Singer vermutete zunächst sein Handy als die Quelle des Klingelns und blickte sich suchend im Zimmer um. Vielleicht war es Antonia, die endlich auf eine der unzähligen Nachrichten auf ihrer Mailbox reagierte? Seit seiner Rückkehr nach Hamburg hatte er beinahe ununterbrochen versucht, sie zu erreichen, bislang ohne Erfolg.
Singer wurde schließlich auf der Sitzfläche eines kalbslederbezogenen Sessels fündig. Er griff sich das elegante Smartphone und drückte auf dessen Display herum, bis er irgendwann begriff, dass das Teil überhaupt nicht geklingelt hatte.
Das Gebimmel dauerte an und irgendwann kam Singer auf die Idee, zum Telefon des Hotelzimmers hinüber zu schauen. Diese beeindruckende Scheußlichkeit war ein klobiger Koloss aus Edelholz, den irgendein Witzbold von Designer zu allem Überfluss noch mit Klavierlack überzogen hatte.
Singer angelte nach dem Hörer und meinte, in dem kurzen »Ja?« seine Verärgerung über den späten Anruf ausreichend deutlich zum Ausdruck gebracht zu haben. Diese wurde vom anderen Ende der Leitung jedoch mit eben jener professionellen Gelassenheit quittiert, die nur der Chefportier des Park Hyatt zustande brachte.
»Dr. Singer, entschuldigen Sie bitte den späten Anruf. Ein Gespräch für Sie, ein Professor Murnauer. Ich hätte Sie zu solch später Stunde nicht gestört, aber der Herr beharrt auf der unbedingten Dringlichkeit seines Anliegens. Möchten Sie, dass ich Ihnen das Gespräch aufs Zimmer stelle, Dr. Singer?«, ließ sich der Portier vernehmen.
»Kein Problem, Steiner, wie Sie sehen, bin ich genau wie Sie – immer im Dienst!«, zwitscherte Singer jovial durch den Hörer, der sich überraschend angenehm in seine Handfläche schmiegte. Deutlich angenehmer jedenfalls, als das bevorstehende Gespräch zu werden versprach.
»Sehr wohl, Dr. Singer.« Es klickte leise in der Leitung als Steiner die Verbindung schaltete.
»Singer?«, bellte Murnauers Stimme verzerrt durch die Hörmuschel des Luxusapparats – eine Stimme, von der Singer regelmäßig Kopfschmerzen bekam. Irgendwie schaffte es der Institutsleiter mit nahezu beängstigender Treffsicherheit, ihn jedes Mal im unpassendsten Augenblick anzurufen.
Vielleicht, weil seine Anrufe einfach immer ungelegen kamen.
Murnauer, einst ein überaus vielversprechender Wissenschaftler, hatte mit seinen Studien zur Klassifikation nutzbringender Körperchemikalien in Reptilien schon in den frühen neunziger Jahren für einiges Aufsehen in akademischen Kreisen gesorgt. Nicht zuletzt unter seinen eifrigen Studenten, von denen auch er, Singer, einer gewesen war. Murnauer konnte es sich schon damals leisten, nur die aussichtsreichsten Studenten an seinen Vorlesungen teilhaben zu lassen – junge Studenten mussten sich durch entsprechende Noten schon im Grundstudium dafür qualifizieren und eine Reihe ausnehmend schwieriger Tests bestehen, um in den Genuss von Murnauers Vorlesung zu kommen. Eine äußerst ungewöhnliche Methode, die nur einem ausgesprochenen Egomanen wie Murnauer einfallen konnte. Nichtsdestotrotz war er nicht nur ein brillanter Wissenschaftler, sondern stand außerdem in dem Ruf, über ausgezeichnete Kontakte zu verfügen. Damit stand jedem Studenten, der seiner kleinen elitären Strebergruppe angehörte, nach Abschluss des Studiums im wahrsten Sinne die gesamte akademische Welt offen. Inklusive Murnauers eigenem Institut natürlich. Schon während seiner Uni-Zeit hatte er die private Forschungseinrichtung aufgebaut, bis schließlich auch dem Dekan aufgegangen war, dass Murnauer seine Professur im Wesentlichen dazu nutzte, Spitzenkräfte für sein Institut zu rekrutieren.
Das unabhängige Bio-Institut forschte von da an ausschließlich für eine überaus illustre private Klientel und nicht weniger bedeutende multinationale Konzerne. Dank Murnauers hervorragend geölter Kontakte verfügte das Institut bald über nahezu schreckenerregende Geldmittel und eine hochmoderne Ausrüstung, die jedes Uni-Labor wie einen besseren Chemiebaukasten aussehen ließen.
Und der Markt boomte. Auch Singer hatte den Vorzügen der privat finanzierten Forschung nicht widerstanden, wenn auch aus eher wissenschaftlichen als materiellen Gründen – im Gegensatz zu Murnauer übrigens, der aus seiner Geldgier nicht das geringste Hehl machte. Die Besuche hochrangiger Militärvertreter – und beileibe nicht nur deutscher – hatten in den letzten Jahren deutlich zugenommen, was Singer mit zunehmender Skepsis über den Verwendungszweck seiner Forschungen erfüllte.
Letztlich war das vermutlich einer der Gründe gewesen, warum er sich für fast anderthalb Jahre der Feldforschung in den immergrünen Dschungel des Amazonas abgesetzt hatte, weit weg von Murnauers geldgierigen Plänen und seinem eigenen familiären Desaster. Murnauers spätabendlicher Anruf rief ihm seine Zweifel augenblicklich wieder ins Gedächtnis.
Das Militär, verdammt.
Singer mochte nicht einmal flüchtig darüber nachdenken, was Murnauer und seine mysteriösen Besucher in den hochmodernen Tagungsräumen hinter schalldicht verschlossenen Türen so alles ausheckten.
»Singer, sind Sie dran?«, quäkte Murnauers Stimme ungeduldig durch den Hörer.
»Ja, hier ist Peter Singer.«
»Hier ist Professor Doktor Murnauer.« Einfach lächerlich, wie dieser Kerl seine Titel in die Länge zog wie einen ausgeleierten Kaugummi. Seine schlaflosen Nächte verbrachte er vermutlich damit, sich neue auszudenken. Großimperator Murnauer, Seine Majestät Murnauer, Seine Eminenz Papst Krösus der Dritte von und zu Murnauer … falls Murnauer überhaupt je schlaflose Nächte hatte, was Singer allerdings stark bezweifelte.
»Singer, es gibt Arbeit für Sie. Ich brauche Sie im Institut. Noch heute Abend«, fuhr Murnauer fort.
»Wie bitte?« fragte Singer. Murnauer verschwendete keine Zeit für Höflichkeiten, so viel musste man ihm lassen. »Äh … Dr. Murnauer, ich bin gerade aus Peru zurück, habe seit achtundvierzig Stunden kaum ein Auge zugemacht und habe … nun, ich habe hier erst mal einiges Privates zu erledigen«, brachte Singer den Versuch eines Einwands vor.
»Ich bin mir Ihrer Lage durchaus bewusst«, sagte dieser, und ließ offen, was genau er damit meinte. Wie genau er über Singers momentane Lage Bescheid wusste. »Glauben Sie mir, ich hätte Sie nicht rufen lassen, wenn es nicht wichtig wäre. Ihre privaten Erledigungen werden aber warten müssen, fürchte ich. Wir benötigen Sie im Institut, sagen wir in einer Stunde?«
Singer zwang sich, ruhig zu bleiben. Er atmete ein. Er atmete aus. »Hören Sie, Murnauer, ich kann Ihnen die Ergebnisse der Amazonas-Forschungen auch rüberfaxen, wenn es denn so furchtbar dringend ist. Und morgen Abend könnte ich vielleicht mal im Institut …«
Murnauer überging das Weglassen seiner akademischen Grade großmütig, als er Singer unterbrach. Seine Stimme nahm einen jovialen Plauderton an, der Singer sofort argwöhnisch aufhorchen ließ.
»Nein, nein, Dr. Singer. Es geht nicht um Ihre Amazonas-Ergebnisse, die sicher ganz bemerkenswert sind.« Seine Worte klangen erstaunlicherweise ehrlich anerkennend. Singer wusste, dass er immer noch verdammt gute Arbeit leistete. Und Murnauer wusste es ebenso. Genau das war ja das Problem.
»Es geht um etwas wesentlich … Größeres. Etwas Einmaliges, von äh … internationaler Bedeutung.«
In Singers Kopf begann ein kleines, grellrotes Licht zu blinken. Internationale Bedeutung klang irgendwie verdächtig nach Krisenstab und finsteren Männern in straff gebügelten Paradeuniformen und einer Unmenge bunten Metalls an der Brust, die sich in einem atombombensicheren Bunker versammelten, um in aller Ruhe über die Art und Weise des nächsten Weltuntergangs zu beratschlagen. Unvermittelt sah er sich in der Rolle von Stanley Kubricks rollstullfahrendem »Dr. Seltsam«. Heil, mein Führer!
Singer fröstelte.
»Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Dr. Singer. Ich habe Sie nie leiden können.« Soviel Offenheit überraschte Singer, der Fakt an sich weniger. »Aber wir haben hier etwas, das wollen Sie sich ansehen, glauben Sie mir! Eine Chance, wie ich Sie ihnen nur einmal bieten werde.« Und nach einer wohlkalkulierten Pause setzte er hinzu: »Singer, wir untersuchen hier eine neue Spezies.«
»Eine neue … ?«, schnappte Singer. Und hasste sich im selben Moment dafür.
»Eine neue Spezies, ja.« Wieder eine dieser unheilschwangeren Pausen. Murnauer musste diese daheim vor dem Spiegel geübt haben, sie funktionierten jedenfalls prächtig.