mir leider vollkommen die Hände gebunden. Es war der ausdrückliche Wunsch Ihres Vaters, das so zu regeln.«
Oh Dad, denke ich. Ich weiß, wieso du das gemacht hast. Der gute Name einer Firma war für ihn schon immer das Wichtigste, einhergehend mit dem Namen einer Firma. Der Ruf eines Mannes ist alles, das er je zu besitzen hoffen kann. Das hat er immer gesagt. Erst jetzt begreife ich, welch gigantisches unternehmerisches und privates Risiko er damit einging. Und das von einem der versiertesten Geschäftsleute, die ich kenne. Ich begreife einfach nicht, wie mein Vater so etwas machen konnte.
»Wie konnten Sie das zulassen?«, fahre ich Charles an, und als ich seinen verletzten Blick sehe, tut mir mein scharfer Ton sofort leid.
»Ich bin sein Anwalt und sein Freund«, sagt er, »aber wenn Ihr Vater sich etwas in seinen Kopf setzt ...«
Ich schaue zu Boden. Ich weiß nur zu gut, was er meint. Ich habe nämlich denselben Sturkopf wie mein Vater.
»Es tut mir leid«, sage ich, und das tut es wirklich. Schließlich kann Charles nichts für diese Misere. »Was können wir also tun?«
»Im Moment nicht all zu viel, fürchte ich. Solange Mr Marsden unauffindbar bleibt, wird sich die Gegenseite mit ihren Forderungen direkt an Ihren Vater wenden. Und er wird diese Forderungen erfüllen müssen, zumindest in dem Rahmen, in dem er es kann.«
»In dem Rahmen?«, schnappe ich. »Von wie viel Geld reden wir hier überhaupt?«
»Mehrere Millionen, meiner vorsichtigen Schätzung nach.«
»Aber ... so viel Geld hat Dad doch gar nicht. Schon gar nicht in Privatvermögen.« Der Firma ging es gut, und wir hatten nie wirkliche finanzielle Sorgen, aber mehrere Millionen? Dann begreife ich allmählich.
»Das Cottage«, kann ich nur noch hauchen.
Charles nickt mitfühlend.
»Er würde alles verlieren, und zwar in einem öffentlichen Prozess.«
Also auch seinen Namen. Und das wäre das Allerschlimmste für Dad. Ich bezweifle, dass er den Verlust des Cottages ohne Probleme verkraften würde. Die Rosen, die ihn an Mom erinnern. Es wäre furchtbar. Aber dass er öffentlich als Betrüger und unlauterer Geschäftsmann dargestellt würde, das würde er keinesfalls verkraften. Er würde ... er würde vielleicht etwas ganz und gar Dummes anstellen. Das kann ich keinesfalls zulassen.
»Das geht nicht«, sage ich, »es würde ihn ruinieren. Und ich meine damit nicht nur das Geld.«
»Ich verstehe«, sagt Charles.
Und ich verstehe durch einen roten Nebel aus Trauer und Wut, dass es wirklich nicht mehr gibt, das er dazu sagen oder tun könnte. Meine hervorragende Ausbildung war schließlich nicht umsonst. Auch wenn ich die natürlich jetzt auch ebenfalls in den Wind schreiben kann. Bald werden wir kein Geld mehr für etwas zu essen haben, ganz zu schweigen von den laufenden Kosten für unser kleines Häuschen, und mein Stipendium werde ich dann vermutlich auch verlieren.
Mir kommen die Tränen. Und dennoch gibt es einen kleinen Teil meines Gehirns, der davon völlig unbeeindruckt zu rattern beginnt. Nach einer Lösung sucht wie eine gefangene Maus, die sich in ihrer Falle immer wieder um den eigenen Schwanz dreht.
»Wer ist die Gegenseite?«, schluchze ich, und der stets vorbereitete Charles Mortimer streckt mir eine Box mit Papiertaschentüchern hin. Ich nehme dankbar eins.
»Das kann ich nicht sagen«, sagt Charles.
»Wie bitte?«
»Ich weiß es nicht. Sie haben einen Anwalt geschickt, den sie mit der Sache betraut haben. Alles, was dieser mir unter die Nase gehalten hat, waren Dokumente, in denen die Stellen geschwärzt waren, welche den Gläubiger betreffen. Aber wir dürfen davon ausgehen, dass sie diese Dokumente tatsächlich auch besitzen und die Sache vor Gericht beweisen können. Die Schulden und den Betrug.«
»Den Betrug?«
»Ja. Die Zahlen machen ziemlich deutlich, dass die Jones & Marsden Construction bei mehreren Projekten deutlich mehr Material und Arbeitskräfte verkauft hat, als sie letztlich zur Verfügung gestellt haben. Darunter sind auch staatliche Bauvorhaben. Wenn das an die Öffentlichkeit gerät ...«
»Er könnte ins Gefängnis gehen?«, flüstere ich entsetzt. Diese Möglichkeit ist mir bisher noch gar nicht eingefallen. Aber natürlich besteht sie. »Oh, mein Gott.«
»Ich sehe nur eine Chance, Cassidy«, sagt Charles und legt seine Hand sanft auf meinen Arm. Am liebsten würde ich mich jetzt einfach in seine Arme flüchten und heulen wie ein kleines Kind. Bloß, dass ich jetzt nicht mehr in einer Welt lebe, in der die Sorgen einfach dadurch verschwinden, dass man ein bisschen heult und eine Nacht drüber schläft. Ich bin kein kleines Mädchen mehr, diese Erkenntnis trifft mich jetzt mit aller Macht.
»Es gibt eine Chance, auch wenn es eine sehr kleine ist«, sagt Charles und ich horche sofort auf.
»Was?«
»Als Ihr Vater sich zur vorläufigen Ruhe setzte, also etwa vor zwei Jahren, könnte er mit Marsden eine Art Erklärung verfasst haben.«
»So etwas wie eine Abtrittserklärung?«
»In der Art. Irgendein offizielles Dokument, das beweist, dass er in der fraglichen Zeit nichts mit den geschäftlichen Entscheidungen der Firma zu tun hatte. Das könnte helfen, zumindest vorläufig.«
»Das würde die Sache aussetzen, bis Graham Marsden wieder auftaucht, und es würde Dads Namen reinwaschen. Schließlich konnte er nicht wissen, welchen Mist sein Partner baut, sobald er ihm nicht über die Schulter schaut.«
»Ja«, sagt Charles. »Falls ein solches Dokument existiert, könnte es helfen.«
»Ich muss auf der Stelle zu Dad«, sage ich und stehe auf.
»Das würde ich auch vorschlagen, Miss Jones«, sagt Charles und erhebt sich ebenfalls, um mir zur Tür voranzugehen. »Ich lasse Eliza ein Taxi rufen. Finden Sie heraus, ob solch ein Dokument existiert, und veranlassen Sie Ihren Vater in jedem Fall, sich bei mir zu melden.«
Ich verspreche es.
»Er muss mich auf jeden Fall anrufen, hören Sie? Wenn wir diesen Schlamassel noch irgendwie abwenden wollen, müssen wir rasch und entschlossen vorgehen.«
Ich stimme ihm zu, und in einer spontanen Anwandlung gehe ich doch einen Schritt auf den alten Anwalt zu und umarme ihn, was er ein bisschen hölzern erwidert.
Dann stürme ich aus dem Büro.