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Engelbrecher: Zwei Top-Thriller in einem Band!

Sauers erster und zweiter Fall

von L.C. Frey (Autor:in)
800 Seiten

Zusammenfassung

Die Schuld der Engel Ein bizarrer Mordfall. Ein skrupelloser Killer. Eine mörderische Jagd bis zum Äußersten. Ein verstümmelter und gefesselter Mann bricht vor den Augen der Leipziger High Society tot zusammen. Das Opfer, ein erfolgreicher Anwalt, wurde mehrere Tage lang brutal gefoltert – vom Täter fehlt jede Spur. Obwohl sein Dienstverhältnis in wenigen Tagen enden soll, wird Hauptkommissar Sauer mit den Ermittlungen zu dem Fall betraut: Gemeinsam mit seiner Kasseler Kollegin Selina Gülek gelingt es ihm, diesen letzten Fall in Rekordzeit zu lösen. Doch als sich die Ungereimtheiten häufen, kommen dem pensionierten Ermittler Zweifel: Haben sie den Fall wirklich gelöst? Ist der Killer schon gefunden? Oder war der bizarre Mord nur der Auftakt zum perfiden Spiel des eiskalten Psychokillers? Ich Breche Dich Dieses Schweigen darfst du niemals brechen! Der Schriftsteller Jan Chernik wird von verstörenden Visionen heimgesucht, als seine schwangere Freundin bei einem tragischen Unfall getötet wird. Er folgt Hinweisen, die ihren Tod mit einer Serie von bizarren Morden in Verbindung bringen, die vor zwanzig Jahren mit dem Tod des sogenannten »Rosenkillers« ein Ende fand — oder etwa doch nicht? Hauptkommissar Karl Sauer wird mit einem Fall konfrontiert, der seit Jahren als gelöst gilt. Doch die Wurzeln des Bösen reichen tiefer als seine schlimmsten Befürchtungen. Erneut kehrt er an den Schauplatz unvorstellbarer Grausamkeiten zurück - wo die Vergangenheit sehr lebendig ist. Sauer und Jan Chernik müssen sich den Dämonen ihrer Vergangenheit stellen, als der neue »Rosenkiller« sie zu einem gnadenlosen Spiel auf Leben und Tod herausfordert. Kommissar Sauer aus DIE SCHULD DER ENGEL ist zurück! Lesen Sie jetzt!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Bevor du dich ins Vergnügen stürzt …

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DIE SCHULD DER ENGEL

SAUERS ERSTER FALL

THRILLER

von

L.C. Frey

ÜBER DIESES BUCH:

Kommissar Karl Sauer hat Grund zur Freude: Wenige Tage vor seiner Pensionierung gelingt es ihm, seinen letzten Fall in Rekordzeit zu lösen. Doch im Urlaub kommen Sauer Zweifel, und er rollt den brutalen Mord an einem Leipziger Anwalt nochmals auf. Doch damit geraten Sauer und seine junge Kollegin Selina Gülek ins Visier eines eiskalten Psychokillers.

* * *

Nach einer Idee von Kristin Metz und L.C. Frey

* * *

Lektorat: Anne Bräuer, Textbüro Bräuer, Frankfurt am Main

Layout und Satz: Ideekarree Leipzig, www.ideekarree.de

Umschlaggestaltung: ©Ideekarree Leipzig

unter Verwendung von ©Zwiebackesser & John Smith, Fotolia.com

Copyright © 2018 by L.C. Frey. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung von L.C. Frey. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Alle in diesem Roman beschriebenen Personen sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Impressum

L.C. Frey

c/o Ideekarree

Alexander Pohl

Breitenfelder Str. 66

04157 Leipzig

E-Mail: office@ideekarree.de

www.LCFrey.de

Für Krissy, mit ganz viel »Gewölle«. Lass uns das bald mal wieder machen, ja?

PROLOG

IM DUNKEL

Sommer 2005, Hochsilos nahe Hoetmar, Münsterland

Eigentlich dürfen sie hier gar nicht spielen, aber der Ort übt auf Stephan eine Faszination aus, die weit über den Reiz des Verbotenen hinausgeht. Die verfallenen Silos ragen wie die Türme einer finsteren Burg in den Himmel und sie stehen so dicht beieinander, dass kaum ein Sonnenstrahl den Betonboden erreicht. Alles hier ist alt, verrostet und fällt auseinander. Es ist gefährlich, und das ist auch, was die Eltern sagen. Aber sie verstehen nicht, dass die alten Silos in Wahrheit ein verwunschener Ort sind, ein finsterer Drachenhort, und dass irgendwo, tief in den unterirdischen Eingeweiden aus Stahl und Beton ein sagenhafter Schatz auf die mutigen Helden wartet. Aber Stephan weiß das, und heute Nachmittag wird er es Freddy zeigen. Der ist zwar dick und nicht zu viel zu gebrauchen, aber er hat Comics und einen Gameboy. Und genau wie Stephan hat Freddy nicht besonders viele Freunde an der Schule.

Aber Freddy ist eine Enttäuschung, das wird Stephan schnell klar. Er will gar nicht wirklich mit hinab in die Verliese unter der Burg, er will nur herumsitzen und die ganze Zeit auf seinen dämlichen Gameboy glotzen.

»Komm schon«, sagt Stephan, »oder hast du etwa Angst? Bist du ein Mädchen, Freddy?«

»Ja, ja«, sagt Freddy und drückt weiter wie wild auf seinem Gameboy herum. Den Schatz des Drachen scheint er völlig vergessen zu haben.

Also geht Stephan allein auf Erkundungstour.

Freddy ist ganz versunken in sein Spiel, denn es sieht aus, als würde es ihm heute tatsächlich gelingen, Super Mario durch das letzte Level zu bekommen. Und in diesem Fall darf er die Prinzessin aus dem Verlies befreien und dann …

»Hey«, ruft Stephan, irgendwo in weiter Ferne. »Hey, Freddy! Komm mal her, das musst du dir anschauen!«

»Gleich!«, sagt Freddy und spielt weiter.

»Nein, Mann! Sofort! Das hier ist klasse, so was hast du noch nicht gesehen, Ehrenwort.«

»Mist!«, flucht Freddy. Super Mario ist soeben durch die Hand des Endgegners gestorben, heute wird es wohl nichts mehr mit der Prinzessin. Frustriert schaltet Freddy den Gameboy aus.

»Komm schon«, ruft Stephan erneut und Freddy sieht endlich auf. Stephan steckt bis zur Brust in einem Loch im Boden. Er hat es offenbar geschafft, eine der schweren Metallplatten beiseite zu schieben, die hier überall zwischen den Silos auf dem ganzen Gelände verteilt sind.

»Hey«, ruft Freddy, »da dürfen wir nicht rein.«

»Ich weiß«, grinst Stephan, »aber das ist ja der Witz an der Sache. Und jetzt komm mal her!«

»Also ich weiß nicht«, sagt Freddy, aber er steht auf und schlurft langsam hinüber, zu der Stelle, wo Stephans Kopf aus dem Loch rausguckt. Als er ankommt, sieht Freddy, dass Stephan auf dem oberen Teil einer Leiter steht, die unter seinen Füßen in der Dunkelheit verschwindet.

»Mann, das sieht tief aus …«, Freddy pfeift durch seine Zähne, »und es ist ganz schön dunkel da unten.« Eigentlich will er jetzt viel lieber Comics lesen.

»Ach, ist halb so wild«, strahlt Stephan. »Und wir haben ja die Lampe. Hier unten ist was ganz Tolles, bestimmt!«

»Ach ja, und was soll denn da unten sein?«

Und auch darauf weiß Stephan eine Antwort: »Mein Onkel hat mir erzählt, dass die Nazis hier unten was versteckt haben. Echtes Gold.«

»Die Nazis? Echt?«

»Na klar! Und weißt du, was er noch gesagt hat?«

»Nee.« Freddy ist dem Loch inzwischen noch ein bisschen näher gekommen und starrt in die Tiefe, interessiert jetzt, aber immer noch voller Skepsis.

»Er sagte, hier unten wären vielleicht auch Waffen versteckt. Nazigewehre. Mit denen sie die Juden umgelegt haben.«

»Nein!«

»Doch, ganz bestimmt. Aber wegen der Einsturzgefahr haben sie die nie gefunden.«

»Und wenn nun Leichen da unten sind? Von den Juden oder so?« Freddy geht einen Schritt zurück.

»Ach Quatsch!«, beschwichtigt Stephan. »Die haben sie doch ganz woanders umgebracht. Aber hier haben sie sich verschanzt und das Zeug versteckt, als die Amis kamen.«

»Weißt du«, sagt Freddy, »ich glaube, ich will doch lieber nach Hause. Ich hab noch ein paar Spiderman-Hefte, wir könnten …«

»Ach, jetzt sei doch keine solche Memme, Mann!«

»Ich bin keine Memme!«

»Na gut, bist du nicht. Ich mach dir einen Vorschlag. Wir gehen kurz runter, schauen uns ein bisschen um, und dann fahren wir gleich zu dir und lesen Spiderman.«

»Also ich weiß nicht …«

»Ach, komm, das dauert keine zehn Minuten. Dann bist du auch keine Memme! Keiner wird dich dann noch einen Feigling nennen können, wenn du hier unten warst.«

»Meinst du echt?«, fragt Freddy, aber da ist Stephan schon hinuntergeklettert. Von unten ruft er: »Es ist gar nicht so tief!«

Und weil Freddy nicht allein herumstehen möchte und weil er auch keine Memme sein will, setzt er nun ebenfalls einen Fuß auf die oberste Sprosse der Leiter. Dann folgt er Stephan in die Dunkelheit.

Stephan hat eine kleine Taschenlampe dabei, die er nun anknipst und sich zwischen die Zähne klemmt wie ein richtiger Höhlenforscher, oder zumindest hat Freddy es mal so in einem Film gesehen. Nach einer endlosen Kletterei nach unten haben sie endlich wieder Boden unter den Füßen, aber Stephan geht gleich weiter, in den Gang hinein, der hier beginnt. Mächtige, rostzerfressene Stahlrohre sind überall an den Wänden und an der Decke. Freddy folgt dem Lichtkegel von Stephans Taschenlampe, obwohl er von der Kletterei bereits gehörig außer Atem ist. Als er Stephan endlich erreicht, zieht er, ohne es bewusst zu bemerken, einen Schokoriegel aus der Tasche, denn er hat immer welche dabei. Falls einmal Not am Mann ist, wie Mama sagt. Und jetzt, findet Freddy, ist schon ein wenig Not am Mann. Er steckt den Riegel in den Mund und lässt das bunte Papier der Verpackung zu Boden fallen. Es landet irgendwo in der Dunkelheit zu seinen Füßen, aber er achtet nicht weiter darauf. Freddy achtet nur darauf, in der Nähe des Lichtkegels zu bleiben.

Da dreht Stephan sich plötzlich um, die Taschenlampe beleuchtet sein Gesicht von unten und das sieht so schrecklich aus, dass Freddy einen spitzen Schrei ausstößt und sich vielleicht auch ein bisschen in die Hosen macht.

»Du Blödmann!«, schimpft er, aber Stephan dreht sich um und läuft kichernd weiter.

»Wir sind jetzt Höhlenforscher«, legt er fest.

»Aber ich will kein Höhlenforscher sein«, jammert Freddy, »man kann überhaupt nichts erkennen. Es ist so scheißdunkel hier.« Manchmal, wenn Freddy ein bisschen Angst hat, hilft es ihm, zu singen oder Kraftausdrücke zu verwenden, nur hilft das jetzt überhaupt nicht. Es ist so still hier und so weit weg von der Sonne oben. Aber Stephan scheint das alles nichts auszumachen. Er scheint sich richtig wohlzufühlen hier unten.

»Wenn du ein Feigling bist«, sagt Stephan, »wirst du auch nie den Schatz der Nazis finden.«

»Ich bin kein Feigling. Es ist nur so verdammt dunkel hier unten.«, sagt Freddy und stopft sich den letzten Bissen des Schokoriegels in den Mund.

»Dann geh du eben voran«, sagt Stephan. »Hier, ich leuchte dir!«, und dann schlüpft er in eine Nische, sodass Freddy sich vorbeidrücken und die Führung ihrer Expedition übernehmen kann. Was die Sache überhaupt nicht besser macht, findet Freddy. Plötzlich muss er wieder an die Leichen der Juden denken, die hier unten vielleicht doch noch liegen, oder ihre Geister, die lange, dürre Spinnenfinger nach seinem Gesicht ausstrecken und …

Plötzlich rutscht Freddy weg, stolpert nach vorn, sein Fuß tritt ins Leere und er fällt. Er hat das Loch nicht gesehen, und er begreift kaum, was geschieht, als er schreiend in die Tiefe saust. Er reißt die Arme vors Gesicht und knallt gegen eine Betonwand. Sie hinterlässt tiefe Schürfwunden auf der Haut seiner Unterarme. Seine Stirn prallt gegen etwas Hartes. Kleine Lichtpunkte explodieren vor seinen Augen. Er strampelt und versucht, irgendwo Halt zu finden. Aber er rutscht weiter, bis er plötzlich …

… steckenbleibt.

Die Arme sind fest an seine Seiten gepresst, seine Beine baumeln unter ihm in der Luft. Ein Schacht, denkt er panisch. Ein Schacht, und ich stecke fest, und wenn ich durchrutsche, werde ich in die Tiefe fallen und mir alle Knochen brechen und Mutter wird schimpfen und ich hätte nach Hause fahren sollen. Und was für ein gemeiner Kerl dieser Stephan doch eigentlich ist.

Aber alles, was Freddy jetzt tun kann, ist leise zu wimmern: »Stephan, hilf mir!«

Und dann kommen die Tränen. Freddy kann sie nicht mehr aufhalten. Noch nie war es ihm so egal, ob ihn die ganze Schule für eine Memme hält oder für Specki Mampftonne oder ob sie ihn die wandelnde Walze nennen oder sonst was. Er will jetzt nur zu Hause sein, und Spiderman lesen und später vielleicht einen Kakao trinken und noch einmal versuchen, als Super Mario die Prinzessin zu retten. Wieso antwortet ihm Stephan nicht?

»Stephan«, ruft der Junge noch einmal durch sein Schluchzen, »Stephan, hilf mir.«

Der andere leuchtet ihm mit seiner Lampe ins Gesicht, ohne ein Wort zu sagen. Als er endlich spricht, klingt es beinahe anerkennend.

»Du steckst ja ganz schön fest, Speckifreddy.«

»Ich … nenn mich nicht so! Hilf mir, Stephan!«, und dann, ganz leise: »Bitte!«

»Hmm«, sagt der andere.

»Stephan?«

»Kannst du deine Arme bewegen?«

»Nein, die stecken fest. Hier unten geht es ganz tief runter, bestimmt. Wenn ich durchfalle …«

»Ach, du wirst schon nicht durchfallen. Bist du irgendwie verletzt?«

»Meine … meine Beine tun weh, und ich hab mir die Arme angestoßen. Aber sonst geht es, glaube ich.«

»Hmmmmm«, sagt Stephan gedehnt, und leuchtet unentwegt in Freddys Gesicht, sodass der Junge die Augen zusammenkneifen muss. Dann wird es sehr still am oberen Ende des Rohres.

Dann fällt der erste Stein. Es ist nur ein kleiner Kiesel und er prallt zweimal von dem Rohr ab, bevor er die Wange des feststeckenden Jungen trifft.

»Au!«, sagt Freddy und glaubt, dass es vielleicht nur ein kleines Stück vom Rand des Rohres ist, das sich bei seinem Sturz in die Tiefe gelöst hat.

»Ich glaube«, sagt er, und in dem Rohr klingt seine Stimme seltsam verzerrt, wie die eines Roboters. »Ich glaube, du musst die Polizei rufen. Oder vielleicht die Feuerwehr.«

Stephan sagt immer noch nichts, aber dann kommen zwei weitere Steine, größere diesmal, und Freddy kann nicht erkennen, woher sie kommen, weil ihn Stephans Lampe blendet. Aber er glaubt nicht mehr, dass sie von dem Rohr über seinem Kopf stammen, denn diese Steine prallen nicht ab. Sie fliegen ihm direkt ins Gesicht. Und diesmal tut es richtig weh.

»Au!«, ruft er, und: »Hör auf damit, au! Bitte, Stephan. Du musst …«

Und dann ist das Licht plötzlich weg.

Er kann sehen, dass sich Stephan an etwas zu schaffen macht, das an der Decke über dem Loch hängt, ein großes Ventil oder so etwas, und Stephan hat sich jetzt die Lampe wieder zwischen die Zähne geklemmt, während er verbissen an dem schweren Metallteil rüttelt. Er keucht und flucht leise, während er versucht, das Ding von dem Rohr abzubekommen, an dem es feststeckt.

»Bitte hilf mir, Stephan, bitte!«, versucht es Freddy noch einmal, und für einen Moment hält Stephan inne. Das Ventilstück hängt jetzt nur noch an einem Ende an dem rostzerfressenen Rohr, und es schwebt genau über Freddys Kopf. Stephan nimmt die Lampe aus dem Mund, hockt sich an den Rand des Lochs und leuchtet wieder nach unten.

»Krieg ich deinen Gameboy, wenn ich dir helfe?«

»Ja, klar. Ich geb dir meinen Gameboy und alle Spiele, die ich hab! Und die Spiderman-Comics auch!«

»Alle?«

»Klar, alle! Du kannst sie alle haben. Aber hilf mir bitte!« Jetzt hat sich Freddy ganz bestimmt nass gemacht, er kann die Wärme spüren, die an seinem Hosenbein nach unten strömt.

Stephan sagt: »Ich glaube, ich will deinen Gameboy gar nicht.« Unbegreiflicherweise scheint er jetzt zu lächeln, aber das kann Freddy nicht genau erkennen. »Und deine Comics fand ich schon immer scheiße.«

Dann steht er wieder auf und macht weiter. Und allmählich begreift Freddy, was er vorhat. Er ruft und wimmert und bettelt, quiekt mit hoher Stimme, aber Stephan scheint ihn gar nicht mehr zu hören. Mit einem letzten Stoß löst sich das Ventil vom Rohr und Stephan springt zurück, während es mit ohrenbetäubendem Rumpeln in das Loch zu seinen Füßen fällt und Freddys Kreischen ein jähes Ende bereitet.

Dann ist es still in dem Loch.

Lächelnd dreht sich Stephan um und kriecht durch die Röhren zurück zum Ausgang, seine treue Taschenlampe zwischen den Zähnen, wie ein richtiger Höhlenforscher. Oben angelangt, schiebt er die Metallplatte sorgfältig wieder zurück an die Stelle, an der sie vorher war. Er nimmt sein Rad und schiebt es vom Gelände, auf der Seite, wo die Felder sind, damit man ihn von der Straße aus nicht sehen kann. Er schiebt es durch das kleine Wäldchen, das sich an die Felder anschließt, und als er auf der anderen Seite hervorkommt, schaut er nach beiden Seiten den Feldweg entlang. Niemand ist hier, der ihn sehen könnte.

Stephan steigt auf sein Rad. Es ist ein neues, rotes und es hat sogar eine richtige Gangschaltung. Dann fährt er los.

Er lächelt, als er nach Hause radelt. Heute würde es Spaghetti geben, und er mag Spaghetti sehr. Das Gesicht des Jungen ist der untergehenden Sonne zugewandt und ihre letzten Strahlen liebkosen sein sonnengebräuntes Jungengesicht, während er radelt und lächelt und den Wind sein Haar zerzausen lässt. Er ist daheim, noch bevor die Sonne ganz hinter den Feldern verschwunden ist.

1

+ + +

Mein Plan ist perfekt.

Ich weiß, dass er kommen wird.

Meine Ungeduld der letzten Tage hat sich in diesen Stunden gelegt, da ich das Zimmer vorbereite auf das, was gleich passieren wird. Manch einer mag die Skimaske, die ich trage, als lächerlich empfinden, nicht ausdrucksstark oder vielleicht nicht bedrohlich genug. Aber es geht nicht darum, mein Opfer zu erschrecken, auch wenn die Angst später zweifellos kommen wird. Später, wenn er es begreift. Wenn ihm klar wird, welcher Gedanke sich hinter der Maske verbirgt.

Anonymität, darum geht es natürlich! Unerkannt in einer Welt der gläsernen Menschen. Gesichtslos in einem Meer von bedeutungslosen Selbstdarstellern.

Ich bin ein Phantom, ein sphärisches Wesen — ein Engel. Ein Engel, und der gerechteste unter denen, die auf Erden wandeln. Und wie der Erzengel Michael werde ich keine Gnade und kein Erbarmen kennen. Menschen können sich vielleicht für derlei Gefühle erwärmen — Engel kennen kein Verzeihen. Nicht für das, was dieser Kerl getan hat!

Auch ich hatte Zweifel, anfangs, sicher. Doch als ich das Gewehr fand, diese herrliche, uralte Waffe - seitdem bin ich sicher, dass alles genau so vorherbestimmt war, und ich die Hand sein muss, die auf die Häupter der Schuldigen niederfährt.

Nur ich habe das Recht dazu.

Nur ich allein.

Da, ein Knirschen auf dem Kiesweg draußen, das muss er sein; er kommt jetzt die Einfahrt hochgefahren. Mein Körper ist gespannt wie eine Feder, aber ich bin ganz kühl. Pure Konzentration.

Ich bin das flammende Schwert der Gerechtigkeit.

Ich bin der Engel.

2

Waldhaus der Familie Fassmann am Zwenkauer See, nahe Markkleeberg bei Leipzig, 1. November 2015, Sonntag

Sauer fragte sich, was um alles in der Welt er auf dieser Party verloren hatte. Mit einer Mischung aus Belustigung und Abneigung beobachtete er, wie das Wiesel zwischen den Gästen herumscharwenzelte. Der Kerl mit dem spitzen Gesicht und der unmöglichen Stachelfrisur hastete geschäftig durch den Raum, eingehüllt in eine Wolke penetranten Parfums. Parfum, Deodorant oder Eau de Toilette, das wusste Sauer nicht so genau — er gehörte zu den Männern, denen dieser Unterschied weder klar noch recht geheuer war. Oxana würde es wissen, natürlich, aber die war gerade … ja, wo eigentlich? Sauer sah sich suchend nach seiner Ehefrau um. Er fand sie nahe dem kleinen Podium, ins Gespräch mit der Künstlerin vertieft. Also ging Sauer hinüber, das heißt, er versuchte, seinen Körper zwischen schnatternden Partygästen hindurchzubugsieren. Diese ignorierten Sauers Bemühungen allerdings komplett. Da er also querfeldein nicht weiterkam, ging er außen herum, an der Kunst vorbei. Das erwies sich als ein guter Einfall, weil es der einzige Teil des Raumes war, für den sich wirklich kein Mensch interessierte. Wobei die Kunst der Irene Fassmann — derzeit im angeregten Gespräch mit seiner Frau Gemahlin — weit besser war, als Sauer erwartet hatte. Zumindest, wenn man orangerote Igel mochte, die versuchten, sich mit knallblauen Melonen zu paaren.

Sauer drehte sich um und stieß mit dem plötzlich auftauchenden Wiesel zusammen. Dessen Parfum explodierte förmlich in Sauers Nase. Bevor er wieder zu Atem gekommen war, um eine Entschuldigung hervorzuhusten, war das Wiesel schon davongewitscht. Es kämpfte sich rücksichtslos durch die Menge in Richtung des kleinen Podiums mit der Musikanlage. Dorthin wollte Sauer ebenfalls, also nutzte er die Schneise und folgte ihm.

»Karl!«, rief Oxana aus, als sich Sauer endlich durch die smalltalkende Menge der Partygäste gekämpft hatte. In ihrem Blick lag eine Mischung aus Sorge und Amüsiertheit.

»Das ist mein Mann«, erklärte sie Irene Fassmann. Sie ist groß, dachte Sauer, dem allerdings jede Frau über eins siebzig als hochgewachsen erschien. Die Künstlerin jedoch überragte sogar Oxana noch um einen guten Kopf. Schlank, vielleicht Mitte vierzig, sportlich. Überaus gut in Schuss. Und noch etwas: Soweit Sauer das beurteilen konnte, hatte sich ihr Ehemann, sofern vorhanden, den ganzen Abend noch nicht in ihrer Nähe blicken lassen. War diese Schönheit etwa Single? Sauer ergriff Irene Fassmanns ausgestreckte Hand.

»Karl Sauer. Vielen Dank für die Einladung.«

»Der Herr Kommissar«, antwortete Irene Fassmann lächelnd. Offenbar hatte Oxana ganz entschieden zu viel Zeit zum Quasseln gehabt. Hier, oder aber schon früher, in der Praxis. Dort, in ihrem ›Tempel der Heilung‹, übte sie mit gestressten Hausfrauen Mantren oder legte ihnen warme Steine auf den Kopf. Mittlerweile hatte sich Oxanas Praxis wohl in den Kreisen der Leipziger High Society herumgesprochen. Und auch, wenn Sauer der Gedanke an Schlammmasken und Energiekristalle nur ein verständnisloses Kopfschütteln entlockte, so gönnte er Oxana und ihrer illustren Kundschaft doch das Vergnügen. Was immer einem half.

»Die, äh, Schnitten sind sehr gut, Frau Fassmann.«

Für dieses Kompliment erntete er zunächst einen fragenden Blick der Künstlerin. Doch dann hellte sich Irenes schönes Gesicht auf und sie sagte lachend: »Ach Sie meinen die Horsd’œuvres! Oh, vielen Dank. Das gebe ich gern an die Küche weiter.«

Neben ihr räusperte sich das Wiesel zum wiederholten Male ins Mikrofon und starrte Irene dann aufdringlich an. Schließlich erwiderte sie lächelnd seinen Blick und das Wiesel begann, an den Knöpfen der Anlage herumzudrehen, als hinge sein Leben davon ab.

»Ta-dada-da-dah!«, wummerte es aus den Boxen. Der Barjazz wurde von etwas Klassischem abgelöst, das Sauer glaubte mal in einem Kriegsfilm gehört zu haben, in dem es recht viel um Napalm gegangen war. Wagner, wenn er sich recht erinnerte. Das Wiesel schnappte sich ein Mikrofon und quiekte unter heftigem Rückkoppeln hinein, während er jedes einzelne Wort so überdeutlich betonte wie ein Schauspieler bei einer Sprechübung.

»Und nun. Liebe. Freunde. Liebe. Kunstkenner. Genießer. Des Schönen. Und des Wahrhaftigen. Nun. Ist es. Endlich. Soweit! Begrüßen Sie …«, hier senkte das Wiesel tief gerührt das strubbelige Haupt.

»Begrüßen Sie. Mit mir. Die. Künstlerin selbst. Irene«, nochmalige Kunstpause, »Irene. Fassmann.« Einen Bückling andeutend hielt das Wiesel ihr das Mikro hin und Sauer wischte sich hastig ein Grinsen aus dem Gesicht. Zurückhaltender Applaus brandete auf und Irene Fassmann betrat das kleine Podium. Sie nahm das Mikro mit einem dankbaren Nicken entgegen und sprach dann, wesentlich leiser und gänzlich ohne fiepende Störgeräusche, hinein. Ihre Stimme war hell, klar und angenehm, und sie zitterte ein bisschen. Die Künstlerin war aufgeregt, und das fand Sauer sympathisch. Was wohl auch Oxana nicht entgangen war, die ihn sanft in die Seite knuffte.

»Liebe Freunde der Familie Fassmann«, begann Irene. Nicht meine Freunde, bemerkte Sauer, sondern Freunde der Familie. Wie in ›Freunde meines Mannes‹. Nun, das erklärte vermutlich das eine oder andere. »Ich freue mich, dass so viele von euch kommen konnten. Und ich muss gestehen, ich bin auch ein bisschen aufgeregt.« Wohlmeinendes Gelächter von der sektseligen Yuppiehorde. »Es ist das erste Mal, dass ich meine Bilder öffentlich ausstelle … genaugenommen ist es das erste Mal, dass ich sie überhaupt jemandem zeige.«

Das Wiesel initiierte einen spontanen Ausbruch von Applaus für diese offenen Worte. Es gelang. Als er sich gelegt hatte, fuhr Irene, nun mit geröteten Wangen, fort:

»Als Erstes möchte ich meinem Mann und unserer wundervollen Tochter Louisa danken, die mir so toll geholfen hat, all das hier vorzubereiten. Kommst du bitte mal nach vorn, Schatz?« Irene blickte sich suchend im Raum um. Ein Mädchen von etwa siebzehn Jahren, auch wenn sie in ihrem langen, silberglänzenden Abendkleid deutlich älter wirkte, trat aus dem Rahmen einer der seitlichen Türen und blickte geschockt zum Podium hinüber. Dann kräuselten sich ihre Lippen zu einem schüchternen Lächeln und ihre rosigen Wangen wurden noch ein wenig rosiger. Der junge Mann neben ihr beugte sich zu ihr hinab und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das ihr ein kleines Kichern entlockte. Dann nickte sie ihm tapfer zu und schritt nach vorn, auf das Podium zu.

Die Gäste bildeten eine Schneise für Louisa Fassmann, wobei ihr einige Blicke folgten, hauptsächlich die der jüngeren männlichen Partygäste. Dort, vermutete Sauer, wurden vermutlich gerade jede Menge Knüffe ausgeteilt – die Ähnlichkeit des jungen Mädchens mit ihrer schönen Mutter war nicht zu übersehen. Als sie das Podium erreichte, hatte Louisas Gesicht die Farbe einer reifen Tomate angenommen und auf ihrem Dekolleté waren zwei hektische rote Flecken zu sehen. Sie warf ein schüchternes Lächeln in die Runde und dann senkte sie den Kopf, worauf wiederum spontaner Applaus aufbrandete. Ihre Hand fand die ihrer Mutter, die erneut das Mikrofon hob, um …

Bumm!

Ein Wummern unterbrach Irene Fassmanns Rede. Das Wiesel flitzte mit gerunzelter Stirn zur Stereoanlage, drehte an den Knöpfen herum und betastete das Kabel des Mikrofons.

Bumm! Bumm!

Irene wechselte einen fragenden Blick mit dem Wiesel, das mit den Schultern zuckte, während er den Stecker des Mikrofons betastete.

Buuumm!

Und dann begriffen sie endlich, dass das Geräusch gar nicht aus der Anlage stammte, sondern von der holzvertäfelten Wand hinter dem Podium. Die murmelnden Gespräche verstummten, allein Richard Wagner ließ seine Streicher leise aufbranden, als wolle er die Spannung noch zusätzlich anheizen.

Hinter der Vertäfelung war ein träge kratzendes Geräusch zu hören, als schöbe sich dahinter etwas Großes an der Wand entlang. Dann krachte ein schwerer Gegenstand von innen dagegen, fiel polternd zu Boden …

Und dann brach die Hölle los.

3

Vor den ungläubigen Augen der Besucher neigte sich die Wand hinter Irene und Louisa Fassmann nach vorn, und für einen Moment schienen die Holzelemente über ihren Köpfen in der Luft zu schweben, als wären sie schwerelos. Staub rieselte zwischen den entstandenen Rissen hervor und schließlich kippte die gut zwei Meter breite Wand komplett um, mit einem reißenden Geräusch, als zerfetzte jemand ein gigantisches Stück Papier. Sauer begann, sich durch die erstarrte Menge hindurch zum Podium zu kämpfen, doch er sah, dass er die beiden Frauen nicht mehr rechtzeitig erreichen würde.

Er brauchte kaum drei Sekunden, bis er am Ort des Geschehens ankam, doch die Zeit vor seinem inneren Auge schien zu einer unerträglichen Zeitlupenaufnahme eingefroren, als würde jede seiner Bewegungen durch zähflüssigen Gelee gebremst.

Sauers Blick fiel auf das immer noch erstarrt dastehende Wiesel, das sich in einer Geste beinahe komisch wirkender Verzweiflung eine Faust in den Mund gestopft hatte und auf die herabsausende Wandverkleidung starrte. Das entstandene Loch in der Wand hustete Staub und Putz in dem Raum.

Es ist keine Verkleidung, dachte Sauer, das ist die gesamte, dünne Wand, die hier runterkommt, und dahinter ist ein kleiner Raum, und aus diesem Raum …

Da schoss ein Schatten auf das Podium zu und ergriff Irenes Arm, nur Bruchteile eines Augenblicks, bevor auch Sauer die Künstlerin und ihre Tochter erreicht hatte. Ein junger Mann in einem eleganten Anzug packte Irene Fassmanns linken Ellenbogen und riss sie und Louisa mit sich aus der Gefahrenzone. Es war der junge Mann, registrierte Sauer, der vorhin neben Louisa gestanden und ihr etwas Aufmunterndes ins Ohr geflüstert hatte. Doch in dem Moment, da das beherzte Eingreifen des jungen Mannes Mutter und Tochter Fassmann rettete, war Sauers Aufmerksamkeit von anderen Dingen gefesselt. Die gesamte Wand krachte direkt vor seinen Füßen auf den Boden des Podiums, wo die Fassmanns gerade noch gestanden hatten, und wirbelte eine unerhörte Wolke staubigen, weißen Putzes auf.

Doch Sauer achtete nicht weiter darauf, denn durch den weißen Nebel stapfte etwas mit schweren Schritten auf ihn zu. Etwas Großes, das aus dem Loch in der Wand gekommen war. Instinktiv langte seine Hand unter sein Jackett, tastete einen Augenblick vergeblich nach der P10 in dem Holster an seinem Gürtel. Aber selbstverständlich war da nichts. Kein Holster, keine Pistole. Und jetzt war das Ding heran. Die Haare, Gesicht und Schultern waren komplett von Gipsstaub und Holzsplittern bedeckt. Der Anzug, den die Gestalt trug, hing in langen Fetzen von ihrem Körper und enthüllte einen beachtlichen Bauch sowie eine schlaffe, eingesunkene Brust. Und jetzt, da Sauer der taumelnden Gestalt aus dem Nebel gegenüberstand, bemerkte er auch die blutverkrusteten Wunden, die den gesamten Oberkörper bedeckten, und er begriff, wieso der Riese nur kleine, stolpernde Tippelschritte machte.

Er trug einen Stuhl mit sich herum, an den er festgebunden war.

Dieses einigermaßen absurde Bild hätte Sauer in einer anderen Situation vielleicht ein Lächeln entlockt. Doch nun sah Sauer die Schnüre um die Oberschenkel des Mannes, die ihn mit dem Stuhl verbanden. Seine Arme waren hinter seinem Rücken fixiert. Als er Sauer beinahe erreicht hatte, hob der Fremde den Kopf. Sauer bemerkte noch, dass irgendetwas mit seinen Ohren nicht stimmte. Breite rostrote Ströme angetrockneten Blutes zogen sich an seinen Wangen entlang, so als hätte ein ungeschicktes Kind versucht, ihm einen rotbraunen Vollbart anzumalen.

Das Ding warf Sauer einen fragenden Blick zu, dann kippte sein zerstörtes Antlitz einfach weg. Der Riese strauchelte, und dann fiel er um wie ein gefällter Baum. Einen Moment später schlug sein Gesicht hart auf dem Holz des Podiums auf. Der Mann ging so plötzlich auf die Bretter, dass Sauer nicht mehr dazu kam, ihn aufzufangen oder auch nur seinen Aufprall zu bremsen. Vermutlich hätte der Fallende ihn ohnehin nur mit sich zu Boden gerissen. Sauer ging in die Knie, um den Mann herumzudrehen, in eine Position, die ihm das Atmen ermöglichen würde. Doch er hatte den Blick des Mannes gesehen, bevor der wie ein ausgeknockter Boxer umgekippt war. Und während er mühsam an dem schweren Leib herumzerrte, wurde ihm klar, dass dieser Boxer seine letzte Runde ein für alle Mal geschlagen und verloren hatte. Er machte trotzdem weiter. Und nun war sich Sauer absolut sicher, dass es sich bei dieser Variation von Ein Mann geht durch die Wand nicht um einen makabren Partygag handelte oder um ein ganz besonders geschmackloses Exemplar moderner Kunst. Das hier war echt.

Und dann begann Louisa Fassmann zu kreischen.

4

Es wollte Sauer einfach nicht gelingen, den am Boden Liegenden umzudrehen, was hauptsächlich an dem Stuhl lag, der an dessen Hintern klebte. Aus der Nase, die bei dem Aufprall gebrochen sein musste, lief ein dünner Strom frischen Blutes über das staubbedeckte Gesicht, und nun bemerkte Sauer auch, was genau es war, das mit seinen Ohren nicht stimmte. Jemand hatte mehrere tiefe Einschnitte in die Ohrmuscheln vorgenommen, das rechte Ohrläppchen fehlte komplett. Das verbleibende Fleisch stand in bizarren, blutverkrusteten Formen vom Kopf ab, einer Nelke nicht unähnlich.

All diese Informationen rasten durch Sauers Kopf wie ein Endlosband eines alten Telegrafen. Tipp, tipp, tipp. Nur sehr viel schneller.

Ohne sich umzusehen, rief er in den Raum: »Rufen Sie einen Rettungswagen! Sofort!«, und wertete die daraufhin einsetzenden hektischen Geräusche als Zeichen, dass irgendjemand endlich nach seinem Handy griff.

Sauer entfernte das Taschentuch, das den unteren Teil des Gesichts bedeckte, als hätte sich der Gequälte an der Imitation eines Bankräubers aus einem Western versucht. Dann griff er in den Mund und zog ein zweites Taschentuch hervor, das man als Knebel benutzt hatte. Ein kleiner Schwall rosafarbenen Speichels schwappte über die Lippen des Mannes, dann blieb sein Mund offen stehen. Der Kommissar tastete nach der Halsschlagader. Kein Puls. Sauer überstreckte den Kopf, beugte sich hinab, um seine Ohrmuschel über den des Mannes Mund zu halten. Kein Geräusch, nicht das leiseste Röcheln. Sauer begann mit der Wiederbelebung.

»Lassen Sie mich durch!«, befahl eine Stimme hinter Sauer, und sogar in diesem angespannten Moment nahm Sauer die routinemäßige Arroganz in dieser Stimme wahr. Die anderen Partygäste offenbar auch, denn endlich reagierten sie und machten Platz für den Mann, der sich mit federnden Schritten näherte. »Weg da!«, befahl er Sauer, der den herrischen Befehl ignorierte und den Mann fragte: »Sie sind Arzt?«

»Ich bin Dr. Junghans«, sagte der andere, und ließ es klingen, als hätte ihn Sauer gerade zutiefst beleidigt. Dabei betonte er das Jung in seinem Namen überdeutlich.

Aha, dachte Sauer, Schönheitschirurg.

»Von mir aus«, sagte der Kommissar, »können Sie auch Doktor Who sein, solange Sie nur Arzt sind.«

Dr. Junghans’ perfekt gezupfte Augenbrauen schnellten in die Höhe. Sauer fiel auf, dass der Arzt sich irgendeiner hautfarbenen Creme bedient hatte, um die Krähenfüßchen in den Augenwinkeln seines ansonsten auffallend glatten Gesichts zu verbergen.

»Selbstverständlich bin ich Arzt«, hauchte Junghans.

»Schön. Dann wissen Sie ja, was zu tun ist«, sagte Sauer, rückte zur Seite und überließ ihm das zweifelhafte Vergnügen. Mit routinierten Fingern tastete der Arzt nach dem Puls am Hals des Mannes und tat im Wesentlichen das, was Sauer ein paar Sekunden früher auch schon getan hatte. Wertvolle Sekunden früher.

»Na los doch!«, zischte Sauer und endlich begann der Arzt mit der Wiederbelebung. Wobei ihm vermutlich ebenfalls klar war, dass seine Bemühungen vergeblich waren. Dennoch assistierte ihm Sauer nach Kräften.

Bis es Dr. Junghans schließlich einsah.

»Er ist tot«, sagte der adrette Arzt und ließ in einer dramatischen Geste den Kopf hängen. Sauer stand kopfschüttelnd auf und wandte sich der Menge zu, während er die Taschen seines Jacketts systematisch nach seinem Telefon abklopfte. Die Fassmanns und der junge Mann standen etwas abseits, Mutter und Tochter hielten sich eng umschlungen und starrten auf den am Boden liegenden Körper. Der Rest der Meute versuchte zu begreifen, was zum Teufel sich hier gerade abspielte.

Gute Frage.

Sauer verfluchte stumm die unzähligen Taschen seines Anzugs, da zupfte ihn jemand am Arm. Oxana. Sie reichte ihm sein Telefon. Richtig, erinnerte sich Sauer, ich hatte es in ihrer Handtasche verstaut. Wollte es eigentlich gar nicht mitnehmen. Habe ich dann aber doch, nur für den Fall der Fälle. Das hab ich nun davon.

Während Sauer die Nummer in sein Handy tippte, stellte er sich instinktiv zwischen den Körper am Boden und die schockierten Besucher — dass der Arzt an der Leiche herumgetastet und dabei alles mit seinen Spuren kontaminiert hatte, war schlimm genug. Als das Telefon am anderen Ende abgenommen wurde, passierten mehrere Dinge gleichzeitig.

»Notruf Leipzig, wo ist der Unfallort?«, tönte es aus dem Telefon und als Sauer gerade den Mund aufmachte, blitzte irgendetwas am linken Rand seines Gesichtsfelds, und von der anderen Seite raste ein Schatten auf ihn zu. Sauer wirbelte herum und riss die Arme weit auf, wie ein Torwart, der einen Ball zu erreichen versucht, für den er eigentlich zu kurze Arme hat. Aber es war kein Ball, es war Irene Fassmann, die er auffing. Für einen Moment streifte ihre linke Brust seine rechte Wange, und dann fiel die große Blondine förmlich in sich zusammen. Es blitzte wieder ein paar Mal. Irene Fassmann hauchte ein einziges Wort, bevor sie schluchzend in Sauers Arme fiel:

»Walter.«

Walter.

Walter Fassmann.

Und endlich wurde Sauer klar, dass der Ehemann der Künstlerin zu guter Letzt doch noch zur Party erschienen war.

5

+ + +

Überwachung ist wichtig. Damit der Plan gelingen kann, muss ich alles wissen, was es über ihn zu wissen gibt. Das Internet ist natürlich hilfreich — für denjenigen zumindest, der mit einer Suchmaschine umgehen kann und den einen oder anderen Trick beherrscht, den sich jedes Kind bei YouTube oder in irgendwelchen Foren abschauen kann. Man kann alles mögliche lernen.

Auch, wie man mit einem Skalpell umgeht.

Ich frage mich, wieso niemand vor mir auf die Idee gekommen ist, sich mit dieser Geschichte zu beschäftigen. Zum Beispiel ein Richter.

Nur, was hätte das gebracht?

Die Antwort ist so einfach wie offensichtlich:

Überhaupt nichts. Weil dieses System krank ist, und sie eben nur irdische Richter sind. Kleine, begrenzte Menschen mit einem vergifteten, dummen Verstand — und ständig offenen Taschen. Ohne jeden Sinn für Gerechtigkeit.

Jemand muss den alten Richter bestochen haben, damit sie mit dieser Sache durchkamen. Nur ist der alte Kerl inzwischen leider tot und deshalb außer Reichweite meines Flammenschwertes.

Doch das macht nichts, denn inzwischen habe ich mein Auge auf ein vielversprechenderes Opfer gerichtet. Den ersten Dominostein, das erste Puzzlestück in meinem Spiel. Und welch eine erbärmliche Kreatur er doch ist! Fast könnte man Mitleid mit seinem leeren, unbedeutenden Leben haben. Es ist beinahe schon ein Akt der Gnade, ihn von dieser jämmerlichen Existenz zu befreien. Ich glaube fast, dass er erlöst werden will, seit Jahren schon.

Ich habe ihn beobachtet, die ganze Zeit, und damit schenkte ich dieser armseligen Kreatur vermutlich mehr Aufmerksamkeit, als er in seinem ganzen bisherigen Leben bekommen hat. Indem ich ihm die Gnade erweise, ein Teil meines Plans zu werden, zeige ich wahre Größe und Barmherzigkeit, die weit über das hinausgeht, wozu Menschen und diese selbsternannten Richter fähig sind. Amen!

Ergänzung: Oh, Gott. Er hat es schon wieder getan. Drei Mal in der letzten Stunde allein. Dieser Mensch ist so dermaßen jämmerlich, dass einem allein vom Zuschauen übel werden kann. Und er glaubt, dass es ihm noch irgendetwas nützt, wenn er jetzt alles zugibt. Ich weiß doch schon längst, was er getan hat. Und ich wundere mich, dass er das nicht begreifen will. Ich stopfe ihm wohl besser den Knebel zurück ins Maul.

6

»Okay«, sagte Sauer und blickte in die Runde. »Mein Name ist Karl Sauer. Hauptkommissar Karl Sauer. Ich muss Sie jetzt alle um zwei Dinge bitten. Erstens, treten Sie nicht näher an den … also, treten Sie nicht näher heran, und bilden Sie eine Gasse in der Mitte des Raumes. Ein Krankenwagen ist unterwegs. Und zweitens, versuchen Sie sich möglichst wenig zu bewegen, bis meine Kollegen hier eintreffen. Bitte halten Sie Ihre Ausweise bereit. Achten Sie gegenseitig aufeinander. Niemand verlässt das Haus ohne meine Erlaubnis. Das hier ist ab sofort eine polizeiliche Untersuchung.«

Augenblicklich folgte heftiger Protest der Anwesenden, die es offenbar nicht gewohnt waren, Anweisungen entgegenzunehmen. Schon gar nicht von einem, der ganz offensichtlich einen Anzug von der Stange trug: »Was soll das, ist er etwa tot?«

»Ist es Fassmann?«, wollte einer der weiter hinten Stehenden wissen. Irene brach irgendwo rechts von ihm in heftiges Schluchzen aus und stürmte aus dem Saal. Sauer blieb keine Zeit, sich darum zu kümmern, denn schon prasselten neue Fragen auf ihn ein:

»Was ist passiert?«

»Ich habe Termine, Sie können mich hier nicht festhalten!«

»Ja, ich auch! Das ist Freiheitsberaubung!«, und dergleichen intelligentes Zeug mehr. Und nun stießen sie alle ins gleiche Horn. Sauer ignorierte es. Er würde lediglich dafür sorgen, dass die Jungs von der Spurensicherung kein totales Chaos vorfanden, wenn sie und der ganze Rattenschwanz vom K11* am Tatort eintrafen. Und dann würde er nach Hause gehen und dem ermittelnden Kommissar das Schlachtfeld überlassen, mit Freuden, und dem armen Kerl viel Glück dabei wünschen.

*Kommissariat 11 = Mordkommission

Sauer hob beschwichtigend die Arme und brüllte über den Lärm hinweg: »Die Kriminalpolizei ist unterwegs, wir werden Ihre Personalien aufnehmen, und dann können Sie sofort gehen. Bewahren Sie bitte ein paar Minuten Ruhe. Das alles wird nicht lange dauern.«

Was selbstverständlich eine glatte Lüge war. Erfahrungsgemäß würde das hier wenigstens ein paar Stunden dauern, aber es war wohl keine besonders gute Idee, diese Vermutung ausgerechnet jetzt zum Besten zu geben.

7

Inzwischen war der Tod Walter Fassmanns zum dritten und endgültigen Male festgestellt worden, und diesmal vom wirklichen Profi. Der nur mäßig übermüdet wirkende Notarzt war schon auf dem Weg zu seinem nächsten Patienten, hatte Sauer aber die hastig ausgefüllten Sterbepapiere dagelassen.

»Für die Kollegen«, hatte er gesagt, als er Sauer den Schrieb überreichte, ohne auch nur im Mindesten daran zu zweifeln, dass Sauer der diensthabende Polizist war.

In diesem Club erkennen sich die Mitglieder irgendwann gegenseitig, dachte Sauer flüchtig, vermutlich am Geruch. Da braucht es keine Ausweise mehr.

Nun, er würde diesen Club in spätestens drei Wochen für immer verlassen.

Gottlob, und keine Sekunde zu früh.

Er tippte die Nummer seiner Dienststelle in sein Handy. Vermutlich würde Manni die Nachtschicht haben, immerhin. Während es klingelte, sah Sauer den Rettungsassistenten dabei zu, wie sie auf seine Bitte hin den Tatort provisorisch absperrten, mit Stühlen und ein paar entrollten Mullbinden. Sie hatten eine dieser silbernen Isodecken über den Leichnam gebreitet. Sie bedeckte den Körper nicht ganz, wegen der emporragenden Stuhlbeine am Hintern des Toten. Und obwohl die Decke gnädigerweise das Gesicht Walter Fassmanns verbarg, so sah das entstandene Gebilde mehr denn je nach einem abstrakten Kunstwerk aus. Sauer sah sich flüchtig nach Irene Fassmann und Louisa um. Nicht da. Gut für sie.

»Kriminalpolizei Leipzig, Polizeimeister Boichert am Apparat«, tönte es aus Sauers Telefon.

»Guten Abend, Manni. Hier ist Karl. Karl Sauer …«

»Oh, Mann, Karl. Gut, dass du endlich anrufst.«

»Gut, dass ich endlich …?«

»Ja, Karl. Der Reuter will dich sprechen. Ist schon unterwegs.«

»Unterwegs wohin?«

»Na, in diese Hütte, irgendwo im Wald bei Markkleeberg. Wo du die Leiche gefunden hast.«

»Wo ich die … Scheiße, Manni, woher weißt du das?«

»Naja, Reuter hat vor einer Minute hier angerufen, völlig panisch, und alle verfügbaren Leute dort hinbeordert. Da klang er, als sei er ungefähr auf hundertachtzig, und sein Schlitten ebenfalls. Der hat die ganze Zeit geflucht wie ein betrunkener Seemann. Und wenn du anrufst, sagte er, dann sollen wir dich sofort zu ihm durchstellen …«

»Woher weiß der denn überhaupt, dass ich hier bin? Und …«

»Keine Ahnung, Karlchen. Aber der Chef klang ziemlich angefressen … die Sache ist wohl ziemlich dringend.«

»Verdammte Scheiße«, entfuhr es Sauer leise.

»Ja, und dir auch noch einen schönen Abend, Karlchen. Ich stell dich dann mal durch.«

Beim Gedanken an Reuter hatte sich der letzte Rest von guter Laune verflüchtigt, der Sauer an diesem Abend noch geblieben war.

Klick.

Tuut. Tuu …

Klick.

»Reuter!«, brüllte eine verzerrte Stimme am anderen Ende der Leitung durch eine Geräuschkulisse, die Sauer an das Tosen einer aufgepeitschten See denken ließ. Orkanstärke, mindestens. Von dem Lärm, durch den sich Reuters Stimme kämpfte, schloss Sauer auf eine Geschwindigkeit, die sogar noch ein bisschen über Boicherts Schätzung lag. Reuter fuhr einen A6. Und diesem Wagen mehr als ein sanftes Schnurren zu entlocken, war gar nicht so einfach, soweit er wusste. Von dem gelegentlichen Rumpeln schloss er außerdem darauf, dass Reuter seine edle Karosse über einen holprigen Waldweg trieb. Zum Beispiel einen, der durch das Eichholz am Zwenkauer See führte.

Verdammt.

»Hier ist Karl Sauer. Ich habe gerade in der Dienststelle angerufen, um …«

»Was?«

»Hier ist Karl Sauer!«, brüllte der Kommissar in sein Telefon. »Boichert hat mir …«

»Sauer!«, unterbrach ihn Reuter unwirsch. »Was zum Teufel ist da in diesem Waldhaus passiert, verdammt? Und wieso waren Sie so schnell vor Ort? Geben Sie mir Informationen, Mann! Warum klingelt mich der Chef am Sonntagabend aus dem Bett? Was ist da los?«

Der Chef. Das bedeutete in Reuters Fall niemand Geringeren als den Polizeipräsident der Polizeidirektion, Hans-Werner Klaasen höchstpersönlich. Und eben jener Klaasen musste Reuter gehörig Feuer unter seinem fitnessstudiogepflegten Hintern gemacht haben. Die Mischung aus Stoßgebeten und Flüchen am anderen Ende der Leitung ließ gar keinen Zweifel daran. Derart aufgebracht hatte Sauer seinen Vorgesetzten noch nie erlebt. Dieser Karren begann schon im Dreck zu versinken, bevor er noch richtig gestartet war. Und Sauer hatte ein ganz blöde Ahnung, wen Reuter am Steuer dieses Karrens sah.

»Eine Leiche, vermutlich ein Mord«, versuchte Sauer die Fragen seines Chefs in der richtigen Reihenfolge zu beantworten. »Ein Kerl bricht durch die Wand, fällt um und bleibt liegen.«

»Scheiße«, kommentierte Reuter.

In der Tat, dachte Sauer, besonders wenn man der Kerl ist, der da gerade auf die Dielen des Waldhauses gebrettert ist.

Ein dumpfer Knall, ein blechernes Schleifen. Reuter musste eine Wurzel oder sowas erwischt haben. »Fuck!«, rief der Chef, »Fuck!«, und etwas knirschte bedenklich. Dann wandte er sich wieder ihrem Gespräch zu. »Und wieso waren Sie so schnell am Tatort, Sauer?«

»Naja, daran ist meine Frau schuld.«

»Ihre Frau? Was soll denn dieser … oh, Shit!«, es knallte wieder. »Wollen Sie mich verarschen, Sauer?«

»Nein. Sie hat mich zu dieser Ausstellung geschleppt und …«

»Verdammt, ich will nicht wissen, was Sie und Ihre Frau in Ihrer Freizeit treiben. Ich will wissen, wie Sie in das verfluchte Haus mitten im … Fuck!«

Knall!

Noch eine Wurzel. Wenn Reuter das Tempo nicht ein wenig drosselte, würde es vermutlich bald eine zweite Leiche ganz in der Nähe geben.

Wäre vielleicht nicht mal das Schlechteste, dachte Sauer grimmig.

»Aber darum geht es ja«, brüllte Sauer in sein Telefon. »Die Ausstellung war im Haus der Fassmanns, und Oxana hat mich hier hergeschleift, weil sie Irene Fassmann kennt von ihrem …«

»Warten Sie, Sauer! Fassmann?! Haben Sie gerade Fassmann gesagt? Irene Fassmann?«

»Ja, sagte ich.«

»Oh, verfluchte Scheiße!« Reuters Flut an Schimpfwörtern schien heute unerschöpflich. »Und der Tote ist ihr …«

»Ehemann, ja. Zumindest vermute ich das. Sie sagte ›Walter‹, als sie ihn ansah. Ich konnte sie noch nicht befragen. Ich musste mich darum kümmern, den Tatort …«

»Oh, verflucht. So eine Scheiße!«

Bumm, krach, schleif!

Wem immer die Werkstatt gehörte, in die Reuter anschließend seinen Wagen bringen müsste, der würde sich mit einem breiten Grinsen im Gesicht die Hände reiben. Falls ihm Reuter überhaupt noch etwas von dem Audi übrig ließ, das sich zu reparieren lohnte.

»Wer ist denn dieser Walter Fassmann?«, fragte Sauer.

»Wer Walter … oh, Mann, Sauer, lesen Sie denn keine Zeitung?«

»Äh, naja …«, gab Sauer zu.

»Walter Fassmann«, klärte Reuter ihn auf, »ist … das heißt, er war der als sicher gehandelte Nachfolger von Niklas Hermann.«

»Niklas Hermann, dem Bürgermeister?« Etwas wusste Sauer immerhin.

»Bingo! Der Oberbürgermeister, ja.«

»Mist.«

»Meine Worte, Sauer. Ich …« Ein weiterer Knall, diesmal ohne Schimpftirade. »Ich bin gleich da. Sperren Sie den Tatort ab, und sorgen Sie dafür, dass keiner das Gelände verlässt.«

»Habe ich schon …« murmelte Sauer zerknirscht, aber da hatte Reuter schon aufgelegt. Ungefähr da begann Sauer sich ernsthaft zu fragen, was das Schicksal bloß gegen ihn hatte. Oder das Universum, wie Oxana es gelegentlich auszudrücken pflegte. Warum hätte er sich nicht heute Morgen beim Aufstehen einfach ein Bein brechen können, wie normale Leute? So etwas passierte doch ständig, überall auf der Welt — warum also nicht auch einmal in seinem Schlafzimmer? Oder eine Erkältung, die ihn für die verbleibenden drei Wochen seiner Dienstzeit ans Bett fesseln würde, oder sogar eine richtig ausgewachsene Angina? Zur Not auch eine Magen-Darm-Grippe. Dann könnte er sich jetzt von Oxana mit bitterem Tee und Zwieback verwöhnen lassen, während er auf der Couch lag und in einem ihrer sterbenslangweiligen Liebesromane schmökerte, bis ihm die Augen zufielen.

Stattdessen: das hier.

8

»Sauer«, sagte Reuter.

»Chef«, antwortete Sauer.

Sie gaben sich die Hand. Reuter, fand der Kommissar, sah in etwa so begeistert aus, wie er selbst sich fühlte. Nur vielleicht noch ein wenig ausgelaugter. Der Polizeipräsident musste ihn von einem verdammt angenehmen Zeitvertreib abgehalten haben. Vielleicht waren die Kinder der Reuters ja übers Wochenende bei den Großeltern untergebracht und er hatte ihn aus einem heißen Liebesmarathon mit der hochanständigen Frau Gemahlin gerissen oder sowas.

Hoffentlich.

»Gut reagiert, Sauer!«, lobte Reuter ihn mit erhobener Stimme, nachdem sie sich begrüßt hatten. Damit es auch jeder der Anwesenden mitbekam. Die im Gegensatz zu Sauer vermutlich alle wussten, wer Walter Fassmann gewesen war, und das sicher nicht bloß aus der Tagespresse.

In diesem Moment kündigten blau zuckende Lichter draußen vor den großen Fenstern die Verstärkung an. Endlich. Offenbar hatte Reuter die Jungs ebenfalls schon während seiner halsbrecherischen Fahrt durch den Eichwald instruiert, denn sie schritten sofort zur Tat. Die provisorische Mullbindenabsperrung wurde durch eine richtige ersetzt, und die Kriminaltechnik machte sich ans Werk. Zwei Bereitschaftspolizisten gingen hinüber in die Küche und begannen damit, die Daten der Anwesenden zu erfassen. Allmählich kehrte Routine ein, die Dinge liefen ihren gewohnten Gang. Das war in gewisser Weise beruhigend, aber gut war es trotzdem nicht. Das war es letztlich nie.

Reuter und Sauer nickten ein paar der Ankommenden zu. Als er sah, dass die Jungs die Situation unter Kontrolle hatten, zog Reuter den Kommissar in eine Ecke des inzwischen vollständig von Gästen geräumten Ausstellungsraums.

»Das ist ein Riesenschlamassel, in das Sie hier geraten sind«, sagte Reuter. Inzwischen schien er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle zu haben, zumindest was die Kraftausdrücke betraf, mit denen er vorhin noch so reichlich um sich geworfen hatte.

»Der Gedanke kam mir auch schon. Aber ich begreife immer noch nicht, wie Sie so schnell wissen konnten, dass …«

»Oh, ich wusste von überhaupt nichts. Ich habe mit meiner Frau und den Kindern Scrabble gespielt. Das ist so ein Spiel. Man muss versuchen, Buchstaben zu Wörtern zusammenzulegen.«

»Ich weiß, was das ist.«

»Gut. Und während ich an meinem freien Sonntag mit meiner Familie ein bisschen trautes Heim spiele, was glauben Sie, wer mich da anruft? Als ich die Kinder gerade ins Bett bringen will, hm?« Hass sprühte aus Reuters Augen. Aber Sauer begriff, dass der nicht ihm galt. Oder zumindest nicht ihm allein. Und dann begriff er noch etwas anderes. Das Blitzlicht, das von der rechten Seite gekommen war, just als Doktor Junghans sein botoxgestrafftes Gesicht andächtig gesenkt und den Tod seines Patienten verkündet hatte.

»Oh, Mist. Der Chef.«

»Ja, genau, eben der. Irgendeiner von diesen …« Reuter senkte die Stimme, »Vollidioten hier hat nichts Besseres zu tun gehabt, als Fassmann zu fotografieren, kaum dass dieser zu Boden gegangen war.«

»Und dann hat er das Bild an den Polizeipräsidenten geschickt.«

»Haargenau. Und zufällig ist dieser ein alter Parteikumpel von unserem Ex-Bürgermeisterkandidaten hier«, Reuter warf einen düsteren Blick hinüber zum abgesperrten Tatort. »Und jetzt raten Sie mal, wer der heldenhafte Polizist auf diesem wundervollen Schnappschuss ist.« Reuter kramte in seiner Tasche und holte ein modernes Smartphone hervor. »Nein, raten Sie nicht! Ich zeig’s Ihnen.«

Er tippte auf dem Ding herum und kurz darauf erschien auf dem handtellergroßen Display eine Aufnahme, die zeigte, wie Sauer sich mit ausgebreiteten Armen und beinahe komisch verzerrtem Gesicht in das Dekolleté der frischgebackenen Witwe Fassmann kuschelte, zu ihren Füßen eine übel zugerichtete Leiche und ein auffallend jugendlich aussehender Schönheitschirurg. Und ein Stück von Oxanas Arm war auch darauf. Jedes Detail war gnadenlos gut zu erkennen im Blitzlicht. Reuter schob das Ding zurück in die Tasche seines Designerjacketts. Während Sauer sich auf die nächste Zurechtweisung gefasst machte, sagte er leise: »Keine Ahnung, wie Sie das angestellt haben, aber Sie haben uns ganz schön den Arsch gerettet, Sauer. Ich schätze, dafür ist Ihnen die Abteilung was schuldig.«

»Ich habe was?«, fragte Sauer.

»Der Präsident hat Ihren … Ihren Einsatz auf dem Bild lobend hervorgehoben. Immer im Dienst, das waren seine Worte, und es klang durchaus anerkennend.«

»Was?«

»Ja, natürlich. Ich musste improvisieren, als mich Klaasen anrief und mir dieses Foto schickte. Also habe ich gesagt, dass Sie sofort Ihrer professionellen Aufgabe nachgekommen sind, den Tatort abzusperren, nachdem der Tod festgestellt wurde. Das haben Sie doch?«

»Naja … schon.«

»Gut. Dann war Klaasen ja zu Recht von Ihnen begeistert. Und jetzt erzählen Sie mir mal in Kurzform, was Sie bis jetzt herausgefunden haben.«

»Herausgefunden? Ich habe überhaupt nichts herausgefunden. Ich hatte alle Hände voll damit zu tun, die Leute davon abzuhalten, den Tatort zu verwüsten. Und wäre Oxana nicht gewesen …«

»Ja, ja, schon gut. Dann erzählen Sie mir wenigstens, was hier eigentlich passiert ist. Der Chef wünscht Berichte.«

Also erzählte Sauer ihm, wie der inzwischen Verstorbene die Dankesrede seiner Frau mit seinem dramatischen Auftritt als Überraschungsgast gesprengt hatte.

»Er ist durch die Wand gelaufen?«, fragte Reuter.

»Naja, eigentlich ist es keine richtige Wand, nur eine Attrappe. Ein bisschen Gips und eine falsche Holzvertäfelung.«

»Hä?«, fragte Reuter.

»Das sind dünne Platten, die den Anschein erwecken sollen, aus Holz zu sein. In Wahrheit sind sie nur aufgeklebt anstatt …«

»Ja, ja. Was auch immer. Und dann?«

»Fiel der Mann in sich zusammen. Besser gesagt, er fiel vornüber wie ein gefällter Baum. Auf sein Gesicht.«

»Autsch.«

»Ja. Aber ich vermute, dass er da schon tot war. Die Anstrengung, vermutlich. Ich … ich habe sein Gesicht gesehen, als er …«

»Verstehe. Und dieser Raum hinter dieser falschen Gipswand, was ist das? So eine Art Geheimraum oder sowas?«

»Eher ein Abstellraum. Schien lange nicht benutzt worden zu sein, bis … naja. Alles voller Spinnweben und Staub da drinnen, wobei der Durchbruch natürlich auch jede Menge Staub aufgewirbelt hat.«

»Und wie kommt man in den Raum hinein? Ich meine, außer durch dieses Riesenloch da hinten in der Wand?«

»Auf der Rückseite ist die Küche. Dort gibt es etwas, das wie eine Schranktür aussieht. So gelangt man normalerweise in den Raum, es ist quasi eine Art begehbarer Schrank. Dort hängt allerdings ein Vorhängeschloss davor. Abgeschlossen, von außen.«

»Also könnte jemand sich durch die Küche verzogen haben, während unser Mann hier durch die Wand spazierte?«

»Unwahrscheinlich. Der Raum ist nicht sehr groß, und das Haus ist voller Gäste. Auf dem Weg nach draußen hätte er an denen vorbei gemusst. Küchenfenster und Gartentür waren auch abgeschlossen.«

»Na gut, ich …«

Eine kindische Melodie ertönte aus Reuters Jacketttasche und er zog das Telefon erneut hervor.

»Oh, verdammt …«, murmelte er, halb zu sich selbst.

Pippi Langstrumpf, dachte Sauer. Lässt der Kerl seine Kinder etwa auch mit seinem Diensthandy herumspielen? Gute Idee, wenn er darauf Leichenbildchen mit dem Polizeipräsidenten tauscht.

Reuter drückte den grün leuchtenden Hörer auf der Oberfläche des Gerätes und hielt es sich ans Ohr. Er bedeutete Sauer zu warten, dann drehte er sich um und ging nach draußen. Sauer hörte ihn noch sagen: »Jawohl, Herr Polizeipräsident, ich bin ganz Ohr.«

Sauer begriff durchaus, warum Reuter so übermüdet aussah. Er kannte diesen Gesichtsausdruck, hatte ihn oft genug im Spiegel gesehen. Eines Tages, während seiner ersten Jahre im Kommissariat 11, hatte ihn sein damaliger Chef Edgar Winterfeld in sein Büro kommen lassen, ihm einen Stuhl angeboten, die Tür geschlossen und sich ihm gegenüber auf seinen Sessel sinken lassen. Dann hatte er in einer der unteren Schubladen seines mit Ordnern und Papieren übersäten Schreibtischs herumgekramt und schließlich eine Flasche und zwei Gläser hervorgeholt. Zu Sauers Verblüffung hatte er beide etwa zwei Fingerbreit mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt und Sauer dann ein Glas rübergeschoben.

»Trinken Sie«, hatte er Sauer aufgefordert und dann selbst sein Glas heruntergekippt, ohne mit der Wimper zu zucken. Sauer hatte es ihm gleichgetan, aber das mit der Wimper hatte nicht so gut geklappt. Das Zeug war ziemlich stark gewesen.

»So«, in einem Ton, als hätten sie gerade einen wichtigen Fall gelöst. »Und jetzt reden wir über das hier. Und glauben Sie mir eins, es wird so oder so ein sehr kurzes Gespräch.« Dann hatte er Sauer den Schlafsack zugeschoben. Den Schlafsack, den Sauer in seinem eigenen Schreibtisch versteckt hatte — ungefähr dort, wo sein Chef die Wodkaflasche aufzubewahren pflegte.

»Haben Sie vor, als einsamer junger Mann zu sterben, Sauer?«

Sauer hatte den Kopf geschüttelt.

»Gut. Denn wenn Sie das vorhaben, dann machen Sie nur so weiter. Ich kann Ihnen sogar dabei helfen. Wenn Sie wollen, streiche ich Ihnen sogar noch den Urlaub. Dann müssen Sie nicht mehr so tun, als hätten Sie etwas vergessen, wenn Sie sich während Ihrer paar freien Tage hier herumdrücken, anstatt sich die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen. Die Gewerkschaft dürfte nicht gerade begeistert sein, aber was die nicht weiß, macht sie nicht heiß, oder?«

Sauer hatte seinen Chef unverwandt angestarrt und versucht, die Tränen zu unterdrücken, die ihm das höllische Gebräu in die Augen getrieben hatte.

»Sie denken, es merkt keiner, dass Sie praktisch ständig hier auf dem Revier herumhängen, wie?«, fuhr Winterfeld fort, »dass Sie sich ausstempeln und dann wieder reinschleichen? Tut es aber. Ich merke es und die Kollegen tun es auch. Aber das ist nicht wichtig. Viel wichtiger ist, dass es Ihre hübsche Frau merkt. Sie heißt Oxana, richtig? Sie sind doch noch verheiratet?«

Sauer hatte stumm genickt. Noch.

»Sie Glückspilz.«

Sauer starrte Winterfeld an. Jede Spur von Humor war aus dem Gesicht seines Chefs verschwunden.

»Hören Sie jetzt genau zu, Sauer. Nehmen Sie das Ding mit und benutzen Sie es dort, wo es hingehört. In einem Zelt, auf einem Campingplatz. Sie haben ab sofort vierzehn Tage Urlaub, und wenn ich während dieser vierzehn Tage auch nur Ihren Schatten in diesem Gebäude sehe, lasse ich Sie auf der Stelle in den Innendienst versetzen. Dann können Sie im Archiv Akten stempeln. Klar soweit?«

Sauer hatte verstanden und den Schlafsack künftig zu Hause gelassen. Statt des Campingplatzes war er mit Oxana allerdings nach Bulgarien geflogen, mit dem nächsten Flieger, den sie bekommen konnten. Es waren die besten zwei Wochen seit sehr langer Zeit gewesen.

Seit der Sache mit Elena.

9

»Hey, Sauer, sind Sie noch anwesend?« Reuter war zurück. Die telefonische Audienz beim Polizeipräsidenten war offenbar beendet. Sauer wandte sich von der Scheibe um, durch die er in die Nacht hinausgestarrt hatte.

»Sagen Sie, gibt’s da drinnen Kaffee?« Reuter deutete vage in Richtung Küche.

»Schön wär’s«, sagte Sauer, »aber sie haben Sekt und diese winzigen Schnittchen. Horsd’oeuvres. Das Buffet ist da drüben.«

»Nein danke, gegessen hab’ ich schon. Na dann, auf ins Getümmel. Bleiben Sie in meiner Nähe und halten Sie vorerst die Klappe.«

»Jede Menge Handykameras?«, vermutete Sauer.

»Genau. Lassen Sie am besten mich mit diesen Leuten reden. Sie kriegen die Zügel noch früh genug.«

»Die Zügel?«

»Ja, die Zügel«, sagte Reuter und blieb abrupt stehen, um Sauer anzusehen. »Herzlichen Glückwunsch, Sauer! Sobald ich mit meiner kleinen Ansprache fertig bin, gehört die Party ganz Ihnen. Ich ernenne Sie hiermit zum Leiter der Ermittlungen im Mordfall Walter Fassmann.«

»Das … aber. Ich … in drei Wochen …«, stotterte Sauer.

Das musste ein Scherz sein, und ein verdammt schlechter dazu.

»Ja, wundervoll, nicht? Aber glauben Sie mir eines: Das war nicht meine Idee. Klaasen persönlich will Sie als Leiter der Ermittlungen sehen. Aber betrachten Sie es von der positiven Seite! Jeder hier ist interessiert daran, diesen Fall so schnell wie möglich abzuschließen. Sie, ich und der Polizeipräsident. Naja, wohl nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge.«

»In drei Wochen.«

»Drei Wochen sind mehr als genug, würde ich sagen. Ich habe mir die Leiche angesehen. Fassmann ist gefoltert worden. Übrigens noch so ein Punkt, von dem die Presse nichts erfährt, verstehen wir uns?«

»Natürlich. Ich meine ja nur …«

»… dass Sie uns in drei Wochen verlassen werden. Ich habe es ja begriffen, Sauer! Dann verlassen Sie uns jetzt eben mit einem gelösten Mordfall. Brauchen Sie das schriftlich?«

»Nein.«

»Na schön. Dann versuche ich jetzt zu verhindern, dass morgen in allen Zeitungen eine Bombe platzt und Sie …« Reuter schaute sich suchend um. »Wo ist denn Frau Fassmann?«

Sauer folgte seinem Blick. »Keine Ahnung, vielleicht ist sie draußen.«

»Suchen Sie nach ihr. Wenn Sie Frau Fassmann gefunden haben, bringen Sie sie in die Küche. Ich komme nach. Und schaffen Sie die Leute da weg.«

»Und die Tochter?«

»Louisa hat das hier mitbekommen?«, fragte Reuter erschrocken. Offenbar war die Verbindung zwischen Reuter und den Fassmanns von direkterer Art, als Sauer bisher angenommen hatte, auch ohne die Einmischung des Polizeipräsidenten. Verständlich. In Reuters Position waren Kontakte zum künftigen Oberbürgermeister sicher nicht ganz unwichtig. Aber das hatte sich ja nun fürs Erste erledigt. »Bringen Sie Louisa gleich mit. Es dauert nicht lang, und dann können die beiden nach Hause.«

»Sie wollen sie zusammen verhören?« Damit sie ihre Alibis aufeinander abstimmen können? Warum laden wir nicht gleich alle anderen Zeugen hinzu, solange wir nicht wissen, wo bei diesem Fall hinten und vorn ist?

»Ach kommen Sie, Sauer. Ich kenne die Fassmanns seit Jahren. Okay?«

Kopfschüttelnd drehte sich Reuter um und Sauer ging, um die verbliebenen Fassmanns zu suchen. Als er das Waldhaus verließ, hörte er, wie Kriminaloberrat Reuter die versammelte Menge ansprach, indem er sich als Chef der Kripo-Inspektion zu erkennen gab. Für die paar, die ihn noch nicht kannten. Das Gemurmel verstummte augenblicklich.

Gut gemacht, Reuter. Geboren für die Bühne.

Sauer entdeckte Irene Fassmann unter dem Vordach der Veranda, etwas abseits der geparkten Streifenwagen und Reuters A6, der gleich drei Parkplätze verstellte und weit weniger mitgenommen aussah als Sauer insgeheim gehofft hatte. Irene hatte die Arme um ihren Körper geschlungen und rauchte eine Zigarette, ohne dass sie jemand zu beachten schien. Falls Sauer noch Zweifel an der Beziehung zwischen ihr und den Menschen da drin gehegt hatte, dann wischte dieses Bild sie endgültig beiseite. Liebe Freunde meines Mannes.

Auf dem Weg zu ihr schnappte er sich eine Decke aus dem offenstehenden Krankenwagen. Zuerst nahm sie weder ihn noch die hingestreckte Decke wahr, starrte einfach blicklos in die Nacht. Eine schöne, einsame Frau und blond noch dazu. Wie aus einem Bogart-Film. Die Kamera hätte sie geliebt, wie man so sagte. Erst als er sich räusperte, drehte sie langsam den Kopf und sah ihn aus Augen an, die gerade eben erst in diese Welt zurückzufinden schienen. Sie weinte und ließ die Tränen ungeniert über ihre Wangen laufen. Als sie Sauer erblickte, lächelte sie verhalten. Einsam vielleicht, aber stark. Nach einer Weile schlich sich so etwas wie Erkennen in ihren Blick, mit einem dankbaren Lächeln nahm sie die Wolldecke entgegen und schlang sie um ihre Schultern.

»Danke«, sagte sie.

»Keine Ursache, Frau Fassmann. Und, äh … mein Beileid zu Ihrem … hm … zu Ihrem Verlust.«

Sie nickte, sah wieder hinaus auf den Waldweg. Dorthin, wo er sich nach ein paar Metern in der Finsternis verlor. Dann nahm sie einen tiefen Zug von ihrer Zigarette.

»Es ist irgendwie noch so unwirklich«, begann sie dann, »wie eine Geschichte — etwas, das einer Fremden passiert ist. Oder etwas aus einem Buch. Eins, das einen mitnimmt. Es geht einem nahe, aber … aber vermutlich wird das Begreifen erst noch kommen.«

»Vermutlich«, stimmte Sauer zu.

Und dann wird es kein bisschen besser werden, fügte er in Gedanken hinzu. Das weiß ich zufällig aus eigener Erfahrung.

»Er ist tot. Walter, mein Mann. Tot.« Sie ließ die Zigarette fallen, trat sie aus und zog die Decke noch enger um ihre Schultern.

»Ja, Frau Fassmann.«

Sie nickte nochmals, dann drehte sie sich zu Sauer um, schob eine blasse Hand unter der Decke hervor und hielt sie ihm hin. Und trotz der Tatsache, dass sie Sauer um eine Kopflänge überragte, kam sie ihm jetzt so zerbrechlich wie ein kleines Mädchen vor.

»Irene, bitte.«

»Karl«, erwiderte Sauer.

»Karl und Oxana«, sagte Irene Fassmann. »Das ist schön. Ich mag Ihre Frau, Karl. Sie hat mir sehr geholfen, als ich … Nun, sie hat mir dabei geholfen, mich selbst zu finden, glaube ich. Und die Kunst. Wäre sie nicht gewesen … ich …«

Plötzlich brach Irene Sauer ab und begann zu schluchzen. »Oh Gott … Mein Mann ist … ist tot … und ich rede hier über … diese beschissenen Bilder, oh mein Gott …«, der Rest ging in undeutlichen Lauten unter, während sie ihr Gesicht in den Stoff von Sauers Jackett wühlte. Zögernd legte Sauer einen Arm auf ihren Rücken. Ihr Haar kitzelte seine Wange, während sich ihr Körper an ihn drängte. Dann hob sie den Kopf und sah ihn einen Moment aus verwunderten Augen an.

»Entschuldigung«, sagte sie leise.

»Schon gut«, erwiderte Sauer, »nichts passiert. Geht’s wieder einigermaßen?«

Irene Fassmann nickte tapfer und wischte sich die Tränen mit ihrem Handrücken vom Gesicht. Erstaunlicherweise schaffte sie es, auch das mit einer gewissen Würde zu tun.

»Irene, ich muss Sie bitten, mit nach drinnen zu kommen. Mein Chef hat ein paar Fragen an Sie. Kriminaloberrat Reuter.«

Sie nickte, dann setzte sie sich in Bewegung.

»Irene?«, sagte Sauer.

»Ja?«

»Ich mag Ihre Bilder, wirklich.«

10

»Frau Fassmann. Mein herzliches Beileid«, sagte Reuter so geheuchelt wie unverbindlich und streckte ihr die Hand entgegen. Irene Fassmann ignorierte sie. Stattdessen blickte sie Reuter eine Weile nachdenklich an.

»Hallo, Georg.«

Der Kriminaloberrat wurde ein bisschen rot unterhalb seiner randlosen Brille. Autsch, dachte Sauer. Reuter deutete in Richtung des Küchentischs, und dann wurde ihm wohl selbst bewusst, wie dämlich das in der Küche der Gastgeberin aussehen musste. Also sagte er: »Gut. Irene. Entschuldige … ich … wollen wir uns nicht setzen?«

Wenn das seine Art ist, Verhöre zu führen, dachte Sauer, verstehe ich, wieso er das immer andere machen lässt.

»Gleich«, sagte Irene, »aber vielleicht solltest du mir vorher sagen, ob ich mich als Verdächtige in meiner Küche hinsetzen darf, meinst du nicht auch, Herr Reuter?« Sauer unterdrückte ein Grinsen.

Reuter wurde knallrot. »Äh … Nein, du bist natürlich nicht verdächtig. Und … Es tut mir wirklich leid. In solchen Fällen bin ich nur angehalten, …«

»… den professionellen Abstand zu wahren«, half Irene aus.

Reuter nickte fleißig.

»Verstehe!« Irene warf einen raschen Blick zu Sauer. Der kramte eine Packung Tempos aus der Innentasche seines Sakkos und reichte sie Irene.

»Danke, Karl. Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte Irene, »Sie sehen müde aus.« Und dann lächelte sie wieder dieses verschwörerische Mädchenlächeln durch ihre Tränen.

»Ja, bitte, Irene«, meldete sich Reuter hinter ihrem Rücken zu Wort.

»Gern«, sagte auch Sauer und sie nickte und drehte sich dann zur Anrichte um. Als Irene versuchte, das Kaffeepulver in die Maschine zu füllen, zitterten ihre Hände so stark, dass sie abrutschte und den größten Teil des Pulvers auf der Maschine und der Anrichte verteilte. »Fuck!«, zischte sie. Vermutlich hatte sie denselben Sprachtherapeuten wie Reuter.

»Ich mach’ schon«, sagte Sauer und nahm Irene den Löffel aus der Hand.

»Danke. Sie müssen hier …«

»Ich bekomme das hin«, sagte Sauer zuversichtlich.

Reuter räusperte sich. »Irene. Also ich muss dich jetzt ein paar Sachen zu Walter fragen. Jetzt, wo der Eindruck noch frisch ist.« Reuter lächelte verlegen. Die Maschine zischte und blubberte. »Meinst du, du schaffst das?«

Irene nickte.

»Gut«, sagte Reuter, »also, wo hätte er denn heute planmäßig sein sollen? Also, Walter … war er unterwegs, also, ich meine …«

»Ich weiß schon, was du meinst. Warum er nicht zur Ausstellung gekommen ist.«

»Ja.«

»Er sagte, er hätte Termine, das ganze Wochenende. In Frankfurt, glaube ich.«

»So. Frankfurt.« Reuter lächelte dämlich und notierte es. Sah zu Sauer auf und wiederholte: »Frankfurt.«

Ja, dachte Sauer, ich glaube, das kann ich mir gerade noch merken.

»Weißt du, was er dort vorhatte? Welche Art von Terminen er in Frankfurt wahrgenommen hat? Also, falls er überhaupt nach Frankfurt gefahren ist, heißt das. Bevor er … oh je.«

Klare kurze Fragen, dachte Sauer kopfschüttelnd. Wie aus dem Handbuch für Verhörtechnik.

Der Kaffee begann durchzulaufen.

»Nein, Georg, ich weiß nicht, was er in Frankfurt wollte. Wir haben nicht oft über … über Geschäftliches gesprochen. Aber seine Sekretärin müsste es wissen. In der Kanzlei. Gabriele Blume.«

Reuter deutete mit seinem Kuli auf Sauer und sagte mit ernster Miene: »Frankfurt. Sekretärin. Kanzlei. Gabriele Blume.«

Wenn er jetzt noch sagt, dass er Berichte wünscht, stehe ich einfach auf und gehe, dachte Sauer, und den Kaffee nehme ich mit.

»Und er wollte das ganze Wochenende in Frankfurt sein?«, setzte Reuter seine Befragung fort.

»Ja, er ist am Samstagmorgen losgefahren, in aller Herrgottsfrühe, ich habe noch geschlafen.« Im selben Bett?, fragte sich Sauer unwillkürlich.

»Hm«, machte Reuter und fragte sich offensichtlich überhaupt nichts. Irene kam ihm zuvor. Sie sagte:

»Das ist ein bisschen seltsam. Normalerweise steht er nie vor acht auf, schon gar nicht am Wochenende. ›Ich bin schließlich kein Beamter‹, sagt er immer. Hat er immer gesagt.«

»Aha.« Reuter notierte es.

Der Kaffee war fertig. Sauer nahm die Kanne von der Kochplatte und füllte drei Tassen mit der aromatisch duftenden Flüssigkeit. Als er die Tasse vor Reuter hinstellte, bedachte der ihn mit einem flüchtigen Nicken.

Was denn, dachte Sauer, kein Trinkgeld?

Dann setzte er sich mit seiner eigenen Tasse gegenüber Reuter an die Stirnseite des Tisches. Irene rührte ihre Tasse nicht einmal an.

»Und wann wollte er zurück sein?«, fragte Reuter.

»Sonntag … also heute Nacht. Kann spät werden, hat er gesagt …«. Neue Tränen. Schluchzen. Ein neues Taschentuch. »Ich bin davon ausgegangen, dass er schon daheim ist, wenn wir hier mit dem Aufräumen fertig sind und …«

»Gut«, wechselte Reuter das Thema, »kannst du mir sagen, was du heute gemacht hast, bis zur Ausstellung?«

Irene nickte. »Den Vormittag habe ich komplett damit verbracht, die Gemälde vorzubereiten. Abstauben, die Rahmen nachspannen, solche Sachen. Dann habe ich für Louisa und mich etwas zu essen gekocht, und dann weitergemacht. Es gab schließlich ziemlich viel zu tun. Gegen fünf Uhr bin ich hergefahren und habe begonnen, die Gemälde aufzuhängen.«

»Allein?«

Irene nickte. »Gegen Viertel vor sieben kam das Catering hier an und gleich darauf Louisa. Sie und Thomas haben mir geholfen, alles vorzubereiten.«

»War Louisa davor die ganze Zeit daheim?«

»Nein, sie ist nach dem Mittagessen ins Einkaufszentrum gefahren, ich glaube, sie wollte sich mit einer Freundin zum Shoppen treffen oder so. Ismail war bei ihr.«

»Ismail?«, warf Sauer ein und fing sich einen bösen Blick von Reuter dafür ein.

»Das ist unser … Chauffeur. Louisa ist erst siebzehn«, sagte Irene mit einem beinahe entschuldigenden Lächeln. Auch dieses Lächeln und das vorangegangene Zögern registrierte Sauer und notierte es im Geiste. Ganz ohne Kuli und ledernes Notizbuch. Reuter notierte sich nichts.

»Dann hat Ismail sie hier vorbeigebracht?«

»Nein, das hat Thomas übernommen.«

»Thomas. Ist das Louisas Freund?«

»Was? Oh nein, nein. Er arbeitet in Walters Kanzlei, ist so etwas wie sein Assistent. Ein netter Junge, und er hat sich sofort bereit erklärt, mir zu helfen.«

Sauer erinnerte sich an den Jungen, der neben Louisa in der Tür gestanden hatte.

Klar, dachte er, hat er sich sofort bereit erklärt. Auch wenn es ihm dabei vermutlich viel eher um ein paar Stunden in der Nähe von Louisa Fassmann als um die Gemälde ihrer Mutter gegangen war. Und das war durchaus verständlich. Unverständlich — oder doch zumindest ungewöhnlich — war dagegen, wieso ein Mädchen wie Louisa nicht mit einer ganzen Traube von Verehrern zur Ausstellung ihrer Mutter erschienen war. Sauer machte sich in Gedanken eine weitere Notiz.

»Die ersten Gäste kamen gegen acht, und … ach ja, Hansi. Der kam so gegen Viertel vor, würde ich sagen.«

»Hansi?«, fragte Reuter.

»Hansi Meier, mein … naja, er hatte die Idee zu meiner Ausstellung. Er ist Galerist und selbst Künstler. Er hat mir geholfen, das alles zu organisieren. Die Leute einzuladen und so weiter.«

Das duftende Wiesel, dachte Sauer, mit der Ananasfrisur.

»Wann trafen Sie hier ein, mit Ihrer Frau, meine ich?«, fragte Reuter. Sauer starrte ihn einen Augenblick lang verständnislos an, bis er begriff, dass die Frage ihm gegolten hatte.

»Das wird wohl gegen neun gewesen sein«, antwortete er zögernd.

Und wage es nicht, dir das in dein blödes kleines Notizbuch einzutragen!

»Gibt es eine Gästeliste?«, fragte Reuter, diesmal wieder Irene.

»Ja«, sagte Irene, »die habe ich zu Hause. Ich kann sie raussuchen. Es müssen etwas über achtzig Personen hier gewesen sein.« Sauer pfiff leise durch die Zähne. Und rate mal, mein lieber Reuter, dachte er nicht ohne Befriedigung, wer nicht auf dieser Gästeliste stand.

»Bitte mach das, Irene. Und den Namen der Cateringfirma brauche ich auch.«

Genial, dachte Sauer, Walter Fassmann ist also an vergifteten Horsd’oeuvres gestorben. Darauf wäre ich im Leben nicht gekommen! Und der Drahtzieher des Ganzen ist vermutlich der Chefkoch.

»Gut. Dann muss ich jetzt bitte mit Louisa sprechen«, sagte Reuter, »und mit diesem Thomas.«

»Aber das geht nicht«, sagt Irene.

11

»Was?« Reuter warf Sauer einen Blick zu, der gleichermaßen schockiert und erzürnt aussah, und der wohl eigentlich Irene gelten sollte. Wenn Reuter sich das nur getraut hätte. »Wieso geht das nicht?«

»Ich habe Louisa nach Hause geschickt. Und Thomas hat sie gefahren.«

»Was? Aber …«

»Mein Gott, Georg, ihr Vater liegt dort drüben tot im Wohnzimmer und …«, der Rest ging in neuerlichem Schluchzen unter. Die Taschentücher waren beinahe aufgebraucht.

»Und Sie«, wandte sich Reuter voller Entrüstung an Sauer, »haben nichts unternommen, um sie aufzuhalten?«

»Oh doch, natürlich. Das habe ich gemacht, während ich gleichzeitig den Tatort gesichert und Zeugen befragt habe. Und die Spurensicherung können Sie auch wieder nach Hause schicken, das habe ich nämlich auch schon alles im Alleingang übernommen«, sagte Sauer.

Geräuschvoll stellte er die Kaffeetasse ab. Dabei schwappte ein wenig auf den Tisch. Wirklich schade drum. Er griff nach einem der Tempos, die Irene auf den Tisch gelegt hatte, und beseitigte die kleine Schweinerei.

Reuters Blick ließ keinen Zweifel daran, was er von dieser Äußerung hielt. »Na gut. Was soll’s«, sagte der Kriminaloberrat dann in einem Ton, den er wohl für nonchalant hielt. Anschließend klappte er das Notizbuch zu. Und riss dann plötzlich die Augen auf.

»Oh mein Gott«, wisperte er, »Irene. Wir wissen ja gar nicht, ob sie vielleicht auch in Gefahr ist. Louisa, meine ich.«

»Was?«, flüsterte Irene und starrte Reuter fassungslos an.

»Ja, ich meine, vielleicht war es ein Anschlag, der euch allen gegolten hat. Sauer, schicken Sie auf der Stelle einen Streifenwagen zum Haus der Familie Fassmann! Na los!«

»Also ich glaube nicht, dass das nötig ist. Ismail ist ja da und passt auf sie auf, und außerdem …«, wandte Irene ein.

»Ismail, der Chauffeur?«, fragte Sauer, während er aufstand.

»Naja, also er ist außerdem so etwas wie ein … also eine Art Leibwächter für Louisa. Walter hat ihn eingestellt. Er ist Albaner.«

»Ach.« Sauer verharrte in seiner Bewegung und ignorierte Reuters drängende Blicke. Albaner. Was immer das in Irene Fassmanns Augen erklärte. »Hat Ihr Ehemann denn befürchtet, dass Louisa in Gefahr sein könnte?«

»Naja, nein … er, also Ismail, ist eher so eine Art Mädchen für alles, er fährt Louisa zum Shoppen und naja, er behält sie auch ein bisschen im Auge.«

»Er behält sie im Auge?«

»Ja. Walter wollte nicht, dass sie … na, Sie wissen schon …«

»Auf die schiefe Bahn gerät? Sich mit den falschen Freunden einlässt?«, kam Sauer zu Hilfe. Oder vielleicht: sich überhaupt mit jemandem einlässt?

»So etwas in der Art, ja. Er konnte da ziemlich strikt sein, was Louisa betraf. Sie ist ja erst siebzehn.«

Oha, dachte Sauer, interessant. Er würde unbedingt mit Louisa reden müssen, gleich morgen früh. Und mit diesem Albaner namens Ismail.

Irene holte ein Handy hervor, eine kleinere und etwas damenhaftere Version von Reuters Flachbildprunkstück. »Louisa hat mir vor ein paar Minuten geschrieben, dass Thomas sie daheim abgesetzt hat. Ismail ist bei ihr, und Anila, Ismails Frau. Die beiden haben ein kleines Häuschen bei uns auf dem Grundstück.«

»Gut«, sagte Reuter, »wir stellen trotzdem eine Streife ab. Nur zur Sicherheit«, und sandte ein aufmunterndes Lächeln in Irenes Richtung.

Prima, dachte Sauer, dann haben die Nachbarn ja ordentlich was zu reden in den nächsten Tagen. Aber einerseits würde sich Fassmanns Ableben auch ohne den Streifenwagen vor dem Grundstück rasch herumsprechen, vermutlich würde er es sogar auf die eine oder andere Titelseite schaffen. Andererseits sagte Sauers Instinkt ihm, dass es vielleicht wirklich eine gute Idee war. Zumindest solange sie nicht die leiseste Ahnung hatten, was im Waldhaus der Fassmanns eigentlich passiert war. Und warum.

Das Wiesel steckte den Kopf zur Küchentür hinein. »Können wir, Schätzchen?«, fragte er in den Raum, womit er vermutlich Irene meinte. Die sah Reuter fragend an. Der sah Sauer fragend an.

Sauer stand auf, warf einen Blick in den Wintergarten. Dort standen die beiden Polizisten herum, welche die Personalien der Gäste aufgenommen hatten. Sie waren allein, unterhielten sich leise. Einer rauchte eine dieser seltsamen Elektrozigaretten. Sie waren also durch mit den Zeugen. Sauer nickte Irene zu. Dann ging er um den Tisch und zog ihren Stuhl zurück, während sie aufstand.

»Wir sehen uns dann morgen«, sagte Sauer. Ihr eine gute Nacht zu wünschen, verkniff er sich. Sie würde keine haben. Irene Fassmann ergriff den Arm des Wiesels und ließ sich von ihm hinausführen.

»Na gut«, sagte Reuter, als sie verschwunden war und stand auf. Im Stehen nahm er einen weiteren Schluck vom Kaffee und verzog angewidert das Gesicht. »Scheußlich, oder?«, fragte er Sauer, dann kippte er den Rest des Getränks in den Ausguss.

»Na gut, ich muss fort. Politik machen«, Reuter verdrehte mit einem schiefen Grinsen die Augen, »wünschen Sie mir Glück, Sauer! Ab jetzt ist es Ihr Fall.«

Dann war er zur Tür hinaus. Um seinen Audi noch ein bisschen zu quälen, vermutlich. Draußen drehte er sich noch einmal zu Sauer um: »Und nicht vergessen, Polizeipräsident Klaasen wünscht eine rasche Aufklärung des Falls. Unter größtmöglichem Schutz der Privatsphäre der Betroffenen. Das heißt, kein einziges Wort an die Presse. Und keine Spielchen mit den Fassmanns!« Er drohte Sauer mit dem Zeigefinger, bevor er in langen Schritten die Eingangshalle durchquerte.

Sauer nippte an seinem Kaffee. Der war bedauerlicherweise nur noch lauwarm. Ein Raum voller Lokalpromis, deren erste Reaktion auf einen zusammenbrechenden Schwerverletzten das Zücken ihrer Kamerahandys gewesen war. Vermutlich machte das Bild inzwischen schon im Internet die Runde. Und Reuter wollte, dass er die Presse aus dem Fall raushielt. Wundervoll.

»Wünsch dir mal lieber selber Glück«, murmelte Sauer in seine Kaffeetasse und schlurfte dann hinüber in den Ausstellungsraum.

12

Der Ausstellungsraum, oder das große Wohnzimmer, war inzwischen vollends zu einem Tatort geworden. Techniker und Leute von der Kriminaltechnik wuselten geschäftig in ihren weißen Schutzanzügen umher.

»Kriege ich auch einen Kaffee?«

Langsam drehte Sauer sich zu seiner Frau um, die offenbar bis gerade eben in ein angeregtes Gespräch mit den zwei Bereitschaftspolizisten vertieft gewesen war. Beide grinsten verstohlen zu Sauer hinüber, und einer hob seine Elektrozigarette, als wolle er Sauer damit zuprosten.

»Können wir dann auch endlich gehen, Karl?«, fragte Oxana, »es ist ziemlich spät.«

»Naja …«, begann Sauer, und das Grinsen des Elektrozigarettenrauchers wurde noch etwas breiter. Spät. Das war es in der Tat.

»Oh nein. Sag mir nicht …«

»Ich fürchte doch.«

»Das hat Reuter nicht gewagt!«, sagte Oxana leise.

»Doch, hat er. Oxana, Liebes, ich …«

»Aber er kann doch nicht …«

»Doch, Liebes, kann er.«

»Du bist in drei Wochen aus dem Dienst!«

»Das weiß er. Ist ihm egal. Oder vielmehr, es ist dem Präsidenten egal. Reuter hatte keine Wahl.« Sauer versuchte ein betrübtes Lächeln. Das kam nicht so gut an. Aber letztlich würde sich auch Oxana Reuters Willen beugen müssen, auch dieses eine letzte Mal. Das wusste sie, aber es gefiel ihr kein Stück.

»Drei Wochen«, sagte Oxana.

»Ja«, sagte Sauer, »drei Wochen. Dann ist Schluss. Überhaupt keine Frage.«

Oxana nickte. »Ich schick’ dir deinen Schlafsack ins Revier.« Dann drehte sie sich brüsk um und stapfte zum Ausgang, ohne sich von Sauer zu verabschieden. Aber Sauer hatte die Tränen gesehen, die sich in ihren Augen zu sammeln begannen. Als sie die Außentür erreicht hatte, schniefte sie vernehmlich und blieb stehen. Sauer folgte ihr.

»Ich liebe dich, Oxana«, sagte er leise, als er sie erreicht hatte. Der Techniker im weißen Ganzkörperanzug, der gerade vorbeiging, sah hastig woanders hin.

»Ich weiß. Und ich liebe dich auch, du dummer Junge«, sagte Oxana, und lächelte durch ihre Tränen. Sauer fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Irgendetwas in seiner Magengegend zog sich zu einem kleinen, festen Ball zusammen.

»Aber diesen Reuter«, sagte Oxana schließlich, so laut, dass es jeder der versammelten Polizisten mitbekommen musste, »den liebe ich nicht. Ganz und gar nicht.«

Jetzt grinsten alle. Sogar die schmalen Lippen von Dr. Weiß zogen sich ein wenig nach oben, was einem Lächeln so nahekam wie irgend möglich. Und der mit der Elektrozigarette sagte leise: »Hört, hört.«

Dann war Oxana durch die Tür. Die Härchen in Sauers Nacken legten sich langsam wieder, aber der Klumpen im Magen blieb noch eine Weile.

13

Dr. Weiß nickte ihm knapp zu. »Sauer. Sie sind also der Glückliche?«

Sauer nickte knapp zurück. »Dr. Weiß.« Der Chef der Spurensicherung erinnerte in seinem weißen Schutzanzug mehr denn je an einen Storch. Der Kerl war baumlang und dabei so dünn, dass man es eigentlich nur als dürr bezeichnen konnte. Die schmale, lange Nase trug ihr Übriges zu der Erscheinung bei. Jeder, der das ernste Gesicht mit den blassblauen Augen und den stets zusammengepressten Lippen zum ersten Mal sah, hielt Dr. Weiß für einen nahezu verbissen ernsthaften Menschen. Bis er ihn frühmorgens mit seinem ockerfarbenen Schwalbe-Roller und dem dazugehörigen Eierschalenhelm auf dem Kopf — beides stammte selbstverständlich aus DDR-Beständen — in die Einfahrt zum Revier einbiegen sah.

»Na dann«, sagte Weiß und schlug die Decke zurück. Was die Sache kein bisschen besser machte.

Dann hockten sie sich beide hin und betrachteten den Leichnam Walter Fassmanns.

Die Spurensicherung hatte einen Großteil des Gipsstaubs von der Leiche gepinselt, und Sauer sah erst jetzt das Ausmaß der Verletzungen an Fassmanns Körper. Seine Körper war von Einschnitten förmlich übersät, hauptsächlich am Kopf. Das Haupthaar, das vor Kurzem noch eine elegante Frisur gewesen war, hing strähnig vom Hinterkopf des Leichnams. Das Blut hatte es zu dicken Büscheln verfilzt, die in alle Richtungen abstanden.

»Einschnitte«, stellte Sauer fest.

»Ja, am ganzen Körper, auch an den Beinen und an den Genitalien. Hauptsächlich aber im Gesicht und an den Ohren. Einige haben schon wieder zu heilen begonnen, bevor er starb. Also muss er über einen gewissen Zeitraum … geschnitten worden sein.«

»Hm. War das die Todesursache?«

»Da fragen Sie mal besser jemanden, der sich damit auskennt.«

»Mach ich. Wo ist denn Dr. Löwitsch?«

»Unterwegs. Hat Bereitschaft.«

»Oh. Aber Ihre Meinung?«

»Meine laienhafte Einschätzung, meinen Sie?«

»Ja bitte.«

»Also, wenn ich mir das so ansehe, glaube ich nicht, dass diese Einschnitte ihn umgebracht haben. Zu wenig Blut. Selbst diese Sache an den Ohren nicht. Schmerzhaft, sicher. Aber kaum tödlich.«

»Hm«, machte Sauer, »und die Fesseln?«

»Ganz gewöhnliche Kabelbinder. Gibt’s in jedem Baumarkt. Wird zu Tausenden verkauft. Werden wir natürlich trotzdem prüfen. Auch die haben Einschnitte und Abschürfungen verursacht. Er muss sich wohl dagegen gewehrt haben, anfangs.«

»Anfangs?«, fragte Sauer.

»Ja, es hat sich jede Menge Grind gebildet. Die letzten paar Stunden hat er wohl nur noch herumgesessen, denke ich.«

Sauer nickte. »Und der Knebel?«

»Ein Taschentuch und ein alter Lappen«, sagte Weiß, »höchstwahrscheinlich aus dem Besitz des Opfers, hier aus dem Haus. An dem Lappen war Öl, wie man es zum Beispiel für das Schmieren von Gartengeräten verwendet. Davon gibt’s jede Menge im Haus. Sehen sie hier?« Weiß deutete auf eine Ecke des Taschentuchs, das jetzt säuberlich neben dem Kopf der Leiche lag. WF, stand dort in verschnörkelten Buchstaben. Eingestickte Initialen.

»Aber eines ist vielleicht interessant.« Dr. Weiß’ behandschuhte Rechte griff unter den Kopf der Leiche und hob ihn an. Das Blut aus der Nase war inzwischen auf dem Parkett zu einem gallertartigen kleinen See getrocknet. »Sehen Sie das hier? Die Nase ist gebrochen. Und zwar erst vor Kurzem, da hat er noch geblutet. Aber nicht sehr lange.«

»Das ist beim Aufprall passiert, er ist mit dem Gesicht aufgeschlagen. Ich war dabei. Ich habe die Nase knacken gehört.«

»Autsch. Sie waren hier, als es passiert ist?«

»Ja. Fragen Sie lieber nicht.«

Weiß fragte nicht. Sie standen auf und gingen hinüber in den kleinen Raum, der jetzt ein großes Loch hatte. Weiß hatte zwei LED-Strahler in den Ecken aufstellen lassen, die den kleinen Raum taghell ausleuchteten. Viel zu sehen gab es allerdings nicht.

Ein Tisch, eine Kiste in der Ecke und ein Kleiderständer, der nur noch zur Hälfte in dem Raum lag, das obere Ende ragte ein gutes Stück ins Wohnzimmer. Das musste wohl das erste Poltern und Schleifen gewesen sein, das Irene Fassmanns Rede so abrupt unterbrochen hatte. Fassmanns erster Versuch, Aufmerksamkeit zu erregen — oder er war einfach nur daran hängen geblieben, als er probiert hatte, aufzustehen, mitsamt dem Stuhl.

Auf dem Tisch lag eine rostige Heckenschere mit abgenutzten, grünen Gummigriffen; die halbmondförmigen Klingen waren blutbefleckt. So eine, mit der man üblicherweise Rosensträucher stutzte und widerspenstige Äste abknipste.

»Aus dem Geräteschuppen?«, fragte er Weiß.

»Nehmen wir an. Keine Fingerabdrücke, vermutlich abgewischt.«

»Hm. Und damit hat man ihm die Ohren zerschnitten?«

»Würde ich sagen, ja.«

Direkt über dem klapprigen Campingtisch hing eine staubverkrustete Glühbirne ohne Schirm, die das blutverschmierte Gartenwerkzeug beleuchtete wie ein Scheinwerfer den Solisten in einer Oper. Man konnte gar nicht anders, als darauf zu starren. Und genau damit hatte Fassmann vermutlich seine letzten Stunden auf Erden verbracht. Mit dem Draufstarren auf dieses Folterinstrument. In dem Wissen, dass er das Ding niemals würde erreichen können, um seine Fesseln durchzuschneiden, während der Tod unaufhaltsam näher rückte. Nette Idee.

»Das war ein Messertyp«, sagte Weiß. Seine lange, schnabelartige Nase ruckte einmal nach unten, dann nach oben. »So einer wie Jack the Ripper.«

»Bitte?«

»Ein Messertyp. Der Täter ist so einer, da bin ich sicher. Obwohl die Spuren am Körper, die nicht von der Heckenschere stammen, eher auf ein Skalpell hinweisen als auf ein gewöhnliches Messer. Kurze, ausgesprochen scharfe Klinge.«

»Hm«, machte Sauer, »Überlegenheit durch Nähe zum Opfer, Schmerz verursachen aus kurzer Distanz. Spaß am Quälen. So in etwa?«

»Genau. Wer mit einem Messer umgehen kann und so damit umgeht«, Weiß deutete auf die Leiche draußen, »schätzt dosierbare Schmerzen. So einer will nicht einfach nur töten, so einer will leiden lassen. Je länger die Schmerzen für sein Opfer dauern, desto besser.«

»Na großartig.« Sauer wandte sich ab und seinen Blick der Kiste in der Ecke zu. Weiß streckte ihm ein Paar Gummihandschuhe hin. Das, was die verkniffenen Lippen des Technikers jetzt andeuteten, sollte vermutlich ein Lächeln sein.

»Danke«, sagte Sauer, blies in den rechten Handschuh, um das zusammenklebende Ende zu öffnen, und zog ihn über. Dann wühlte er sich durch den Inhalt der Kiste. Sportsachen. Ein paar Holzkeulen, eins dieser Plastikspiele, bei dem man einen Ball an einer Schnur entlangbugsieren musste — den Zweck dieses Spiels hatte Sauer nie begriffen und diese Schnur war außerdem heillos verfitzt. Es gab ein Paar Federballschläger und drei Tischtenniskellen, aber keinen Ball. Die Gerätschaften waren allesamt von einer dicken Schicht Staub bedeckt.

Lange her, dass hier jemand gespielt hat, dachte Sauer.

Dann schob er die Kiste zur Seite. Noch mehr Wollmäuse, die ihm in dicken Knäueln entgegenwaberten.

Und etwas Helles, Eckiges, das bisher von der Kiste verborgen gewesen war.

»Hoppla!«, sagte Sauer.

»Ja. Wir haben es da liegen lassen, damit Sie sehen, wo es sich befand. Ich glaube, es stammt vom Täter. Muss wohl dahintergerutscht sein und er hat es nicht bemerkt. Keine Fingerabdrücke.«

»Natürlich nicht. Darf ich?«

Dr. Weiß nickte. Sauer griff mit seiner gummibehandschuhten Rechten nach dem eckigen Etwas. Es war eine Verpackung, eine Medikamentenverpackung, um genau zu sein. Und sie war leer.

Dormicum 15 Midazolam stand auf der Schachtel.

»Irgendeine Ahnung, was das ist? Wozu man es einnimmt?«, fragte Sauer.

»Klar«, sagte Dr. Weiß. »Midazolam. Das ist ein Benzodiazepin.«

»Äh, wie bitte?«

»Ein Sedativum.«

»Also etwas zur Beruhigung?«

»Naja, man bezeichnet sowas auch als Hypnotikum. Kommt aus der Anästhesie, man verwendet es, um Patienten ruhigzustellen. Ziemlich heftiges Zeug.«

»Echt? Woher wissen Sie denn das alles? Wollen Sie Dr. Löwitsch etwa Konkurrenz machen?«

»Nee. Internet. Hier.« Dr. Weiß reichte Sauer sein Telefon. Auf dem Bildschirm war ein Abbild einer ähnlichen Verpackung zu sehen, und daneben ein Text:

Midazolam ist ein Hypnotikum bzw. Sedativum aus der Gruppe der kurzwirksamen Benzodiazepine. Es wirkt zudem angstlösend, entkrampfend und schmerzstillend …

»Schmerzstillend?«, fragte Sauer. »Welchen Sinn ergibt das denn?«

Weiß zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war’s ja ein netter Sadist.«

Doch Sauer hatte sich inzwischen wieder in den Text vertieft.

»In Deutschland stellt Midazolam ein Betäubungsmittel im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes dar und ist generell verschreibungspflichtig.«

»Und wie«, sagte Weiß, »das Zeug ist praktisch eine Droge. Vielleicht war der Täter ja ein Junkie und high von dem Zeug, als er an diesem Fassmann herumgeschnippelt hat? Das wäre immerhin denkbar.«

»Hm.« Sauer ging zum Tisch. Die Tischplatte war sauber, kein Staub hier. Vermutlich hatte ihn der Täter irgendwann abgewischt. Und ihn benutzt, um irgendetwas darauf abzustellen. Links des Tisches, dort, wo der Stuhl gestanden hatte, war ein kleiner See aus getrocknetem Blut und in einem weiten Radius darum fanden sich unzählige rostrote Spritzer. Frische Kratzer, im Holzfußboden. Dort, wo Fassmann auf seinem Stuhl gekippelt hatte, bis dieser schließlich nach vorn umgefallen war und ihn mitsamt des Sitzmöbels und des Kleiderständers durch die Wand befördert hatte.

Sauer schnappte sich einen der beiden Flutstrahler und richtete ihn auf den staubigen Boden.

»Schuhabdrücke?«, fragte Sauer.

Dr. Weiß schüttelte den Kopf.

Sauer untersuchte den Kleiderständer. Helles, gedrechseltes Holz, klar lackiert und auffällig neu. Er zog eines der Tempos aus der Tasche, die Irene Fassmann übrig gelassen hatte und wischte damit über das obere Ende des Holzgebildes. Keine Spur von Schmutz auf dem Tempo. Der Kleiderständer war absolut staubfrei. Offenbar handelte es sich um dasselbe Modell, von dem ungefähr ein Dutzend in der kleinen Vorhalle herumstanden.

Aus irgendeinem Grund hatte der Täter sich also die Mühe gemacht und dieses Ding in den kleinen Raum geschleppt. Warum? Damit sein Mantel nicht schmutzig wurde, während er hier zugange war? Etwa, weil es ein teurer Mantel war? Womit sie wieder bei knapp einhundert Verdächtigen waren. Allesamt mit zweifellos sehr teuren Mänteln. Und allesamt mit einem ziemlich guten Alibi.

»Haben Sie das Ding untersucht?«, fragte Sauer.

»Natürlich. Keine Abdrücke. Nur ein Kleiderständer.«

»Haare? Kleidungsfasern? Irgendetwas?«

Weiß verneinte. »Wollen Sie eine Theorie hören?«

»Na klar«, sagte Sauer resigniert. »Nichts lieber als das.«

»Ich glaube, er hat ihn nicht zum reinen Vergnügen gefoltert.«

»Schwer zu glauben, wenn man sich den Körper ansieht. Und gerade haben Sie mir ja noch Ihre Theorie vom ›Messertyp‹ dargelegt.«

»Oh, ich sage nicht, dass es dem Kerl keinen Spaß gemacht hat.«

»Dem Kerl«, wandte Sauer ein, »oder der Frau. Und wenn es ihm — oder ihr — keinen Spaß gemacht hat, was war es dann? Empathischer Masochismus?«

»Witzig«, kommentierte Weiß. »Ich denke, der Täter — oder die Täterin, von mir aus — wollte etwas aus Fassmann herauskitzeln. Informationen zum Beispiel. Hat ihn gefoltert, bis er geredet hat.«

»Kann es sein, dass Sie in letzter Zeit ein bisschen zu oft James Bond geschaut haben, Dr. Weiß?«

Der schnaufte verächtlich. »Na, das wird Ihnen ja alles noch Dr. Löwitsch erklären, aber denken Sie an meine Worte! Für mich sieht das ganz klar nach erpresserischer Folter aus. Würde mich nicht wundern, wenn hier irgendeine Terrorsache dahintersteckt.« Inzwischen hatte sich so etwas wie ein triumphierendes Lächeln ins Gesicht des Chefs der Spurensicherung geschlichen, was bedeutete, dass sich seine Mundwinkel eine Winzigkeit nach oben kräuselten — aber das bemerkten vermutlich nur Leute, die Weiß seit vielen Jahren kannten.

»Dr. Weiß?«

»Ja?«

»Kein Wort zu irgendwem. Verstanden? Kein Wort! Wenn Reuter irgendwelche Terrortheorien in der Zeitung liest, sind wir beide unseren Job los.«

Weiß zuckte mit den Schultern. »Wie ich höre, sind Sie doch ohnehin schon so gut wie in Pension?« Es hatte sich also mittlerweile auch bis in die Kriminaltechnik herumgesprochen.

»Ihr Wort in Gottes Lauschlappen«, murmelte Sauer.

14

Polizeirevier Mitte, Kassel

»Der Chef will dich sehen, Süße.«

»Ich seh’ deine Mama hier nirgends, wen nennst du also Süße, Bikowski?«

»Haha.«

»Ja, genau. Haha.« Selina Gülek stemmte die Hände in die Hüften und grinste Valentin Bikowski herausfordernd an. Mit ihren eins dreiundsechzig war sie beinahe ein bisschen zu klein für den Polizeidienst, aber ihr Körper war auf eine Weise durchtrainiert, welche die fehlende Körpergröße mehr als wett machte. Kein Wunder, immerhin besuchte sie viermal pro Woche das Fitnessstudio, manchmal auch öfter. Und sie joggte, jeden Morgen. Gleich nachdem sie ein kleines Hantelprogramm absolviert hatte. Sport half ihr dabei, abzuschalten und nach getaner Arbeit ein bisschen zu sich selbst zu finden — und im Laufe der Zeit war es von der Gewohnheit zu einer kleinen Sucht geworden.

Bikowski stand auf.

Was für sich genommen ein kleines Schauspiel war. Zwei Meter fünf, acht Prozent Körperfett und dabei kein bisschen schlaksig. Selina beeindruckte Bikowskis Körpermaße allerdings überhaupt nicht. Er mochte ein verdammt großer Kerl sein, aber er war auch ein furchtbar lieber. Schwer vorstellbar, dass dieser Typ auf der Straße ganz anders sein konnte, wenn es die Situation erforderte. Aber er konnte. Wenn es not tat, konnte er regelrecht furchteinflößend sein.

»Ach, Lina«, sagte Bikowski und schenkte Selina etwas, das er wohl für ein charmantes Lächeln hielt. »Ich weiß doch, dass du verrückt nach mir bist, wie alle Mädels! Es ist nur so«. Er schlurfte zur Anrichte hinüber, um seine Kaffeetasse mit dem Gebräu aus der Maschine aufzufüllen – In seiner Hand wirkte sie kaum größer als ein Fingerhut. »Es ist nur so«, sagte Bikowski, als er sich breit grinsend wieder zu ihr umdrehte, »dass du das noch nicht weißt.« Dabei tippte er mit dem Zeigefinger seiner riesigen Pranke in Richtung Selina.

»Hmm«, machte Selina, »mit verrückt könntest du tatsächlich recht haben, Biko. Das muss wohl an deiner Gesellschaft liegen, die färbt ab. Aber soweit ich unterrichtet bin, ist deine Mama das einzige Mädchen, das wirklich verrückt nach dir ist.«

»Ha! Witzig, Lina. Kennst du noch andere Gags?«

»Wie jetzt, Gags? Meinst du, ich mache über euer krankes Sexleben Scherze?« Mittlerweile hörten alle Kollegen zu. Und amüsierten sich köstlich. »Und sag mal, Biko, warum machst du dir überhaupt die Mühe mit der Kaffeetasse? Trink doch gleich die ganze Kanne aus! Mann, hast du einen Verbrauch … «

Bikowski lachte. »Das öööölt meine Gehirnmaschine, Lina, verstehst du?«

»Du hast ein Gehirn? Bist du sicher?«

Der war neu und das fand Bikowski offenbar zum Schießen. Das Lachen klang wie ein kleines Gewitter, das am Boden eines enormen Wasserfasses tobt. Die restlichen Kollegen stimmten ein. Irgendwann, beschloss Selina, sollten sie wohl anfangen, Eintritt für ihre Zwei-Mann-Show zu verlangen.

»Wie auch immer, Kleine, du solltest jetzt lieber mal in den Bau des Löwen gehen. Und nimm dir ’ne Gasmaske mit. Er hat ein neues Hobby.«

»Mach ich, Bikowski. Und es heißt ›Die Höhle des Löwen‹. Füchse graben einen Bau und Kaninchen. Und deine Mama, vielleicht.«

»Oh, Selina mia, du bist zu schlau für mich.«, sagte Bikowski, und drehte seine Schaufelbaggerhände in einer verzweifelten Geste zur Decke.

Selina klopfte ihm im Vorbeigehen auf die Schulter, wobei ihre Hand auf dieser Schulter wie die eines Kleinkinds wirkte, und seufzte:

»Ich weiß, Biko, ich weiß. Das ist die tragische Geschichte unserer verbotenen Liebe.«

Dann drehte sie sich um und ging. Der grinsende Bikowski warf ihr einen Blick hinterher, weil sich das immer lohnte. Dann leerte er die Kaffeetasse auf einen Zug und vertiefte sich kopfschüttelnd wieder in die Akten auf seinem Schreibtisch.

15

Bikowski hatte recht gehabt, es stank bestialisch im Büro des Polizeirats, manchen auch bekannt als der ›Bau des Löwen‹.

»Oh, Frau Gülek, nehmen Sie doch bitte schon mal Platz. Ich bin gleich für Sie da«, sagte Wagner, als sie eintrat.

Er kritzelte noch ein paar Unterschriften auf ein paar Papiere, dann wandte der Chef den größten Teil seiner Aufmerksamkeit Selina zu. Der restliche Teil versuchte, die Zigarre wieder zu entzünden, die er aus dem schweren Aschenbecher aus Kristallglas geklaubt und sich in den Mund gesteckt hatte. Er ließ ein kleines Feuerzeug aufschnappen und versuchte, das Ungetüm in seinem Mundwinkel damit zum Glimmen zu bringen, dann paffte er ungeschickt daran herum. Dabei stieß er zwar ein paar kleine Flüche aus, aber im Großen und Ganzen schien ihm die Sache mit der Zigarre durchaus ein gewisses Vergnügen zu bereiten. Nachdem er eine Weile daran herumgesaugt hatte, bildete sich endlich ein bisschen Glut am vorderen Ende aus, und ein weiterer ekelerregender Rauchschwaden waberte über den Tisch in Selinas Richtung.

»Es stört Sie doch nicht, wenn ich …?«, fragte er plötzlich besorgt.

Selina schüttelte den Kopf. Nicht, wenn wir hier in den nächsten fünf Minuten fertig sind, und ich dann ganz schnell an die frische Luft komme. Sonst könnte es allerdings kritisch werden.

»Gut«, sagte Wagner, lehnte sich in seinem Sessel zurück, sog an der Zigarre und blies den Rauch dann gegen die Decke. Bei jedem anderen hätte es vermutlich genießerisch ausgesehen, bei Wagner wirkte es eher, als trainiere er für irgendeine Meisterschaft. »Heute Morgen rief mich der Chefarzt der Vitalis-Klinik in Helsa an. Es geht um Medikamente, die dort verschwunden sind.«

»Ein Diebstahl?«, sagte Selina und gab sich keine Mühe, die Enttäuschung in ihrer Stimme zu verbergen.

»Ja, ich weiß. Ist nicht ganz unsere Baustelle. Aber der gute Doktor ist ein Freund von mir und …« Vermutlich im selben Sportraucherclub, dachte Selina und verkniff sich ein Grinsen.

»Na ja, und ich habe sonst niemanden, der das übernehmen könnte. Fahren Sie mal hin, nehmen Sie den Diebstahl auf, und hören Sie sich an, was Dr. Stelzig zu sagen hat. Nehmen Sie Bikowski mit.«

»Also ich glaube, das schaffe ich gerade noch allein.« Gott, ein paar verschwundene Medikamente! Die vermutlich nur die Nachtschwester verlegt hatte oder sowas. Und ich habe weiß Gott genug Papierkram zu erledigen.

»Sicher.«, sagte Wagner und lehnte sich zurück, »aber nehmen Sie ihn trotzdem mit.«

Die Zigarre war wieder ausgegangen, wütend drückte Wagner sie in den Aschenbecher und begann dann, nach seinem Füllfederhalter zu suchen. Offenbar hielt er das Gespräch für beendet.

Selina stand auf, ging ein paar Schritte zur Tür und drehte sich dann nochmals um. »Linke Brusttasche«, sagte sie.

»Hä?« Wagner starrte sie mit einem Ausdruck größtmöglichen Unverständnisses an. Dann begriff er und zog den Füllfederhalter aus der Brusttasche seines Jacketts, wo er ihn am Anfang ihres Gesprächs hingesteckt hatte. »Oh. Danke.«

»Keine Ursache. Und man nimmt übrigens Streichhölzer.«

»Bitte?«

»Zigarren zündet man mit einem Streichholz an. Hat wohl was mit dem Aroma zu tun oder so.«

»Wirklich? Oh, danke!«, sagte Wagner und betrachtete skeptisch den zerknüllten Stummel in seinem Aschenbecher.

16

»Und ich dachte, du freust dich, Biko. Nur du und ich und die Kasseler Rushhour.«

Bikowski brummte etwas Unverständliches. Er fühlte sich offensichtlich unwohl in dem Wagen. Kein Wunder. Sardinen taten das in ihren Büchsen vermutlich auch. Nur konnten die sich ja nicht mehr beschweren.

»Ich … versteh’ nicht, wieso wir dahin müssen.«, keuchte er, während er unter seinem Sitz herumfummelte, wohl in dem Bemühen, ihn noch weiter nach hinten zu stellen, »und dann noch raus nach Helsa! Das liegt doch gar nicht in unserer Zuständigkeit und bei diesem scheiß Schneeregen werden wir vermutlich Stunden brauchen, bis wir da sind.«

»Ach komm schon, wolltest du wirklich den ganzen Tag im Büro hocken, Biko? Bei diesem tollen Wetter?«

Selina schaltete die Scheibenwischer auf die höchste Stufe. Gegen den Schneematsch, den der Lkw vor ihnen aufwirbelte, hatten sie trotzdem keine Chance.

»Hätte nichts dagegen gehabt. Sauwetter, das!«

»Na dann hast du ja jetzt etwas, auf das du dich freuen kannst, wenn wir wieder zurück sind. Und gib‘s auf, Sergeant Hightower! Der Sitz geht nicht weiter nach hinten.« Selina kicherte.

Bikowski ließ das Gefummel bleiben und verschränkte die Arme vor der Brust. Jetzt sah er ein bisschen aus wie ein trotziges Kind. Allerdings ein sehr großes, trotziges Kind.

»Und überhaupt, wieso überträgt Wagner dir plötzlich die Leitung, und ich muss alles stehen und liegen lassen und mitkommen? Wie dein verdammtes Schoßhündchen oder sowas.«

Den Schoß möchte ich sehen, dachte Selina, auf dem du Platz findest. Aber sie sagte: »Ach komm schon, Biko. Das ist doch überhaupt kein richtiger Fall. Das macht Wagner vermutlich nur wegen der Quote oder was weiß ich. Und weil er diesem Dr. Stelzig einen Gefallen schuldet.«

»Mag ja sein. Trotzdem«, grummelte Bikowski. »Als ich in deinem Alter war, da habe ich noch … «

»Bei Mutti gewohnt?«

»Ach leck mich«, sagte Bikowski, aber er musste trotzdem ein bisschen grinsen.

Nach etwa einer halben Stunde hatten sie sich durch den zähfließenden Verkehr Richtung Süden durchgekämpft. Weitere dreißig Minuten holprige Landstraße später erreichten sie das Krankenhaus in Helsa.

17

Gerade, als sie sich am Empfang nach Dr. Stelzig erkundigen wollten, bog ein Endfünfziger in einem weißen Kittel um die Ecke, dessen Äußeres sich nur als pummelig beschreiben ließ. Aus der Brusttasche des Arztes ragte ein Stethoskop. Das muss Stelzig sein, dachte Selina, und nie hat ein Mann einen unpassenderen Namen getragen. Der Kerl erinnerte keinesfalls an einen langbeinigen Vogel, und sein Gang war kaum als Stelzen zu beschreiben, eher als Tapsen. Alles an dem Mann wirkte rundlich, von dem beachtlichen Bauch bis hin zu seinem haarlosen Kopf, der auf — ebenfalls ausgesprochen runden — Schultern ruhte und aus dem sorgenvolle Augen die beiden Polizisten musterten.

»Ah«, sagte er, während er mit kleinen Schritten auf sie zulief, »die Polizei. Wie schön, dass sie noch kommen konnten.« Stelzig sah demonstrativ auf die Uhr an seinem Handgelenk. Selina und Bikowski ignorierten es.

»Schönen guten Tag«, sagte Selina. »Sie müssen demnach Dr. Stelzig sein?«

»Ja, ganz recht. Guten Tag!«

»Es geht also um verschwundene …«

»Bitte«, sagte Stelzig und sah sich hastig um, »nicht hier. Folgen Sie mir doch an den Tatort

Selina und Bikowski warfen sich einen amüsierten Blick zu, dann folgten sie Stelzig. Der Arzt führte sie durch endlose Flure, deren abblätternde blassgrüne Wandfarbe vermutlich die Stimmung der Patienten heben sollte, genau wie die scheinbar wahllos aufgehängten Kunstdrucke. HERAUSFORDERUNG, las Selina unter der imposanten Fotografie eines Wasserfalls: Für manche endet der Weg am ersten Hindernis. Für den Erfolgreichen fängt er da erst an. Genau das, was man als Patient vermutlich lesen wollte, besonders den Teil mit den endenden Wegen.

Sieben lehrreiche Kunstdrucke später hatten sie das Treppenhaus erreicht, und von dort ging es abwärts und dann noch ein Stockwerk tiefer.

»Der Keller«, kommentierte Stelzig das Offensichtliche.

Hier unten war es empfindlich kühl, aber Stelzig schien das nichts auszumachen, obwohl er unter seinem Kittel nur ein Unterhemd trug. Bikowski fröstelte. Das heißt, er schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kam.

Sie bogen in einen weiteren Gang ein, und schließlich blieb Stelzig vor einer Tür in nichtssagendem Beige stehen. Das Schloss der Tür war offenbar vor Kurzem aufgebrochen worden, das Einsteckschloss hing schief und zerbeult im Türblatt. Der Rahmen und die Blende waren mehrfach gesplittert und auch die Zarge war einigermaßen hinüber.

Bikowski pfiff durch die Zähne. »Hier hat’s aber jemand gut gemeint. Saubere Arbeit.«

Selina besah sich das Schloss. Der Täter hatte offenbar ein Stemmeisen benutzt, die typischen, gekerbten Spuren waren deutlich zu erkennen. Zwei Versuche, höchstens drei, dann war er drin gewesen. So etwas schaffte man problemlos in unter fünf Sekunden.

Stelzig drückte die Tür auf und diese schwang mit einem vernehmlichen Knarren nach innen. Dann langte der Arzt um die Ecke und knipste das Licht an, bevor ihn jemand daran hindern konnte.

Schade, dachte Selina. Hätte er das nicht gemacht, hätten wir vielleicht Fingerabdrücke vom Lichtschalter nehmen können.

Sie betraten einen fensterlosen Raum, ein Büro mit einem einfachen Schreibtisch, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Selina warf einen Blick darauf. Datumsangaben und Unterschriften, daneben Namen und Mengenangaben. Alles ziemlich unleserlich.

»Hier tragen die Ärzte und Schwestern ein, was sie aus dem Schrank genommen haben. Wir …«, Stelzig stockte. »Wir haben eine Kamera mit Bewegungssensor, dort oben.« Er zeigte über die Tür, wo tatsächlich eine Kamera hing. An der eigentlich ein rotes Licht hätte blinken müssen.

»Lassen Sie mich raten«, sagte Selina, »die ist seit Monaten kaputt?«

»Äh, ja. Es gab so viel zu tun, und da muss es wohl irgendwie … durchgerutscht sein«, druckste Stelzig und zog ein überaus betroffenes Gesicht.

»Hm«, sagte Selina und dachte: Wenn ich mal im Krankenhaus liege, sollte ich darauf achten, dass der behandelnde Arzt nicht Stelzig heißt. Dieser Stelzig, so hört man, lässt nämlich ab und zu Dinge durchrutschen.

»Ich sehe hier keinen Schrank«, sagte Selina.

»Ja«, sagte Stelzig, »den haben wir natürlich sofort weggeräumt. Schwester Margit und ich. Gleich, als wir den Diebstahl bemerkt hatten. Er steht im Nebenraum.«

»Und da geht sie hin, unsere zweite Chance auf Fingerabdrücke«, murmelte Bikowski.

»Wie?«, fragte Stelzig und starrte Bikowski verständnislos an. Das heißt, er starrte auf Bikowskis Brust, dann hob er den Kopf und sah ihm tatsächlich ins Gesicht.

»Nur so eine Idee, Dr. Stelzig: Ich schlage vor, dass Sie den Schrank vielleicht nicht mehr anfassen, bis die Spurensicherung hier war. Meinen Sie, das ließe sich machen?«

»Oh.«

»Ja, oh«, sagte Selina, »und wo befindet sich das Schränkchen jetzt?«

»Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.« Als Stelzig auf dem Weg nach draußen wieder nach dem Lichtschalter tasten wollte, kam Bikowski ihm zuvor. Mühelos langte er nach Stelzigs Hand und stoppte sie mitten in der Bewegung, bevor sie die Plastikoberfläche erreichen konnte.

»Nur für den Fall.«, sagte Bikowski.

»Oh«, machte Stelzig erneut, als er es begriff. Dann führte er sie an eine weitere beigefarbene Tür, kramte einen Schlüsselbund aus der Tasche seines Kittels und öffnete mit einem der Schlüssel die Tür. Dann blieb er unentschlossen davor stehen und trat schließlich beiseite. »Vielleicht sollten Sie lieber …«, schlug er vor. Bikowskis Pranke langte um das Türblatt und betätigte den Schalter.

»Ach so«, sagte Stelzig, »stimmt ja. Hier war er ja gar nicht drin.«

»Er?«, fragte Selina.

»Na, der … Täter. Der Einbrecher. Wegen der Fingerabdrücke auf dem Lichtschalter. In diesem Zimmer war er vermutlich gar nicht.«

»Schon klar. Aber wieso sagten Sie gerade ›der Täter‹? Es könnte doch auch eine Frau gewesen sein.«

»Na ja, vermutlich. Aber kommen Sie erstmal. Wir reden drinnen.«

Sie traten in ein Zimmer, das nahezu identisch mit dem vorigen war. Nur gab es hier statt des Tisches einen monströsen Stahlschrank, dessen Tür auch aufgebrochen worden war, vermutlich mit demselben Stemmeisen wie die Tür ein Zimmer weiter. Die Schranktüren wurden von einem massiv aussehenden Vorhängeschloss zusammengehalten, das unversehrt war — der Täter hatte sich stattdessen die Scharniere der linken Schranktür vorgenommen. Damit war es vermutlich wesentlich schneller gegangen.

»Und dieses Ding haben Sie allein mit einer Krankenschwester hier herübergeschleppt, sagen Sie?«, fragte Selina.

»Na ja, Sie kennen Schwester Margit nicht«, sagte Stelzig mit einem verstohlenen Seitenblick auf Bikowski. »Sie ist ziemlich … stark.«

»Keine Frage«, murmelte Selina, zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche ihrer Uniform und schob damit die aufgehebelte Tür auf. Beinahe die komplette linke Seite des Schrankes war ausgeräumt.

»War der voll?«

»Nahezu. Wir hatten gerade neue Lieferung bekommen.«

»Wissen Sie schon, was genau fehlt?«

»Schwester Margit macht gerade eine komplette Liste. Aber vor allem fehlen Midazolam und Scopolamin. Und, äh … Kokain.«

»Wie bitte?«, fragte Selina.

»Cocainhydrochloridlösung, genaugenommen. Wir verwenden es manchmal zur Betäubung bei Eingriffen im Hals- oder Kopfbereich.«

»Kokain«, stellte Selina noch einmal kopfschüttelnd fest, »in einem unbewachten Schrank im Keller. Fantastisch. Und der Rest, wozu verwenden Sie den so?«

»Na ja, Midazolam ist ein Angstlöser, ein Beruhigungsmittel, und man verwendet es ebenfalls in der Anästhesie. Von dem Scopolamin hatten wir Augentropfen da, zur Pupillenweitung. Sie kennen vielleicht Atropin? Es ist ein ähnlicher Wirkstoff.«

»Engelstrompete«, sagte Selina dumpf.

»Ja, daraus kann man es gewinnen«, bestätigte Stelzig, »in gewissen Dosen kann es allerdings auch, äh, Rauschzustände hervorrufen.« Der Arzt betrachtete interessiert die Spitzen seiner Wildlederschuhe und fügte dann kleinlaut hinzu: »Besonders, wenn man alle drei in Kombination einnimmt.«

»Na, sieh mal einer an. Und ist sowas denn wertvoll, das Kokain und der Rest?«

»Auf dem Schwarzmarkt, meinen Sie?«

»Zum Beispiel.«

»Naja, mit dem, was hier fehlt, können Sie sich sicher nicht auf die Cayman Islands absetzen, um Ihren Lebensabend zu feiern, aber ein Stück weit kämen Sie schon, vermutlich.« Stelzig räusperte sich. »Aber natürlich kenne ich die Schwarzmarktpreise dieser Medikamente nicht.«

»Natürlich nicht, Dr. Stelzig.« Selina schenkte Bikowski einen vielsagenden Blick. »Na gut. Wir werden die Spurensicherung vorbeischicken. Die wird Fingerabdrücke nehmen. Und das mit der Kamera, Dr. Stelzig …«

»Ja?«

»Das war nicht so besonders clever. Das war sogar ziemlich fahrlässig, wenn Sie meine persönliche Meinung dazu hören wollen. Um ein Nachspiel werden Sie da wohl nicht herumkommen.«

Stelzig ließ den Kopf hängen. Eine perfekte, blank polierte Billardkugel aus Selinas Perspektive. Dann hob er ihn ruckartig. »Würde es helfen, wenn ich Ihnen sage, wer der Täter gewesen sein könnte?«

»Ach, nee. Sie haben einen Verdacht, Dr. Stelzig?«

»Nun ja«, begann Stelzig. »Einer unserer Ärzte, Dr. Schwanbeck, er … Er ist unser Chirurg — unser einziger, nebenbei bemerkt, unsere finanzielle Situation erlaubt uns keine allzu großen Sprünge. Jedenfalls ist er am Donnerstag nicht zum Dienst erschienen. Also vielmehr habe ich ihn Mittwochnachmittag nach Hause geschickt. Er war … nun ja, er schien zu kränkeln. Er sah blass aus und wirkte unkonzentriert, war nicht richtig bei der Sache …«

»Moment«, sagte Selina. »Donnerstag? Sie vermissen Ihren Chirurgen seit vier Tagen und kommen erst jetzt auf den Gedanken, die Polizei zu rufen?«

»Na ja, damals habe ich mir noch keine großen Gedanken darüber gemacht, und am Wochenende hatte er nur Bereitschaft, und es war ziemlich ruhig, wir haben ihn nicht gebraucht. Ich dachte, er spannt etwas aus, und würde sich vielleicht sogar krankmelden.«

»Aber das hat er nicht«, vermutete Selina.

»Na ja, nein. Und das ist so gar nicht seine Art, wissen Sie? Als er auch heute Morgen nicht zur Frühschicht auftauchte, habe ich ihn angerufen. Aber es ging niemand ran. Weder auf dem Handy, noch bei ihm daheim. Und da habe ich …«

» … haben Sie Polizeirat Wagner angerufen.«

Stelzig nickte und betrachtete weiter den Boden zwischen seinen Füßen.

»Hm«, machte Selina. »Nur, damit ich das richtig verstehe. Erst verschwindet Ihr einziger Chirurg spurlos und dann auch noch die Hälfte Ihres Medikamentenvorrats. Sagen Sie, wann genau ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass jemand sich aus Ihren Vorräten bedient hat?«

»Nun, äh … «, Stelzig räusperte sich. »Das muss dann wohl am Freitag gewesen sein«, sagte er kleinlaut.

»Aaalter!«, entfuhr es Bikowski. Selina warf ihm einen halb amüsierten Blick zu.

»Also, seit Freitag fehlt Ihnen eine Wagenladung Betäubungsmittel und seitdem steht hier alles offen? Sind Sie eigentlich noch bei … Ich meine, Ihnen ist schon bewusst, dass Sie so etwas sofort zu melden haben?«

»Na ja, ich hatte gehofft, dass unser Chirurg vielleicht doch noch auftaucht … «

»Klar. Mit einem Sack Medikamente über der Schulter, vermutlich. ›Ey, sorry, Leute. War ein Versehen! Hier habt ihr euren Kram zurück!‹ — so ungefähr?«

Der rundliche Doktor starrte den Selina fassungslos an. Dann senkte er niedergeschlagen den Blick.

»Ja, das war vermutlich ziemlich dumm. Deswegen habe ich ja auch gleich heute Morgen Dietmar Wagner angerufen. Er sagte, er könne vielleicht …«

»Gleich heute Morgen, guter Mann! Vier Tage später! Haben Sie im Ernst geglaubt, das merkt keiner?«, fragte Selina, »Und wenn Ihr feiner Doktor heute wieder aufgekreuzt wäre, hätten Sie es ihm einfach durchgehen lassen?«

»Ich hätte ihn natürlich ermahnt. Aber ich konnte die Sache nicht breittreten, weil …« flüsterte Stelzig. Der Arzt hatte sich in ein rundliches Häuflein Elend verwandelt. Jetzt schien er tatsächlich den Tränen nahe.

»Weil sonst das mit Ihrer Kamera aufgeflogen wäre, stimmt’s? Sie hatten ernsthaft vor, den Diebstahl von Betäubungsmitteln zu unterschlagen, Dr. Stelzig! Das ist strafbar!«

»Also, ich …« flüsterte Stelzig. »Es war ja nur … Dietmar sagte. Also er meinte … Ich hatte gehofft, wir würden vielleicht zu einer Lösung kommen, die für alle …«

»Ein Rat«, unterbrach ihn Selina, »Bevor Ihnen jetzt noch etwas herausrutscht, das mein Kollege und ich als Bestechungsversuch verstehen könnten, halten Sie lieber die Klappe.«

Stelzig hielt sie.

»Und jetzt hören Sie zu.«

Stelzig tat auch das.

»Dietmar Wagner wird von mir einen korrekten Bericht bekommen, wie von jedem anderen Fall auch. Was dann passiert, liegt allein bei ihm und dem Staatsanwalt. Und vielleicht, unter sehr günstigen Umständen, haben Sie ja Glück, sofern die Medikamente ganz schnell wieder auftauchen. Aber …« Selina warf einen Blick auf den zerstörten Schrank, »ich würde mir an Ihrer Stelle keine allzu großen Hoffnungen machen, ehrlich gesagt. Ich würde mir stattdessen lieber einen Anwalt suchen, und zwar einen guten.«

»Ja«, hauchte Stelzig. Er war nun ungefähr so weiß wie sein gestärkter Kittel. Mit einem erfrischenden Schuss Blassgrün drin, wie die Wände hinter ihm.

»Und nun«, sagte Selina, »erzählen Sie mir von Ihrem verschwundenen Chirurgen.«

18

Sauers Tag startete mit einem nervtötenden Klingelton. Was ein denkbar schlechter Start in den Tag war, insbesondere dann, wenn diese Klingelei noch vor dem ersten Kaffee stattfand. Er warf einen Blick auf die müde Gestalt im Spiegel. Dünne Haare, die nach allen Seiten abstanden. Augenringe, blutunterlaufene Trinkeraugen. Etwas, das wie ein Dreitagebart aussah, obwohl er sich vor kaum zwölf Stunden das letzte Mal rasiert hatte. Er streckte dem Spiegelbild die Zunge raus und griff nach dem Telefon auf der Ablage unter dem Spiegel.

»Sauer?«

Während das plärrende Geschnatter aus dem Hörer auf ihn einprasselte, steckte Oxana ihren Kopf zur Badezimmertür herein. Als sie mitbekam, wem die Stimme am anderen Ende gehörte, rollte sie mit den Augen und ging. So viel zum Kaffee an diesem wundervollen Morgen.

Wer da durch den winzigen Lautsprecher quäkte, war Reuter.

»Diese Vollidioten!«, tobte der Kriminaloberrat, »Sitzen da die halbe Nacht in ihrem Streifenwagen und schaukeln sich die Eier!« Ja, dachte Sauer. Und ist das nicht ziemlich präzise das, was Sie angeordnet hatten?

»Und Sie, Sauer, haben gesagt, es bestünde keine Gefahr für Irene und Louisa. Ha! Keine Gefahr!« Nein, das hat sie gesagt, Irene. Und Sie haben ihr zugestimmt, wenn ich mich recht entsinne.

»Ist ihnen etwas passiert?«, fragte Sauer vorsichtig.

»Nein!«, erschrak sich Reuter, »Das fehlte noch! Oh mein Gott, das fehlte noch! So eine verfluchte Scheiße …«

»Was genau ist dann das Problem?«

»Was das … ?« Reuter verschluckte sich beinahe. »Das Problem, Sauer, besteht darin, dass jemand bei den Fassmanns eingebrochen hat.«

»Nach der Ausstellung?«

»Was? Na, vermutlich schon. Wann denn sonst?« Na, zum Beispiel während der Ausstellung, dachte Sauer. Da hätte es sich ja förmlich angeboten, nicht?

»Na gut, ich fahre dann vorbei und sehe es mir an. Gleich nachdem ich …«

»Nein!«, schnappte Reuter. »Sie fahren auf der Stelle hin! Sie lassen alles stehen und liegen und fahren da hin! Den beiden Knalltüten von der Streife habe ich ordentlich Beine gemacht, das können Sie mir glauben! Die gehen jetzt im Garten hinter dem Haus Streife. Und ein zweiter Wagen ist unterwegs. Ich hoffe, Sie bekommen es wenigstens hin, sich um den Rest zu kümmern?«

»Natürlich.«

Zwei Streifenwagen, meine Güte, dachte Sauer. Promi müsste man sein.

»Na, auf was warten Sie dann noch?«, quäkte der Hörer in Sauers Hand.

»Ich bin schon unter …«

Klack. Piep! Piep! Piep!

Reuter hatte aufgelegt.

»… wegs«, murmelte Sauer.

19

Markkleeberg b. Leipzig, Albrecht-Dürer-Straße

Irene Fassmann bat ihn herein. Abgesehen von ihren deutlich geröteten Augen sah sie — im Gegensatz zu Sauer selbst — auch an diesem Morgen ganz hinreißend aus, wenn auch nicht ganz so glamourös wie am vergangenen Abend. Dessen Verlauf sie sich vermutlich — ebenso wie Sauer — ganz anders vorgestellt hatte.

»Hallo Karl«, begrüßte sie den Kommissar, »Bitte kommen Sie rein.«

Die beiden Streifenpolizisten, die in der Küche saßen, schnellten bei Sauers Eintreten in die Höhe. Für einen Augenblick war er versucht, »Stehen Sie bequem!« zu rufen, aber als sie erkannten, dass es Sauer war, und nicht der Chef, entspannten sie sich von ganz allein. Vor jedem stand ein dampfender Becher. Verlockende Düfte durchzogen die Küche.

»Wir …«, begann der größere der Bereitschaftspolizisten, ein junger Kerl, aus dessen Kragen die Ausläufer eines großflächigen Tattoos ragten. »Also, Frau Fassmann hat uns reingebeten. Äh, zu ihrem Schutz.«

Dann sah der muskelbepackte Kerl selbst ziemlich schutzsuchend zu Irene hinüber. Die lächelte ihr Mädchenlächeln. »Kein Grund, dass sie da draußen erfrieren, oder?«

»Nein«, sagte Sauer und rieb sich die klammen Hände, »Vermutlich nicht. Hätten Sie vielleicht auch so einen für mich?« Er deutete auf die Tassen auf dem Tisch.

»Bedienen Sie sich«, sagte Irene und deutete in Richtung Kaffeemaschine. Dort stand schon ein weiterer leerer Becher bereit. »Warm«, bemerkte Sauer, als er danach griff, um ihn mit Kaffee zu füllen.

»Das muss man machen«, sagte Irene, »Weil sonst das Aroma verlorengeht.«

»Verstehe«, sagte Sauer und schloss genießerisch die Augen, bevor er einen kleinen Schluck probierte. Das erste Highlight des Tages, und was für eines. »Himmlisch.«

»Danke.«

»Ist nur die Wahrheit«, sagte Sauer und fragte dann: »Im Arbeitszimmer?«

Irene nickte. »Oh Mann. Ich bin immer noch ganz wacklig auf den Beinen. Sich vorzustellen, dass jemand im eigenen Haus herumschnüffelt. Das ist so …«

»Hm. Furchtbar«, gab Sauer zu, »Aber fürs Erste haben Sie ja nun tatkräftigen Schutz im Haus.«

»Ja«, sagte Irene und ging in den Flur voran, »Und vermutlich sollte ich Georg dafür dankbar sein. Ein Scheißgefühl ist das trotzdem.«

»Keine Frage. Wann haben Sie’s denn gemerkt, den Einbruch meine ich?«

»Heute Morgen. Ich wollte die Anschrift der Cateringfirma für Sie heraussuchen, und dachte, ich hätte sie vielleicht in Walters Arbeitszimmer abgelegt.«

»Verstehe«, sagte Sauer und folgte Irene in Walter Fassmanns Arbeitszimmer. Klassisch, viel dunkles Holz, hochglanzpoliert. Teuer. Ein Bücherschrank, in dem sich dicke, vermutlich nie gelesene Bücher reihten. Die dritte und vierte Reihe des mittleren Regals waren zu großen Teilen ausgeräumt, der vormalige Inhalt war zu einem unordentlichen Haufen vor dem Regal auf dem Boden aufgetürmt. Nein, korrigierte Sauer, nicht aufgetürmt. Hingeworfen.

»Waren Sie das, Irene?«, fragte Sauer und deutete auf den Bücherberg.

»Nein. Ich habe nichts angefasst. Als ich hereinkam, fiel mir auf, wie kalt es in seinem Zimmer war«, sagte sie und deutete auf das weit offene Fenster.

Die Wiese draußen war von einer dünnen Schicht Raureif bedeckt, der sich erst noch zwischen Schnee oder Wasser entscheiden musste.

»Und sobald ich … dieses Chaos gesehen habe, habe ich Georg angerufen. Es tut mir leid wegen der beiden Streifenpolizisten. Also dass Georg deswegen so aus der Haut gefahren ist. Ich wusste mir einfach nicht anders zu helfen.«

»Schon gut«, sagte Sauer, »Das haben Sie richtig gemacht.«

Sein Blick fiel auf den Fußboden vor dem wuchtigen Schreibtisch. Dort lagen Papiere verstreut, die wohl vorher den Tisch bedeckt hatten. Außerdem eine massive Standuhr, ein großer Stein, der als Briefbeschwerer gedient haben mochte und eine Schreibgarnitur, aus der ein halbes Dutzend Stifte herausgerollt war und sich über den Fußboden verteilt hatte. Das dazugehörige kleine Fässchen aus Metall hatte wohl tatsächlich Tinte enthalten; ein kleiner, schwarzer See breitete sich über einen Teil der Papiere aus. Sauer bückte sich und drückte einen Finger in die Schwärze. Eingetrocknet.

Eine Stehlampe lag quer über den Besucherstühlen an der rechten Zimmerwand. Dort klaffte ein quadratisches Loch von gut einem Meter Seitenlänge in der Wand. Ein Loch mit einer weit offenen Metallklappe. Fassmanns Safe. Auf dem Boden davor ein kitschiges Landschaftsbild, in dem ebenfalls ein Loch klaffte, dieses allerdings weit unregelmäßiger als das in der Wand. Jemand hatte offenbar keinen allzu großen Gefallen an der kitschigen Darstellung des Matterhorns im Morgennebel gefunden und es eingetreten. Sauer fühlte mit ihm.

»Ziemlich groß, dieser Safe«, stellte er fest und lugte in das Loch hinein. In die Wand eingelassen, massiver Stahl, mit einem Zahlenschloss. Dessen Kombination der Einbrecher offenbar gekannt hatte.

»Fehlt etwas?«, fragte Sauer. »Aus dem Safe, meine ich. Wurde etwas gestohlen? Geld? Wertsachen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Irene Fassmann.

»Sie wissen nicht?«

»Das ist … das waren Walters Angelegenheiten. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der Tresor vorher leer war. Ich meine, das würde den Einbruch doch irgendwie ziemlich sinnlos machen, oder?«

Wir reden nicht viel über Berufliches. Das hatte die Witwe Fassmann auch gestern schon gesagt.

»Das würde es in der Tat«, murmelte Sauer. Drei Fächer. Ein dünner Hefter im unteren, beschriftet mit Akte Neumann, die anderen beiden Fächer waren leer. Sauer holte die Gummihandschuhe aus seiner Jackettasche – diesmal hatte er seine eigenen dabei –, zog sie an und entnahm dem Safe die Akte Neumann. Er schlug sie auf.

Dieser Neumann war offenbar ein Klient von Fassmann. Es ging um eine Auslegungssache des Nachtbackverbots. Neumann, erinnerte sich Sauer. Natürlich, die bekannte Bäckereikette. Offenbar ging es um ziemlich saftige Forderungen von Mitbewerbern, die mitbekommen hatten, dass Neumanns Backstube praktisch niemals still stand, und aus irgendeinem Grund war das offensichtlich illegal. Interessanter Stoff, wenn man Bäcker war, aber vermutlich nichts, das mit dem Einbruch oder gar dem Mord zu tun hatte.

»Kennen Sie die Kombination zu dem Safe?«

Irene schüttelte stumm den Kopf.

Sauer legte die Akten zurück in das Fach und hockte sich dann hin, um das zerstörte Matterhorn-Kitschbild eingehend zu betrachten. Jemand hatte die Leinwand eingetreten, vermutlich während das Bild schräg an der Wand lehnte. Die Größe und Beschaffenheit des Lochs ließ auf die Sohle eines Schuhs schließen. Vielleicht würden ihm die Techniker sogar sagen können, welche Größe der Schuh gehabt hatte.

Dann ging er zum Fenster hinüber, schaute hinaus.

»Das kleine Gartenhäuschen dort drüben …«

»Ja, da leben die Rahmanis. Ismail und seine Frau.«

»Louisas Chauffeur und gelegentlicher Leibwächter?«

»Ja.«

»Hm«, Sauer schob die Vorhänge zur Seite. Zog am Rahmen des Fensters. Es ließ sich mühelos nach innen aufziehen. Dabei fiel ihm ein kreisrundes Loch im mittleren Quadrat des linken Flügels auf.

Ein Glasschneider, vermutlich von einem Rechtshänder geführt. Dann hineingegriffen, den Verschluss geöffnet, das Fenster aufgedrückt und hineingestiegen. Eine Sache von wenigen Sekunden für einen Profi. Wenn nicht zufällig gerade Ismail aus dem Fenster seines Häuschens herüberschaut und einen dabei beobachtet. Und wenn es dunkel war, war vermutlich auch das kein Problem.

Sauer hockte sich hin und fand kurz darauf das Gegenstück zu dem Loch im Fenster, eine kleine runde Glasplatte. Sie lag unter dem Fenster, aus dem sie gefallen war, etwa zehn Zentimeter von der Wand entfernt. Der Teppich war weich, aber nicht so hochflorig, dass das Glas hätte in ihm stecken bleiben können. Sauer besah sich die umgekippte Stehlampe. Beide Glühbirnen schienen noch intakt zu sein. Er knipste den Schalter an, und die Lampe flackerte auf. Er knipste sie wieder aus.

»Sagen Sie, Irene, diese Leibwächtersache. Ich glaube, das verstehe ich nicht ganz. Gab es denn vorher bereits Anschläge auf Ihre Familie? Morddrohungen oder dergleichen?«

»Was? Nein, Gott bewahre!«

»Aber wieso dann ein Leibwächter für Louisa?«

»Na ja, Walter … er war recht strikt in gewissen Dingen.«

»Dingen wie …?«

»Na ja, ihre Bekanntschaften. Jungs, zum Beispiel.«

»Sie durfte keinen Freund haben? Versuchen sie mir das zu sagen?«

»Nein, nein, das war es nicht. Walter wollte nur sichergehen, dass es der Richtige ist … also, er wollte vermutlich nur das Beste für sie.«

»Und Sie haben das zugelassen? Dass er sich zum Richter über die Gefühle ihrer Tochter aufschwingt?«

»Ich … so war es ja nicht. Er nahm es eben nur sehr genau mit ihrer Erziehung.«

Sauer ließ seinen Blick noch einmal durch das Zimmer schweifen, und blieb wieder an dem Bücherhaufen vor dem Regal hängen. Jemand hatte die Bücher offenbar wahllos aus dem Regal gezogen und zu Boden fallen lassen. Allerdings nur die Bücher der mittleren beiden Reihen, die anderen waren lückenlos gefüllt. Warum?

20

Irene übergab Sauer die Visitenkarte der Cateringfirma sowie die Gästeliste. Darauf hatte sie alle Gäste markiert, die auf der Party gewesen waren – mit einem kleinen Kreuz. Hinter ein paar andere hatte sie geschrieben Abgesagt, und zweimal auch Nicht erschienen. Bei denen, die unentschuldigt ferngeblieben waren, würde Sauer anfangen.

»Es tut mir leid, aber bis die Jungs von der Kriminaltechnik damit durch sind, wird hier alles so bleiben müssen. Auch das Loch in der Scheibe.«

Irene nickte und zog ihre Strickjacke etwas enger um den Körper. Dann schloss sie die Tür zu Walter Fassmanns Arbeitszimmer.

»Wo ist Louisa jetzt, Irene?«, fragte Sauer.

»In der Schule.«

»Wie verkraftet sie es?«

»Sie kommt zurecht. Sie hat ja ihre Freundinnen. Und mich, natürlich. Vermutlich ist sie in der Schule besser aufgehoben als hier, in einem Haus voller Polizisten.« Irene schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln, »Entschuldigung, ich meinte nicht …«

»Nein, es stimmt ja. Und es tut mir leid deswegen. Aber ich muss Sie leider noch ein paar Dinge fragen, Irene.«

»Nur zu.«

»Okay, also, erstens: Sind Sie sich wirklich sicher, dass Sie nicht wissen, was sich in dem Safe befunden hat?«

»Ja, das sagte ich doch schon.«

»Ja, das sagten Sie. Es ist nur so, ich habe diese Theorie.«

»Ach ja?«

»Hm. Ich denke, dass der Täter genau wusste, wo im Raum sich der Safe befand.«

»Meinen Sie? Aber diese Unordnung — er muss das ganze Zimmer durchwühlt haben, bis er den Safe schließlich gefunden hat.«

»So sieht es aus, ja. Aber nur auf den ersten Blick. Sehen Sie, wenn Sie etwas suchen, das Sie in der Rückwand eines Bücherregals vermuten, sagen wir zum Beispiel einen Tresor — würden Sie dann nur eine einzige Reihe Bücher herausreißen? Würden Sie nicht vielmehr das gesamte Regal leerräumen? Und würden Sie nicht alle Schubladen des Schreibtischs aufreißen, anstatt nur ein paar Papiere und ein Tintenfässchen von der Tischplatte zu fegen?«

»Vermutlich«, gab Irene zu.

»Und Sie würden wohl auch nicht zufällig genau das Bild von der Wand reißen, hinter dem sich der Tresor befindet.«

»Vermutlich nicht, nein. Aber worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich glaube, dass der Täter sehr wohl wusste, wo er suchen musste. Und dass sich in etwa Folgendes im Arbeitszimmer abgespielt hat.«

Sauer schloss die Augen und versetzte sich gedanklich in das Arbeitszimmer.

»Der Einbrecher geht zum Tresor, öffnet ihn, besieht sich den Inhalt. Aber er findet nicht, wonach er dort gesucht hat. Darüber gerät er in Rage und beginnt, das Zimmer zu verwüsten. Dann — entweder wird er überrascht oder ihm fällt auf, dass es nicht besonders clever ist, hier so herumzutoben, schließlich könnten die Nachbarn etwas mitbekommen — unterbricht er sein Wüten und verschwindet wieder durch das Fenster. Ohne die Beute.«

»Überrascht? Wer sollte ihn denn überrascht haben?«

»Ihn oder sie, Irene. Und ich fürchte, Louisa, zum Beispiel. Als sie nach Hause zurückkehrte. Wenn das stimmt, haben sie und Ismail sehr großes Glück gehabt. Und daher sollten Sie Reuters Bemühungen um Ihre Sicherheit ernst nehmen.«

Irene fröstelte. »Wenn der Täter nicht gefunden hat, was er hier suchte, …«

»Dann bedeutet das, dass er zurückkommen könnte. Ganz recht«, sagte Sauer. »Deshalb muss ich Sie bitten, gut auf sich und Louisa aufzupassen. Es wäre sinnvoll, wenn die beiden Polizisten vorerst in Ihrer Nähe blieben.«

Irene nickte resigniert. »Ja, das wird wohl das Beste sein. Und was Louisa betrifft: Ismail ist ja immer bei ihr, auf dem Weg in die Schule und zurück. Und ich verlasse mich zu einhundert Prozent auf ihn.«

»In Ordnung. Trotzdem, ich würde vorschlagen: Vorerst keine Shoppingtrips und dergleichen für Sie und Louisa.«

»Okay«, seufzte Irene, »Ich habe momentan sowieso keine allzu große Lust, aus dem Haus zu gehen. Die … Besorgungen, die ich jetzt machen muss, kann ich auch von hier erledigen, und Anila hilft mir eine Menge. Sie ist Ismails Frau.«

»Gut. Es ist ja zu Ihrer Sicherheit, Irene, und zu der von Louisa …«

»Ich weiß, Karl. Und danke.«

Sie nippten beide an ihrem Kaffee, und dann sagte Irene Fassmann: »Es war derselbe, oder? Derselbe, der Walter im Waldhaus … also …«, dann senkte sie ihren Kopf und nahm einen kleinen Schluck.

Sauer nickte. »Das vermute ich. Zumindest, wenn niemand außer Ihrem Mann die Kombination zu diesem Safe kannte. Ich nehme an, die Sache im Waldhaus diente dazu, die Kombination zu erfahren, um an das zu kommen, was in dem Safe lag. Und was immer das war, dem Täter muss es verdammt wichtig gewesen sein.«

»Sonst hätte er vermutlich nicht … zu so etwas … zu solchen Mitteln gegriffen.«

Sauer nickte. »Ja. Irene, können Sie sich vorstellen, wer … ich meine, hat es vielleicht eine oder mehrere Personen im Umfeld Ihres Mannes gegeben, die … nun ja, einen gewissen Groll gegen Walter Fassmann gehegt haben könnten?«

Irene lachte bitter. »Mein Mann war Rechtsanwalt und Politiker. Er war auf dem Weg zum Bürgermeisteramt. Hätte es vermutlich auch bekommen, wie er alles bekam, das er sich im Leben in den Kopf gesetzt hat. Er war zielstrebig und sehr erfolgreich. Was glauben Sie denn, ob so jemand Feinde hat?«

»Ich glaube, ein solcher Mann könnte eine Menge Neider gehabt haben. Und politische Gegner.«

»Das haben Sie nett ausgedrückt, Herr Kommissar. Aus meiner Sicht teilen sich die Leute, die mit meinem Mann zu tun hatten in zwei Gruppen: Speichellecker, die ihn letztlich für ihre eigenen Zwecke benutzen wollten, und Leute, die ihn am liebsten unter der Erde gesehen hätten.«

»Verstehe. Und gab es unter denen welche, denen Sie die Umsetzung eines solchen Gedankens zutrauen würden?«

»Eigentlich nicht, nein. Aber Mörder laufen schließlich nicht mit einer Leuchtreklame auf dem Kopf herum, oder?.«

»Nein, das tun sie nicht, auch wenn das unseren Job erheblich vereinfachen würde. Aber nun verstehe ich natürlich, warum Ihr Mann diesen Ismail beschäftigte. Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen? Wie haben Sie das bloß ausgehalten?«, fragte Sauer. »Sie und Louisa, meine ich? Dieses Leben …«

Irene Fassmann schwieg so lange, dass Sauer bereits glaubte, sie würde überhaupt nicht mehr antworten, als sie es schließlich doch tat. Irene zuckte leichthin mit den Schultern. »Wir haben ja noch uns, nicht wahr?« Und dann, nach einer weiteren langen Pause, fügte sie leise hinzu: »Sie würden nicht glauben, woran sich Menschen gewöhnen können.«

Und das, dachte Sauer, war vielleicht das Aufschlussreichste, das Irene Fassmann am heutigen Morgen gesagt hatte.

»Ich danke Ihnen für den Kaffee, Frau Fassmann, der war vorzüglich. Wenn ich noch Fragen haben sollte …«

»… finden Sie mich hier. Ich gehe bestimmt nicht weg.«

»Gut.« Sauer wandte sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch einmal um. »Eine Sache noch, Frau Fassmann. Der kleine Raum im Waldhaus …«

»In dem der Täter meinen Mann gefoltert hat, um an die Kombination für den Safe zu kommen?« Es klang tapfer, aber dennoch schimmerten neue Tränen in ihren intelligenten Augen.

»Ja. Dieser Raum war abgeschlossen, mit einem Vorhängeschloss. Haben Sie einen Schlüssel dafür?«

Irene dachte nach. »Nein«, sagte sie nach einer Weile. »Ich kann mich auch nicht erinnern, ein Schloss dort angebracht zu haben. Den Raum haben wir seit Jahren nicht benutzt. Dort drin sind ja nur alte Federballschläger und ein paar von Louisas … Kindersachen, wenn sie im Sommer mal mit zum Haus gekommen ist. Das letzte Mal, dass wir dort Federball gespielt haben — da muss Louisa dreizehn oder so gewesen sein. Danach haben wir das Zeug für den Winter dort hineingestellt, und seitdem ist niemand mehr da drin gewesen, soweit ich weiß. Und nein, kein Schloss, da bin ich mir ziemlich sicher. Es gab ja nichts, das ein Abschließen gelohnt hätte. Ich kann mir höchstens vorstellen, dass Walter es irgendwann angebracht hat, warum auch immer, und ich habe dann nicht drauf geachtet.«

»Na gut, war ja auch nur so eine Idee. Und nochmals danke. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Irene.«

Die beiden Polizisten in der Küche hatten inzwischen ihre Handys hervorgezogen und tippten grinsend darauf herum. Als Sauer geräuschvoll die Kaffeetasse in die Spüle stellte, schraken sie erneut zusammen und schauten missmutig zu ihm auf.

Sauer ging zu ihnen, lehnte sich auf den Tisch.

»Weißt du, was ich an deiner Stelle tun würde?«, flüsterte er dem Muskelbepackten mit den Tätowierungen zu, »Ich würde mich jetzt ganz schnell vor dieses Arbeitszimmer dort hinten postieren und versuchen, so auszusehen, als hätte ich das die ganze Zeit über getan, anstatt mich von der hübschen Witwe des Mordopfers bedienen zu lassen.«

»Und du«, Sauer drehte den Kopf zu dem anderen Polizisten, »weichst Irene Fassmann nicht von der Seite. Du stehst vor der Tür jedes Zimmers, in das sie geht, klar? Und sobald die Tochter hier eintrifft, rufst du mich an. Sei so nett, ja?«

Die beiden nickten. Ohne ein weiteres Wort verschwanden die Handys in ihren Taschen und sie standen auf, um auf ihre Posten zu gehen. Den Kaffee nahmen sie allerdings mit.

21

»Erwartest du, dass ich ein Wort von dem verstehe, was du gerade gesagt hast?«, fragte Sauer mit gerunzelter Stirn in sein Telefon. Wobei Alfons die gerunzelte Stirn natürlich nicht sehen konnte. Was den Techniker aber nicht davon abhielt, in schallendes Gelächter auszubrechen.

»Oh, Mann. Eines Tages schmeiße ich das alles hier hin und werde Hacker. Ihr hättet keine Chance, mir auf die Spur zu kommen. Das technische Verständnis von euch Kripo-Typen hat in etwa den Stand der frühen Sechziger. In der DDR. Aber was das Internet ist, weißt du schon, oder?«

»Ich habe eine gewisse Vorstellung«, sagte Sauer ausweichend.

»Okay, das ist doch immerhin ein Anfang. Und jetzt stell dir einfach eine Kamera vor, die ihre Daten mit mittels Funkverbindung überträgt.« Alfons klang, als erkläre er es einem Kleinkind.

»Ohne Kabel also?«

»Bravo!«

»Man könnte so eine Kamera ziemlich leicht verstecken, besonders, wenn sie klein ist.«

»Jetzt hat er’s!«, frohlockte der Techniker.

»Und so ein Ding hing in dem Kabuff, in dem Fassmann gefoltert wurde? Und Weiß hat es übersehen?«

»Nein, das ist ja der Witz. Das Ding war nicht in dem Kabuff. Da waren Weiß und seine Jungs gründlich wie immer, mag man von der Spurensicherung sonst auch halten, was man will. Die Kamera hing an der Wand im Wohnzimmer.«

»Dem Ausstellungsraum?«

»Hä?«

»Dem Raum mit den Bildern von Irene Fassmann.«

»Die Fassmann hat diese knallbunten Scheußlichkeiten verbrochen? Oh mein Gott … ich dachte, das stammt von einem Kleinkind. Oder einem Orang Utan. Wusstest du, dass sie mal ein paar Gemälde von Kunstkritikern einschätzen lassen haben, die Affen gemalt hatten? Sie haben sie zwischen die von bedeutenden modernen Künstlern gestellt, und diese Kritiker haben hernach nicht sagen können, was von wem stammte.«

»Ich finde die Gemälde schön, Alfons. Schöne Farben und all das.«

»Was? Als ob du die blasseste Ahnung von Kunst hättest, Sauer! Na, wie auch immer. In diesem Raum hing jedenfalls die Kamera. Gut versteckt hinter einem dieser schmucken Wandstrahler.«

»Verstehe. Und die Kamera hat den gesamten Raum überwacht? Dann wird sie wohl Fassmann da angebracht haben. Und aus gutem Grund. Schließlich ist gestern auch in seinem Haus eingebrochen worden.«

»Nein, das ist es ja!«, freute sich Alfons.

»Nein?«

»Nein. Die Kamera war so eingestellt, dass sie nur ein paar Tische unter sich aufgenommen hat.«

»Ein paar Tische?«

»Ja, Sauer! Die Tische, auf denen das Buffet ausgebreitet war. Fast so, als wollte jemand genau mitzählen, wer wie viele Schnittchen vom isst. Das ist doch krank!«

»Es heißt Horsd’oeuvres, Alfons.«

»Was?«

»Die Schnittchen. Man nennt sie Horsd’oeuvres.«

»Von mir aus. Aber was machst du dir aus dem Ganzen?«

»Okay, mal überlegen. Eine Kamera, die das Buffet protokolliert und die Aufzeichnung dann ins Internet überträgt, habe ich das soweit richtig verstanden?«

»So ziemlich.«

»Und die Kamera kann nicht aus Versehen das Buffet gefilmt haben? Ich meine, vielleicht hat sie sich von selbst verstellt oder so?«

»Nein. Man muss eine Schraube lösen, um sie zu verstellen. Diese Schraube war fest angezogen.«

»Fingerabdrücke auf dem Ding?«

»Natürlich nicht.«

»Wäre ja auch zu einfach.«

»Genau. Ich werde also mit der Cateringfirma reden, vielleicht ist das ja deren Auffassung von Qualitätskontrolle oder so.«

»Hey, Sauer, hast du etwa gerade versucht, einen Witz zu machen?«

»Kann sein. Muss wohl am Wetter liegen.« Inzwischen hatten die schweren Schneeflocken die Frontscheibe seines Wagens komplett zugesetzt. »Und es gab noch andere Kameras in dem Raum?«

»Nee. Nach diesem Fund haben wir natürlich gesucht wie verrückt, denn das wäre ja logisch gewesen, oder? Eine Kamera für das Buffet, warum auch immer, und ein paar andere für die anderen Ecken, und ein oder zwei Weitwinkelobjektive, die den ganzen Raum überblicken. So hätte ich es jedenfalls gemacht.«

»Glaub’ ich dir aufs Wort, du Spanner. Und?«

»Nichts. Ich habe den Raum auf Sender gescannt. Und nachdem ich alle Kollegen mit ihren Smartphones rausgeworfen hatte, nochmal. Nichts. Die Kamera war das Einzige, das dort gesendet hat.«

»Ach. Die lief noch?«

»Klar.«

»Womit?«

»Batterien. Knopfzellen, zwei Stück. Halten praktisch ewig bei diesem kleinen Ding. Es schaltet sich ja nur ein, wenn der Bewegungsmelder eine Bewegung wahrnimmt.«

»Ach so.«, überlegte Sauer, »Warte. Haben diese Dinger nicht einen internen Speicher?«

»Ohoho, Sauer! Du überraschst mich! Ja, diese schon.«

»Und? Was war drauf?«

»Wir, das heißt die Spurensicherung. Während sie das Ding abgeschraubt haben. In dem Ding ist eine kleine Speicherkarte, die sich ständig neu überschreibt, solange etwas vor der Linse passiert. Und in dem Fall sind eben wir passiert.«

»Verstehe. Kannst du irgendwie an die überschriebene Information herankommen, also das, was die Karte früher mal aufgezeichnet hat?«

»Sauer, heute bist du ja wirklich in Form! Stell dir nur vor: Daran arbeite ich hier gerade mit Erik. Für einen frisch von der Uni ist der übrigens gar nicht mal so blöd. Aber bisher …«

»Fehlanzeige.«

»Ja.«

»Na gut, ruf mich an, wenn es was Neues gibt.«

»Mach’ ich. Und viel Spaß noch.«

Sauer warf einen skeptischen Blick auf den Eingang der Kanzlei, vor dem er parkte. Von seinem Wagen bis dorthin waren es ungefähr fünf Meter. Fünf Meter Schneematsch und Nieselregen. Seine Vorstellung von Spaß war eine andere.

»Werde ich haben«, sagte er, »Grüß mir die malenden Orang Utans!«

Mitten in seinem Lachanfall legte Alfons auf.

22

Leipzig, Waldstraßenviertel

Als Sauer den Schutz des Hauseingangs erreichte, war er bereits komplett durchnässt. Er hatte seinen Mantel im Auto gelassen, was sich nun als schwerer Fehler herausstellte, trotz der wenigen Meter vom Auto bis zur gewaltigen Eingangstür des sanierten Altbaus. Diese war nämlich verschlossen. Bis Sauer auf die Idee gekommen war, den Messingknopf zu betätigen, hatte sich sein Jackett schon in einen nassen Lappen verwandelt.

Sauer drückte ein weiteres Mal auf den Knopf, der links von ihm aus der Wand ragte, direkt unter dem dezenten Messingschild mit der Aufschrift Fassmann, Kappusch & Partner — Rechtsanwälte, so auffällig bescheiden, dass es geradezu protzig wirkte. Und es machte klar: Fassmanns Kanzlei waren nicht eine der Firmen in dem beeindruckenden Altbau, sondern die einzige.

»Ja, bitte?«, tönte eine weibliche Stimme neben Sauer aus der Wand.

»Hier ist Karl Sauer, Kriminalpolizei Leipzig. Es geht um …«

»Oh ja, natürlich, kommen Sie rein. Erster Stock links.«

Sauer erklomm die Treppe bis zum ersten Stock, obwohl es einen Fahrstuhl gab. Er mochte Fahrstühle nicht besonders und die Tour durch das Treppenhaus bot auch die wesentlich interessantere Route. Die Wiederherstellung der alten Bausubstanz war mit großer Sorgfalt durchgeführt worden, jemand hatte sogar die komplizierten Blumenmuster aus Stuck nachempfunden, die das Innere dieses Gebäudes seit den zwanziger Jahren schmückten. Trotzdem sah alles aus, als wäre es erst gestern hier angebracht worden, und zwar von wirklich geschickten Handwerkern. Sauer entdeckte auch die Kameras: Klein genug, um als diskret durchzugehen, aber groß genug, um keinen Zweifel über ihren Zweck zu lassen. Rote Lämpchen blinkten gleichmäßig unter den kalten Augen ihrer Objektive.

Mit einem Summen öffnete sich eine der Türen in den Gang, der vom Treppenhaus abging, als Sauer den ersten Stock erreicht hatte.

»Hallo, ich …« sagte er in den leeren Flur hinein und verstummte dann. Die Holztür fiel mit einem leisen Klicken hinter ihm ins Schloss und eine andere Tür öffnete sich in der Mitte des Ganges, der bis auf ein paar Besucherstühle leer war. Auch hier gab es die obligatorischen Kameras. »Die sind während der Arbeitszeit ausgeschaltet, wir sind ja schließlich nicht in einer Bank, nich' wahr?«, sagte eine Stimme neben ihm, die wohl Sauers skeptischem Blick gefolgt war. Sauer schaute in das Zimmer, aus dem die Stimme gekommen war und sah — nichts.

»Hier unten«, tönte es und Sauer wandte seinen Blick erneut. Diesmal in vertikaler Richtung.

»Gabriele Blume, nich' wahr«, sagte die kleine Frau grinsend und streckte Sauer die Hand entgegen. Für einen irrationalen Augenblick war er versucht, in die Hocke zu gehen, wie man es gewöhnlich tat, wenn man mit einem Kind sprach oder mit einem Hund. Aber er beherrschte sich und streckte er doch nur die Hand hin. Der Griff ihrer winzigen Finger war erstaunlich fest — und ihr flaschengrünes Kostüm maßgeschneidert. Was wahrscheinlich die einzige Möglichkeit war, an ein Businesskostüm in ihrer Größe zu kommen.

»Hauptkommissar Sauer, guten Tag. Ich bin hier, um …«

»Ja«, sagte Frau Blume, und ihr Lächeln verschwand, um einem betrübten Gesichtsausdruck Platz zu machen. »Natürlich. Das sind Sie. Karl Sauer, nich' wahr. Irene hat mich heute Morgen angerufen und Sie angekündigt. Darf ich trotzdem Ihren Ausweis sehen?«

»Meinen … äh, na klar, natürlich.« Sauer zog seinen Dienstausweis aus der Innenseite seines Jacketts. Was er seit Jahren nicht mehr getan hatte, wie ihm jetzt auffiel. Gabriele Blume warf einen langen Blick auf die Marke und den Ausweis, und Sauer war sich ziemlich sicher, dass sie seine Ausweisnummer auch noch in ein paar Jahren auswendig wissen würde.

»Gut.«, sagte sie dann und strahlte ihn an, »Gott, Sie sind ja völlig durchnässt. Es ist schlimm da draußen, was?«

»Sie machen sich kein Bild«, sagte Sauer.

»Geben Sie her«, sagte Frau Blume und nahm ihm das tropfnasse Jackett ab. Dann erklomm sie mit erstaunlicher Behändigkeit eine kleine Trittleiter und hängte es an den Haken eines hölzernen Kleiderständers. Ein ähnliches Modell wie das, das Weiß am Tatort gefunden hatte, bemerkte Sauer. Vermutlich hatte Fassmann sie im Vorratspack bestellt. Und vermutlich als Betriebsausgaben deklariert.

»Sicher möchten Sie das Büro des Chefs sehen«, sagte Frau Blume und schaffte das Kunststück, es klingen zu lassen, als wäre Fassmann nur mal kurz zum Essen außer Haus. Sauer folgte ihr in ein Vorzimmer, das aus einem riesigen, auffallend niedrigen Schreibtisch mit dazugehörigem Bürosessel bestand und aus meterhohen Aktenschränken, die sich an den Wänden bis zur Decke türmten. Davor stand eine kleine, fahrbare Trittleiter. Vom Vorzimmer ging eine ledergepolsterte Tür ab und auf der anderen Seite dieser Tür befand sich die luxuriöse Großausgabe von Fassmanns Arbeitszimmer. Sauer pfiff anerkennend durch die Zähne.

»Nicht schlecht, oder?«, fragte Gabriele Blume.

»Kann man sagen«, bestätigte Sauer, »Die Geschäfte liefen wohl gut, was?«

Da Frau Blume nicht auf diese Frage antwortete, die angesichts des allgegenwärtigen Prunks ohnehin eher rhetorischen Charakter besaß, warf Sauer einen Blick auf den Inhalt des Bücherschranks. Diesmal glaubte er sogar, einige der Bücher wiederzuerkennen. Außer den mehrbändigen Ausgaben irgendeines ledergebundenen Lexikons befanden sich in den hohen Regalen unzählige dicke Bücher, die meisten in aufmunterndem Schwarz, und diese waren offenbar tatsächlich gelesen worden und zwar gründlich. Gesetzesbücher. Die Sauer schmerzlich an die eine oder andere beinahe vermasselte Prüfung während seiner Polizeiausbildung erinnerten.

Ansonsten bestand das Büro zum größten Teil aus Holz — dunkel gebeiztes und glatt lackiertes der überaus kostspieligen Sorte. Alles wirkte wie aus einem Guss — Parkett, Schränke, Schreibtisch, zwei Rollsekretäre, ein Besprechungstisch mit dazu passenden Besuchersitzen, letztere mit flaschengrünem Leder bezogen. Der Raum war so riesig, dass er trotz der vielen Möbel nicht eng oder vollgestellt wirkte. Vielmehr weckte er die Erwartung, dass sich jeden Moment die Tür öffnen und ein Fremdenführer eine Besuchergruppe in Filzlatschen durch den Raum geleiten würde.

»Hin und wieder«, murmelte Sauer, » frage ich mich, ob ich den richtigen Job habe.« Hin und wieder, fügte er in Gedanken hinzu, oder jeden zweiten Tag.

Das entlockte Frau Blume ein Kichern. »Sie würden nicht tauschen wollen, glauben Sie mir.«

»Vermutlich nicht, nein«, gab Sauer zu. Schon gar nicht mit Fassmann.

»Alles da. Auch eine Nasszelle, nich' wahr«, sagte Frau Blume und lief zur Seite des Zimmers. Dort öffnete sie eine Schranktür, hinter der sich aber statt des Schranks ein geräumiges Badezimmer befand. Sauer warf einen flüchtigen Blick hinein.

Was genau suchte er eigentlich hier?

Ich suche Walter Fassmann, dachte er. Ich suche den Mann, der er wirklich war. Den Mann, der seine Tochter praktisch rund um die Uhr von einem Leibwächter beschützen ließ. Den Mann, der einen solchen Hass auf sein Haupt geladen hatte (oder ein solch brisantes Geheimnis), dass sich jemand die Mühe machte, die Kombination zu seinem Safe aus ihm herauszufoltern. Indem er ihn stundenlang quälte.

»Gibt es einen Tresor?«, fragte Sauer und betrachtete nachdenklich die eleganten Eisengitter vor den Fenstern. Elegant, aber dennoch deutlich in ihrer Aussage.

»Ja, wir bewahren die Akten unserer Klienten in einem Sicherheitsraum auf, unten im Keller.«

»Okay, und hier drinnen?«, fragte Sauer und drehte sich zu Frau Blume um.

»Äh, ich glaube nicht, nein«, sagte sie und strahlte ihn an. Vielleicht eine Spur zu breit, schwer zu sagen bei diesem Grinsen. Sie glaubte also nicht. Aber was wusste sie?

»Kein Computer?«

»Doch, natürlich.«

Frau Blume lief zum Schreibtisch und drückte irgendeinen Knopf, woraufhin sich ein großer Flachbildmonitor aus der Tischplatte schob.

»Wow«, machte Sauer, »habe ich das nicht mal in einem James Bond Film gesehen?«

Dann ging er ebenfalls um den Tisch herum, um dieses kleine technische Kunstwerk aus der Nähe zu betrachten.

»Kann schon sein«, lächelte Frau Blume, »Sie dürfen auch gern Miss Moneypenny zu mir sagen, wenn Sie Spaß dran haben.«

Das hätte Sauer vielleicht sogar getan, wenn ihr Lächeln nur eine Spur echter gewesen wäre. Ein paar Zentimeter unter dem Tisch befand sich eine flache Tastatur, und die kam nun ebenfalls aus dem Schreibtisch gefahren. Matt poliertes Aluminium, genau wie der Monitor. Schick. Und sicher so teuer, wie es irgend ging.

»Und wo versteckt sich der Rechner dazu?«, fragte Sauer interessiert, um zu demonstrieren, dass er kein kompletter Ignorant in Sachen moderner Technik war.

»Das ist ein Mac«, sagte Frau Blume schmunzelnd.

»Oh. Ach so.« Was immer das nun wieder bedeuten mochte.

»Der Rechner befindet sich im Monitor, nich' wahr.«

»M—hm. Na klar, natürlich«, sagte Sauer und nickte. »Äußerst transportabel. Damit der Chef sich auch mal ein wenig Arbeit mit nach Hause nehmen kann, stimmt’s?«

»Nein, dafür hatte er ja sein MacBook. Wir synchronisieren alles über eine sichere Cloud.«

»Über eine Wolke?«, fragte Sauer und hoffte, dass seine Englischkenntnisse ihn gerade nicht vollständig im Stich gelassen hatten.

»Ja, ganz genau«, sagte Frau Blume und tippte energisch auf den Rand des Monitors. »Sagen wir, er bearbeitet irgendein Schriftstück hier am Rechner. Wenn er sich hier ausloggt, wird es mit einer Kopie auf unserem Server abgeglichen, unserer Cloud — oder eben Wolke. Dann kann er sich von unterwegs einloggen oder auch von zu Hause aus das Dokument bearbeiten.«

»Oder jeder andere, der in den Besitz seines Rechners kommt …«

»Natürlich nicht!«, widersprach Frau Blume lachend, »Dazu bräuchte er schon das Passwort.«

»Passwörter kann man knacken«, sagte Sauer. Zumindest behauptete das Alfons ständig. Wenn die Leute wüssten, wie leicht ihre Passwörter zu knacken sind, würden sie ihre Rechner auf der Stelle in den Müll schmeißen und alles wieder per Hand aufschreiben, war einer der Lieblingssprüche des Technikers.

»Stimmt. Deswegen ist der Zugang außerdem mit einem Fingerabdruck und einem Retinascan verbunden. Man müsste ihm schon die Hand und das Auge … oh.«

»Oh, in der Tat. Kann man von außerhalb auch auf den Rechner hier im Büro zugreifen, wenn er ausgeschaltet ist?«, fragte Sauer.

»Nein, natürlich nicht. Ohne Strom nix los, nich' wahr.«

»Verstehe«, sagte Sauer, kroch unter den Tisch und zog dort das, was er für den Netzstecker des Gerätes hielt. Nach kurzem Überlegen zog er einfach alle Stecker. »Dieser Computer ist ein Beweisstück, und hiermit beschlagnahmt. Jemand von der Spurensicherung wird heute noch vorbeikommen und ihn abholen. Fassen Sie ihn nicht an, Frau Blume. Wegen der Fingerabdrücke.«

Jetzt sah Gabriele Blume ihn aus weit aufgerissenen Augen durch ihre randlose Brille hindurch an und wurde ein bisschen blass.

»Die Dokumente, an denen Fassmann zuletzt gearbeitet hat«, fuhr Sauer fort, »müssten demnach noch auf diesem Rechner sein, richtig? In der Version, die zuletzt mit dem Server, ich meine der Cloud, abgeglichen wurde?«

Frau Blume nickte stumm.

»Oh, da ist noch etwas«, sagte Sauer. »Waren Sie auch für die Termine von Herrn Fassmann zuständig?«

»Für die dienstlichen, ja.«

»Die dienstlichen?«

»Ja, private Termine hatte er natürlich auch. Das hier ist kein Acht-bis-vier-Job, nich' wahr.«

»Hm.«

»Aber die hat er natürlich anonymisiert eingetragen.«

»Anonymisiert?«

»Kommen Sie«, sagte Frau Blume, offenbar ganz in ihrem Element, »ich zeig’s Ihnen.«

Sauer folgte ihr zurück ins Vorzimmer. Dort stand ein ähnliches Modell des Alles-in-einem-Bildschirm-Computers, nur ein wenig kleiner. Frau Blume wischte den Bildschirmschoner weg — Bilder von schlafenden Katzen, die über den Bildschirm schwebten — und ein paar Klicks später blickten sie auf einen digitalen Terminplaner. Einen gut gefüllten Terminplaner, wie die unzähligen bunten Kästchen verrieten.

Frau Blume deute auf einen der orangefarbenen Blöcke. »Sehen Sie, heute Vormittag zum Beispiel. Da war ein Termin mit Dr. Kornelius geplant.«

»Ist das sein Arzt?«, fragte Sauer.

»Nein, ein Klient. Sehen Sie? Von Zehndreißig bis Zwölf.«

Sauer sagte, dass er es sah.

»Und das?«, fragte er dann und deutete auf ein Kästchen in marineblau.

»Geblockt«, erklärte Frau Blume, »Das bedeutet, er hat den Termin als privat markiert. Ich bekomme ihn bloß angezeigt. Aber was er da tut, kann ich nicht sehen. Das geht mich schließlich auch gar nichts an, nich' wahr?«

»Hm. Können Sie mir bitte mal den letzten Freitag zeigen? Und das Wochenende?«

»Natürlich.« Frau Blume klickte ein paar Mal. Das komplette vergangene Wochenende war marineblau eingefärbt. Beginnend am Samstagmorgen um sieben Uhr, in aller Herrgottsfrühe, wie Irene Fassmann bemerkt hatte. Und da war noch etwas.

»Diese Unterbrechung hier, was bedeutet das?« Sauer deutete darauf.

»Hm«, machte Frau Blume, »Das sind vermutlich zwei Termine. Einer von Sieben bis …« sie zoomte hinein, »Von Sieben bis Neun. Frühstück vermutlich. Und der andere direkt im Anschluss, bis zum Sonntagabend.«

Zwei verschiedene Termine in Frankfurt. Aber das konnte nicht sein, denn wenn Fassmann um sieben Uhr zum ersten Termin bereits in Frankfurt sein wollte, hätte er nicht nur in aller Herrgottsfrühe aufstehen müssen, sondern mitten in der Nacht. Und wenn der erste Termin nicht in Frankfurt war, dann war es demzufolge auch der zweite nicht, dazu fehlte die Fahrzeit nach Frankfurt. Hatte Fassmann seine Frau belogen? Um sich heimlich mit seinem Mörder zu treffen? Welchen Sinn ergab das?

»Wenn ich mir die Termine von Herr Fassmanns Rechner aus anschauen würde, dann sähe ich wohl auch die privaten Einträge, was genau er zum Beispiel an diesem Wochenende vorhatte?«

»Das kommt darauf an«, sagte Frau Blume, »ob er den Termin an seinem Rechner eingetragen hat.«

»Das verstehe ich nicht. Ich denke, Ihre Cloud gleicht alles automatisch ab?«

»Schon, aber wenn er den Termin beispielsweise von zu Hause aus eingetragen hat oder von unterwegs, während der Rechner hier im Büro schon heruntergefahren war, dann …«

»Ach so. Der Rechner hätte sich erst beim nächsten Hochfahren mit der Wolke abgeglichen.«

»Ganz genau.«

»Und unterwegs hat er seinen Laptop benutzt, um Termine einzutragen?«

»Nur, wenn er gerade daran gearbeitet hat. Ansonsten hat er meist einfach sein iPhone für die Termine benutzt. Das ging schneller.«

»Verstehe. Unser Techniker wird seine helle Freude mit all dem Spielzeug von Herrn Fassmann haben. Ich werde ihn gleich mal ...«

In diesem Moment öffnete sich die Tür zu Gabriele Blumes Vorzimmer und ein junger Mann trat ein, einen dicken Ordner in der Hand. Sauer erkannte ihn sofort, trotz der randlosen Brille, die er am Samstag nicht getragen hatte. Der Junge, der auf der Ausstellung neben Louisa gestanden hatte, und dann später Mutter und Tochter vor der fallenden Wand gerettet hatte. Thomas, wenn er sich recht erinnerte.

»Oh«, machte der junge Mann. »Entschuldigung, Gabriele. Ich komme dann später nochmal wieder.« Er warf ein höfliches »Guten Tag!« in Richtung Sauer und zog sich dann wieder auf den Gang zurück.

»Warten Sie!«, rief Sauer ihm hinterher. Der junge Mann blieb stehen und blickte Sauer fragend an. »Mit Ihnen wollte ich sowieso gerade reden.«

»Oh, ach so«, sagte Thomas. »Demnach müssen Sie dann wohl von der Polizei sein.«

Dunkle Ringe unter intelligenten Augen. Attraktiv, auf eine jungenhafte Weise. Offenbar hatte auch er in den letzten Nächten nicht allzu viel Schlaf bekommen. Vielleicht hatte er die halbe Nacht mit Louisa telefoniert. Und vermutlich war das etwas, wofür man ihm nur dankbar sein konnte. Louisa hatte auf Sauer ziemlich verletzlich gewirkt und vielleicht auch ein bisschen naiv. Es war gut, dass sie jetzt jemanden hatte, auch wenn ihr Vater sich zeitlebens alle Mühe gegeben hatte, genau das zu verhindern. Aber vielleicht hätte der bei einem patenten jungen Mann wie diesem Thomas sogar ein Auge zugedrückt. Zumal er ihn in der Kanzlei ja ständig im Auge hatte. Die ideale Partie, mochte man glauben.

»Hauptkommissar Sauer«, stellte sich Sauer vor. »Sie sind Thomas …?«

»Hauser, Herr Kommissar. Oder heißt es Hauptkommissar?«, fragte Thomas interessiert.

»Kommissar genügt vollkommen.«

Sauer drehte sich zu Gabriele um, die stirnrunzelnd in den Monitor blickte und ihre Maus hektisch hin- und herfahren ließ. »Frau Blume, könnten wir wohl für einen Moment …?«, fragte Sauer und deutete auf die gepolsterte Tür zu Fassmanns Büro. Das Telefon klingelte. Eins der drei Telefone, die auf Gabrieles Schreibtisch standen. Sie griff danach und verwies Sauer und den jungen Hauser hektisch in Richtung von Fassmanns Büro.

23

»Sie waren auf der Ausstellung, Herr Hauser.«

»Ja, ich habe das alles … also, ich habe es alles mitbekommen. Ich bin immer noch … na ja, ich versuche einfach, nicht allzu viel darüber nachzudenken. Aber ich glaube, Louisa nimmt das alles sehr mit. Sie ist seine Tochter.«

»Ich weiß.« Sauer nickte. »Ist nicht leicht, jemanden zu verlieren, das ist es nie. Aber sagen Sie, Thomas, warum waren Sie eigentlich bei der Ausstellung, waren sie eingeladen?«

»Walter, also Herr Fassmann hatte mich darum gebeten, seiner Frau bei den Vorbereitungen zu helfen, weil er einen anderen wichtigen Termin wahrnehmen musste. Es ging wohl um eine Besprechung mit einem Klienten.«

»Am Sonntag?«

»Viele unserer Klienten sind sehr beschäftigt. Da bleibt manchmal nur das Wochenende.«

»Verstehe. Und dann?«

»Später sollte ich in einer kurzen Rede die Gäste in seinem Namen begrüßen.«

»Sie waren dort als Fassmanns Stellvertreter?«

»Nein. Naja, nicht so richtig. Die Ausstellung hatte ja auch gar nichts mit der Kanzlei zu tun. Es waren aber eben auch Leute dort, mit denen Herr Fassmann geschäftlich verkehrt …«, Thomas räusperte sich, »verkehrte. Und daher sollte ich seine Grüße ausrichten, gewissermaßen.«

»Hm. Ich hatte auch den Eindruck, die meisten dort waren eher mit Herrn Fassmann bekannt als mit seiner Frau.«

»Dazu kann ich leider nicht allzu viel sagen, ich kannte die meisten ja selbst nicht.« Thomas Hauser nahm auf einem der Besucherstühle Platz und Sauer setzte sich ihm gegenüber auf die Schreibtischkante. Wie es vielleicht einst der große Fassmann getan hatte. Jedenfalls blickte Thomas in dieser Position zu ihm auf. Und auch das, da war sich Sauer sicher, war etwas, das er in diesem Moment mit dem verstorbenen Rechtsanwalt teilte.

»Wie lange arbeiten Sie denn schon in der Kanzlei?«

»Etwas über ein Jahr.«

»Frisch von der Uni?«

Thomas nickte.

»Und da macht Sie Fassmann gleich zu seinem persönlichen Assistenten?«

»Ja, ich weiß, das ist recht ungewöhnlich. Ich habe ihn auch selbst einmal danach gefragt. Das sei so seine Art, sagte er. Ganz oder gar nicht. Er wollte wohl, dass ich mir rasch ein Bild von der Arbeit hier machen kann. Das hat mir ziemlich imponiert.«

»Glaub’ ich gern.«

»Kamen Sie denn gut mit ihm aus?«

»Mit Walter Fassmann? Klar! Er war ein Chef, der viel gefordert hat. Aber das hat er einem auch stets vergütet. Er ließ es einen spüren, wenn man gute Arbeit leistete. Und wenn man mal was vergeigte, hat er’s einem auf den Kopf zu gesagt.«

»Toller Chef.«

»Ja«, sagte Thomas und blickte Sauer aus großen Augen an. Aus großen Augen, die ein bisschen feucht und gerötet waren.

»Und es ist auch ziemlich großzügig von ihm, Sie in dieser Position einsteigen zu lassen, oder? Wie ich hörte, war Walter Fassmann ein recht erfolgreicher Anwalt.«

Thomas schnaubte leise und machte eine kleine Geste, die das Büro oder auch das ganze Haus mit einschloss. »Das ist ein bisschen untertrieben, finden Sie nicht?«

»Hm. Und außerdem hat er sich wohl auf den Posten als nächster Oberbürgermeister beworben, sagt man.«

»Beworben?«

»Na ja, er soll ein ziemlich aussichtsreicher Kandidat auf die Stelle gewesen sein.«

»Es ist nicht direkt so, dass man sich auf einen solchen Posten bewirbt wie … wie auf eine Arbeitsstelle«, sagte Thomas.

»Hm«, machte Sauer. »Verstehe. Na ja, Politik war noch nie meine große Stärke. Entschuldigung, falls ich da jemandem auf den Schlips getreten bin. War nicht meine Absicht.« Sauer schickte ein schiefes Grinsen hinterher, nur zur Sicherheit.

»Schon gut. Er war nur … Walter Fassmann war ein großer Mann, Herr Kommissar.«

»Daran habe ich keinen Zweifel, Herr Hauser. Und große Männer haben für gewöhnlich viele Feinde. Hatte Walter Fassmann Feinde?«

Über diese Frage dachte Thomas Hauser eine Weile nach. »Er hatte natürlich politische Gegner und … na ja, er war als Anwalt sehr erfolgreich, wie Sie ja sehen. Sicher haben seine Erfolge vor Gericht die Gegenpartei mitunter nicht gerade vor Freude tanzen lassen. Aber jemand, der ihm … so etwas antut? Wenn ich etwas sagen darf …«, sagte er und hektische, rote Flecken erschienen auf seinen Wangen.

»Natürlich. Das ist ja kein Verhör, Herr Hauser!«, lächelte Sauer, »Nur zwei Männer, die sich unterhalten. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben!«

»Na gut. Also wenn Sie mich fragen, dann kann das nur ein … eine psychisch schwer gestörte Person gewesen sein. Wer sonst könnte einem Menschen denn so etwas antun?«

»Sie meinen die Schnittwunden?«

»Ja«, flüsterte Thomas und starrte auf einen Fleck vor seinen Füßen. Seine Stimme war kaum hörbar, als er hinzufügte: »Und dann das Blut. Das viele Blut überall. Gott, war ich froh, als einer der Sanitäter endlich eine Decke über ihn gelegt hat. Es war so … ich weiß nicht, so entwürdigend, das zu sehen. Und alle Gäste haben einfach nur zugeschaut. Ich … ich weiß auch nicht. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie das für Frau Fassmann gewesen sein muss. Oder für Louisa.«

»Na ja, Ihnen ist hoffentlich klar, dass ich in diese Hinsicht keinen Verdacht äußern kann, bis der Fall abgeschlossen ist?«

»Ja, natürlich. Ich wollte nur … ich wollte nur irgendwie helfen.«

»Dankend zur Kenntnis genommen, Herr Hauser. Und unter uns: Ich teile Ihre Theorie, was den Geisteszustand des Täters betrifft. Aber das ist nur meine private Meinung. Die Sie bitte für sich behalten.«

»Natürlich.«, sagte Thomas und hörte auf, den unsichtbaren Fleck auf dem Boden anzustarren. Er sah auf und lächelte ein bisschen.

»Na gut, Thomas. Und inwiefern haben Sie Frau Fassmann denn bei den Vorbereitungen im Waldhaus unterstützt?«

»Ich habe ihr eigentlich nur ein wenig mit dem Buffet geholfen. Als wir, also Louisa und ich, im Waldhaus ankamen, war sie schon fast fertig mit dem Aufhängen der Bilder und dem ganzen Rest.«

»Rest?«

»Na, Sie wissen schon. Die Bestuhlung, die Gästekärtchen, all diese Dinge eben.«

»Auch die Garderobenständer?«

»Ja, das nehme ich an, auch die. Sind die … sind die denn wichtig für den Fall? Die Kleiderständer, meine ich?« Thomas beugte sich ein wenig vor und nun bemerkte Sauer noch etwas. Der junge Herr Hauser war neugierig, Sauers Ermittlungsarbeit faszinierte ihn. Allmählich fühlte er ein gewisses Verständnis dafür, dass Fassmann den Jungen so geschätzt hatte.

Sauer zuckte mit den Schultern. »Es sind eben Garderobenständer«, sagte er und lächelte. »Man hängt Klamotten dran auf.«

»Ja, natürlich.«

Sauer stand auf. »Und was genau tun Sie jetzt, da … ?«

»In der Kanzlei, meinen Sie?«

»In der Kanzlei, ja.«

»Ich werde vermutlich für Herrn Kappusch arbeiten. Das ist der Seniorpartner. Er wird die Firma weiterführen.«

»Verstehe. Na gut. Ich denke, wir sind hier erstmal durch. Danke für Ihre Zeit.«

»Gern«, sagte Thomas und stand auf. Die rötlichen Flecken auf seinen Wangen waren wieder da. »Wenn es irgendetwas gibt, das ich noch tun kann …«

»... dann komme ich auf Sie zurück.«

Thomas nickte. Dann sagte er: »Darf ich Sie noch etwas fragen, Herr Kommissar?«

»Jederzeit, Herr Hauser.«

»Also dieser Kerl oder wer immer das getan hat, das im Waldhaus. Sie werden ihn kriegen, oder?«

»Das werden wir.«

Thomas nickte wieder. Bestimmt. Zuversichtlich. Dann sagte er zögernd. »Aber so lange er noch da draußen ist … Ich meine, glauben Sie, dass Gefahr besteht, dass er möglicherweise auch Frau Fassmann etwas antun könnte oder … ?«

»… oder Louisa?«

Thomas nickte und blickte dann wieder zu Boden.

»Wir tun unser Bestes, damit das nicht passiert. Familie Fassmann erhält rund um die Uhr Polizeischutz.«

Thomas blickte wieder auf, und jetzt war noch etwas anderes in seinen Augen. Etwas Hartes, das nicht so recht zu seinem Alter passen wollte. Etwas wie Glas. Oder Eis. »Ich hoffe, Sie kriegen das Schwein.«

Sauer erwiderte seinen Blick.

»Verlassen Sie sich drauf.«

Thomas nickte ernst. Für einen Moment herrschte beinahe einvernehmliches Schweigen in dem riesigen, holzgetäfelten Büro.

»Gut«, sagte Sauer, »Sie können dann zurück an Ihre Arbeit gehen, Herr Hauser. Haben Sie eine Visitenkarte?« Hauser stand auf und gab ihm eine. Dann drehte er sich zur Tür. Als er sie erreicht hatte, sagte Sauer: »Oh, es gibt da vielleicht doch noch etwas, bei dem Sie mir helfen können.«

Thomas Hauser drehte sich zu ihm um: »Ja?«

»Frau Blume hat vorhin erwähnt, dass Herr Fassmann hier in seinem Büro einen weiteren Safe hat, für eilige Akten oder so etwas Ähnliches. Kennen Sie zufällig die Kombination?«

Der Blick des Assistenten huschte zu einem Regal auf der rechten Seite des Bücherschranks. »Zu Herrn Fassmanns Bürosafe? Nein, natürlich nicht. Tut mir leid. Wenn Gabriele sie nicht kennt …«

»Macht nichts, Herr Hauser. Sie haben mir trotzdem geholfen. Nochmals danke!«

Thomas Hauser nickte, drehte sich um und dann war er durch die Tür. Mit einem zuversichtlichen Lächeln im Gesicht schlenderte Sauer zur rechten Seite des Bücherregals. Der mittlere Teil der Gesetzesbücher war eine Attrappe, wenn auch eine sehr gute. Nach ein paar Versuchen gelang es Sauer, die verbundenen Buchrücken nach unten zu klappen. Dahinter kam eine Tresortür mit einem Tastenfeld und einem kleinen Display zum Vorschein.

24

Sauer wartete in Fassmanns Büro auf das Eintreffen der Kollegen, welche die Technik des Anwalts abtransportieren würden. Er machte sich eine gedankliche Notiz, Alfons und den Jungs einzuschärfen, dass sie dabei mit ganz besonderer Vorsicht vorgehen sollten. Vorwürfe wegen unkorrekten Vorgehens waren das Letzte, das sie jetzt gebrauchen konnten. Geschweige denn Dienstaufsichtsbeschwerden wegen demolierter Luxusmöbel — und dann noch in einer Kanzlei. Voller Spitzenanwälte.

Während er wartete, sah er durch die Scheiben in das nasskalte Grau vor den Doppelglasscheiben. Gabriele Blume hatte sich schließlich doch noch an die Kombination erinnert, nachdem Sauer ihr die Tresortür im Bücherregal gezeigt hatte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, dafür aber mit hochrotem Kopf. In Ihrem flaschengrünen Kostümchen, fand Sauer, hatte sie dabei verblüffende Ähnlichkeit mit einer kleinen Tomatenpflanze gehabt.

Der Tresor war noch ein wenig größer als der in Fassmanns Villa und vollgestopft mit Akten. Obenauf lag ein Ordner, den Sauer überaus interessant fand. Ein einfacher beigefarbener Papphefter, auf dem in säuberlicher Handschrift

Valentin Beskovic

geschrieben stand. Und Sauer fand diesen Ordner vor allem deswegen so interessant, weil ihm Beskovic durchaus kein Unbekannter war.

Eigentlich spielte der Kerl eher in der Bezirksliga: ein kleiner Zuhälter und Drogenhändler, der seit längerem unter der Beobachtung durch die Leipziger Polizei stand. Hauptsächlich interessierten sich die Kollegen der Drogenfahndung und der Sitte für ihn. In letzter Zeit hatte sich der Kerl nach Sauers Information jedoch nichts Größeres geleistet, was der Hauptgrund dafür sein mochte, dass die Falle für ihn noch nicht zugeschnappt war. Die Kollegen hatten wohl beschlossen, dass es lohnender sein würde, Beskovic zu beobachten, um seine Kontakte nach weiter oben zu verfolgen, doch auch dabei war der Kerl bis jetzt verblüffend umsichtig vorgegangen — oder er hatte schlicht Glück gehabt. Zumindest bis zur letzten Woche, als Beskovic in einer kleinen Wohnung in der Eisenbahnstraße in eine Auseinandersetzung zwischen kleineren Dealern verwickelt wurde, die schließlich eskaliert war. Resultat: ein toter Weißrusse und zwei Verletzte, einer davon schwer. Der andere hatte bei der Befragung im Krankenhaus zweifelsfrei Beskovic als einen der Täter identifiziert. Und seitdem war dieser spurlos verschwunden. Das heißt, nicht ganz spurlos – ein ganz bestimmter Anwalt hatte offenbar Kontakt mit ihm gehabt. Man musste schon ein wirklich eingefleischter Fan von Zufällen sein, um hier keinen Zusammenhang zu sehen.

Und damit ergab auch die frühmorgendliche Unterbrechung in Fassmanns Terminkalender einen Sinn; Fassmann hatte sich in aller Herrgottsfrühe mit seinem schwerkriminellen Klienten getroffen, um anschließend nach Frankfurt weiterzudüsen, wo er das gesamte Wochenende verbringen wollte. Nur hatte ihm sein Klient einen Strich durch die Rechnung gemacht und das marineblaue Wochenende in Fassmanns Terminkalender stattdessen in ein blutrotes verwandelt.

25

Vitalis-Klinik, Helsa bei Kassel

»Als ich heute Morgen hier ankam, hatte ich natürlich erst einmal alle Hände voll zu tun. Aber als Dr. Schwanbeck bis Neun immer noch nicht aufgetaucht war, da formte sich mir ein bestimmtes Bild … ein furchtbares Bild. Ich meine, vielleicht löst sich ja noch alles auf und er war es doch nicht? Oh, Gott. Ich will ganz bestimmt niemanden ohne Grund verdächtigen«, sagte er mit der Verzweiflung eines kleinen Jungen, der mit der Hand in der Keksdose erwischt worden war und es nun bitterlich bereute. Nur dass diese große Blechdose hier weit gefährlichere Dinge als ein paar ›Kekse‹ enthalten hatte, nämliche solche, die unter das Betäubungsmittelgesetz fielen. Ungläubig schüttelte Selina den Kopf, während Stelzig fortfuhr.

»Nun, Dr. Schwanbeck ist ein zuverlässiger Arzt, daran darf kein Zweifel bestehen. Er macht einen guten Job, für die hiesigen Verhältnisse sogar einen ganz ausgezeichneten.«

»Für die hiesigen Verhältnisse?«, fragte Selina.

»Na ja, wir sind hier nicht gerade die Charité, wissen Sie? Alle geben ihr Bestes, aber unsere finanziellen Mittel sind leider begrenzt, wir haben zu wenig Personal und …«

»… und manchmal eben auch zu wenige Medikamente, wie?« Selina biss sich auf die Lippen. Das hätte sie nicht sagen müssen.

Stelzig sah hilfesuchend zu Bikowski. Aber nur kurz. »Dr. Schwanbeck … hin und wieder verspätete er sich schon einmal, und dann sieht er meist nicht besonders … frisch aus, verstehen Sie? Insbesondere an den Montagen, wenn er das Wochenende zuvor frei hatte.«

»Dr. Schwanbeck ist also ein Partylöwe.«

»Also, das weiß ich nicht, aber … Wobei, das ist überhaupt so etwas«, sagte Stelzig nachdenklich. »Niemand weiß so richtig, was er nach Feierabend oder an den Wochenenden eigentlich treibt. Und nicht, dass es da kein Interesse geben würde. Ein paar der jüngeren Schwestern haben anfangs sogar versucht, mit ihm zu flirten. Na ja, er ist ein ziemlich attraktiver Mann, nehme ich an. Aber er hat das stets abgeblockt.«

»Sie vermuten, er hat private, äh … Sorgen?«

»Möglicherweise.« Er nickte und beeilte sich zu sagen: »Aber Dr. Schwanbeck hat das immer korrekt getrennt.«

»Verstehe«, sagte Selina. »Dienst ist Dienst und Schnaps … nun ja. Vermuten Sie, dass er Probleme damit hatte? Mit dem Schnaps, meine ich? Oder vielleicht sogar mit dem einen oder anderen hauseigenen Mittelchen?« Selina deutete auf den Schrank, »Wie denen in diesem Schrank da, beispielsweise?«

»Dazu kann ich nichts sagen«, meinte Stelzig. »Und wenn es so war, habe ich es zumindest nicht bemerkt. Seine Arbeit war stets untadelig. Nicht gerade … ambitioniert, aber doch untadelig in jeder Beziehung. Er hat überaus geschickte Hände.«

»Okay. Dem talentierten Dr. Schwanbeck macht seine Arbeit also nicht übermäßig Spaß und hin und wieder verspätet er sich auch mal. Das sind aber jetzt nicht gerade überwältigende Verdachtsmomente, Dr. Stelzig.«

»Da ist noch etwas.«

»Hm?«

»Er hat mich ab und zu nach einem Vorschuss auf den Lohn gefragt.«

»Einen Vorschuss? Sie bezahlen Ihre Mitarbeiter doch wohl nicht in bar?«

»Natürlich nicht. Es war ja auch nur ein … eine Art Privatdarlehen. Ein paar hundert Euro, damit er übers Wochenende kam, wie er sagte. Er erfand dann ständig Geschichten. Wie die, dass er seine Geldbörse irgendwo verlegt hätte oder eine plötzliche Reparatur an seinem Wagen, die all seine Barreserven verschlungen hatte. Solche Sachen.«

»Verstehe. Und Sie haben ihm den Vorschuss gegeben. Ist so etwas bei Ihnen üblich?«

»Er ist ein guter Chirurg, das sagte ich ja schon. Wir brauchen ihn hier. Und am Montag hat er es bisher stets bis auf den letzten Cent zurückgezahlt.«

»Das ist in der Tat recht eigen. Haben Sie eine Idee, womit er sein Gehalt durchgebracht haben könnte?«

»Nein, über Privates sprach er ja nie.«

»Und jetzt denken Sie, er brauchte mal wieder Geld fürs Wochenende und diesmal hat er sich entschlossen, gleich den Jackpot zu knacken, anstatt Sie nochmals um Kleingeld anzupumpen?«

»Das wäre eine Möglichkeit.«

»Da muss ich Ihnen zustimmen, Dr. Stelzig. Das wäre es durchaus. Und jetzt liegt ihre große Hoffnung darin, dass wir die Medikamente wiederfinden, bevor Dr. Schwanbeck sie auf dem Schwarzmarkt verscherbelt.«

»Das wäre doch zumindest denkbar, oder?«, sagte Stelzig mit einem vorsichtigen Lächeln.

»Haben Sie ein Foto von Ihrem Mitarbeiter des Monats? Dr. Schwanbeck, meine ich.«

»Ja. Oben, in meinem Büro. Da habe ich seine Akte.«

»Also, worauf warten wir dann noch?«

26

Selina steuerte den Wagen auf der A7 zurück in Richtung Kassel, genauer nach Ihringhausen, wo sich laut Stelzigs Akte Dr. Schwanbecks Wohnung befand. Oder vermutlich eher ein Haus oder eine kleine Villa, immerhin war Schwanbeck ja Chirurg. Und dieser Kerl pumpte seinen Chef fürs Wochenende an? Seltsam, dieser Schwanbeck.

»Sieh mal einer an«, murmelte Bikowski neben ihr.

»Sieh mal einer an was?« fragte sie, während sie angestrengt versuchte, durch die Wasserfälle auf der Frontscheibe irgendetwas anderes als grobe Schemen zu erkennen.

»Der Kerl ist nicht verheiratet.«

»Und das wundert dich bei Mister ›Dienst ist Dienst‹?«

»Nein, aber er scheint das mit den privaten Daten wirklich außergewöhnlich ernst genommen zu haben. Der einzige Kontakt, der sich hier findet, ist die Adresse seines Vaters, ebenfalls wohnhaft in Kassel. Oder nee, warte, Wilhelmshöhe. Ohoho!« Bikowski pfiff anerkennend durch die Zähne.

»Ohoho was?«, sagte Selina, »Kannst du mal mehr als nur Urlaute ausstoßen, Biko?«, gefolgt von einem heftigen Fluch, als der Wagen durch ein weiteres Schlagloch rumpelte. Bikowski war so in die Akte vertieft, dass er es nicht mal bemerkte.

»Keine Ahnung, wie es finanziell so um unseren Chirurgen steht, aber sein alter Herr muss regelrecht vermögend sein. Ich kenne diese Adresse in Bad Wilhelmshöhe. Die Villa da ist ein richtiges kleines Schloss. Ausgesprochen nobel.«

»Und sein Sohn verdingt sich in einem drittklassigen Spital?«

»Seltsam, nicht? Junior war offenbar ein recht bescheidener Mann.«

»Ein bescheidener Mann mit ziemlichen Geldproblemen, ja. Das sagte Dr. Stelzig ja schon.«

»Das meine ich nicht, Selina. Der Kerl hat seine Karriere im Intercologne begonnen.«

»Und? Das ist ein Krankenhaus in Köln, vermute ich mal?«

»Das ist nicht irgendein Krankenhaus, Selina. Dort würden sie einen wie diesen Stelzig nicht mal als Patient aufnehmen, geschweige denn als Oberarzt.«

»Ach. Und dann?«

»Danach geht er in den Osten. In ein Kaff namens Dölitz. Das müsste in der Nähe von Leipzig sein, wenn ich mich nicht irre. Ah ja, da steht’s ja. Landkreis Leipzig.«

»Und?«

»Na ja, versteh’ mal! Ich weiß nicht, was sie ihm da bezahlt haben, aber wenn er sich in Köln einen gewissen Lebensstandard aufgebaut hat, ist mir klar, wieso er danach ständig Geldsorgen hatte. Vermutlich ist er deshalb später wieder zurück nach Kassel gegangen.«

»Um im weltberühmten Luxushospital unseres geschätzten Dr. Stelzig anzufangen und sich hin und wieder das Gehalt mit ein paar Pillen aufzubessern, die er schwarz vertickt?«

»So in etwa.«

»Hm.«

»Was, hm? Komm schon, Selina. Immer diese Urlaute, echt mal!«

»Blödmann. Ich denke ja nur nach. Da ist also dieser Typ. Startet eine Traumkarriere als Arzt. Verdient jede Menge Geld. Bricht das ab, geht in den Osten. Dann nach Kassel, in das schäbigste kleine Krankenhaus, das sich finden lässt. Und setzt sich dann mit Medikamenten für höchstens ein paar tausend Euro ab. Nee, Biko, das ergibt doch alles keinen Sinn …«

Bikowski schlug die Akte zu. »Wie auch immer. Ich glaube, wir sind da. Da vorne links.«

Fünf Minuten später hatten sie die Adresse Kranichweg Nummer Fünf erreicht. Es war keine Villa und schon gar kein Schloss, sondern ein ausgesprochen schlichtes Haus. Einstöckig, Im düsteren Charme rekonstruierter Siebzigerjahrebauten. Geträumte Individualität, die sich in ein paar Metern Grundstück und einem Eigenheim materialisiert hatte, das von einem guten Dutzend identischer Eigenheime umgeben war. Nicht gerade eine Sozialwohnung, aber auch ganz bestimmt kein Palast. Davor ein Garten, mit einem einzelnen, kahlen Apfelbaum, der seine dürren Zweige in den matschgrauen Himmel reckte. Malerisch. Die Wiese vor dem Haus war ein Sumpf, aus dem ein paar schmutzigbraune Grasbüschel ragten, zwei kleine Bäche plätscherten über den schlammigem Boden zur Straße hin, ihr Flussbett bildeten ein Paar ausgefahrener Reifenspuren. Keine Garage. Kein Licht hinter den Fensterscheiben. Das Haus war verlassen. Oder zumindest sah es auf den ersten Blick so aus.

Sie stiegen aus, öffneten das kleine Gartentor und spurteten den matschigen Weg entlang durch den Dauerregen bis zu den drei betonierten Stufen, die zur Eingangstür des Häuschens führten. Nassgeregneter Putz bedeckte die Wände. Fensterrahmen, von denen die Farbe bröckelte, dahinter schmucklose, weiße Gardinen, die gut in die Zeit gepasst hätten, in der das Häuschen hier auf die grüne Wiese gestampft worden war.

Die Klingel funktionierte, auch beim zweiten und dritten Mal.

Aber das war es dann auch. Kein Geräusch auf der anderen Seite der Tür, keine Bewegung jenseits der Vorhänge. Kein Licht.

»Also doch die Cayman Islands«, sagte Selina.

Das entlockte Biko ein schiefes Grinsen. »Dann viel Spaß beim Besorgen des Durchsuchungsbefehls. Wenn du diesen Fall knacken kannst, geb’ ich dir im Büro einen Kaffee aus, Sherlock. Und wenn dich deine Ermittlungen wirklich auf die Caymans führen, nimmst du mich gefälligst mit.«

»Sicher nicht, Biko. Und den Kaffee trinkst du mal besser mit deiner Mama, wenn ihr das nächste Mal…«

»Der is’ nich’ da! Schon lang nich’ mehr!«, krächzte eine Stimme hinter ihnen. Selina und Biko fuhren synchron herum. Vor dem Gartentor stand eine alte Frau mit einem absurd knallgelben Regenschirm und farblich passenden Gummistiefeln. Um ihren Kopf hatte sie außerdem eine Einkaufstüte aus Plastik geschlungen, als sei diese ein Kopftuch. Eine wetterfeste Oma, die ihren Pudel spazierenführte. Welcher sich gerade mit Inbrunst im Vorgarten von Dr. Schwanbeck entleerte.

Die Alte bemerkte es, senkte den Kopf und sprach: »Fein, Schorschi, fein!«, woraufhin der solchermaßen Angesprochene ein stolzes Bellen hören ließ. Erstklassige Nachbarschaft, soviel stand mal fest.

Selina und Bikowski kämpften sich durch das matschige Inferno zurück zum Gartentor.

»Und Sie sind?«

»Helga Weigert ist mein Name.«

»Na schön. Und Sie wohnen hier in der Nähe?«, fragte Selina.

»Nummer Sechs«, sagte die Alte, »Da wohn’ ich. Ganz allein mit dem Schorschi, seit der Herbert von uns gegangen ist.«

»Ja ja, schon in Ordnung«, sagte Selina. So spannend die Lebensgeschichte der Alten zweifellos war, jetzt, während ihnen der Regen in dichten Strömen in den Uniformkragen rann, war weder der Ort noch die Zeit dafür. »Was wissen Sie denn über Dr. Schwanbeck?«

»Wen?«, fragte die Alte interessiert und hielt den plastikbetuchten Kopf schräg. Jetzt erinnerte sie Selina ein bisschen an einen aufmerksamen Vogel. Einen Kranich vielleicht. Na wie passend.

»Dr. Schwanbeck, er wohnt in diesem Haus.«

»Ach so. Ein Doktor ist der, sieh mal einer an. Deswegen wohl auch die Angeberkarre.«

»Angeberkarre?« Die Frau war förmlich ein sprudelnder Quell von seltsamen Informationen. Fragte sich, ob auch nützliche darunter waren.

»Ja, so ein roter Sportwagen«, sagte sie, »So ein kleiner Flitzer. Steht sonst immer in der Einfahrt rum. Wenn das Ding losknattert, da stehen Sie im Bett, das kann ich Ihnen aber flüstern! Mein seliger Herbert, der hatte es ja dann mit den Ohren, der hat’s nicht mehr gehört. Ich aber schon, denn meine Ohren sind noch prima in Schuss! Und der Schorschi wird auch immer ganz aufgeregt von dem Lärm, die ganze Straße hört man den entlangknattern, und der Gestank …«

Selina begann den verstorbenen Ehemann allmählich ein wenig um seine Schwerhörigkeit zu beneiden. »Gut. Und wann haben Sie den Wagen von Dr. Schwanbeck das letzte Mal gehört? Oder in der Einfahrt stehen sehen?«

»Den hässlichen roten Flitzer? Am Mittwoch war das. Das weiß ich genau. Sechs Uhr abends. Da schaue ich nämlich immer die Autobahnpolizei. Das ist meine Serie, wissen Sie? Da geht es auch um dieses Polizistenpärchen, und sie müssen gemeinsam knifflige Fälle ausknobeln. Mein seliger Herbert hat ja immer gesagt, nur noch Blut und Gewalt im Fernsehen heutzutage, aber …«

»Am Mittwochabend, und da sind Sie ganz sicher?«

»Ja, natürlich. Ich weiß doch, wann meine Serien kommen, ich bin ja nicht senil! Alles bestens in dem alten Klapperkasten.«, sagte die Alte und wackelte mit ihrem Kopf auf dem dürren Hals, als wollte sie es beweisen. Mehr denn je glich sie einem Vogel, jetzt allerdings eher einem Truthahn. Ihr Hals war erstaunlich lang und dünn.

»Na gut, Frau Weigert. Vielen Dank. Wenn wir weitere Fragen haben sollten …«

»Genau. Wir wohnen gleich da drüben, der Schorschi und ich.«, die Alte wies hinter sich. Dann sagte sie »Komm, Schorschi!«, und zog ab, ihren Hund im Schlepptau, als wäre er ein Spielzeugpferd auf kleinen Holzrollen. Und vermutlich hätte sie den Unterschied überhaupt nicht bemerkt, solange das Holzpferd nur brav in Nachbars Garten uriniert hätte.

»Dann statten wir jetzt wohl mal dem Vater einen Besuch ab«, sagte Selina, als sie wieder im Auto saßen.

»Kann’s kaum erwarten«, meinte Bikowski und blickte gelangweilt aus dem Fenster.

»Wenn wir da fertig sind, lade ich dich zum Essen ein«, setzte Selina aufmunternd hinzu.

Bikowski sah sie an. Hungrig. »Das ist die erste gute Idee, die ich heute höre, Selina. Ich habe seit ’ner Stunde nichts gegessen, mindestens.«

»Hat dir deine Mami etwa keine Schnittchen mitgegeben?«. Selina machte große Augen und einen demonstrativen Schmollmund, während sie das sagte.

Bikowski grinste sie breit an. »Ach Selina, wenn du nicht so eine unheimliche Nervensäge wärst, dann könntest du richtig …«. Aber Selina sollte nie erfahren, was sie seiner Meinung nach dann möglicherweise sein konnte. Denn in diesem Moment klingelte Bikowskis Telefon.

27

»Is’ nich’ wahr!«, sagte Bikowski, nachdem er eine Weile dem aufgeregten Geschnatter am anderen Ende der Verbindung gelauscht hatte. Sein Grinsen war währenddessen immer breiter geworden. »Is’ nich’ wahr!«, wiederholte er, »Wie viele?« Mehr Geschnatter aus der Leitung. »Scheiße, wie blöd muss man eigentlich sein? Ich komme sofort, das heißt … Moment.«

Er drehte sich mit fragendem Gesichtsausdruck zu Selina um und legte eine Hand auf das Mikrofon des Handys. »Schillerstraße in der Nordstadt, der Supermarkt gleich beim Bahnhof. Könntest du mich da absetzen?«

»Klar.«, sagte Selina. Dr. Schwanbecks Vater wohnte am anderen Ende der Stadt, da konnte sie genauso gut durch die Innenstadt fahren. Etwas anderes als Autofahren schien dieser Tag ohnehin nicht für sie bereitzuhalten.

»Ja, haltet sie dort fest«, sagte Bikowski in sein Telefon. »Ich bin in zehn Minuten da. Viertelstunde, höchstens.«

Sportlich, fand Selina. Noch dazu bei diesem Wetter. Sie startete den Wagen und fuhr los.

Die Nordstadt, auch Nord-Holland genannt, gehörte zu den weniger beliebten Stadtteilen von Kassel. Seit der Jahrhundertwende war die Gegend entlang der Holländischen Straße mit Industriebauten vollgepflastert worden und bot, von ein paar Grünflächen abgesehen, wenig Erbauliches fürs Auge, zumal zu dieser Jahreszeit. Und wenn es in der Innenstadt Ärger gab, dann nicht selten hier.

Als Selina auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt einbog, waren die Kollegen bereits in vollem Gange. Zu dem Streifenwagen am Rande des Parkplatzes hatten sich ein Polizeikleinbus und ein Krankenwagen gesellt. Unter großer Anteilnahme der hälsereckenden Bevölkerung, die den Platz offenbar partout nicht verlassen wollte, wurden gerade ein gutes Dutzend Jugendlicher verhört.

»Die Chechow-Brüder?«, fragte Selina, und verstand, wieso das Grinsen die ganze Fahrt über nicht aus Bikos Gesicht gewichen war. Seine riesigen Pranken hatten dabei ungeduldig auf dem Armaturenbrett herumgetrommelt. Soweit sie wusste, waren die Chechow-Brüder mutmaßliche Drahtzieher hinter einer ganzen Reihe mittelschwerer Verbrechen, in denen Bikowski gerade ermittelte. Raubüberfälle, Einbruchdiebstähle, Prostitution, die ganze Palette. Und natürlich Drogen, wenn auch in eher bescheidenem Maßstab.

»Oh ja. Die ganze Bande.«, freute sich Bikowski und rieb sich die Hände. »Sind mitten am Tag in den Supermarkt marschiert und haben einfach mitgenommen, was ihnen gefallen hat.«

»Und dann haben sie auf dem Parkplatz gewartet, bis die nächste Streife auftaucht?«

»Noch besser«, sagte Bikowski und deutete auf den Krankenwagen. »Dann haben sie angefangen, sich gegenseitig abzustechen.«

»Was?«

»Ja, es gab wohl Streit um eine geklaute Flasche Wodka oder sowas.«

»Was?!«, Selina begriff immer noch nicht, was sie da hörte. Die da draußen waren Jugendliche, fast noch Kinder, bemerkte sie jetzt. Kinder mit gefährlich aussehenden Tätowierungen und Schnappmessern, aber dennoch Kinder. Bikowskis Laune war derweil auf ihrem Höhepunkt.

»Ja. Toll, oder? Und inzwischen hat eine Kassiererin ausnahmsweise mal die Geistesgegenwart besessen, auf das rote Knöpfchen zu drücken. Markert und ein Kollege waren in der Nähe und — Bingo!«

Energisch riss Bikowski die Tür auf, während der Wagen noch ausrollte. Er lachte, als er auf die Kollegen zutrat. Die Augen der jugendlichen Straftäter weiteten sich bei seinem Anblick, aber er kümmerte sich gar nicht darum. Stattdessen drehte er sich zu den Gaffern um, immer noch grinsend. »Ich würde sagen, hier gibt’s nichts zu sehen. Oder?«, er beugte sich zu einem Rentner hinunter, der eine Daunenjacke und etwas zu kurze Jogginghosen trug, aus denen schmutzigweiße Socken ragten, die — unbegreiflicherweise bei dieser Kälte — in Birkenstock-Sandalen steckten. Der alte Kerl murmelte etwas Unverständliches und zog dann ab. Die restlichen Gaffer taten es ihm nach und nach gleich.

Selina auch. Sie wendete den Wagen und fuhr vom Parkplatz, um der Spur des verschwundenen Chirurgen zum nächsten Anhaltspunkt zu folgen. Aber sie gönnte Bikowski seinen Erfolg. Irgendwann würde sie bestimmt auch mal einen haben.

28

Kassel, Stadtteil Wilhelmshöhe, Villa Schwanbeck

»Von der Polizei?«, wiederholte die Frau. Sie trug eine Art bequemes Businesskostüm, aber Selinas Instinkte und der leichte Geruch nach Desinfektionsmittel, der von ihr ausging, verrieten ihr den Beruf ihres Gegenübers auf den ersten Blick oder vielmehr auf den ersten Riecher. Gepflegte, kräftige Hände mit sorgfältig gestutzten Nägeln. Wachsamer Blick mit einem Schuss professioneller Strenge darin. Ganz sicher war dies eine private Pflegeschwester. Und ganz sicher keine, die Selinas Kasse je bezahlen würde, sollte sie mal eine brauchen.

Der wuchtige Bau, an dessen mächtiger Eichentür ihr die Schwester gerade den Einlass versperrte, ließ keinen Zweifel daran, dass der Eigentümer der Villa über genügend finanzielle Reserven verfügte, dass ihn die Sorgen von staatlichen Kassenpatienten herzlich egal sein konnten. Wie schön für ihn.

»Oberkommissarin Selina Gülek«, sagte Selina, »Kriminalpolizei Kassel. Ich hätte gern Dr. Schwanbeck gesprochen, wenn das möglich ist.«

»Gülek?«, fragte die Schwester mit einer Spur von Pikiertheit.

»Ja. Das ist türkisch, wissen Sie«, grinste Selina breit. »Darf ich jetzt rein?«

»Ich weiß nicht recht. Um was geht es denn?«

»Das hätte ich offen gestanden gern mit Dr. Schwanbeck selbst besprochen, wenn’s recht ist. Und zufällig sind mir auch gerade die Visitenkarten ausgegangen, falls Sie ihm diese jetzt auf einem Silbertablett servieren wollten. Aber hey …«, setzte Selina dann hinzu, »Wir müssen das nicht hier machen. Ich kann Dr. Schwanbeck auch aufs Revier bestellen. Halten Sie das für eine gute Idee in seinem Zustand?«

Das war ein Schuss ins Blaue, aber die Anwesenheit einer kostspieligen Krankenschwester hatte sicher einen Grund.

»Nein, tue ich nicht.«, sagte die Schwester ohne jede Spur von Freundlichkeit, »Dann kommen Sie eben herein, Frau Gülek.«

»Besten Dank«, sagte Selina und schob sich an der Frau vorbei ins Innere einer düsteren Eingangshalle. Das Geländer der breiten Freitreppe, welche in den ersten Stock hinaufführte, war mit einer metallenen Schiene versehen, am oberen Ende stand der dazugehörige Stuhl. Ein Treppenlift. Es stand offenbar wirklich nicht zum Besten mit Dr. Schwanbeck Senior. Die Wand entlang der Treppe schmückte eine Ansammlung von Geweihen. Jagdtrophäen der geschmackloseren Art, fand Selina. Sie hatte nie verstanden, wieso sich jemand geistig Gesundes die Schädel von toten Tieren an die Wände nageln sollte.

Die Schwester führte Selina die Treppe hinauf. Oben klopfte sie an einer der Türen und trat dann ein. Selina folgte ihr auf dem Fuße — und fand sich in einem so gigantischen wie niederdrückenden Schlafzimmer wieder. Alle Fenster bis auf eines waren von schweren Vorhängen verdeckt. Irgendwo im Halbdunkel stand ein riesiges Himmelbett, auf dem dazugehörigen Nachttisch brannte eine kleine Lampe und beleuchtete einen Stapel Medikamentenverpackungen. Diese einzige Lichtquelle tauchte den Raum in ein gespenstisches Halbdunkel, in dem die Schatten mehr Substanz zu besitzen schienen als die Dinge, die sie warfen.

»Das Alter hat seinen Preis, wissen Sie?«, sagte eine brüchige Stimme hinter ihr und Selina fuhr herum. Aus der Finsternis in der Ecke des Raumes, die am weitesten von der Nachttischlampe entfernt war, rollte ein Rollstuhl auf sie zu. Darin saß ein beängstigend abgemagerter Mann, dessen dünnes, schlohweißes Haar in alle Richtungen von seinem Kopf abstand, als hätte er gerade in eine Steckdose gegriffen. Der Alte drehte den Kopf in Richtung der Schwester, die immer noch in der Tür stand, und sagte: »Einen Kaffee, ja?«. Die Schwester nickte und verschwand. Sie zog die Tür leise hinter sich ins Schloss.

»Selina Gülek, Kriminalpolizei Kassel. Und danke, aber das wäre eigentlich nicht nötig gewesen.«

Der alte Mann ignorierte ihre hingestreckte Hand und musterte sie einen Augenblick fragend. Dieser fragende Ausdruck wich nicht aus seinem seltsam reglosen Gesicht, während er mit tonloser Stimme sagte:

»Also, Frau Gülek.« Erst jetzt bemerkte Selina das leichte Schleppen in seiner Aussprache. Seine Mundwinkel, in die sich tiefe Falten gegraben hatten, bewegten sich beim Sprechen kaum. Ein Schlaganfall, vermutete Selina. Daher auch der Rollstuhl. Und vermutlich war dies nicht Schwanbecks einziges Gebrechen.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er und fügte hinzu, »Und bitte machen Sie es kurz, ich bin nicht in der besten Verfassung, wie Sie vielleicht sehen.« Sein Kopf auf dem dürren Hals ruckte in Richtung des Himmelbettes. Ja, dachte Selina, das sehe ich. Aber wissen Sie was, ich habe schon Menschen in viel schlechterer Verfassung gesehen. Und die haben trotzdem ein gewisses Mindestmaß an Höflichkeit an den Tag gelegt.

»Es geht um Ihren Sohn, Dr. Schwanbeck.«

»Meinen … Sohn. Natürlich. Was auch sonst. In welchen Schwierigkeiten steckt er denn diesmal?«

Oha, dachte Selina.

»Noch in keinen. Das heißt, vielleicht doch. Er ist seit ein paar Tagen nicht zur Arbeit erschienen.«

»Sieht ihm ähnlich. Schläft wahrscheinlich bei irgendeiner Hure seinen Rausch aus, der Schwachkopf.« Doppel-Oha!

»Was … äh, was bringt Sie denn zu dieser Vermutung, Dr. Schwanbeck?«

»Nun, er ist mein Sohn, oder nicht? Zumindest habe ich mir das bei seiner Geburt von seiner Mutter einreden lassen, bevor auch die mich sitzengelassen hat.« Schwanbeck der Ältere machte eine vage Geste zur Zimmerdecke hin.

»Sie ist tot? Ihre Frau, meine ich?«

»Ja, ist sie«, sagte Schwanbeck ohne die geringsten Anzeichen von Trauer. »Aber was hat das mit irgendwas zu tun?«

»Vermutlich nichts. Sie haben also Ihren Sohn in letzter Zeit nicht oft gesehen?«

»Gar nicht mehr, seit ich ihn hinausgeworfen habe. Was ich leider viel zu spät getan habe.«

»Sie haben ihn hinausgeworfen? Wieso …«

In diesem Moment öffnete sich die Tür und die namenlose Schwester in dem Kostüm trat ein, in ihrer rechten Hand ein Silbertablett, natürlich. Darauf balancierte sie allerdings keine Visitenkarte, sondern eine Porzellantasse, die etwas verströmte, das entfernt an Kaffeeduft erinnerte. Vermutlich war das Zeug entkoffeiniert oder so. Aber bei dieser Kälte würde sogar das …

»Danke«, sagte Schwanbeck, als die Schwester ihm die Tasse reichte. Er nippte an dem Getränk und verzog angewidert das Gesicht, das heißt, genaugenommen verzog er nur die rechte Hälfte seines Gesichts. Die Schwester verließ den Raum, nicht ohne Selina das triumphierende Lächeln sehen zu lassen, das ihre Lippen umspielte. Der Kaffee war nie für sie gedacht gewesen.

»Was wollten Sie nochmal gerade wissen?«, fragte Schwanbeck ohne jede Spur von Interesse.

»Ich wollte wissen, warum Sie Ihren Sohn hinausgeworfen haben und wann, falls Sie das noch wissen.«

»Oh ja, das weiß ich durchaus noch«, sagte Schwanbeck vorwurfsvoll, »Ich leide gerade große körperliche Schmerzen, wissen Sie? Unvorstellbare Schmerzen, um genau zu sein. Mein Oberstübchen funktioniert aber noch ganz passabel.«

»Entschuldigung.«

»Hm. Das war vor zweieinhalb Jahren. Mein schwachsinniger Sohn war gerade an dieses … dieses Armenkrankenhaus versetzt worden …«

»Das Vitalis in Helsa?«

»Ja, ja, irgendetwas in der Art.«

»Meiner Kenntnis nach hat er darum gebeten, dorthin versetzt zu werden …«

»Was weiß ich«, fuhr Schwanbeck ungeduldig dazwischen. »Wie auch immer. Auf jeden Fall muss es ihm sogar drüben gelungen sein, sein Geld zu verjubeln. Er war nämlich vorher im Osten, wissen Sie?« Er sprach das Wort »Osten« aus, als handele es sich dabei um eine ansteckende Krankheit. »Und dann kam er plötzlich angekrochen und ich … in meiner … in meiner väterlichen Güte habe ihm eins meiner Häuser im Kranichweg überschrieben. Es ihm geschenkt, verstehen Sie? Denn hier konnte ich ihn ja schlecht haben.«

Natürlich nicht, dachte Selina, für zwei Personen ist das kleine Schloss ja auch viel zu klein.

»Aber damit nicht genug. Kurz darauf behauptete er, trocken zu sein. Er ist nämlich ein schwerer Trinker, wissen Sie? Mein eigener Sohn, ein Abhängiger! Aber er war schon als Kind charakterschwach. Ließ sich allen möglichen Blödsinn einreden, wollte mal Künstler werden und dann wieder Musiker und all diesen Quatsch. Ist doch klar, dass so einer früher oder später auf die schiefe Bahn gerät.«

Und manche Eltern machen es sich scheinbar regelrecht zur Aufgabe, dafür zu sorgen, dass genau das passiert.

»Jedenfalls begann er ungefähr zu dieser Zeit, mal wieder den Sohn zu spielen. Besuchte mich häufiger. Kam zum Tee. Sprach wie ein Mensch. Solche Sachen. Auch wenn ich seine Arbeitsstelle und seinen Lebenswandel nicht gutheißen konnte, gab ich mich freundlich. Schließlich bin ich ein zivilisierter Mensch.«

Mit einem hörbaren Schlürfen nippte er an seinem Kaffee.

»Das ging so lange, bis ich merkte, warum er das tat. Mich besuchen, meine ich.« Der alte Mann verstummte plötzlich und blickte zum Fenster hinaus in das trübe Grau draußen.

»Nämlich?«

Schwanbeck drehte sich zu Selina um und blickte sie aus blassen, verständnislosen Augen an. »Na, weil er mich die ganze Zeit beklaut hat natürlich. Deswegen war er hier, hat mich besucht und mir den Sohn vorgespielt — um seinen alten Herrn zu bestehlen und wegen nichts sonst.«

»Er hat sie bestohlen?«

»Oh ja, ein bisschen Silberbesteck hier, ein altes Buch da, Geld, wenn er welches finden konnte. Kleine Sachen anfangs. Später dann größere, wertvollere. Wohl als Dankeschön für meine Großherzigkeit ihm gegenüber.« Schwanbeck drehte sich zu Selina um, ein kranker alter Mann in einem Rollstuhl. Dem nach einer langen und offenbar überaus erfolgreichen Karriere nur eine bezahlte Krankenschwester zur Gesellschaft geblieben war und der Hass, der seit Jahren in ihm wohnte. Kein schöner Gedanke.

»Und als Sie es bemerkt haben …«

Der Alte stellte seine Tasse geräuschvoll auf dem Untersetzer ab. »Da habe ich ihn hinausgeworfen, aber achtkantig! Er soll sich hier nicht mehr blicken lassen, habe ich gesagt. Und dass ich keinen Sohn mehr habe. Keinen hatte oder je wieder haben werde, was das betrifft. Es ist eine Schande! Eine Schande!« Seine dürre Faust klopfte auf die Lehne seines Rollstuhls.

»Ich verstehe.«

»Nein«, sagte der alte Mann leise, und drehte sich wieder zum Fenster, »Sie verstehen überhaupt nichts.«

29

Leipzig, Polizeirevier Zentrum

»Na bitte, Karlchen, du hast ihn«, freute sich Boichert. »So gut wie zumindest. Und wenn wir ihn als erste in die Finger bekommen, wird die Drogenfahndung auf ewig dankbar vor uns zu Kreuze kriechen. Na ja, zumindest für ein paar Tage.«

»Na sicher, Manni. Manchmal glaube ich, du hast deinen Job verfehlt.«

»Wer von uns hat das denn nicht?«

»Auch wieder wahr«, gab Sauer zu, »Aber eines geht mir trotzdem nicht aus dem Kopf.«

»Spielverderber. Was denn?«

»Die Sache mit der Gartenschere, und dem … dem Skalpell. Wenn man Weiß glauben darf, war es zumindest eins.«

»Wie bei Jack the Ripper«, grinste Boichert.

»Witzbold. Aber trotzdem. Warum hätte Beskovic seinen Anwalt foltern sollen? Ich meine, immerhin ist er der einzige, der ihm vielleicht noch helfen konnte. Fassmann erklärte sich ja sogar bereit, sich mit einem flüchtigen Verbrecher heimlich zu treffen, was ich für einen Anwalt ziemlich gewagt finde, der demnächst Bürgermeister werden will.«

»Stimmt. Falls Fassmann überhaupt wusste, dass Beskovic auf der Flucht war.«

»Ja, falls. Aber auszuschließen ist das nicht. Ein Kerl wie Fassmann hat doch Kontakte. So einer ist gut informiert. Jede Menge Leute, die ganz verrückt drauf sind, dass Fassmann ihnen einen Gefallen schuldet. Immerhin war der Kerl ziemlich steil auf dem Weg nach oben.«

»Du denkst zum Beispiel an unseren heißgeliebten Chef Reuter.«

»Zum Beispiel. Wenn ich mal laut überlegen darf, dann würde ich sagen, dass ein Anwalt recht weit kommen kann, wenn er die richtigen Leute bei der Polizei kennt. Speziell wenn besagte Leute bei der Polizei darauf spekulieren, dass besagter Anwalt in Kürze die politische Macht in der Stadt in seiner Person versammelt.«

»Karl, dünnes Eis!«, warnte Boichert.

»Ich weiß. Und ich behaupte ja auch gar nichts. Wie gesagt, überlege ich nur laut. Und mir will einfach kein vernünftiger Grund einfallen, aus dem Beskovic seinen Anwalt hätte foltern sollen. Und schon gar nicht, warum er Fassmann umbringen sollte. Die Sache schmeckt mir nicht. Überhaupt nicht, Manni.«

»Ja, Rätsel über Rätsel. Das ist ja das Schöne an unserem Job. Zumindest wenn man Sebastian Fitzek und Konsorten glauben darf. Es wird nie langweilig.«

»Fitzek?«, fragte Sauer. »Ist das dieser neue Typ von der Spurensicherung?«

Boichert musterte ihn mit einem langen Blick — in dem vergeblichen Versuch herauszufinden, auf wessen Kosten dieser Scherz jetzt eigentlich ging. Schließlich gab er es auf. »Vergiss es, Sauer. Weißt du, was ich glaube?«

»Nee.«

»Ich glaube, du solltest beginnen, die restlichen Strippen zusammenzusuchen, während die Fahndung nach Beskovic läuft. Und dann, wenn sie ihn haben, kannst du ihn den ganzen Quatsch ja selbst fragen. Und seine Antworten werden dich vermutlich in ihrer Schlichtheit verblüffen, aber letztlich nicht wirklich überraschen. Beskovic wird einfach durchgedreht sein, war vielleicht auf Drogen oder sowas. Du weißt, wie das läuft.«

»Hm«, sagte Sauer nachdenklich. »Wenn du meinst, Manni«

»Meine ich. Hast du schon mal gesehen, was Typen anstellen können, die auf einem schlechten Trip sind? Crack, Crystal, gestrecktes Heroin? Beskovic hat diesen ganzen Dreck doch ständig vor der Nase gehabt. Und vermutlich auch in der Nase. Gott, er hat diesen Abfall an Kinder verscherbelt! Bestimmt hat er eine kräftige Prise genommen, weil ihm die Muffe ging wegen dieser Mordanklage, und dann ist es eben mit ihm durchgegangen. Hat überall Feinde gesehen und einfach zugeschlagen.«

»Wäre vermutlich eine Möglichkeit«, sagte Sauer skeptisch.

»Sag’ ich doch. Und vielleicht kommst du dann wirklich noch sauber aus der Sache raus, bevor du …« Boichert zog die Arme an den Körper und wedelte mit den Handflächen. Nach einer Weile begriff Sauer, dass das einen Vogel darstellen sollte. Einen, der nach Süden flog. In die Wärme, nach Ägypten vielleicht. Verlockender Gedanke.

»Wie meinst du das, sauber aus der Sache rauskommen?«

»Karl, ist das dein Ernst? Du bist so eine Nase, wenn es um die Ermittlungen geht. Aber was dich selbst betrifft, siehst du den Wald vor lauter Bäumen nicht.«

»Welche Bäume meinst du denn?« Sauer runzelte die Stirn.

»Reuter natürlich! Was meinst du, warum er dich auf den Fall angesetzt hat, wo du doch in ein paar Tagen sowieso die Flatter machst?«. Boichert machte wieder seine wenig überzeugende Zugvogelgeste.

»Weil es der Präsident eben so wollte. Zumindest hat mir Reuter das gesagt.«

»Na klar. Klaasen hat ja auch nichts Besseres zu tun, als das Personal für jeden einzelnen Fall höchstpersönlich auszuwählen.«

»Na ja, ich war eben zufällig vor Ort, als die Sache im Waldhaus passierte. Da lag es doch nahe …«

»Kann sein«, sagte Boichert und lächelte dann süffisant. »Aber sagt dir der Begriff ›Bauernopfer‹ was?«

»Ich spiele kein Schach«, sagte Sauer. Aber er begriff trotzdem, worauf Boichert hinauswollte.

»Nein, Karl, von Schach hast du wirklich keine Ahnung, das ist ja das Problem. Hast du dir mal überlegt, was passiert, wenn du aus irgendeinem Grund Mist bauen solltest? Oder den falschen Leuten zu dicht auf die Pelle rückst?«

»Keine Ahnung. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde?«

»Haha. Lustig. Nein, dann wird dich Reuter mit großer Geste und viel Aufhebens feuern. Und zwar ohne die geringsten Verluste für die Abteilung, das ist ja der Witz dabei. Denn eigentlich bist du ja schon so gut wie weg. Und auf diese Weise kann er dir vorher sogar noch eins reinwürgen. Was dich vielleicht einen Gutteil deiner Pension kosten könnte. Ist ein brisanter Fall, das sagt Reuter ja selbst andauernd. Ein Politikum. Dünnes Eis.«

»Das kannst du nicht im Ernst meinen. Sowas würde noch nicht mal Reuter tun. Oder doch?«

»Ich hab’ nur laut überlegt, Karl.«

Sauer nickte. Die Sache entbehrte nicht einer gewissen Logik, da hatte Boichert recht. Dumm nur, dass es jetzt viel zu spät war, um noch etwas an dieser verfahrenen Situation zu ändern. Und Boichert hatte vermutlich auch in der anderen Sache recht. Er sollte wirklich zusehen, dass er die Fäden zusammenführte, bevor Beskovic aus der Versenkung auftauchte. Damit er ihn als schön verschnürtes Paket auf Reuters Schreibtisch packen konnte. Und dann endlich würde der Zugvogel seine mächtigen Schwingen gen Süden ausbreiten, oh ja. Ägypten. Komme, was da wolle.

30

Leipzig, Universitätsklinikum

»Insgesamt zweiundneunzig Schnittwunden, scheinbar wahllos auf dem ganzen Körper verteilt. Zusätzlich ein glattes Dutzend an den Ohren. Und nein, keine davon wäre tödlich gewesen.«, sagte Dr. Löwitsch und biss ein winziges Stück von seinem Leberwurstbrot.

»Auch nicht durch Verbluten?«, wollte Sauer wissen.

»Der menschliche Körper fasst etwa fünfundsiebzig Milliliter Blut pro Kilogramm Körpergewicht, bei Fassmanns fünfundneunzig Kilo dürften es also an die sechs Liter gewesen sein«, sagte Löwitsch. »Und der Organismus ist ziemlich gut in der Lage, sich selbst wieder abzudichten, zumindest bei kleineren Verletzungen. Das Ergebnis nennt man Grind. Die Wunde schließt sich und das gerinnende Blut bildet eine Schutzschicht, hauptsächlich gegen äußere Einflüsse wie Schmutz. Aber sie verhindert auch, dass sich die Wunde vergrößert und weiteres Blut austritt. Besonders gut funktioniert das bei Schnittwunden, wo die beiden Fleischhälften …« Als wäre das sein Stichwort gewesen, biss Löwitsch ein weiteres Mal beherzt in sein Wurstbrot. »Wo die beiden Fleischhälften praktisch gleich wieder aufeinandergedrückt werden, sobald die Klinge herausgezogen wird.«

»Hm. Und — war die Klinge in diesem Fall denn nun ein Skalpell? Weiß hatte da diese Ripper-Theorie …«

»Der Ripper hat ausschließlich weibliche Prostituierte getötet.«

»In Whitechapel, einem Stadtteil von London, ich weiß.«

»Ja, nicht? Und das, obwohl er Amerikaner war.«

»Ach so? Ich dachte, man hat nie herausgefunden, wer der Ripper in Wirklichkeit war.«

»Ich habe da so meine Theorien«, sagte Löwitsch und nagte gedankenverloren an einem Stück Brotrinde herum. Wie eine Feldmaus, dachte Sauer. Fehlte nur, dass er statt des Brotes eine überdimensionale Nuss in beide Hände nahm, um daran herumzuknabbern.

»Aha. Ähm … wegen des Skalpells?«

»Ja, ja«, sagte Löwitsch, offenbar nicht sehr erfreut darüber, dass Sauer ihn aus den düsteren Gassen Londons wieder in die Trivialität der Gegenwart zurückholte. »Es könnte sein, dass Weiß diesmal gar nicht so sehr danebenliegt. Gleichmäßige Schnittkanten, von ruhiger, wenn auch etwas ungeduldiger Hand geführt. Ich würde sagen, ja. Das könnte von einem Skalpell stammen. Abgesehen von den Ohren natürlich.«

»Die Heckenschere?«

»Hm-mm.« Löwitsch nickte und kaute.

»Und wenn man einen Blutverdünner angewendet hätte, wäre es dann nicht möglich, dass er an den vielen Wunden verblutet wäre?«

»Vielleicht, ja. Hat man aber nicht. Die Jungs von der Toxikologie haben etwas viel Interessanteres in seinem Blut gefunden.«

»Nämlich?«

»Eine bunte Mischung sozusagen. Rückstände von einem überaus interessanten Cocktail.«

»Moment. Ein Drogencocktail? War Fassmann etwa high

»Hm«, Löwitschs winzige Zähne bissen einen weiteren Abdruck in das Leberwurstbrot. »High. Ja, das auch.«

»Auch?«

Löwitsch nickte. Lächelte verschmitzt. Mümmelte seinen winzigen Bissen Leberwurstbrot, und kostete seinen Vorteil aus. Wie jedesmal. Noch so etwas, das Sauer kaum vermissen würde.

»Ich sagte ja schon, er hatte mindestens drei Drogen intus. Unter anderem Upper, also Drogen, deren Genuss einen angenehmen Rauschzustand hervorruft. Die Jungs haben außerdem Kokain nachweisen können. Ich nehme an, Sie wissen in etwa, wie man sich fühlt, wenn man es schnupft? Hochgefühl, gesteigerte Aktivität … ?«

»Nicht aus eigener Erfahrung, ich bin eher so der Kaffeetyp — aber ja, ich weiß in etwa, was Sie meinen.«

»Gut. Das war also die eine Hälfte, sozusagen. Und außerdem hatte er noch Downer intus, die genau das Gegenteil bewirken. Beruhigungsmittel. Für sich genommen verursachen sie auch Rauschzustände, aber die vermitteln einem eher ein Gefühl, als sei man in Watte verpackt und jemand wiederhole ständig ›Alles ist gut dir kann nichts passieren‹. Das Zeug, das er im Blut hatte, nennt sich Midazolam.«

»Wir haben eine Verpackung am Tatort gefunden, darauf stand Dornikum oder sowas.«

»Dormicum. Das enthält den Wirkstoff Midazolam, genau.«

»Okay, Sie sagten etwas von drei Drogen?«

»Ja. Scopolamin, das war der dritte Wirkstoff im Bunde. Ein Halluzinogen.«

»Hm«, machte Sauer düster, »Und was ist dann also der Effekt dieses … dieses Drogencocktails? Die ultimative Bewusstseinserweiterung?«

»Hm. Das hängt natürlich entscheidend von der Dosierung ab. Die Downer, also die Schlafmittel packen den Konsumenten in eine weiche Wolke der Seligkeit, sie machen einen willenlos, aber eben auch extrem schläfrig.«

»Es sei denn, man nimmt gleichzeitig diese … diese Upper.«

»Exakt. Das Kokain macht einen wach und aufnahmefähig. Und das Scopolamin schickt einen auf einen netten Trip. Oder nicht so nett, je nachdem, ob einem gerade einer Mozart vorspielt oder die Ohren in Stücke schneidet. Es könnte das Schmerzempfinden des Opfers um ein Vielfaches gesteigert haben.«

»Verstehe. Aber warum zur Hölle sollte Fassmann sich so etwas reinpfeifen, bevor er sich mit seinem Klienten trifft? Er dürfte ja kaum noch ansprechbar gewesen sein, geschweige denn in der Lage, einen vernünftigen Beistand zu leisten.«

»Oh, so etwas pfeift man sich gewiss nicht selbst rein, wie Sie es so elegant ausdrücken, Herr Kommissar. Zumindest nicht, wenn man noch einen Rest Verstand besitzt. Außerdem erfordert die richtige Dosierung ein gewisses Maß an Fingerspitzengefühl. Das Opfer hätte sich in diesem Zustand nicht mal mehr die Zähne putzen können. Es wäre bereits am Verschluss der Tube gescheitert.«

»Jemand hat es ihm verabreicht? Der Täter?«

»Bravo, Herr Kommissar!«, lobte Löwitsch, »Kommen Sie!« Dann ging er voran zu Fassmanns Leiche, die auf einem Obduktionstisch aus Edelstahl lag. Er schlug das Laken zurück, das bisher alles bis auf das Gesicht des Opfers verborgen hatte. Sauers Blick fiel auf die Y-förmige Narbe auf der Brust des Toten, wo Löwitsch seinen Oberkörper geöffnet hatte, die einzigen sichtbaren Spuren der Arbeit des Mediziners. Die früheren Wunden im Körper des Opfers waren zu bleichen Einschnitten in der Haut des Toten geworden.

Löwitsch lenkte Sauers Blick auf die linke Armbeuge der Leiche.

»Sehen Sie, hier. Kaum sichtbar für das bloße Auge, wenn man nicht danach sucht.«

»Ich sehe gar nichts. Nur einen winzigen Punkt.«

»Eben. Wer immer das getan hat, wusste jedenfalls, wie man Infusionen legt. Nur ein winziger Ansatz eines Blutergusses, kaum der Rede wert, obwohl sich das Opfer sicher gewehrt hat, zumindest anfangs.«

»Ein Einstich?«

»Bingo. Und den habe ich auch nur entdeckt, weil ich danach gesucht habe. Und weil die Kanüle nicht von einer Spritze stammt, sondern von einem etwas größeren Kaliber. So etwas benutzt man, wenn man einen Tropf legt. Was offenbar jemand mit Ihrem Anwalt gemacht hat.«

»Ein Tropf? Dann muss es jemand gewesen sein, der sich mit solchen Sachen auskennt. Ein Arzt! Womit wir wieder bei der allseits beliebten Ripper-Theorie wären.«

»Ich weiß nicht«, sagte Löwitsch und zuckte mit den Schultern. »Eine Menge Leute können Infusionen legen. Krankenschwestern, Junkies, Diabetiker. Jeder, der sich irgendwann die Mühe macht, das zu lernen. Aber der Ripper war tatsächlich ein Arzt, da haben sie Recht. Nur eben kein Engländer.«

»Na gut. Lassen Sie mich das mal zusammenfassen«, sagte Sauer, legte die Spitzen seiner Zeigefinger an die Schläfen und schloss die Augen. »Jemand setzt also unseren Anwalt auf diesen Stuhl, fesselt und knebelt ihn und verabreicht ihm währenddessen diesen Drogencocktail. Diese … Upper und Downer.«

»Exakt. Die Fasern des Knebels, die ich in seiner Luftröhre gefunden habe, lassen darauf schließen, dass er den Knebel schon eine Weile vor seinem Tod im Mund hatte. Außerdem hat er während der Tortur Wasser zu sich genommen, aber keine feste Nahrung. Vielleicht als Belohnung. Scopolamin verursacht einen sehr trockenen Hals.«

»Als Belohnung für richtige Antworten, meinen Sie?«

»Möglich. Diesen Upper/Downer-Cocktail — so etwas benutzt man bei Verhören.«

»Sie belieben zu scherzen, Löwitsch! Eine Wahrheitsdroge. So etwas ist doch Quatsch aus einem James Bond Film!«

»Glauben Sie? Dann sind Sie aber schlecht informiert. Es gibt sie, und sie funktionieren sogar recht zuverlässig. Und diese Art von Forschungen haben jahrzehntelange Tradition. Googeln Sie mal MK-Ultra.«

»MK-Was?«

»Ein Forschungsprogramm zur Bewusstseinskontrolle, komplett von der CIA finanziert und zwar schon zur Zeit des Kalten Krieges. Die haben ein Wahrheitsserum entwickelt und es dann an russischen Überläufern ausprobiert.«

»Okay, ich verstehe. Jemand wollte Informationen aus Fassmann herausfoltern. Wie zum Beispiel die Kombination zu einem ganz bestimmten Safe. Und als er die hatte, hat er …«

»Hat er schätzungsweise den restlichen Inhalt des Tropfs in die Blutbahn des Opfers entleert und ist verschwunden. Er konnte ja nicht wissen, dass die Uppers später für einen Moment die Oberhand gewinnen und das Opfer kopfüber durch die nächste Wand befördern würden.«

»Ein Tropf, sagen Sie. Könnte man dazu zum Beispiel einen Kleiderständer verwenden?«

»Gute Idee. War einer am Tatort?«

»Ja«, sagte Sauer. »Und wissen Sie, wer sich vorher am Tatort mit dem Opfer getroffen hat?«

»Nein, wer?«

»Valentin Beskovic. Stadtbekannter Drogendealer.«

»Na super, gut für Sie, Sauer. Damit dürfte der Fall ja gelöst sein. Schönen Urlaub!«

»Ja. Vermutlich. Aber sagen Sie, Dr. Löwitsch: Hätte Fassmann die Sache unbeschadet überstehen können, wenn ihm der Täter nach der Befragung die Nadel einfach aus dem Arm gezogen hätte?«

»Schwer zu sagen, aber möglich ist das schon. Kommt darauf an, wie viel er zu diesem Zeitpunkt schon intus hatte. Ob er nach dieser Behandlung jemals wieder in unsere Welt zurückgefunden hätte«, Löwitsch deutete eine kreiselnde Handbewegung an seiner Schläfe an, »steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt.«

»Verstehe. Dann können wir also in jedem Fall von vorsätzlichem Mord ausgehen.«

»Unbedingt. Und jeder Menge kaltblütiger Planung, um das da durchzuziehen.« Der Arzt deutete über seine Schulter auf die Leiche. »Damit dürfte der Anwalt Ihres Dealers ihn noch nicht mal als unzurechnungsfähig irre erklären lassen können. Der Kerl wandert mit Sicherheit für lange Zeit hinter Gitter.«

»Schauen wir mal«, sagte Sauer und ging.

31

Leipzig, Polizeirevier Zentrum

»Sauer!« brüllte Reuter quer durch den Raum. Er stand in der Tür seines Büros, wedelte mit einem Papier und sah mit seinem hochroten Kopf irgendwie unglücklich aus, fand Sauer. Vielleicht sogar ein wenig unglücklicher als sonst. Sauer schüttete das heiße Wasser aus der vorgewärmten Kaffeetasse, füllte sie dann mit Kaffee aus der Maschine und machte sich auf den Weg zu Reuters Büro. Nein, verbesserte er sich, als er näher kam. Reuter war nicht unglücklich, vielmehr war er angepisst, und zwar richtig. Und er, Sauer, war offenbar der Grund für diesen Zustand.

Reuter wartete, bis Sauer das Büro betreten hatte, dann warf er die Tür krachend hinter ihm ins Schloss und fuhr herum, um sich vor Sauer aufzubauen. Was angesichts Sauers bescheidener Körpergröße keine sonderlich schwere Übung für ihn darstellte.

»Sagen Sie mal, wollen Sie mich verarschen, Sauer?«, brüllte er auf den Kommissar hinab.

»Nichts läge mir ferner«, sagte Sauer und nahm einen Schluck Kaffee. Das Zeug schmeckte furchtbar.

»Jetzt hören Sie mal«, tobte Reuter weiter. »An Ihrer Stelle würde ich mir verdammt genau überlegen, wem ich hier dumm komme! Sie sind noch immer im Dienst, Mann!«

»Das ist mir bewusst.« Er würde den Kaffee wohl wegschütten. Er war noch nicht mal richtig heiß. Zustände waren das!

»Schön, dann haben Sie vielleicht auch die Güte, mir zu verraten, wieso Sie die Fahndung nach einem Mann rausgeben, der bereits in Polizeigewahrsam sitzt!«

»Beskovic ist … er sitzt?«, fragte Sauer ehrlich verblüfft und überging damit die Tatsache, dass üblicherweise nicht er die Fahndungen herausgab, sondern ein gewisser Kriminaloberrat, der gerade vor Wut schäumend vor ihm stand.

»Das tut er allerdings. Ihr Verdächtiger hat ein bombenfestes Alibi namens Leinestraße Nummer Einhundertelf. Ein besseres gibt’s gar nicht!«

»Schade.«

»Schade?«, schnappte Reuter. »Ist das alles, das ihnen dazu einfällt? Der Kollege von der Drogenfahndung hat sich kaputtgelacht. Hören Sie, Sauer? Er hat sich kaputtgelacht! Über mich. Ü-ber mich!« Das war in der Tat richtig tragisch, fand Sauer. Beinahe so tragisch wie das toxische Gebräu in seiner Tasse.

»Das wusste ich nicht«, erwiderte der Kommissar, »und außerdem habe ich die Fahndung nicht ausgerufen. Sie lief ja bereits, so viel wusste ich ja.«

»Meine Güte, sind Sie gut informiert, Sauer!«, äffte Reuter. »Sie haben ja auch nur vorgeschlagen, die Fahndung auszuweiten, weil Sie den Kerl verdächtigen, einen Mord begangen zu haben, während er in Haft saß!«

»Wie gesagt, das wusste ich nicht. Aber Sie hätten es eigentlich vorher …«

Reuter platzte.

Was ein faszinierender Anblick war. Seine sportlich-jugendlich Eleganz war mit einem Schlag wie weggeblasen. »Wollen Sie mir jetzt noch erzählen, wie ich meinen Job zu erledigen habe, Sauer? Mann, ich warne Sie!«, brüllte er.

»Nein. Und jetzt?«

»Jetzt rufen Sie beim Chef der Drogenfahndung an und erklären dem bitteschön, was Sie geritten hat, diesen Blödsinn zu verzapfen.«

»Also ich dachte mir …«

»Hören Sie mir nicht zu, Sauer? Ich will nicht wissen, was Sie sich dabei dachten. Mich interessiert nur, dass Sie den Täter fassen, und zwar pronto — und nach Möglichkeit einen, der weder tot noch in Haft ist. Begreifen Sie das oder soll ich Ihnen eine Skizze malen?«

»Ich begreife es.«

»Wundervoll. Und jetzt rufen Sie bei den Kollegen an. Und wenn bei diesem Anruf auch nur einmal mein Name fällt, mache ich Sie zur Schnecke, Sauer. Hören Sie? Zur Schnecke! Ich habe schon genug einstecken müssen wegen Ihrer Unfähigkeit.«

»Ja, Chef.«

»Und merken Sie sich eines: Ich bin ein gutherziger Mensch. Aber auch ich habe meine Grenzen. Und ich verfüge über Mittel und Wege …«

»Ja, Chef.«

Sauer drehte sich um, öffnete die Tür und sah gerade noch, wie die Kollegen, die in der Nähe der Tür saßen, sich eifrig wieder in irgendwelche Akten vertieften. Boichert schenkte Sauer ein fragendes Grinsen, aber das erübrigte sich eigentlich. Reuter war mit Sicherheit auch außerhalb seines Büros gut zu hören gewesen.

»Mittel und Wege, Sauer!«, rief ihm Reuter hinterher. »Merken Sie sich das!«

Dann flog die Tür wieder ins Schloss, und das Grinsen der Kollegen kam zum Vorschein.

»Kopf hoch, Karl«, sagte Boichert. »Fehler passieren nun mal.«

Sauer zuckte mit den Schultern. Es überraschte ihn selbst ein bisschen, wie wenig ihn die Sache mitnahm. Während er zu seinem Schreibtisch trottete, sich setzte und nach dem Hörer griff, waren seine Gedanken bereits damit beschäftigt, neue Schlüsse zu ziehen. Eigentlich wenig überraschend. Diese Sache mit Beskovic hatte ihm von Anfang an nicht so richtig geschmeckt.

Kein Motiv. Nicht, dass Beskovic in Reuters Augen eins gebraucht hätte. Der hatte sich mit Feuereifer auf die Fahndung gestürzt, um sich beim Präsidenten lieb Kind zu machen. Und sowas kam dann dabei raus.

Er wählte und beim zweiten Versuch wurde am anderen Ende abgenommen.

»Kommissariat Zweiundzwanzig, Pilz am Apparat«, sagte eine angenehm sonore Stimme.

»Hallo. Hier ist Karl Sauer. Mordkommission.«

»Ach, Sie sind’s. Ist Reuters Blutdruck inzwischen wieder in der Nähe der Erdumlaufbahn angekommen?«, fragte die Stimme amüsiert.

Sauer mochte Pilz sofort — der Chef der Drogenfahndung erwies sich als ein Mann von erstaunlich gelassenem Gemüt und erheblicher Weitsicht. Im Gegensatz zu gewissen anderen Dezernatsleitern.

Als Sauer sich vorgestellt und sein Anliegen vorgetragen hatte, sagte Pilz: »Ach, Gottchen! Erzählen Sie mir jetzt bloß nicht, dass Sie hier anrufen sollen, um sich dafür zu entschuldigen, dass Ihr Chef eine Fahndung rausgegeben hat, ohne vorher mal fix hier anzurufen. Und das, obwohl er genau wusste, dass wir an Beskovic dran sind.«

»Na ja…«

»Oh, Mann. Was für ein Kindergarten! Sowas kann doch jedem mal passieren. Reuter wollte sich bloß in den Vordergrund spielen und der erste sein, der Beskovic verhaftet. Nur sind wir ihm eben ein paar Tage zuvorgekommen. Wenn, dann war das seine Schuld und nicht Ihre.«

»Äh …«

»Sie müssen dazu nichts sagen«, lachte Pilz, »würde ich an Ihrer Stelle auch nicht. Wollen Sie trotzdem mit ihm reden?«

»Mit Beskovic?«

»Mit wem sonst? Immerhin, und darauf scheint Ihr Chef noch nicht gekommen zu sein, könnte er den Mord ja auch in Auftrag gegeben haben.«

»Das glaube ich zwar nicht, aber ja, ich würde trotzdem gern mit ihm reden. Wenn sich das einrichten ließe.«

»Das lässt sich machen. Kommen Sie vorbei, dann fahren wir gemeinsam hin. Sagen wir vierzehn Uhr? Aber tun Sie mir einen Gefallen, ja?«

»Welchen?«

»Erzählen Sie Reuter nichts davon.«

»Das lässt sich machen.«

»Großartig. Bis dann, Herr Kommissar.«

32

»Hey, Sauer. Möchtest du mal einen ordentlichen Kaffee, zur Abwechslung zu dem Gift, das man bei euch oben serviert?«, fragte Alfons und hielt ihm zwei Tassen hin. Der beleibte Techniker trug wie immer Jeans und T-Shirt zu knallbunten Turnschuhen und heute verkündete der Aufdruck auf seiner Brust: »Come to the dark side, we have cookies«, und darunter das Bildnis des Krümelmonsters aus der Sesamstraße, allerdings hielt es in einer Hand ein Lichtschwert und trug einen schwarzen Anzug mit Umhang, während es vergnügt Kekse mampfte.

»Kaffee«, wiederholte der Kommissar, »Klar, gern. Oh, und Alfons …«

»Ja?«

»Könntest du die Tassen bitte vorwärmen? Wegen des Aromas, du weißt schon.«

Alfons schaute Sauer besorgt an. »Sauer, bist du krank? Du wirst doch nicht etwa so etwas wie Kultur auf deine alten Tage entwickeln? Oder gar Geschmack?« Der dunkle Lord Krümelmonster spannte sich mümmelnd über der massigen Brust des Technikers.

»Blödmann.«

»Natürlich wärme ich die Tassen vor, was denkst du denn!«, sagte Alfons lachend und kippte kochendes Wasser in die beiden Tassen. Dann drehte er sich, immer noch grinsend, zu Sauer um.

»Hat Reuter dich eigentlich schon durch den Fleischwolf gedreht?«

»Hat er.«

»Mein Beileid. War’s schlimm?«

Sauer zuckte mit den Schultern. »Es war laut. Und du hast Recht, der Kaffee dort oben ist wirklich das reinste Gift.«

Dankbar nahm Sauer eine der beiden Tassen entgegen, die Alfons soeben mit duftendem Gebräu gefüllt hatte. Er setzte an, kostete und sagte dann: »Hmm. Der ist nicht mal schlecht, danke!«

»You’re welcome.«, sagte Alfons. »Feinster Java. Der beste, wo geben tut.«

Das fand Sauer nicht, aber er nickte pflichtschuldigst. Aber er war zumindest ausreichend nah dran an dem von Irene Fassmann.

»Aber dieser Dealer …«, fuhr Alfons fort.

»Beskovic. Wenn ich ehrlich sein soll, hat Reuter sogar Recht. Ich habe Mist gebaut. Ich habe meine Nase ignoriert. Diese Sache hat mir von Anfang an nicht geschmeckt. Warum sollte der Kerl seinen eigenen Anwalt zu Tode foltern?«

»Gute Frage«, sagte Alfons. »Und ich dachte, ich würde dir eine Freude machen.«

»Eine Freude? Womit?«

»Mit Fassmanns Kalender. Wir haben nämlich seinen Laptop geknackt. Und rate, mit wem er am Samstagmorgen einen Termin hatte?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Mit deinem Beskovic. Und danach wollte er wohl tatsächlich nach Frankfurt.«

»Im Ernst? Nun verstehe ich gar nichts mehr«, seufzte Sauer und ließ sich schwer auf einen der Drehstühle vor Alfons Schreibtisch nieder. Fünf Computermonitore waren auf dem riesigen Büromöbel verteilt. Irgendwelche Datenreihen liefen endlos darüber, und drei von ihnen zeigten wirbelnde, bunte Spiralen, vermutlich die Bildschirmschoner, vielleicht auch geheime Experimente mit Laserwaffen; bei Alfons wusste man nie. Genauso fühlte sich Sauers Verstand gerade an. Wirbelnd.

»Es ergibt trotzdem keinen Sinn«, murmelte der Kommissar nachdenklich. »Beskovic ruft ihn an, sagen wir mal, am Freitag, oder jedenfalls irgendwann vor seiner Verhaftung. Von mir aus auch schon am Donnerstag. Da ist er schon ein paar Tage auf der Flucht. Untergetaucht, von mir aus. Er ruft also Fassmann an und der trägt sich den Termin in seinen Kalender ein. Er geht zum Waldhaus, aber da erwartet ihn nicht Beskovic, weil der ja einsitzt, sondern ein Irrer, um ihn zu foltern. Welchen Sinn ergibt das denn?«

»Keinen«, freute sich Alfons. Das Krümelmonster wogte auf seiner Brust, was den Eindruck erweckte, dass es sich vor Lachen schier ausschüttete.

»Eben.«

»Aber eine Theorie habe ich auch. Willst du sie hören?«

»Ist es eine ernsthafte?«

»Einigermaßen.«

»Dann lass hören!«

»Fassmann fährt also zum Waldhaus, ja. Aber Beskovic erscheint nicht. Kann er nicht, er sitzt ja in Haft. Aber was Fassmann nicht weiß: In seinem Häuschen hält sich ein Entsprungener versteckt. Irgendein gefährlicher Irrer, der seit ein paar Tagen insgeheim in dieser kleinen Kammer in der Küche wohnt. Der hört Fassmann kommen, und kaum ist dieser im Haus, springt er ihn von hinten an und …«

»Genug, Alfons. Ich hab’s kapiert. Du siehst zu viele schlechte Filme. Wie uns ein Blick auf dein T-Shirt verrät.«

»Ha!«, machte Alfons und tat ein bisschen beleidigt. »Du hast eben keine Ahnung von der epischen Tiefe von Krieg der Sterne. Oder der Sesamstraße, was das betrifft. Falls du Star Wars überhaupt je gesehen hast.«

»Habe ich. Bin lachend eingeschlafen.«

»Banause! Ich verzichte darauf, mich auf dein Niveau zu begeben, Sauer. Zurück zu unserem Fall: Ich sage, es war ganz einfach Zufall. Das meistunterschätzte Element der Kriminalistik. Und an deiner Stelle würde ich mich mal eingehender mit den umliegenden Irrenanstalten beschäftigen. Vielleicht vermissen die ja jemanden?«

»Und dieser Jemand hatte zufällig ein Vorhängeschloss dabei und Kabelbinder und diese ganzen Upper und Downer? Und in das Waldhaus ist er eingebrochen, ohne jegliche Spuren zu hinterlassen?«

»Ach, Details … und was für Upper und Downer?«

»Wahrheitsdrogen. Hat der Täter benutzt, während er Fassmann gefoltert hat.«

»Hat Löwitsch dir das erzählt?«

»Ja.«

»Verdammt. Da geht sie hin, meine schöne Theorie vom freilaufenden Irren. Zigeuner waren vermutlich auch gerade nicht in der Nähe?«

»Ha ha, sehr witzig. Aber was ist mit dem anderen Termin, dem in Frankfurt? Habt ihr auch herausbekommen, wen er da treffen wollte?«

»Niemanden.«

»Bitte? Er fährt am Wochenende nach Frankfurt, um ein bisschen Sightseeing zu betreiben oder wie?«

»Das wäre eine Möglichkeit. Jedenfalls stand weder ein Name bei dem Termin noch eine Adresse. Ich meine, warum auch? Schließlich wird er selbst ja wohl gewusst haben, wo er konkret hin wollte in Frankfurt. Aber ich habe da trotzdem so eine Theorie.«

»Oh je, schon wieder. Und zwar?«

»Er hat das öfter gemacht.«

»Ach was?«

»Ja. Mir ist aufgefallen, dass diese Frankfurt-Wochenenden im Schnitt aller ein bis zwei Monate in seinem Kalender stehen.«

»Er war regelmäßig in Frankfurt?«

»Nicht direkt regelmäßig, aber schon mehrmals im Jahr. Und immer das ganze Wochenende. Jedes Mal ohne Namen oder Adresse seines Ziels, nur einfach ›Frankfurt‹. Und in aller Regel fuhr Fassmann da hin, nachdem er einen größeren Fall verhandelt und, wie üblich, gewonnen hatte. Ich habe das spaßeshalber mal nachgeprüft. Man könnte also meinen, dass er sich mit diesen Wochenenden selbst belohnt hat. Manche Menschen machen das, hält angeblich die Motivation aufrecht. Solltest du auch mal versuchen, Sauer.«

»Sehr witzig, Darth Krümel. Und weiter?«

Alfons kicherte und nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee. Dann fuhr er fort: »Na ja, und die zyklische Wiederholung dieses Termins unterstützt meine Theorie noch. Bei einem Mann in Fassmanns Alter kommt es in etwa hin, denke ich.«

»Was kommt hin?«

»Die Liebe, mein verehrter Herr Kommissar, die Liebe!«, rief Alfons und deutet ein paar erstaunlich elegante Tanzschritte an, wobei er etwas Kaffee auf dem Boden verschüttete, was er allerdings nicht zu bemerken schien.

»Er war in einem … ?«

»In einem Puff, ja.«, sagte Alfons und wurde augenblicklich wieder ernst. »Zumindest ist das meine Theorie. Aber der Kerl war Rechtsanwalt und wollte OB werden. Es hätte mich sehr überrascht, wenn er die Adresse dieses Etablissements in seinem Kalender notiert hätte. man weiß schließlich nie, wer einem über die Schulter schaut, wenn man in den Terminen blättert. Zum Beispiel die Ehefrau …«

»Ach du Scheiße!«, entfuhr es Sauer.

»Gott, Sauer, komm endlich im einundzwanzigsten Jahrhundert an! Soweit ich weiß, bezahlen die Nutten mittlerweile sogar Steuern. Wenn das keine gesellschaftliche Integration darstellt … Na ja, und außerdem ist es eben doch nur eine Theorie. Vielleicht war er ja auch im Zoo. Je nach Neigung.« Alfons kicherte.

»Mann, du bist ekelhaft.«

Alfons sah ihn aus großen Augen an. »Allerdings. Und deshalb lieben mich die Frauen.«

»Das bezweifle ich ernsthaft. Hast du sonst noch etwas für mich?«

»Allerdings.«

33

Alfons führte Sauer zu einem der kleineren Tische hinüber, über dem an einem Schwenkarm eine Ringleuchte hing. Auf der Arbeitsfläche lag ein kleines Gerät aus weißem Kunststoff, an dessen Vorderseite sich eine Linse befand. Am gegenüberliegenden Ende eine kleine Platte. Zwei Löcher für die Schrauben der Wandhalterung.

»Die Kamera aus dem Waldhaus?«, vermutete Sauer.

»Jep. In voller Pracht.«

»Die ist ja winzig.«

»Ja, Sauer«, amüsierte sich Alfons, »auch davor hat die technische Entwicklung nicht Halt gemacht.«

»Hm. Was ist das?«, fragte Sauer und wies auf ein winziges schwarzes Plastikkärtchen, etwas halb so groß wie der Nagel seines kleinen Fingers, das neben der Kamera auf dem Tisch lag.

»Die Speicherkarte, darauf speichert sie ihre Aufzeichnungen.«

»Diese, die sie aller paar Minuten wieder überspielt?«

»Genau.«

»Gibt es eine Chance, an die bereits überspielten Daten heranzukommen?«, fragte Sauer.

»Na klar, das habe ich mal in einer Serie im Fernsehen gesehen. Warte — ja, das muss bei Fringe gewesen sein. Grenzfälle des FBI. Tolle Serie. Aber in der Realität? Hm, unwahrscheinlich. Zumindest nicht mit dem, was ich hier zur Verfügung habe. Damit habe ich’s nämlich schon versucht.«

»Mist.«

»Jep. Und was das andere betrifft, das ich dir am Telefon gesagt habe, da stehen wir leider immer noch auf dem Schlauch.«

»Diese WLAN-Sache?«

»Gut aufgepasst! Genau. Die Kamera schreibt außer den aktuellen Aufnahmen noch ein Protokoll der IP-Adressen mit, auf die sie eingerichtet wurde.«

»Und das ist gut, weil …?«

»Ach, Sauer. Also weißt du noch, was ich dir über das Internet gesagt habe?«

»Kabellos, klar, ja ja. Und ich weiß, was das Internet ist, Alfons. Herrgott!«

»Na schön. Dann stell dir das Internet jetzt mal als ein verzweigtes System von Straßen vor. Das ist zwar ein ziemlich unzutreffender Vergleich, aber für unsere Zwecke wird es genügen.«

»In Ordnung. Ein verzweigtes Straßennetz.«

»Genau. Und jeder Teilnehmer stellt ein Haus dar. Und damit du die Teilnehmer eindeutig zuordnen kannst, hat jedes dieser Häuser …«

»… eine Adresse.«

»Bravo! Genau. Mein Computer, deiner, Fassmanns Handy, diese Kamera. Jedes Gerät, das mit dem Internet verbunden ist. Alle haben eine IP-Adresse, die sie eindeutig identifiziert. Wie eine Hausnummer.«

»Und auf der Speicherkarte steht, an welche IP-Adresse die Kamera ihre Daten schicken sollte?«

»Haargenau!«

»Und an wen hat sie ihre Daten denn nun geschickt?«

»Tja, Karl, und genau da wird es problematisch.«

»Wieso? Ich denke, jeder Teilnehmer hat eine eindeutige Adresse?«

»Hat er auch. Und was wäre dein erster Gedanke, wenn du … sagen wir mal, ein Hacker wärst und im Netz unerkannt bleiben möchtest?«

»Hm. Ich würde vermutlich nicht wollen, dass man hinter meine Adresse kommt. Weil man dann ganz leicht auf meine wirkliche Adresse schließen könnte. Also im wirklichen Leben.«

»Was immer du mit wirkliches Leben meinst. Aber ja. Genauso ist es. Also setzt du dich hin und entwickelst Methoden, deine Adresse zu verschleiern, richtig?«

»Vermutlich. Wenn so etwas möglich ist.«

»Ist es. Das Ganze läuft in etwa so ab: Du schickst das Paket, also in deinem Fall ein Datenpaket, an eine Adresse A. Von dort wird es automatisch weitergeschickt an Adresse B. Dann an Adresse C. Wenn das Paket in C ankommt, fehlt allerdings die Information auf dem Paket, wer der ursprüngliche Absender A war. Du kommst höchstens bis zur Umleitungsadresse B, einer Art Bote oder Mittelsmann. Klar soweit?«

»Ich denke schon, ja.«

»Und das machst du mit einer ganzen Reihe von Servern, also Adressen. Von Umleitung zu Umleitung, und so anonym wie möglich. Ich nenne das das Zwiebelsystem, wegen der vielen Schalen, die über der wahren Absenderadresse liegen, verstehst du?«

»Klar. Zwiebelsystem.«

»Gut. Und natürlich benutzt du möglichst Server, deren Betreiber sich nicht allzu sehr um die in Deutschland geltenden Gesetze scheren. Diese Server senden die Information einfach automatisch weiter an den nächsten, bis die Daten an ihrem Zielort angekommen sind. Zwischendrin verschlüsselst du die Pakete, zerlegst sie, setzt sie an anderer Stelle wieder zusammen, und die Anleitung zum Zusammenbau versendest du auf einem dritten Weg.«

»Damit man sie nicht unterwegs abfangen kann. Und falls doch, hätte man nur nutzloses Stückwerk.«

»Genau.«

»Und das macht es unmöglich, den Absender herauszufinden?«

»Nicht unbedingt unmöglich. Aber es erleichtert meine Arbeit auch nicht gerade. Momentan muss ich leider sagen: Sackgasse. Aber ich arbeite daran.«

»Aber …«, wandte Sauer zögernd ein.

»Ja?«

»Dieses System dient dazu, den Absender zu verschleiern, ja? Aber wir wissen doch, wer der Absender ist.« Sauer deutete auf die kleine Kamera.

»Sauer, du überraschst mich immer wieder! Und ja, das stimmt. Aber leider muss dieser naheliegende Sachverhalt auch dem Kerl aufgefallen sein, der die Kamera benutzt hat. Alles, was wir haben, ist eine IP-Adresse, die zu einem ziemlich zwielichtigen Server gehört. Dort waren die Anweisungen hinterlegt, was mit den Daten passieren sollte. Auf welche Weise sie zerlegt, versendet und dann wieder zusammengebaut werden sollten. Diese Daten wurden allerdings inzwischen wieder gelöscht, und der Betreiber verweigert natürlich jede Zusammenarbeit.«

»Aber wir ermitteln in einem Mordfall!«

»Ja, in einem deutschen Mordfall. Und das entlockt den Betreibern der Serverfarm in Tonga vermutlich nicht mal ein müdes Schulterzucken.«

»Tonga?«

»Ja, Tonga. Ein Inselstaat, der zu Polynesien gehört. Liegt im Südpazifik.«

»Aha.«

»Ja, toll, nicht? Aber das Tollste ist, dass sich das Königreich Tonga einen feuchten Dreck um Datenschutzgesetze und Impressumspflichten schert. Will sagen, in Tonga gibt es kein Gesetz, dass die Betreiber der Server zur Herausgabe von Daten verpflichtet.«

»Aber könnte man nicht irgendwie trotzdem an die Daten kommen?«

»Ich arbeite dran, okay? Ich wollte nur, dass du verstehst, dass die Sache nicht ganz einfach ist, und es durchaus noch eine Weile dauern kann, bis ich irgendetwas herausbekomme. Vielleicht dauert es auch ewig.«

»Verstehe. Sackgasse.«

»Genau. Also habe ich den anderen Weg gewählt.«

»Hm?«

»Ausschlussverfahren. Ich habe Sauers Laptop, seinen Bürocomputer und sein Handy nach der Software durchsucht, die man braucht, um die Bilder aus der Kamera zu empfangen.«

»Oh, gut!«, lobte Sauer, »Das war clever.«

»Ja, gar nicht mal so doof, der olle Alfons, was? Nur leider bislang ebenfalls erfolglos.«

»Oh, verdammt. Aber wenigstens können wir damit die Theorie der Überwachungskamera ausschließen. Fassmann hat sich die Videos also nicht selbst geschickt.«

»Vermutlich nicht, nein. Es sei denn, er hatte irgendwo noch einen Computer, den wir nicht gefunden haben.«

Sauer dachte nach. »Das glaube ich eigentlich nicht. Nach allem, was diese Frau Blume mir gesagt hat, hatte er genau diese drei Geräte, mit denen er ins Internet ging. Laptop, Handy, Bürocomputer.«

»Frau Blume, ist das die Kleine aus Fassmanns Büro?«

»Äh, ja … und ich finde, du solltest sie nicht ›die Kleine‹ nennen.«

»Ist sie aber. Und außerdem finde ich sie ziemlich süß. Wir haben uns morgen zum Abendessen verabredet. Hab’ ein bisschen mit ihr geplaudert, während ich aufgepasst habe, dass Fassmanns Technik auch heil zu uns gelangt. Und siehe da, sie war Single.«

»Du triffst dich mit …?«

»Ja, und keine Angst, über den Fall halte ich natürlich meine Klappe. Es wird sie ohnehin nicht sonderlich interessieren. Sie ist mehr so der … Nerd.«

»Der was?«

»Ein Technikfan. Da haben wir was gemeinsam.« Alfons blinzelte ihm verschwörerisch zu. Sauer war bis zu diesem Moment der festen Überzeugung gewesen, dass der Techniker keinerlei soziale Kontakte außerhalb des Internets besaß und auch nicht das geringste Interesse an solchen hatte. »Hast du gesehen, wie schnell sie tippen kann?«

»Ist mir aufgefallen, ja«, sagte Sauer, aber es dauerte noch eine Weile, bis er diese Vorstellung in seinen Schädel bekam. Der rundliche Jeans-und-Turnschuh-Techniker Alfons und Gabriele Blume, das kleinwüchsige wie energische Ein-Mann-Büro. Oder Eine-Frau-Büro, vielmehr. Ja, warum eigentlich nicht? Vermutlich hatte es schon schlechtere Kombinationen gegeben.

»Okay, ich muss los, Alfons. Und danke für den Kaffee.«

»Keine Ursache. Was unternimmst du nun?«

»Ich werde Beskovic befragen. Falls er mit mir reden will.«

»Na dann, viel Erfolg!«

»Gleichfalls, Alfons. Gleichfalls. Und ruf mich an, sobald du neue Erkenntnisse über die Zwiebel hast!«

34

Leipzig, Justizvollzugsanstalt Wachau, Leinestraße

»Was hat Sie eigentlich dazu gebracht, unseren sauberen Herrn Beskovic des Mordes an Ihrem Anwalt zu verdächtigen?«, sagte Pilz, der Chef der Drogenfahndung, nachdem er Sauer die Hand geschüttelt hatte. »Nicht, dass es ihm nicht zuzutrauen wäre.«

»Ich habe den Tresor in Fassmanns Büro öffnen lassen. Und obenauf sprang mich gleich die Akte »Beskovic« an. Da klingelte es natürlich. Und außerdem, aber das wusste ich damals noch nicht, hatte sich Fassmann einen Termin mit Beskovic in seinen Kalender eingetragen.«

»Hmm. Also wenn ich nicht genau wüsste, dass Beskovic die ganze Zeit über in U-Haft saß, wäre ich vermutlich zu demselben Schluss gekommen. Könnte er den Mord vielleicht in Auftrag gegeben haben?«

»Um ihn das zu fragen, bin ich hier.«

»Verstehe.«

»Aber es erscheint mir dennoch einigermaßen unsinnig, dass er ausgerechnet seinen eigenen Anwalt umbringen wollte. Den einzigen Kerl, der so etwas wie einen Verbündeten darstellt.«

»Vielleicht wusste dieser Verbündete ja Dinge über Beskovic, die dieser lieber unter den Teppich gekehrt hätte.«

»Unwahrscheinlich. Da gibt es ja die Schweigepflicht. Was auch immer Fassmann über Beskovic gewusst haben mag …«

»Erpressung?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739432434
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
sammelband polizei krimi verbrechen grausam mörder gewalt thriller psychothriller bundle Psychothriller

Autor

  • L.C. Frey (Autor:in)

Mit über 1.5 Millionen verkauften Büchern ist Alex Pohl alias L.C. Frey einer der meistgelesenen Autoren Deutschlands. Er ist außerdem eine Hälfte des erfolgreichen Bestseller-Autorenduos Oliver Moros, sowie Co-Autor des Nr.1-SPIEGEL-Bestsellers “Abgefackelt” von Michael Tsokos. L.C. Freys Schreibratgeber ‘STORY TURBO: Besser schreiben mit System‘ gilt als das deutschsprachige Standardwerk für moderne Autorinnen und Autoren. Der Autor lebt und arbeitet in Leipzig.
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Titel: Engelbrecher: Zwei Top-Thriller in einem Band!