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Draakk: Etwas ist erwacht

Horror-Thriller

von L.C. Frey (Autor:in)
500 Seiten

Zusammenfassung

In einem Tunnelsystem in den Schweizer Alpen entdecken Forscher die Überreste einer uralten Zivilisation und einen gigantischen Leichnam. Der Biologe Peter Singer wird mit der Obduktion der monströsen Lebensform betraut, doch etwas geht furchtbar schief. Als der Wissenschaftler Tage später erwacht, ist das Labor völlig zerstört und Singer kann sich an nichts erinnern. Auf der Suche nach der Wahrheit stößt er auf ein Grauen jenseits menschlicher Vorstellung. Etwas Uraltes ist zu neuem Leben erwacht, und es stammt nicht von diesem Planeten. Sein Ziel: Die Auslöschung der gesamten Menschheit.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ÜBER DIESES BUCH

In der Tiefe lauert das Böse …


In einem Tunnelsystem unter den Schweizer Alpen entdeckt ein Höhlenforscher die Überreste einer uralten Zivilisation - und den Wahnsinn.


Geldgierige Forschungskonzerne stoßen in Bereiche der Wissenschaft vor, die besser für alle Zeiten unangetastet geblieben wären. Der Biologe Peter Singer und seine Tochter werden von schrecklichen Visionen geplagt, in denen die Welt unaufhaltsam auf den Abgrund zurast.


Können Sie die Dämonen ihrer gemeinsamen Vergangenheit besiegen, während sie von den Schergen eines mächtigen Forschungskonsortiums gejagt werden?


Etwas Uraltes ist erwacht, und es hat nur ein Ziel: Die Auslöschung der gesamten Menschheit.

Bevor du dich ins Vergnügen stürzt …


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BÜCHER DES AUTORS

als ALEX POHL


UND RAUS BIST DU (Forever Ida-Reihe Bd. 1)

WIR ODER IHR (Forever Ida-Reihe Bd. 2)

ENDSPIEL (Forever Ida-Reihe Bd. 3)


EISIGE TAGE (Seiler&Novic-Reihe Bd. 1)

HEISSES PFLASTER (Seiler&Novic-Reihe Bd. 2)


als L.C. Frey:


DIE RIFTWELT-SAGA

TARGET: Du bist das Ziel

TODESZONE: Tatort Malmö

SO KALT DEIN HERZ

TOTGESPIELT

DIE SCHULD DER ENGEL : Sauers erster Fall

ICH BRECHE DICH: Sauers zweiter Fall

BEUTETRIEB (Sloburn 3)

KINDERSPIELE (Sloburn 2)

SEX, DRUGS & TOD (Sloburn 1)

DAS GEHEIMNIS VON BARTON HALL

DRAAKK


Schreib-Ratgeber:

STORY TURBO: Besser Schreiben mit System

Weitere Informationen finden Sie auf der Website des Autors

Alex-Pohl.de

Für Krissy

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

– Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886)

PROLOG

Gebiet des heutigen Golf von Bengalen, 9600 v. Chr.

Sie waren fünf, und sie würden die Letzten sein. Die Stadt unter der gewaltigen Kuppel erstreckte sich beinahe bis zum Horizont, ein gigantisches, steinernes Labyrinth aus Felsblöcken, hunderte von Metern hoch aufgetürmt auf der Oberfläche einer Insel, die eigens zu diesem Zweck erschaffen worden war.

Die gigantische Stadt brannte lichterloh.

Aber sie würde nicht mehr lange brennen, die Insel versank bereits im Meer. Jetzt, da all jene starben, deren Energie die Insel hatte schwimmen lassen. Jetzt, da sie alle schreiend in den Flammen umkamen, einige von ihnen tausende von Jahren alt, andere noch Säuglinge, und ausnahmslos alle von ihnen wahnsinnig. Wenn das Meer über der Insel zusammenschlug, würden sie tot sein, alle von ihnen. Als hätte es sie nie gegeben.

Sie waren fünf, dachte Tharek, und sie waren die Letzten ihrer Zivilisation. Einst hatten sie ganze Welten geschaffen, allein durch ihren Willen, im Einklang mit den allgegenwärtigen, gütigen Kräften des Universums. Derart war ihre Macht gewesen, als ihre Ahnen vor fünftausend Jahren erstmals diesen Planeten betreten hatten. Und auch sie waren auf der Flucht gewesen, so wie jetzt Tharek und seine kleine Gruppe. Sie hatten dieser jungen Welt und ihren Bewohnern Weisheit gebracht, Güte und die Fähigkeit, Gedanken für die Ewigkeit zu binden. Sie hatten dieser Welt eine mächtige, strahlende Zivilisation geschenkt.

Das hatten sie zumindest geglaubt.

Die Menschen hatten ihre Lehren der Liebe und des Einklangs begierig aufgesogen, hatten ihre Schamanen zu ihnen geschickt und ihre weisen Männer und Frauen.

Und sie hatten gelernt.

Unendlich langsam, aber sie hatten gelernt. Wie man die Materie in Einklang mit den Schwingungen des Geistes brachte, wie man ohne Worte sprach und Liebe schenkte, während man Lust empfing. Wie man lebte, ohne zu altern. All das hatten die Menschen irgendwann verstanden.

Aber sie hatten noch nicht gelernt, wie man sich über das Dunkel erhob. Wie man dagegen ankämpfte. Wie sie ihre Welt verteidigen konnten, gegen das, was kommen würde. Gegen die Schwärze, die Thareks Rasse, wenn auch unabsichtlich, aus den Tiefen des Alls mitgebracht hatte. Nun waren sie selbst Opfer dieser Schwärze geworden, die sie viel früher ereilt hatte, als sie es für möglich gehalten hatten. Hingemeuchelt durch einen einzigen Gedanken, den die Finsternis geschickt hatte. Lange, bevor sie den Menschen die wichtigsten Lektionen hatten beibringen können, würden ihre Lehren gemeinsam mit ihnen im Meer versinken.

Die Erde würde schutzlos sein, wenn niemand mehr wusste, wie man den Schild wob, wie man das finstere Wirken der Dunklen hinter ihren zahllosen Masken durchschaute und sich vor ihrem Einfluss schützte. Wie man seinen Geist zu höheren Sphären aufschwang und sich mit anderen Geistern zum Kampf vereinte.

Ein einziger dunkler Gesandter hatte genügt, um das mächtige Reich der Atlantäer auf eine Handvoll Überlebender zu reduzieren, zerlumpte Flüchtlinge, ausgestoßen und verraten von denen, die sie hatten schützen wollen.

Tharek drehte sich um und gedachte ein letztes Mal seiner Brüder und Schwestern, die gestorben waren, damit sie fliehen konnten. Sie hatten ihre Heimstatt und tausende Leben geopfert, um die Schwärze mit sich in die Tiefe des Meeres zu ziehen und Es dort unten zu bannen. Sie waren gestorben, damit die Menschheit leben konnte.

Und auf welche Weise sie gestorben waren! Die entstellten Leiber grausam verdreht und ineinander geschlungen, reißend, kämpfend, ihre Seelen von nichts außer Wahnsinn und Hass erfüllt. Tharek verdrängte die Bilder dessen, was sie sich gegenseitig angetan hatten, was Mütter ihren eigenen Kindern angetan hatten und Brüder ihren Schwestern. Gierig hatten sie ihre Gedanken auch nach den Fliehenden ausgestreckt, als Tharek und seine Begleiter die Schleuse hinter sich verschlossen hatten. Und mitten unter ihnen hatte reglos wie ein Fels das Wesen aus der Schwärze gestanden, dem sie sich alle geopfert hatten.

Und dieses Wesen hatte triumphiert.

Als Tharek aufs Meer hinausschaute, war nur noch die Spitze der zerborstenen Kuppel zu sehen. Es war fast vorbei. Obwohl beinahe tausend Lebensjahre auf der Erde ihn mit göttlichem Gleichmut beschenkt hatten, spürte er in diesem Moment eine tiefe Traurigkeit. So sehr sie den ungestümen Übermut der jungen Menschheit auch geschätzt hatten, eine Frage blieb nach all den Jahrtausenden offen, und diese Frage legte sich nun voller Bitterkeit auf seinen Geist:

Gab es im Wesen der Menschen einen Trieb, ein genetisches Vermächtnis, das sie anfällig machte für das Böse und Perfide? Etwas, das sie Dinge tun ließ, von denen sie wussten, dass sie falsch waren? War ihr Schicksal von Anfang an besiegelt gewesen?

War am Ende alles umsonst gewesen?

Tharek wandte sich um und blickte in die sorgenvollen Gesichter seiner Begleiter. Sie waren fünf, und das war alles, was geblieben war. Sie würden in die Berge gehen, sich verstecken und hoffen. Solange es Hoffnung gab. Für die Menschen würden sie jedoch aufhören, zu existieren. Sie würden ein Mythos werden, ein Märchen, das die Mütter ihren Kindern erzählten, damit sie an ein Licht glauben konnten im Angesicht der Dunkelheit, die auf ihren Planeten zuraste. Die Menschen wussten es noch nicht, aber tief in ihrem Inneren ahnten sie es bereits.

Die Menschen hatten ein Gespür für ihre totale Auslöschung.

Als er weiterging, presste er das kleine Päckchen eng an seinen Körper und stellte überrascht fest, dass er weinte. Er weinte um jene, die er geliebt hatte, weinte um seine edle Rasse, die an einem einzigen blutigen Tag mit ihrer Heimstatt im Meer und in der Vergessenheit versunken war.

Und er weinte um die Menschheit, der dieses Schicksal noch bevorstand.

1

PRAGELPASS

Pragelpass, Muotatal, Schweiz. Gegenwart.

Als sie das Gipfelplateau erreicht hatten, fummelte der Alte aus den Taschen seiner Wanderjoppe eine kleine Pfeife und etwas Tabak hervor. Er beugte den Kopf, um im Windschatten seiner Hände die antike Holzpfeife anzustecken. Er blieb für einen Moment stehen und genoss den Geschmack des Rauchs und die Wärme, die von dem hölzernen Pfeifenkopf ausging. Der Alte schob sich den dunkelgrauen Filzhut in den Nacken und wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn. Hin und wieder sog er an der Pfeife und ein paar feine Wölkchen stiegen daraus empor. Sein nachdenklicher Blick folgte den davonschwebenden Rauchgespinsten und wurde skeptisch, als er die Wolken am nördlichen Horizont gewahrte. Graue Wolken, keine reinweißen. Dies mochten durchaus die Vorboten eines Gewitters sein, welches sich irgendwo hinter dem Bös Fulen zusammenbraute. Es wurde Zeit, dass sie vom Gipfelpass verschwanden.

»Los, Tobi, weiter!« sagte er leise zu dem Bernhardiner und der zottige Hund setzte sich in Bewegung.

Nachdenklich zog der Alte ein weiteres Mal an seiner Pfeife, dann setzte er seinen Marsch fort. Er schritt nun zügiger aus. In etwa einer halben Stunde würden sie den Gruebiwald erreicht haben – dann wären sie in Sicherheit. Vom Gruebi war es nicht mehr weit bis ins Tal, und die mächtigen Bäume des riesigen Forsts würden sie einigermaßen gegen Wind und Wetter schützen. Mit etwas Glück wären sie bereits daheim im Alpenhof, wenn hier oben auf dem Kamm das Inferno tobte.

Als der Alte und sein Hund den Waldrand erreichten, hatten sich die Wolken bereits zu einer dichten, schmutzig-grauen Wand zusammengeballt. Alois Suter schaute ein letztes Mal hinauf zum Kamm, bevor er den dichten Forst betrat. Nun war er sicher, dass es ein Gewitter geben würde, und zwar ein mächtiges.

Der Forst schlängelte sich zwischen den Ausläufern zweier Felsmassive hinab ins Tal. Riesige, uralte Eichen bildeten ein schattiges Dach über den dichten Kiefernbeständen und dem Dickicht am Wegesrand. Ein Teppich aus abgestorbenen Kiefernnadeln dämpfte die Schritte des Alten und seines Begleiters zu einem sanften Tapsen herab. Andachtsvoll betrat er den schattigen Gang zwischen den gigantischen, hölzernen Pfeilern, die ihre Zweige hoch in den Himmel reckten wie Emporen einer gigantischen, lebenden Kathedrale aus tiefem Grün. Säulen, die noch stehen würden, wenn die steinernen Kirchen dieser Welt bereits zu Staub zerfallen waren.

Tobi kümmerte die Andacht des Alten offenbar weniger. Das Temperament des Bernhardiners wollte weder so recht zu seinem fortgeschrittenen Alter noch zur sakralen Atmosphäre der Umgebung passen. Der große, träge wirkende Hund schlug sich mit einer Geschwindigkeit ins Unterholz, die ihm der Alte gar nicht zugetraut hätte, offenbar um einem kleinen Tier hinterherzujagen. Der massige Hund brach durch das Gebüsch am linken Wegesrand und war kurz darauf im dichten Forst verschwunden.

2

IN DER FALLE

Der Alte blieb stehen und wartete ein paar Minuten. Er sah ein weiteres Mal hinauf zum Himmel, den das Geäst der Baumkronen nun größtenteils vor seinen Blicken verbarg. Das wenige, das er erkennen konnte, war schmutzig-grau und sah nach Regen aus.

Er stieß ein paar schrille Pfiffe aus, aber der Bernhardiner blieb verschwunden. Kein Rascheln im Gebüsch, kein reumütig zerknautschtes Hundegesicht, das beschämt aus dem dichten Unterholz hervorlugte. Nur das ewige Rauschen des Windes in den Wipfeln weit über ihm. Der Alte stand still und lauschte in den Wald hinein.

Da – ein kurzes Bellen! Leise, fast schon schüchtern. Es schien tief aus dem Inneren des Waldes zu seiner Linken zu kommen, gedämpft durch den dichten Bewuchs der Kiefern am Wegesrand.

Der Alte seufzte und begann widerstrebend, sich einen Weg durch das Unterholz in den dahinter liegenden Nadelwald zu bahnen. Das sah dem alten Hund ähnlich, sich im Übereifer seines spontan erwachten Jagdtriebs im Wald zu verlaufen! Der Baumbewuchs wurde bereits nach wenigen Metern so dicht, dass er nur ausgesprochen mühsam vorankam. Immer wieder musste er verrottenden Baumresten ausweichen, blieb an Büschen und Gestrüpp hängen. Die biegsamen Äste der Bäume schienen nach ihm zu greifen wie die Hände von hölzernen Wachposten. Störe unsere Ruhe nicht!

Als er schließlich das Ende des Baumbestandes erreicht hatte, bemerkte er, dass er eine Sackgasse erreicht hatte - vor ihm ragte ein steiler Felshang in die Höhe, der sich in beide Richtungen entlang des Waldrands erstreckte, soweit er sehen konnte. Zu beiden Seiten gab es nichts als dichter Nadelwald. Der Alte stieß ein paar schrille Pfiffe aus, rief erneut den Namen des Hundes. Horchte.

»Wuff?!«

Diesmal schien der Ursprung des Bellens näher zu sein, ja sogar aus seiner unmittelbaren Umgebung zu kommen. Allerdings klang der klägliche Laut nur gedämpft herüber – und schien direkt in dem Felsen vor ihm seinen Ursprung zu haben.

Der alte Mann betrachtete die Gesteinsformation, welche vor ihm in die Höhe ragte. Er hob einen Ast auf und klopfte damit gegen die raue Oberfläche. Massiver Stein, wie er vermutet hatte. Und doch war die Stimme seines Hundes von da drinnen gekommen, er war ganz sicher.

Er beugte sich hinab, um den Fels genauer in Augenschein zu nehmen. Eine Birke hatte sich mutig ihren Weg durch den Stein gebahnt – und war dabei in eine Lücke zwischen zwei Gesteinsplatten geraten. Irgendwann hatte die beharrliche Lebenskraft des emporwachsenden Bäumchens den Fels zum Bersten gebracht und dem jungen Leben einen Weg nach oben freigesprengt. Der Stamm der Birke hatte den Spalt im Laufe der Jahre immer weiter aufgedrückt, und irgendwann war der Fels in einen breiten Riss geborsten – breit genug, um einen gefräßigen alten Streuner hindurchzulassen, den der spontane Jagdtrieb überkommen hatte. Wahrscheinlich sogar breit genug für einen Menschen.

Der Alte beugte sich tiefer in den finsteren Spalt hinab. Dort unten gab es nichts als Schwärze. Schließlich, ganz leise – nahm er ein Hecheln wahr, und dann ein Bellen, noch immer schüchtern und furchtsam. Der Mann rief den Namen seines Hundes in die Dunkelheit, woraufhin dieser herbeitrottete und leise winselnd zu dem Alten hinaufstarrte. Offenbar war Tobi im Eifer der Verfolgungsjagd seiner Beute durch den Spalt hinterhergesprungen – und in die Falle gegangen. Für den alten Mann würde es keine leichte Aufgabe sein, den gut achtzig Kilo schweren Hund von dort unten hochzuhieven, aber er konnte Tobi schließlich kaum dort unten seinem Schicksal überlassen. Er würde sich in den Spalt zwängen und ihn irgendwie herausbugsieren müssen.

Er förderte ein kurzes Kletterseil aus seinem Rucksack zu Tage und befestigte es am Stamm der jungen Birke. Dann warf er das andere Ende in die Höhle hinab – kommentiert von Tobis erwartungsvollem »Wuff!«.

Anschließend entledigte er sich seines Rucksacks und quetschte ihn mitsamt des darin befindlichen zweiten Langseils durch den Spalt. Mit einem dumpfen Geräusch schlug es irgendwo unten im Inneren der Höhle auf. Der Alte zog prüfend an dem Seil und zwängte sich dann selbst durch den Riss. Zentimeterweise ließ er sich nach unten gleiten, hinab in die unbekannte Dunkelheit.

Als er den Grund der Höhle erreicht hatte, stellte er fest, dass er bequem darin stehen konnte. Sie musste gut drei Meter tief sein – ein Wunder, dass sich Tobi nicht wenigstens ein paar Knochen gebrochen hatte.

Kaum war er unten angekommen, wurde er von dem wild umherspringenden Tobi begrüßt, der den alten Mann im Überschwung seiner Freude beinahe von den Füßen fegte.

»Hey, langsam, mein Junge!«, sagte der Alte, während der Hund dazu überging, ihm ausgiebig die Hände abzulecken. »Wo bist du hier nur wieder hineingeraten, du alter Räuber?«, sinnierte der alte Mann, während er den Hund gedankenverloren hinter den Ohren kraulte. Das Echo seiner Worte klang seltsam hohl und verzerrt durch die Dunkelheit.

3

FINSTERNIS

Der Alte kramte seine Stirnlampe aus dem Rucksack hervor. Der aufflammende LED-Scheinwerfer der Lupine Betty tauchte das Innere des Felsens schlagartig in gleißendes Licht, wo er auf den Felsen traf. Die Wände waren mit Moosen und Flechten bewachsen – trügerischer Halt, sollte man auf diese Weise versuchen aus der Höhle zu gelangen. Auf dem Boden lagen ein paar lose Felsbrocken und die vertrockneten Überreste einiger kleiner Tiere.

Wie ein zitternder Finger aus Licht strich der Strahl der Grubenlampe über den rauen Fels, als der Alte sich umblickte. Die Höhle war offenbar weit mehr als nur ein breiter Felsspalt, sie war vielmehr der Beginn eines Tunnels, der tiefer in den Felsen führte, viel tiefer. In südlicher Richtung öffnete sie sich zu einem breiten Durchgang, dessen Ende auch die starke LED-Lampe nicht erreichen konnte.

»Sieh mal einer an, du Abenteurer, was haben wir denn da?«, murmelte der Mann und pfiff anerkennend durch seine Zähne. »Das werden wir uns wohl mal genauer ansehen.« Damit warf er sich den Rucksack auf die Schultern und befestigte den elastischen Stirngurt der Betty auf seinem Kopf, sodass er die Hände frei hatte. Dann trat er in den Tunnel.

Der Alte und sein Bernhardiner folgten dem Gang, der in leichtem Gefälle tiefer in den Berg führte. In Alois Suter war der Forschungseifer erwacht und er musste sich ermahnen, den Schritt seiner ungeduldigen Füße zu zügeln. Fast schnurgerade zog sich der Tunnel durch den Berg und noch immer war kein Ende in Sicht. Nach einiger Zeit wurde das Gefälle steiler. Die Kühle des Steins war hier unten stärker zu spüren, sie mussten bereits etliche Meter unter dem Niveau des Waldbodens draußen sein – der nun kaum mehr als eine ferne Erinnerung war. Im Eifer seiner Entdeckung hatte der Alte den Wald und das heraufziehende Gewitter völlig vergessen.

Der Alte musste hin und wieder den Kopf einziehen oder einen größeren Felsbrocken überwinden, doch davon abgesehen war der Gang recht gut begehbar.

Nach etwa einer halben Stunde gelangten sie an eine erste Gabelung und der Alte blieb stehen. Von hier führten drei Gänge in leichtem Gefälle tiefer in den Fels hinein. Aus der Erfahrung unzähliger Höhlenexpeditionen wusste er, dass es nicht ratsam war, in unbekanntem Gebiet mehr als ein paar solcher Gabelungen zu passieren – vorausgesetzt, man wollte irgendwann zum Ausgang zurück finden.

»Links, Mitte oder rechts, mein Junge?«, fragte er den Hund ernst, doch Tobi blickte nur treuherzig und etwas unentschlossen zu ihm empor. »Gut, dann nach rechts. Ganz wie du meinst.«, sagte der alte Mann und sie setzten sich wieder in Bewegung, nachdem er die Wand des rechten Abzweigs mit einem großen X markiert hatte.

Stalaktiten hingen wie steinerne Eiszapfen von der Decke des Gangs und erschwerten das Vorwärtskommen für den Alten und seinen treuen Vierbeiner. Die zuckenden schwarzen Schatten, die das gleißende Licht der Betty warf, wirkten im Vorübergehen wie vorsintflutliche monströse Schlingpflanzen, deren wogende Tentakel nach den Eindringlingen zu greifen schienen.

Schließlich endete der Weg abrupt an einer besonders skurrilen Gesteinsformation. Von der Decke hängende Stalaktiten und ihre vom Boden in die Höhe wachsenden Gegenstücke waren sich im Laufe der Jahrtausende auf halber Höhe entgegengekommen, hatten sich schließlich vereint und bildeten nun eine Art Gitter, wie die Stäbe eines uralten, steinernen Verlieses. Der alte Mann nahm die Lampe vom Kopf und streckte sie durch die Lücken in dem steinernen Gebilde vor sich. Hinter dem Gitter weitete sich der Tunnel zu einem breiten Durchgang und dahinter lag Finsternis, die auch der starke Schein der Betty nicht auszuleuchten im Stande war.

Offenbar führte der Gang in eine gigantische Kaverne – so groß, dass es dem Alten von seiner derzeitigen Position aus unmöglich war, die gegenüberliegende Wand auszuleuchten.

»Das müssen wir uns noch ansehen, Tobi – und danach kehren wir erst mal um«, sagte der Alte und trat kurzerhand gegen die vorstehende Tropfsteinformation, die ihnen den Weg zur Kaverne versperrte. »Da werden wir auf unsere alten! ...Tage! ...noch! ...zum! ...Schläger!«, keuchte er und tat einen weiteren wuchtigen Hieb gegen das Gestein, was einen ohrenbetäubenden Lärm hervorrief, der vielfach verstärkt von den Wänden zurückgeworfen wurde. Tobi kläffte aufgeregt die Steine an – offenbar war der Hund nun auch vom Entdeckerfieber gepackt. Schließlich barst der schmalste der Stalaktiten mit einem lauten Krachen und gab den Weg zum Durchgang frei. Er gebot Tobi, vor dem Eingang zu warten – niemand wusste, was ihn in der Kaverne erwarten würde und der Hund hatte sie beide für heute wahrlich in genug Schlamassel gebracht. Dann zwängte sich der Alte durch das Loch in die dahinter liegende Finsternis.

4

DIE KAVERNE

Als er in den Durchgang trat, befürchtet er für einen atemlosen Moment, dass seine Grubenlampe urplötzlich erloschen sei – so vollkommen war die Finsternis, die ihn umgab. Er drehte den Kopf nach rechts und plötzlich starrte er in gleißendes Licht, so hell, dass er geblendet die Augen zusammenkniff. Und während vor seinen geschlossenen Lidern kleine Lichtkreise tanzten, begriff er, dass mit seiner Lampe alles in Ordnung war. Die Höhle, die er betreten hatte, war nur einfach zu groß, als dass der kräftige Strahl der Betty die gegenüberliegende Wand hätte erreichen können.

Als die zuckenden Lichtkreise nach einer Weile verschwanden, öffnete er die Augen und schickte den Lichtstrahl erneut in die Dunkelheit. Diesmal tastete er sich behutsamer durch die Finsternis, Stück für Stück riss die Lampe Schemen aus der Schwärze und allmählich erkannte der Alte die wahren Ausmaße der Kaverne. Sie war in der Tat gigantisch.

Hin und wieder verhallte ein leises Tropfgeräusch an den steinernen Wänden der Höhle und der Alte vermeinte ein fernes Rauschen wahrzunehmen, wie das Heulen eines Windes, der durch die Kaverne strich. Der Weg zu seinen Füßen ging nach wenigen Metern in einen schmalen Grat über, kaum mehr als ein Überhang von vielleicht zwanzig Zentimetern Breite, der steil in unergründliche Tiefen abfiel. Unregelmäßig gezackt verlor sich der Vorsprung in der Ferne, schien dort schmaler zuzulaufen, bis er schließlich eins mit der Steilwand wurde. Hier, nahe am Eingang, war der Sims noch breit genug, um einigermaßen sicher ein weiteres Stück in die geheimnisvolle Höhle eindringen zu können.

Also betrat der Alte vorsichtig den schmalen Sims und tastete sich an der Felswand entlang, stets sorgsam darauf bedacht, den nächsten Wegabschnitt erst mit der Spitze seines Bergstiefels zu testen, bevor er das gesamte Gewicht seines Körpers auf die betreffende Stelle legte.

Nachdem er auf diese Weise ein paar Schritte in die Höhle vorgedrungen war, schaute sich der Alte erneut um. Der Abhang unter dem kaum fußbreiten Sims ging weiter unten in eine eine steil abfallende Geröllhalde über und verlor sich in der dunklen Tiefe. Die Steilwand, an der er lehnte, während er sich auf dem Sims entlangtastete bildete etliche Meter über ihm die zerklüftete Decke der Kaverne.

Alois Suter lächelte. Dank Tobis Ungeschick hatte er heute eine gewaltige Entdeckung gemacht. Dies musste ein bislang völlig unbekannter Teil des Hölloch-Systems sein – allein die schieren Dimensionen der Höhle stellten alle bisher bekannten Gruben weit in den Schatten!

Äußerst zufrieden mit sich und der Welt – und nur eine Winzigkeit zu überschwänglich – machte der Alte auf dem Absatz seiner robusten Bergstiefel kehrt, um …

5

MISSGESCHICK

Sein Fuß gleitet auf einer lehmigen Pfütze aus, die er vorher nicht bemerkt hatte. Strauchelnd sucht er nach Halt. Der Abgrund! Nein, nicht in den Abgrund! Muss greifen, etwas packen – er ertastet im Vorübergleiten einen Stein. Ein Halt im Fels, er packt ihn. Nein, der Stein entgleitet seinen Fingern. Das Gewicht seines Körpers zieht den Alten unbarmherzig unten, in die Tiefe.

Sein Fuß rutscht über einen Felsspalt, er versucht, ihn hineinzuzwängen, krallt sich regelrecht in das Gestein. Doch etwas im Felsen bricht, gibt nach und dann ist plötzlich alles in Bewegung. Der Alte verliert erneut das Gleichgewicht, rutscht und – fällt. Seine Grubenlampe wirft tanzende Schatten an die fernen Wände der gigantischen Höhle, während er auf die Schwärze zurast. Mit einem dumpfen Krachen schlägt er auf dem geröllübersäten Abhang auf. Und noch immer rutschen die Gesteinsmassen unaufhörlich in die Tiefe. Er streckt die Arme aus, um nach dem Fels zu greifen, doch hier gibt es nichts als lose Gesteinsbrocken, die sich unter seinen Bewegungen lösen und polternd in die Tiefe rutschen.

Die Steine reißen ihn mit sich, so sehr er auch strampelt und kämpft. Der Staub, den sie aufwirbeln raubt ihm die Orientierung und dringt ihm in Ohren, Nase und Mund. Unaufhaltsam rutscht die Lawine mit ohrenbetäubendem Getöse weiter, und er mit ihr. Das Rumpeln hallt dröhnend von den fernen Wänden wider, tausendfach verstärkt und verzerrt zurückgeworfen von der Decke hoch oben über ihm. Der gnadenlosen Sog der Steinmassen zieht ihn tiefer hinab, er schlägt sich Knie und Ellenbogen an den Felsen auf, und ein großer Stein zischt haarscharf an seinem Kopf vorbei.

Instinktiv rollt sich der alte Mann zusammen, presst Arme und Beine eng an den Körper. Verzweifelt zieht er den Kopf zwischen seine Schultern wie eine Schildkröte, während er mit rasendem Tempo – als Teil der von ihm ausgelösten Lawine – den Schräghang hinabschliddert, bis zum Boden der Kaverne. Tobi, denkt er – und dann wird auch dieser Gedanke vom Getöse um ihn herum verschlungen. Sein Kopf knallt ungebremst an etwas Hartes – ein dumpfer Schmerz in seiner Schläfengegend und dann ... nichts mehr.

6

VERLETZT

Allmählich kam der alte Mann wieder zu sich. Blutig rote Schlieren wechselten sich vor seinen Augen mit der drohenden Schwärze einer erneuten Ohnmacht ab. Mühsam öffnete er die schmerzenden Augen. Dunkelheit, das schwache Fluoreszieren des sich setzenden Staubs. Wie der erste Schnee in einer Winternacht, dachte er benommen. Seine Betty funktionierte also noch. Dann schloss er die Augen wieder.

Die Schlieren tanzten weiterhin, aber ihr Ansturm auf sein Gesichtsfeld hatte bereits etwas nachgelassen. Wie aus weiter Ferne dämmerten die Schmerzen in seinen Gliedern herauf, und dann waren sie schlagartig da. Der pochende Schmerz schien plötzlich überall zu sein, riss an seinen Gliedern und schien seinen Kopf zum Bersten bringen zu wollen. Der Schock war so heftig, dass er für den Moment nicht in der Lage war, den Ursprung der Pein zu bestimmen – sein gesamter Körper schien nur aus Schmerzen zu bestehen. Er schloss die Augen und ließ sich kraftlos bebend wieder zurücksinken. Dann wartete er, schmutzig und verkrümmt, das Gesicht verzerrt in einem stummen Aufschrei der Pein, bis sein Körper sich an die Qualen gewöhnt hatte. Es dauerte eine Ewigkeit.

Allmählich begann er, wieder einzelne Empfindungen in dem rotglühenden Ball zu unterscheiden, der durch seinen Körper raste. Seine linke Schulter fühlte sich irgendwie falsch und taub an und sandte glühende Wellen der Agonie durch seinen Oberkörper. Er bemerkte, dass sein linker Arm von der Schulter an abwärts taub war, ein Gefühl, als hätte ein irrer Sadist einen steinernen Fremdkörper an seinen Rumpf genäht und diesen mit seinen Nervenbahnen verbunden. Mittels eines Lötkolbens.

In seiner linken Schläfe, die sich seltsam weich anfühlte, tobte ein kräftiges Pochen. Er tastete danach und spürte ein wenig klebrige Flüssigkeit, welche in seinem Haaransatz versickerte.

Noch immer auf dem großen Stein ausgestreckt, versuchte er, seine unteren Gliedmaßen zu bewegen und stellte fest, dass er außer einem funktionstüchtigen rechten Arm noch zwei gesunde Beine hatte, in Anbetracht des Sturzes, den er hingelegt hatte, ein beachtliches Wunder. Lediglich seine Fußknöchel, besonders der rechte, waren lädiert und von tiefen Schürfwunden überzogen. Morgen würden sie eine tiefe blau-schwarze Färbung angenommen haben.

Er hob mühsam den Kopf und öffnete erneut die Augen. Diesmal funktionierte es recht gut. Keine Schmerzen am Genick oder der Wirbelsäule, stellte er erleichtert fest, und nur ein leichtes Ziehen an den Rippen, wenn er tief einatmete. Er sah sich um. Der Staub, den der Gesteinsrutsch um ihn herum aufgewirbelt hatte, hatte sich gesetzt und gab nun nach und nach das Sichtfeld in seiner Nähe frei. Im Schein der unverwüstlichen Betty offenbarte sich ihm das ganze Ausmaß der gewaltigen Geröllhalde, die er hinabgerutscht war.

Er lag inmitten einiger großer Felsbrocken am unteren Ende der mehrere hundert Meter langen Gesteinsaufschüttung, und somit am eigentlichen Boden der Kaverne. Eben jenem Boden, den er vom Sims aus noch nicht einmal hatte erahnen können.

Ein ängstliches Kläffen erscholl irgendwo weit über ihm. Verzerrt zurückgeworfen von den Wänden der Höhle, regte es die pochenden Schmerzen in seinen Schläfen zu neuen Höchstleistungen an. Das Geräusch holte ihn vollends in das Hier und Jetzt seiner Misere zurück.

Tobi. Er stand noch immer oben auf dem Felsvorsprung – Gott allein mochte wissen, wie viele Meter weiter oben.

Der Hund winselte voller Sorge um seinen Herrn, dessen Grubenlampe zu einem fernen Lichtpunkt in der ewigen Nacht am Boden der gigantischen Kaverne geworden war.

»Alles … in Ordnung, Tobi …«, versuchte der alte Mann zu sagen. Heraus kam wenig mehr als ein heiseres Krächzen, begleitet von einem stechenden Schmerz in seinem Hals. Er musste husten und schmeckte etwas Staubiges auf seiner Zunge, was sich mit seinem Speichel zu einem brockigen Klumpen vermischte. Er spie es auf den Boden vor seinen Füßen.

Der Alte tastete nach dem Rucksack auf seinem Rücken. Er war tatsächlich noch an seinem Platz und möglicherweise hatte ihn lediglich das darin verstaute Langseil sogar vor einer ernsthaften Verletzung der Wirbelsäule bewahrt. Er holte das große Taschentuch aus der Seitentasche, knabberte dessen Saum durch und riss es schließlich mithilfe seiner gesunden Hand in zwei Teile. Als er es mit seinen Zähnen abriss, jagte die plötzliche Bewegung einen stechenden Schmerz durch seinen linken Arm, den er bis hinauf zur Schläfe spürte. Sein linker Arm war glatt gebrochen.

Als der Schmerz abklang, machte er weiter. Mit der einen Hälfte des Taschentuchs verband er notdürftig seinen angeschlagenen Kopf, um die Blutung aufzuhalten, mit der anderen versuchte er anschließend eine Schlaufe für den verletzten Arm zustande zu bringen. Beide Vorhaben gestalteten sich ausgesprochen schwierig, da er nur eine gesunde Hand und seine Zähne zur Verfügung hatte, doch schließlich schaffte er es, sich auf diese Weise provisorisch zu verarzten. Mit den Zähnen zog er den Knoten des behelfsmäßigen Schlaufenverbandes fest und hievte sich dann auf dem großen Stein, zu dessen Füßen er seine Rutschpartie so abrupt beendet hatte, in eine aufrechte Position.

Langsam drehte sich der alte Mann auf seinem steinernen Sitz um und schaute nachdenklich in den Teil der Höhle, dem er bislang den Rücken zugekehrt hatte. Aus gutem Grund, wie es schien, denn dort erhob sich nur eine meterhohe Felswand, zu deren Füßen sich unzählige Gesteinsbrocken auftürmten. Hier war die von ihm ausgelöste Steinlawine zu einem jähen Halt gekommen, einige der größeren Felsbrocken waren regelrecht in die Wand eingeschlagen. Wäre er in der Nähe eines solchen Felsens gelandet ...

Nachdenklich stellte der Alte die Intensität seiner Stirnlampe nach, um die Felswand vor sich genauer betrachten zu können. Behutsam kletterte er auf einen der kleinen Berge aus Schutt und Steinen, den die Lawine an den Fuß der Felswand gespült hatte.

Als er den Gipfel der Aufschüttung erklommen hatte, wäre er um ein Haar gleich wieder heruntergepurzelt. Ein kleiner Gesteinsbrocken an der Spitze der Aufschüttung gab überraschend nach, als er drauftrat. Der Alte federte zurück, verlagerte sein Körpergewicht und kickte noch einmal vorsichtig nach dem Stein, der daraufhin mit einem gedämpften Poltern in der Felswand verschwand. Offenbar hatte die Lawine den Fels an dieser Stelle glatt durchschlagen und der kleine Stein war in einen dahinter liegenden Hohlraum gerollt. Der Alte stieß mit dem Absatz seiner Bergschuhe an den nächsten, etwas größeren Brocken, der den gleichen Weg durch den Felsen nahm. Eine Chance, vielleicht.

Energisch trat der Alte einige weitere kleine Steine weg und brachte unter lautstarkem Ächzen schließlich auch einen der größeren Gesteinsbrocken ins Rutschen. Alle verschwanden in der Wand.

Von neuem Elan beflügelt, begann der Alte, den kleinen Geröllberg Stein für Stein abzutragen, wobei er sorgsam darauf achtete, den neu gewonnenen Zugang nicht durch nachrutschendes Gestein zu verschütten. Nach etwa einer halben Stunde hatte er den Durchbruch in den Felsen ausreichend freigelegt, um hindurchschlüpfen zu können. Auf der Seite liegend, um seinen verletzten Arm nicht zu belasten, glitt er – vor Anstrengung schnaufend und so vorsichtig es eben ging – den Schuttberg hinab und in die Felswand hinein.

Der Schein der Betty offenbarte ihm, dass die Lawine die Felswand tatsächlich an einer dünneren Stelle erwischt und glatt durchschlagen haben musste. Er rutschte vollends in das Loch hinein und kam schließlich auf einem wackligen, kleinen Steinplateau zum Stehen. Nachdem er ausgiebig dessen Stabilität getestet und für ausreichend befunden hatte, erhob er sich schwerfällig auf seine Beine, wobei er sich mit der gesunden Hand am oberen Rand des gezackten Loches abstützte. Wie ein Artist, der einen besonders komplizierten Jonglagetrick aufführt, balancierte er auf der Steinplatte – und wäre beinahe erneut in einen bodenlosen Schlund gestürzt.

Zu seinen Füßen gähnte ein Abgrund. Tiefer, als es hier unten überhaupt möglich schien, fiel die Steilwand unter ihm ins Bodenlose ab. Also doch – nach all der Plackerei – nur eine weitere Sackgasse. Und zum ersten Mal kam dem alten Mann der Gedanke, dass er hier unten sterben würde.

7

ABWÄRTS!

Suter hielt inne und lehnte sich an die Felswand, dann rutschte er in eine sitzende Position. Seine Lampe warf nur einen schwachen Schein auf die gegenüberliegende Seite des Abgrunds, dazwischen klaffte die Schlucht. Der Alte griff sich einen der herumliegenden Steine und wog ihn stumm in seiner Hand.

Nachdenken. Und Licht sparen.

Er knipste die Betty aus. Horchte in die Stille hinein, die hier unten so absolut und endgültig war wie in einer gigantischen Gruft.

Nein, dachte er, das stimmte nicht. Das gleichmäßige, leise Rauschen drang wieder an den Rand seiner Wahrnehmung vor. Es war kein Wind. Und es kam auch nicht aus seinem Kopf, war keine Nachwirkung des Sturzes. Vielmehr schien das Geräusch aus der Tiefe des gähnenden Schlundes zu seinen Füßen zu kommen. Eine Art fernes, beruhigendes Murmeln, verzerrt zurückgeworfen und emporgetragen von den meterhohen Felswänden.

Er brauchte eine Weile, bevor er sich eingestand, was er da zu hören glaubte. Doch, tatsächlich – unter ihm musste sich ein Wasserlauf befinden – dem fernen Plätschern nach zu urteilen allerdings kaum mehr als ein schmales Bächlein – und dennoch: auch dieser Bach musste irgendwo in einen Fluss münden, um irgendwann im fernen Meer anzukommen wie alle fließenden Gewässer.

Und er hatte noch das Langseil im Rucksack. Einen Versuch war es vielleicht wert.

Schließlich warf er den Stein in die Schlucht zu seinen Füßen. Nach einiger Zeit drang ein deutlich vernehmbares »Platsch!« herauf. Treffer! Wenn er auch momentan nicht mehr viel hatte, an das es sich zu klammern lohnte – nun hatte er immerhin ein bisschen Hoffnung. Und einen Plan. An sich war es ein einfacher Plan – seine Durchführung würde sich jedoch als ausgesprochen schwierig erweisen.

Jedes fließende Gewässer führt zwangsläufig aus dem Berg hinaus.

Das Problem lag darin, dass er momentan hier oben saß, viele Meter über dem Fluss. Und er war kein Stein. Sein »Platsch!« würde wesentlich lauter sein – und mit Sicherheit tödlich. Er musste also einen weniger direkten Weg nach unten finden – oder es zumindest versuchen.

Erneut knipste er die Betty an. Die starke LED-Leuchte tauchte seine Umgebung sofort in unbarmherzig grelles Licht. Er wandte den Blick nach unten und sah zwischen seinen baumelnden Füßen in den Abgrund hinab. Er vermeinte, nun auch die Reflexionen der dünnen Wasserschnur auszumachen, die sich am Grund der Steilwand unter ihm entlang schlängelte. Verdammt tief unter ihm.

Sein Blick glitt aufmerksam über die Felswand zu seinen Füßen. Nach etwa einer halben Stunde des intensiven Starrens hatte sich der erfahrene Kletterer die wesentlichen Trittstellen in der Wand eingeprägt.

Er wuchtete das aufgewickelte Langseil aus dem Rucksack, der nur mehr den kläglichen Rest seines Proviants und ein paar verbrauchte Ersatzakkus für die Betty enthielt, und entrollte das Seil. Er schlang einen festen Knoten hinein, einen Sackstich, wobei er wiederum seine rechte Hand und seine Zähne benutzte. Dann klemmte er das verknotete Ende in einen Felsvorsprung und riss einige Male prüfend daran. Er warf einen letzten Blick zurück in die Kaverne, in deren schwarzer Tiefe er noch immer Tobi vermutete (was allerdings nicht stimmte – der Hund war bereits umgekehrt und suchte nach einem Ausgang aus dem Berg). Der Alte warf das lose Ende des Seils in die Schlucht hinab. Er zog die schweren Bergstiefel von den Füßen und stopfte sie in seinen Rucksack. Viel zu klobig, um an der steilen Wand einigermaßen sicher klettern zu können. Aber später würden sie vielleicht nützlich sein.

Ohne weiteres Zögern schlang er sich das Seil um den Rumpf und führte es mit der Hand seines gesunden rechten Arms. Dann begann er, sich die Felswand herabzulassen. Seine nackten Füße gegen den Felsen stemmend versuchte er, sein Gewicht so zu verteilen, dass er sich allein mit der gesunden Hand am Seil hinablassen konnte – ein Kraftakt, dessen Gelingen er vor allem seiner jahrzehntelangen Klettererfahrung verdankte - manch jüngerer Mann hätte dieses Kunststück nicht zustande gebracht.

Die Muskeln seines rechten Oberarms waren zum Äußersten angespannt, als er dem Vorsprung etliche Meter unter ihm entgegenstrebte. Immer wieder drohte sein vor Schmerzen schreiender Körper aufgeben zu wollen, aber der Kraft schierer Verzweiflung krallte sich seine Hand um das Seil, das tiefe, blutende Striemen in die Innenseite seiner Handfläche schnitt. Sein Körper war jetzt eine einzige, sehnige Muskelfaser, die er bald hierhin, bald dorthin bog, um sein Gewicht am Seil besser verteilen zu können. Zentimeter um Zentimeter arbeitete er sich die Wand hinab, während der Schweiß in einem steten Rinnsal an seinem Körper herunterlief.

All dies drang kaum ins Bewusstsein des konzentrierten Kletterers. Nach Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, erreichte er ächzend und keuchend den winzigen Vorsprung zwanzig Meter unter dem Punkt, an dem sein Abstieg begonnen hatte. Vorsichtig öffnete er die Hand und gab das Ende des Seils frei, als seine Füße auf dem schmalen Sims einen einigermaßen sicheren Halt gefunden hatten.

Bis hierhin hatte er das Seil gehabt, aber nun gab es kein Zurück mehr, von jetzt an würde der winzigste Fehltritt tödlich sein.

Erst jetzt bemerkte er die Schmerzen in seinen Kiefergelenken, wo sich seine Zähne mahlend aufeinandergepresst hatten. Er öffnete den Mund und machte ein paar Grimassen, um die Gesichtsmuskeln zu entspannen. Dann konzentrierte er sich erneut auf den Fels. Er drückte seinen Körper an die Wand, presste sich regelrecht in das Gestein hinein – nunmehr allein auf die Kraft seiner Füße und eines verbliebenen Arms gestellt. Dann öffnete er langsam die Augen und betrachtete die schier endlos verlaufende Steilwand zu seiner Linken.

Er warf einen letzten Blick auf das baumelnde Seilende vor seinem Gesicht, dann wischte er seine blutige, verkrampfte Rechte bedächtig an der Hose ab – das Gesicht und den ganzen Körper unverwandt an den Stein gepresst. Er spannte und entspannte die Muskeln seiner Hand und krallte dann die Finger in einen schmalen Spalt in der Felswand, um seinem Körper den nächsten Kraftakt aufzuzwingen. Anschließend schob er seinen linken Fuß Zentimeter für Zentimeter den Vorsprung entlang und verbog seinen Oberkörper, bis jede Faser seines Rumpfes schmerzte. Als er erneut sicheren Halt unter seinen Füßen spürte, dehnte er sich langsam zurück, während seine Hand tastend den nächsten Halt in der glatten Oberfläche fand. Jede Wiederholung dieser mühseligen Prozedur in schwindelerregender Höhe brachte ihn seinem Ziel ein paar Zentimeter näher.

Er betrieb diese erschöpfende Aktion beinahe eine Stunde lang – ungeachtet der Schmerzen und seiner Erschöpfung. Der raue Fels hatte seine Jacke und Hose aufgescheuert, sie hingen nur mehr in Fetzen an ihm. Eine dicke Kruste aus Dreck und Blut bedeckte seinen Körper. Aber der alte Suter kletterte weiter.

Als er schließlich den Felsspalt erreichte, der den nächsten Abschnitt seiner Route markierte, war ihm bereits jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen. Von hier wollte er den direkten Abstieg ins Tal vornehmen – gut und gerne fünfzig Meter spiegelglatter Fels, und diesmal ohne Halteseil.

Suter schloss die Augen und verharrte eine Weile reglos in die Wand gepresst, versuchte, das Reißen in seinen Gliedern zu ignorieren, zu ignorieren, wie erschöpft er bereits war. Er würde den weiteren Abstieg nicht schaffen. Nicht ohne Seil und nicht in seinem Zustand. Er öffnete die schmerzenden Lider und sah sich um.

Hier gab es einen senkrechten, gezackten Riss im Gestein, den er sich als Anhaltspunkt eingeprägt hatte. Wenig mehr als Loch im Berg und eine von dort senkrecht nach unten verlaufende Spalte, die er als Haltegriff für den Weg nach unten vorgesehen hatte. Allerdings hörte diese Spalte bereits wenige Meter unter ihm unvermittelt auf und danach kam nur die Wand. Kein guter Plan.

Hier oben allerdings, da wo sie ihren Ursprung hatte, klaffte die Spalte zu einem breiten Riss auf, der tiefer in den Felsen führte, eine Höhlung, vielleicht? Breit und tief genug, um sich zu setzen und zu verschnaufen, nur für einen Moment?

Er rutschte ein paar weitere Zentimeter auf das Loch im Felsen zu und stellte fest, dass es tiefer war, als er zuerst angenommen hatte. Tatsächlich klaffte ein Tunnel von gut zwei Metern Durchmesser in der Wand. Mit einem Schlag machten sich seine schmerzenden Muskeln wieder bemerkbar. Ein paar Meter noch – dann würde er Halt machen und rasten können.

Mühsam zwang er sich selbst dazu, Ruhe zu bewahren, während er weiter auf die Vertiefung zukroch. Schließlich war er nah genug, um einen Fuß darin abstellen zu können, und dann zog er sich ächzend hinein. Für einen Moment schwankte er bedenklich unsicher über dem meterhohen Abgrund, bevor er sich mit einer letzten, übermenschlichen Kraftanstrengung herumschwang und seinen Körper schließlich in das Loch hineinwarf.

Das Letzte, was der alte Mann im schwächer werdenden Schein der Betty wahrnahm, als er in der kreisrunden Aushöhlung zusammenbrach, war ein merkwürdiges, in die Innenwand der Vertiefung gehauenes Symbol.

Dann schlug die Finsternis über ihm zusammen.

8

TOTENMOND

Der alte Mann erwachte aus einem sanften Dösen. Er streckte seine Glieder in dem samtbezogenen Ohrensessel aus und sein Mund verzog sich zu einem herzhaften Gähnen. Offenbar war er bei der abendlichen Lektüre des Boten wieder einmal eingenickt. Das Feuer im Kamin der kleinen Wohnstube tauchte den Raum in rot-goldenes Zwielicht. Es war fast heruntergebrannt und die nächtliche Kühle begann bereits, sich in den Raum zu schleichen. Jenseits des Fensters herrschte nun nichts als undurchdringliche Schwärze, die Nacht war schon vor Stunden angebrochen. Ungewöhnlich früh für diese Jahreszeit, fand der Alte, machte sich aber weiter keine Gedanken darüber. Er dehnte sich ein weiteres Mal in dem weichen Polstermöbel und setzte sich dann aufrecht. Seine Hand tastete nach unten, an die Stelle vor dem Kamin, wo er den Hinterkopf seines Bernhardiners Tobi vermutete. Doch er griff ins Leere. Auch das sanfte Hecheln des großen Hundes war nicht zu hören – tatsächlich war es ungewöhnlich still in dem kleinen Raum.

Die zerwühlte Spieldecke vor dem Kamin war leer, unangetastet der große Wassernapf aus Blech, daneben der zerkaute Spielknochen. Aber keine Spur von dem Hund.

Der Alte erhob sich bedächtig aus seinem Sessel, faltete den Boten zusammen und legte die Zeitschrift auf die glimmenden Holzscheite im Kamin. Fasziniert beobachtete er, wie sich auf dem dünnen Zeitungspapier bräunliche Flecken bildeten, alsbald schwarz wurden und sich zu einer rissigen Haut aus verkohlten Fetzen zusammenzogen, welche in der Glut zu Asche vergingen. WIE AUCH DU ZU ASCHE VERGEHEN WIRST. WIE IHR ALLE VERGEHEN WERDET!

Ein scharfes Bellen riss ihn aus seinen Gedanken. Tobi!

Das abgehackte Kläffen kam von draußen – offenbar ein gutes Stück vom Haus entfernt. Missmutig begab der Alte sich zur Tür und trat hinaus in den Wald.

Der Alte lief in die Richtung, aus der das Bellen gekommen war. Irgendwo vor ihm im pechschwarzen Forst, irgendwo tief in der Dunkelheit ...

Der uralte Forst wirkte in der Finsternis dichter als sonst, abweisend und – feindselig? Der Alte lief tiefer in den Wald hinein, dem gelegentlichen Kläffen seines treuen Hundes folgend. Zweige streichelten wie sanfte Finger sein Gesicht, glitten forschend und tastend an ihm herum. Ein Gefühl, welches ihm nicht gänzlich unangenehm war – es war anregend und von einem sanften Entzücken begleitet. Der Alte spürte das verlangen, über die raue Rinde zu streichen, sie mit den Fingern zu erforschen, zu liebkosen und … Die Bäume um ihn herum schienen plötzlich dichter zu stehen, fast so, als bewegten sie sich langsam auf ihn zu. Als hießen sie ihn in ihrer Mitte willkommen, damit er eins würde mit ihnen.

Ein neuerliches Bellen, lauter diesmal, direkt vor ihm, fast greifbar nah. Fragend. Unsicher. Ängstlich?

Er lief tiefer hinein in die Dunkelheit des Waldes. Wie lange war es her, dass er aufgebrochen war, um nach Tobi zu suchen? Ihm kam es vor, als irre er schon seit Stunden durch den endlosen Forst. Oder waren es Tage? Er verharrte für einen Moment und schaute zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Versuchte, sich zu orientieren. Von seinem Haus jenseits der Bäume war jedoch nichts zu sehen. Kein Licht durchbrach die Finsternis von da, wo sich das anheimelnde Wohnzimmer des Alpenhof hätte befinden müssen.

Die riesenhaften Baumstämme standen eng beisammen und ihr dichtes Blätterdach gab nur gelegentlich zerrissene Fetzen des wolkenverhangenen, sternenlosen Nachthimmels frei. Und vermutlich war es besser, dass er diese Sterne nicht sehen konnte.

Wieder ein Geräusch. Ein Winseln. Und dann ein lautes, klägliches Aufjaulen, das abrupt verstummte.

Als er herumfuhr, gewahrte der Alte zwischen den finsteren Stämmen eine mondbeschienene Lichtung, die er vorher überhaupt nicht bemerkt hatte. Die mächtigen Laubbäume gingen hier allmählich in kleinere, verkrüppelte Astgeflechte über. Diese wogten wie dürre Arme zu einem Hügel hinauf, dessen Kuppe gänzlich frei von jedem Baumbewuchs war. Lediglich einige Gräser und trockenes Gestrüpp bedeckten den kargen Boden wie eine ungesund wuchernde Flechte. Ein kränkelnder Vollmond beschien die unwirkliche Szene – ungewöhnlich nah und aufgedunsen hing er über dem kahlen Hügel und warf sein blässliches Licht auf die Erhebung und den seltsamen, großen Stein auf deren Kuppe.

Der an ein vorzeitliches Kultobjekt erinnernde schwarze Felsblock verströmte eine Aura unheimlicher Fremdartigkeit und unvorstellbaren Alters – ein Eindringling, dessen Geschichte lange vor der allen Lebens auf der Erde begonnen hatte, ein widerwärtiger uralter Abszess auf dem Gesicht des jungen Planeten, abstoßend und grauenerregend.

Der Alte kämpfte sich durch die knöchelhohen, klebrigen Gewächse aus dem Unterholz des Waldrandes und betrat die Lichtung. Sein Blick wurde unbarmherzig von dem grob behauenen steinernen Ungetüm auf der Hügelkuppe angezogen – ein vorzeitlicher Findling von wahrhaft gigantischen Ausmaßen. Über drei Meter lang und gut zwei Meter breit, bildete der Felsbrocken auf dem Hügel die höhnische Nachahmung eines zyklopischen, schwarzen Sarges. Der Alte trat näher heran. SIEH HIN, SIEH GENAU HIN, ALTER MANN! S'IST EIN ANBLICK, DER SICH WIRKLICH LOHNT!

Auf dem schorfigen Steinaltar schien ein kleines Bündel zu liegen, das den alten Mann unwillkürlich an eine schmutzige und völlig zerfetzte Version der Wolldecke vor dem heimischen Kamin denken ließ. Der blasse Mond tauchte den Stofffetzen in ein fahles, unwirkliches Licht und ein unnatürlich lauer Wind spielte mit einigen losen Enden und verwitterten Falten des modrigen Stoffs. Aus dem achtlos hingeworfenen Bündel quoll eine dunkel schimmernde Flüssigkeit und rann über den monströsen Altarstein. Der Alte tauchte widerstrebend einen Finger in die klebrige Flüssigkeit. JA, TAUCH IHN HINEIN, DEINEN FINGER UND SCHLECK SIE AB, MEINE KÖSTLICHE, KÖSTLICHE SÜßIGKEIT!

Er stellte fest, dass er sich in der Farbe geirrt hatte – tatsächlich war die träge Flüssigkeit nicht schwarz, sondern von einer tiefroten Färbung. Wie Sirup gerann der schleimige Brei an der Seitenwand zu dicken Klumpen, bevor er im Waldboden versickerte. Fast wie ...

In diesem Moment schob sich der gnadenlose Schimmelmond hinter den Wolken hervor und gab dem alten Mann endgültig den Blick auf das Lumpenbündel frei, das verdreht und falsch auf dem Monolithen lag. Ein Bündel, das in Wahrheit nicht aus Wolle oder Leinen bestand – sondern aus den zertrümmerten Knochen und dem ausgeweideten Körper seines getreuen Bernhardiners Tobi. Jemand oder etwas hatte den großen Körper des Hundes wie den einer Puppe zerfetzt und Teile aus diesem Körper herausgerissen.

Aus der dampfenden Masse von Fell, Fleisch und Eingeweiden, die einst sein treuer, vierbeiniger Gefährte gewesen war, starrte ihm ein einzelnes, fürchterliches Hundeauge blicklos entgegen.

Die Finsternis über dem Alten türmte sich zu einem zuckenden Schatten auf, der die traurigen Reste des toten Hundekörpers verdunkelte und die ganze Lichtung in Schwärze tauchte. Der alte Mann drehte sich langsam um, gegen seinen Willen, jedoch – er konnte nicht anders. Denn es war seine Bestimmung, das zu erblicken, was hinter ihm in den Schatten gelauert hatte.

Und dann begann Alois Suter zu schreien.

9

EIN TRAUM, VIELLEICHT

Der alte Mann erwachte und fand allmählich in die Realität zurück. Allerdings war es eine, die ihm nur wenig Trost versprach. Zusammengekrümmt lag er in dem Felsloch und stellte fest, dass seine Grubenlampe immer noch brannte – und die ganze Zeit seiner Bewusstlosigkeit über gebrannt hatte. Mit einer hastigen Bewegung knipste er sie aus, dann starrte er blicklos in die Schwärze vor sich und lauschte dem Pulsieren seines rasenden Herzens, welches sich allmählich wieder beruhigte.

Hatte er geschrien?

Ein Traum, überlegte er, sonst Nichts. Aber da waren Tränen auf seinen Wangen, die im kratzigen Haargeflecht seines Bartes versickerten und ein rauer Schmerz in seiner ausgedörrten Kehle. Nichts da, dachte der Alte, es ist nur Schweiß.

Und auch sein Traum, so beschloss er, konnte nur das Resultat seiner erschöpfenden Kletterei gewesen sein. Sein über alle Maßen beanspruchter Körper hatte seinen Tribut gefordert. Und seine Nerven, überreizt von der allgegenwärtigen Angst vor dem einsamen Tod, hier unten in der grausamen Finsternis. Doch wieso schien ihm dieses Sterben nun weniger grausam, geradezu lächerlich im Vergleich zu dem, was er in seinem Traum durchlebt hatte? Was, wenn es das war, was nach dem Sterben kam?

Ein Traum, sonst nichts.

Wie lange mochte er hier gelegen haben, ohnmächtig gefangen in diesem schrecklichen Traum von schwarzen Monolithen und zerfetzen Leibern? Er stellte fest, dass sich seine gesunde Hand in den felsigen Untergrund gekrallt hatte, wie in dem Versuch, sich hineinzugraben. Er löste die Finger, entspannte die verkrampften Sehnen seiner Glieder. Seine Hand fühlte sich an, als wäre sie unter einen Mühlstein geraten. Er öffnete und schloss sie ein paar Mal. Glitschig. Vorsichtig strich er über seinen Handteller und wimmerte, als er die offene Wunde mit den Resten seiner abgebrochenen Fingernägel berührte. Der Schmerz raste seinen Arm hinauf und trieb ihm erneut Tränen in die Augen.

Nicht mehr zu gebrauchen.

Seine verbliebene Hand war ein schmerzender Klumpen Fleisch, der nutzlos am Ende seines zerschundenen Armes herumbaumelte. Unbegreiflich, wie er die Kletterei bis hierhin überhaupt geschafft hatte.

Zwecklos, sich Illusionen von einem weiteren Abstieg hinzugeben, er würde keine zwei Meter weit kommen, der alte Mann hatte das Ende seiner Klettertour in einem finsteren Felsloch tief unter dem Gruebiwald erreicht.

Die Angst vor dem Sterben, ganz recht.

10

SACKGASSE

Er beschloss, eine Kleinigkeit zu essen. Nicht, dass von seinem Proviant mehr als eben jene Kleinigkeit übrig gewesen wäre. Also tastete er nach dem Rucksack, den er immer noch auf dem Rücken trug und fand schließlich das kleine Proviantpaket. Geduldig zog er es mit seinen zerstörten Fingern hervor und öffnete es, beiläufig fasziniert davon, dass seiner Hand auch diese simplen Tätigkeiten nunmehr unsägliche Mühen und Schmerzen bereiteten.

Wundersamerweise schaffte es der Alte, den wenigen Resten von Wurst, Käse und Brot nochmals zwei Rationen abzugewinnen. Er aß bedächtig und in dankbarer Hingabe. Komm, Herr Jesus, sei unser Gast …

Nein, überlegte er. Gott der Herr war jetzt nicht bei ihm. Gott war oben, in den Wäldern, auf den Bergen, selbst in den Felsschluchten – überall dort, wo die Luft und das Licht hingelangten. Hier unten war er nicht. Aber hier unten war vielleicht etwas Anderes, ein schwarzer Schatten, der ihm im Traum erschienen war. Etwas, dass so furchtbar war, dass sogar Gott seine Augen davor verschloss.

Vielleicht, weil selbst Gott diesen Schatten fürchtete.

Nachdem er etwas trockenes Brot und Käse heruntergewürgt hatte, schraubte er den Verschluss der kleinen Wasserflasche auf, während er sie zwischen seine Beine klemmte. Der winzige Schluck genügte kaum, die Reste seiner Mahlzeit hinunterzuspülen, geschweige denn, seinen Durst zu stillen.

Dann war die Wasserflasche leer.

Noch immer zitternd kam Suter auf die Beine, beziehungsweise auf die Knie, denn größere Bewegungsfreiheit ließ der Durchmesser des Lochs ohnehin nicht zu. Er knipste die Betty wieder an, hockte sich in der Finsternis an die Felswand und schaute sich um.

Da ein weiterer Abstieg nun keine Option mehr war, leuchtete er stattdessen in das Felsloch hinein, halb in der Erwartung, eine weitere Sackgasse zu sehen, jene, die sein Schicksal endgültig besiegeln würde.

Stattdessen führte der kreisrunde Gang jedoch tiefer in den Fels hinein, seine Wände spiegelglatt und im immer gleichen Durchmesser wie von einer Bohrung. Und das musste es sein! Dies hier war mitnichten eine natürliche Höhlung, wurde dem Alten klar, jemand hatte den Tunnel absichtlich in den Fels gebohrt. Menschen?

Er hätte sich dieser Hoffnung nur allzu gern hingegeben, doch er erinnerte sich an das merkwürdige Symbol, welches sein Blick gestreift hatte, bevor er in die erschöpfte Ohnmacht gefallen war. Er leuchtete an die Stelle in der Decke, an der er es vermutete. Es war noch da, am Scheitelpunkt der Höhlung in den Fels geschlagen, so präzise und unnatürlich wie der gesamte, schnurgerade Gang. Er strich mit seinen blutig geschabten Fingerkuppen über das Symbol und spürte – gar nichts. Keine Erhöhung oder Einkerbung im polierten Stein. Als er es näher betrachten wollte, begann sich ein dumpfer Schmerz hinter seiner Stirn zu regen und Tränen stiegen in seine schmerzenden Augen. Das hörte auf, sobald er in eine andere Richtung blickte. Merkwürdig, dachte der Alte, und drehte sich zurück in den Gang, um tiefer hinein zu kriechen.

Merkwürdig. Aber im Moment nicht weiter wichtig.

Er entdeckte noch mehrere dieser fremden Symbole und sie alle schienen keinerlei räumliche Dimension zu haben, so als wären sie auf den Fels gemalt. Wenn er sie ansah, begannen seine Augäpfel zu schmerzen, so als versuche jemand, sie aus seinem Kopf heraus zu drücken und eine Schwermut erfasste ihn, als sprächen die Symbole zu den dunkelsten Bereichen seiner Seele, so als suchten sie in seiner Erinnerung gezielt nach den Momenten des Verlusts und der Verzweiflung ...

Aber das war natürlich Blödsinn. Es waren einfach nur Markierungen, welche die unbekannten Tunnelgräber zurückgelassen hatten.

Wer immer sie auch sein mochten.

Also sah er die Symbole einfach nicht mehr an. Die Fremdartigkeit der Markierungen, und der schnurgerade Gang, welcher sich kilometerweit in den Fels zu erstrecken schien, hätten den Alten an jedem anderen Tag über alle Maßen in Erstaunen versetzt. Vielleicht wären sie ihm entsetzlich alt vorgekommen und fremd und feindselig. Aber nicht heute. Heute war er viel zu sehr mit dem verzweifelten Versuch beschäftigt, noch etwas länger am Leben zu bleiben.

Nach einer Zeit, die er selbst auf etwa eine halbe Stunde schätzte, kam sein kriechendes Vorwärtskommen zu einem abrupten Halt. In dem, was vom Licht seiner Stirnlampe noch übrig war, erblickte er eine kahle Wand am Ende des Ganges vor sich, mit einem weiteren der unbekannten Symbole darauf. Höhnisch schien es auf ihn herab zu grinsen.

Der Schacht war zu Ende.

11

LICHTLOS

Tatsächlich stellte er beim Näherkommen fest, dass sich kurz vor der abschließenden Wand ein Loch im Boden befand, ebenfalls kreisrund und mit einem Durchmesser von etwa einem Meter. Der Gang machte einen nahezu rechtwinkligen Knick und setzte sich dann in einem steilen Winkel fort. Und zwar bedauerlicherweise nach unten. Der Alte kroch an den Rand des Durchbruchs und lugte in die Tiefe.

Er ließ sich, seinen verletzten Arm in der provisorischen Schlaufe schützend nach oben gedreht, in das Loch im Boden gleiten und benutzte den geschulterten Rucksack dabei wie einen Schlitten. Mit den dicken Gummisohlen seiner Bergschuhe stützte er sich, so gut es ging, an den Wänden des steilen Schachtes ab, der ihn unaufhaltsam in die Tiefe führte.

So rutschte und schlidderte der alte Mann, mehr als dass er kroch, Meter für Meter nach unten, tiefer in den Fels hinein.

Nach einer Strecke des mühsam gebremsten Rutschens glitt sein linker Fuß plötzlich ins Leere – durch das überraschende Ungleichgewicht drehte sich der Alte in dem Gang quer und schlug mit seiner linken Schulter unsanft an die Innenwand der Höhlung. Der Schmerz in seinem Arm flammte erneut kräftig auf. Er keuchte einen leisen Fluch zwischen seinen zusammengepressten Lippen hervor und tastete mit seiner Rechten nach dem Rand des Gangs, über dem sein Fuß nun lose baumelte.

Dann versuchte er, seinen Körper so zu drehen, dass er mit dem Kopf näher an den Rand des Durchbruchs heran kam, erreichte damit allerdings lediglich, dass er ein paar weitere Zentimeter auf das Loch zu rutschte. Es gelang ihm auch unter Aufbietung all seiner Kräfte nicht, sich so zu verbiegen, dass er in das Loch hinableuchten konnte. Unmöglich zu sagen, wie tief es hier runter ging.

Schließlich presste er den rechten Arm an die Seite, wobei im Reflex der Bewegung auch sein linker schmerzhaft zusammenzuckte, zog die Beine an den Körper und vertraute sich der Schwerkraft an. Die Augen fest zusammengepresst rutschte der Mann durch das Loch hindurch und – fiel.

Allerdings fiel er nicht besonders weit. Kurz nachdem er seinen Körper durch den Durchbruch bugsiert hatte, schlugen seine beiden Füße gleichzeitig auf dem harten Boden auf, er ging reflexartig in die Knie und leitete den Schwung des Sturzes in eine fast perfekte Vorwärtsrolle um. Ein kurzes Stück schlidderte er noch auf dem spiegelglatten Steinboden weiter, dann blieb er zusammengekauert liegen.

Schließlich setzte er sich auf, und knipste die Betty an, um sich ein Bild von seiner Lage zu verschaffen und kam auf die Beine. Er befand sich in einem kargen Raum von annähernd ovalem Grundriss, mit der gleichen verblüffenden Präzision ins Gestein gehauen wie der rutschige Schacht, aus dem er gekommen war. Die Oberfläche der Wände und des Bodens schien hier trotz der verblüffenden Symmetrie noch am ehesten natürlichen Ursprungs zu sein. Die Strukturen des Felsgesteins waren unregelmäßig und von erzhaltigen Adern durchzogen, die im schwachen Schein der Betty verheißungsvoll funkelten.

Da das sterbende Licht der Betty lediglich eine paar grobe Umrisse aus der Dunkelheit um ihn riss, brauchte eine ganze Weile, um das Gebilde zu erkennen. Er erstarrte und trat ungläubig einen Schritt näher auf die Mitte des Raumes zu. Der Anblick dessen, was da vor ihm thronte und ihn mit seiner bloßen Anwesenheit zu verspotten schien, erfüllte ihn mit einer rasenden Furcht, als er es schließlich als das erkannte, was es war.

Das mächtige Steinding glich in allen widerwärtigen Einzelheiten dem urzeitlichen Findling aus seinem Traum – dem schwarzen Sarkophag.

Ein Detail fehlte jedoch und das war eine Gnade: Die zerfurchte Oberfläche der Steinplatte war leer und glatt, zur großen Erleichterung des Alten. Keine KÖSTLICHE SÜßIGKEIT wartete auf seinen tastenden Finger – kein Lumpenbündel, das sich als die zerfetzten Überreste seines geliebten Hundes entpuppen würde.

Angewidert wandt er seinen Blick von dem Stein ab. Unbekannte Symbole, ähnlich den Zeichen, die er schon in den Gängen gesehen hatte – aber größer, komplexer und auf eine befremdliche Weise kunstvoller – zierten die erdrückenden Steinwände. Tatsächlich erweckte der Raum den Eindruck einer Grabkammer in einer altägyptischen Pyramide oder, wenn einem der neuzeitliche Vergleich mehr zusagte, dem Aufbahrungsraum eines Bestattungsinstituts.

Während er den Strahl seiner Grubenlampe flüchtig über die Wände streifen ließ, machte er einen weiteren Schritt – und verhedderte sich in etwas, das auf dem Boden lag. Er stolperte und trat im Schwung seiner Bewegung in etwas hinein, das mit einem hohlen Knacken zerbarst. Er schaute hin und hielt das, worin er stand, zunächst für eine lose Ansammlung von dürren Ästen. Dann jedoch entdeckte er die Lumpen und die rissige, pergamentartige Haut, die sich über den Knochen spannte. Hier lagen die Skelette von … der Alte zögerte. Das mochten einst Menschen gewesen sein, aber ihre Schädel waren so anders. Verformt, wie es schien, mit wulstigen Knochenpartien über den tief liegenden Höhlen und ihre ineinander verhakten Körper schienen klein und verstümmelt von dem, was sie sich in ihren letzten Momenten angetan haben mussten.

Waren dies die Tunnelgräber?

Der alte Mann bezweifelte das stark – wo waren ihre Werkzeuge und wieso waren sie hier unten gestorben, in ihren eigenen Tunneln. Und noch etwas dämmerte aus den Tiefen des Unbewussten hervor, eine intuitive Erkenntnis, die ihn mit der Wucht eines Donnerschlags traf.

Diese Skelette waren alt, sie gehörten zu Menschen, welche vor vielen hundert Jahren gelebt hatten und hier gestorben waren. Aber das Tunnelsystem war um Größenordnungen älter.

Von Ekel erfüllt wandte er den Blick von den ineinander verschlungenen Überresten und denn endlich erspähte er in der Dunkelheit einen Ausgang aus dem Raum – ein zweiter Gang, und zur großen Freude des Mannes führte dieser nicht nur weg von dem entsetzlichen Steinding und dem Knochenhaufen zu seinen Füßen, sondern außerdem nach oben.

Also ging er wieder in die Knie und schob sich ächzend in den Gang hinein, der sich als ein Durchgang zu einem geräumigen Schacht erwies. Er hätte hier stehen können, wenn er noch in der Lage dazu gewesen wäre. Stattdessen kroch er weiter, folgte der schnurgeraden Bohrung aufwärts, während das Licht an seiner Stirn schwächer und schwächer wurde.

Nach quälenden Minuten erreichte er schließlich einen weiteren Raum. Soweit er es erkennen konnte, war dieser völlig leer und schmucklos. Er krabbelte auf allen Vieren durch die kleine Kammer, und fand den nächsten Gang, der sich ebenso schnurgerade durch den Fels zog, mehr durch Tasten, als dass er ihn tatsächlich gesehen hätte. Das Licht verließ ihn nun.

Auch dieser Tunnel führte weiter aufwärts, und das war gut – vermutlich. Der Oberfläche entgegen, so hoffte er inständig, denn nicht nur das Licht seiner Lampe verließ ihn nun. Seine Kräfte und sein Wille würden kaum länger durchhalten als die sterbenden Batterien der Betty – ihr Schicksal schien auf seltsame Weise mit dem ihres Besitzers verknüpft.

Wenn die Lampe dunkel wurde, würde auch sein Lebensfunke erlöschen.

12

DAS ENDE

Der Alte sog an dem Mundstück der Pfeife. Kraftlos war er an der Wand des Ganges zusammengesunken. Die Betty hatte vor ein paar Minuten den Geist aufgegeben. Glücklicherweise war die Pfeife trotz seines Sturzes und den anschließenden Strapazen heil geblieben und er hatte in seinem Rucksack sogar noch ein wenig Tabak gefunden. Das würde es etwas leichter machen. Er streckte die Beine und gönnte seinen erschöpften Glieder endlich ihre wohlverdiente Ruhe, denn nun bestand kein Anlass zur Hast, jetzt nicht mehr.

So würde es also sein, das Ende. Still und unbemerkt.

Das war in Ordnung, dachte der Alte, er würde dort sterben, wo er sein Leben lang am liebsten gewesen war, in den Bergen. Und hier würde sein Körper bis in alle Ewigkeit liegen, an die Wand gelehnt, die Pfeife noch in der Hand. Auch das war in Ordnung.

So lange er nur möglichst weit entfernt von dem schwarzen Steinding lag.

Einzig Tobi vermisste er in diesem letzten Augenblick, als sein Kopf langsam auf seine Brust sank. Der arme Hund, der am Ausgangspunkt ihrer Irrfahrt jetzt genauso in der Falle saß wie er.

»Verzeih!«, flüsterte der Alte. Sein Blick unter den müden Lidern folgte den träge davonschwebenden Rauchwolken aus seiner Pfeife ein letztes Mal, matt beleuchtet von der rötlichen Glut am Grund des Pfeifenkopfs. Rauchschwaden, die …

… gar nicht so träge davon schwebten. Vielmehr zogen sie sogar ziemlich zielstrebig davon, in den Gang hinein und nach oben.

Überaus bedächtig – denn bedächtig war die einzige Geschwindigkeit, zu der er überhaupt noch fähig war – zog der Alte sein Sturmfeuerzeug wieder aus der Tasche und entzündete es erneut. Das Flämmchen bog sich tatsächlich ebenfalls in die Richtung, in welche die Rauchschwaden abzogen und flackerte deutlich stärker, als es durch das Zittern seiner entkräfteten Hand erklärbar gewesen wäre.

Wie in einem Kamin.

Inzwischen schien die Aussicht, einfach liegen zu bleiben sehr verlockend. Dennoch rappelte sich der Alte ein letztes Mal auf und beugte sich nach rechts, dem aufsteigenden Gang entgegen.

Wie in einem oben offenem Kamin.

Schließlich schaffte er es, auf die schmerzenden Knie zu kommen und kroch wieder los – ein verzweifelter Aufschrei des Überlebensinstinktes in ihm, kaum mehr als ein ersterbendes Röcheln, dass durch seinen kraftlosen Körper ging.

Aber dieses Röcheln genügte. Es genügte, um ihn zentimeterweise in Bewegung zu setzen. Nicht, dass er diesen Vorgang wirklich noch bewusst gesteuert hätte, kroch er quälend langsam den Gang hinauf, dem stärker werdenden Luftzug entgegen. Ja, es war tatsächlich ein Luftzug, er spürte ihn nun auf seiner Haut, auf den kleinen Härchen auf seinen Unterarmen.

Später war der Alte nicht imstande, zu sagen, ob er mehrere Meter oder lediglich wenige Handbreit gekrochen war, als er endlich die Konturen seiner rechten Hand in der Dunkelheit wahrnahm.

Er begann zu weinen.

Schwer atmend kroch er weiter, bemerkte nun mehr und mehr Details in dem steil ansteigenden Gang. Er konnte sogar die Biegung vor sich deutlich erkennen. Der Gang führte nach links, und von da schien das Licht zu kommen. Wenig mehr als ein blasser Schimmer, aber dennoch deutlich sichtbar.

Der alte Mann schleppte seinen geschundenen Körper weiter, Zentimeter um Zentimeter, dem Licht entgegen, welches nun unablässig schmerzende Tränen aus seinen Augen quellen ließ.

Und während er sich mühsam dem Ausgang entgegenschleppte, ergriff ein furchtbarer Gedanke von ihm Besitz, der ihn erst losließ, als er erneut in eine erschöpfte Ohnmacht hinüberglitt.

Wenn die Seele etwas erfahren möchte, dann wirft sie ein Bild der Erfahrung vor sich nach außen und tritt in ihr eigenes Bild hinein.

Meister Eckhart, (1260 – 1328)

13

TYSSA

Berg Meru, Himalaya, 1 v. Chr.

In wenigen Augenblicken würde sie diese Welt für immer verlassen. In gewisser Weise fand Tyssa den Gedanken fast tröstlich. Sie hatte lange gelebt, in Einsamkeit und Isolation und war schließlich an diesen Ort gelangt. Ein geheimer Ort, zurückgezogen vom Leben und den meisten Menschen – an der Spitze eines Berges im Hochgebirge des Himalaya, der manchen von ihnen als ein heiliger Berg galt.

Hier würde mit ihr eine Reise zu Ende gehen, die für ihr Volk vor fast zehntausend Jahren mit den fünf Heiligen von Tharek begonnen hatte. Tyssa war mit ihren dreihundert Jahren noch recht jung, aber sie war von einer Melancholie befallen, die die Nachfahren von Tharek seit etlichen Generationen heimsuchte und mit jedem Geburtsjahr tiefer geworden war. Sie hatten das alte Wissen und die Rituale gepflegt, so gut es ihnen möglich war, bis zum Schluss. Aber so vieles war verlorengegangen ohne die Alten.

Und nun waren nur noch sie beide übrig, sie und das Kind.

Der Priester war die geheimen Wege durch den Berg gegangen, um sie zu warnen, vor den Soldaten, die gekommen waren, um das zu töten, was sie nicht verstanden. Und sie hatte dem Priester gedankt und ihm ihre Liebe gesandt und dann hatte sie ihm eine weitere Aufgabe auferlegt, die letzte und die schwierigste der Prüfungen seiner Liebe zu ihr.

Diesmal, das wusste sie, würde es ihr Ende sein.

Ohne den direkten Austausch mit dem Volk der Atlantäer waren die Menschen rasch auf eine niedere Entwicklungsstufe zurückgesunken und der Einfluss der Schwärze unter ihnen wurde immer deutlicher spürbar, seit Tharek und die seinen sie ihrem Schicksal überlassen hatten. In den letzten zehntausend Jahren hatten sie die Ursprünge ihres göttlichen Bewusstseins vergessen, waren zu gedrungenen, hässlichen Wesen geworden, voller Wut, Angst und Aberglaube. Und Angst war es, die sie sich gegenseitig umbringen ließ und ihnen gebot, Jagd auf alles Fremde zu machen. Angst und Aberglaube.

Denn die Menschen vergaßen unbegreiflich schnell.

In den Augen der Menschen waren die hochgewachsenen Angehörigen der alten Rasse abstoßende Monster, Schreckgespenster, die ihre Gedanken verwirrten. Die Geister der Menschen waren nicht länger offen für die Liebe und die Mysterien von Atlantis. So hatte auch Tyssa den Kontakt zur Welt der Menschen fast gänzlich verloren. Von ihrem Versteck aus hatte sie das Treiben in der Welt hin und wieder beobachtet und was sie sah, erschreckte sie. Die Welt war in die Barbarei zurückgesunken. Leid, Gewalt und Chaos regierten unter den Menschen, Kriege erschütterten pausenlos jeden bewohnten Flecken des Planeten. Bald schon würden die Menschen über die Technologie verfügen, die ihre grausame Selbstzerstörung auf die perfide Spitze trieb. Dann wären sie in der Lage, sich selbst und alles Leben auf ihrem Planeten zu vernichten.

So wie die Anderen, die Dunklen es prophezeit und seit Jahrtausenden herbeigesehnt hatten. Jene, welche in ihren dunklen Verliesen begierig nach den Seelen und dem Blut der Menschen dürsteten.

Doch es gab Ausnahmen. Einige wenige, die ihr Bewusstsein den Lehren der Erleuchtung verpflichtet sahen. Sie hatten einen vorsichtigen Kontakt geknüpft und ein Kloster am Fuße des Berges errichtet. Einige der älteren Priester waren hin und wieder hinaufgestiegen, um ihr zu huldigen und an ihrer Weisheit teilzuhaben.

Einer war unter ihnen gewesen, den sie erwählt hatte. Sie hatten gemeinsam das höchste der Rituale vollzogen und sie hatte ihm in ihrer Verzweiflung die Liebe einer Göttin geschenkt. Sein Geist war dabei beinahe vollständig zerstört worden und schließlich hatte sie den schreienden, sabbernden Irren, der aus ihm geworden war, von seinen Leiden erlöst. Sie hatte getrauert, aber er hatte ihr gegeben, was sie von ihm hatte haben wollen.

Tyssa schämte sich ihrer Tränen nicht, als sie das Neugeborene aus seiner Wiege nahm und es dem Priester reichte. Er wickelte es mit geschickten Händen in ein Lumpenbündel und während er das tat, schnappte das Kleine nach seinem Zeigefinger und legte eine winzige Hand darum. Der Priester ließ es milde lächelnd geschehen, und legte das Kind dann in einen Weidenkorb. Tyssa sandte ihm ein Bild: »Bring ihn weit fort.«

Der Priester nickte. Er wusste, dass die Soldaten auch das Kloster am Fuße des Berges durchsuchen würden, wenn sie hier oben mit ihr fertig waren. Aber dann würde der Priester mit ihrem Kind hoffentlich schon über alle Berge sein. Weit fort.

»Du weißt, was zu tun ist?«, dachte Tyssa und zeigte dem Priester ein Bild des Buchs. Auch dieses steckte bereits in den Falten seines orangen Gewandes. Es war jenes Buch, das Tharek einst aus den versinkenden Ruinen von Atlantis gerettet hatte, und dieses Buch war alles, was geblieben war von dem Wissen seiner einst so mächtigen Bewohner.

Sie waren Götter gewesen, einst. Und nun waren sie alle tot.

Der Priester nickte: »Er wird die alten Lehren wissen. Und er wird hinausgehen und sie verbreiten.« Auch wenn er in der Hochsprache seines Volkes sprach, klang die Stimme rau und barbarisch in Tyssas Kopf. Kehlige, gurgelnde Laute, kaum mehr als die Geräusche von Tieren in ihren empfindlichen Ohren.

»Geh nun«, forderte sie den Priester auf und dieser erhob sich von dem Felsboden, auf dem er gekniet hatte. Für einen Augenblick hob er den Kopf und wagte für einen Moment, in ihr Antlitz zu blicken. Als er ihre Tränen sah, wandte er den Blick schnell wieder ab.

Dann drehte er sich um und verschwand in dem schwarzen Loch, das tiefer in den Felsen führte, so, wie er gekommen war. Dieser ist ein Wahrhaftiger, dachte Tyssa, als er verschwunden war, ein Weiser und ein Suchender, auch wenn er nur ein Mensch ist. Und er wird meinen Sohn beschützen. Mein Sohn wird leben, dachte sie.

Und ich hoffe für deine Rasse, dass er lange genug lebt, um seinen Zweck zu erfüllen, wie ich meinen Zweck erfüllt habe, und die Alten vor mir. Er ist das letzte Geschenk meiner sterbenden Rasse an euch, in der dunklen Stunde, die euch bevorsteht. Wenn ihr ihn verliert, verliert ihr alles.

Tyssa materialisierte einen kleinen Felsbrocken, der die schwarze Höhlung verschloss, dann ließ sie den Gesteinsblock mit dem Berg verschmelzen. Der Weg, den der Priester gegangen war, würde für alle Zeiten versperrt sein.

Von draußen drangen die ersten Stimmen der Soldaten an ihr Ohr. Nur wenige hatten den Marsch bis zur Spitze des Kailash überlebt. Aber diese wenigen waren genug. Sie war müde, so müde.

Tyssa atmete tief ein, drehte sich zum Eingang der Höhle und bereitete sich auf ihren Tod vor.

14

ERWACHEN

5. November, Q-Station des Krankenflügels der Militärlabore des Murnauer-Instituts, Truppenübungsplatz Sachsenwald, Deutschland

Dr. Peter Singer war wirklich fest entschlossen, seine verklebten Augenlider zu öffnen. Das Unternehmen gestaltete sich in der praktischen Durchführung allerdings weitaus schwieriger als anfangs von ihm angenommen. Zunächst pulsierte da ein unbestimmt pochender Schmerz in seinem Schädel. Einer von der Sorte, die einen glauben lassen, die im Kopf befindliche Hirnmasse hätte sich in einen klumpigen, zähen Brei verwandelt, in dem ein wild gewordener Specht gerade auf Insektenjagd geht. In Singers Fall handelte es sich um einen großen und ausgesprochen hungrigen Specht.

Ein Zustand, der durch neue Sinneseindrücke, so fantastisch sie auch sein mögen, im Allgemeinen nicht verbessert wird. Besonders dann nicht, wenn diese Eindrücke hauptsächlich aus grellem Licht bestehen, das sich einem gnadenlos in die Pupille bohrt. Also gab Peter Singer sein Vorhaben mit einem schmerzlichen Seufzen wieder auf und hielt die Augen weiterhin geschlossen. Für den Moment war das wohl das Klügste. Doch sich in das weiche Kissen unter seinem Kopf zurück sinken zu lassen, verbesserte seinen Zustand ebenfalls nicht wesentlich. Sofort kämpfte eine Vielzahl farbiger Schlieren, die in wildem Tempo vor seinen geschlossenen Lidern hin- und hersausten, um seine geschätzte Aufmerksamkeit.

Kurzum, die personifizierte Speerspitze der Zoologie, gefeierter Star des akademischen Zirkels, Wunderkind und Überflieger – eben jener Dr. Peter Singer – hatte einfach einen mordsmäßigen Kater.

Da er sich im Moment also nicht wirklich auf seinen Kopf und die darin befindlichen Sinnesorgane verlassen konnte, probierte er stattdessen mithilfe seiner Hände herauszufinden, wo er sich befand. Sich zu erinnern versuchte er erst mal nicht, da er dunkel vermutete, dass ihm diese Hirnleistung lediglich weitere Anfälle von Übelkeit bescheren würde.

Er tastete.

Weich, flauschig weich. Offenbar eine Bettdecke. Und eine bequeme Matratze, auf der er ausgestreckt lag. Das Laken war kühl an seinem Rücken und am Hintern, offenbar war er nackt. Vorsichtig tastete sich seine Hand unter die Bettdecke und hielt abrupt inne, als diese Bewegung einen stechenden Schmerz in seiner Armbeuge verursachte.

Während er langsam zu sich fand, zog am Horizont seiner Wahrnehmung ein eitergrün dräuendes Gewitter auf – und das immer stärker werdende Verlangen, sich zu übergeben. Der schwache Versuch, an eben jenen Brechreiz nicht länger zu denken, scheiterte kläglich und mit einem Gefühl, als sei sein Magen geradezu besessen davon, sich augenblicklich von innen nach außen zu stülpen.

Er musste sein Gehirn dringend mit etwas beschäftigen. Etwas, das möglichst wenig mit Essen oder Trinken zu tun hatte. Oder mit schmerzenden Armbeugen. Am besten mit den üblichen W-Fragen. Also, die wichtigste W-Frage zuerst:

Was zur Hölle hatte ihn bloß derart aus den Latschen gehauen?

15

ANNA UND DIE PORTIONIERTEN FREUNDE

2. November, 22:15 Uhr, Park Hyatt Hotel, Hamburg, Deutschland

Er hätte Murnauers Anruf einfach nicht entgegennehmen sollen. Andererseits, was hätte das schon geändert? Klar, er hätte sich dann noch ein paar Wochen oder vielleicht sogar Monate im Dschungel verstecken können. Weit weg von Deutschland, wo man gerade die ersten regnerischen Vorboten des Winters willkommen hieß. Willkommen, ihr nebelgrauen, kalten Regenschauer! Er hatte das Klima in Deutschland noch nie gemocht und zu dieser Jahreszeit fand er es ganz besonders erbärmlich.

Die große, lederne Reisetasche lag seit seiner Ankunft ungeöffnet auf dem viel zu großen Hotelbett und wirkte mindestens so verkorkst und fehl am Platze, wie Singer sich im Moment fühlte. Er prostete der Reisetasche auf dem Bett mit dem winzigen Jack Daniels-Fläschchen in seiner Rechten zu – willkommen im Club der Verkorksten!

Er legte den Kopf in den Nacken und ließ die letzten Tropfen aus der kleinen Flasche auf seine herausgestreckte Zunge laufen. Sein erster »Bruder Jack« an diesem Abend. Prickelnd brannte sich die süßliche Flüssigkeit in die empfindlichen Geschmacksnerven seiner Zunge, bis die Sensation nach einer Weile verging.

Singer drückte sich aus dem bequemen Ledersessel und durchquerte das Zimmer, um an der Minibar die leere Flasche gegen eine neue, volle einzutauschen.

Heute war es übrigens auf den Tag genau ein Jahr her, das mit Anna, seiner Ex-Frau.

Ex-Frau. Was für ein selten dämliches Wort. Für ihn war Anna immer nur Anna gewesen – niemals seine »Ex-Frau«, nicht als er die Scheidungspapiere unterzeichnet hatte und schon gar nicht jetzt, da sie tot unter der Erde lag.

Singer schraubte den Verschluss der nächsten kleinen Flasche mit einem leisen Knacken auf und ließ ihn achtlos zwischen seinen Fingern zu Boden gleiten. Er starrte eine Weile auf das winzige Glasbehältnis in seiner Hand – kaum mehr als ein Kinderspielzeug – und setzte es dann an seine Lippen. Er trank es in einem Zug leer.

Am Anfang war sie für ihn einfach nur seine geliebte Anna gewesen, von dem reizenden Grübchen, das sich auf ihrer linken Wange bildete, wenn sie lächelte, bis zum bunten Sommerkleid, in dem sie lachend für ihn getanzt hatte in jenem Kornfeld. Als es für sie noch einen Grund gegeben hatte, zu lachen und zu tanzen.

Anna, der Wirbelwind in seinem sonst so geordneten Akademikerleben. Anna, die auch noch für ihn gelächelt hatte, als die Sonne in ihrem Herzen längst untergegangen war. Sie war sein erfrischender Anteil »echtes Leben« gewesen, den er sich gegönnt hatte, wie gewitztere Leute sich wohl einen Ferrari gönnten oder eine Jacht. Diese Dinge waren immerhin ersetzbar. Sie konnten kaputtgehen, oder geklaut werden, natürlich – doch am Ende zahlte immer die Versicherung. Sterben konnten diese Dinge nicht.

Oder wahnsinnig werden.

Was er tatsächlich am schmerzlichsten vermisste, waren die sanften Wölbungen der Decke neben ihm, wenn er morgens erwachte. Dieses winzige Stück Gewissheit, dass dieser Tag nur gut werden konnte. Einfach gut werden musste, weil sie da war. Weil sie beide da waren, wie eine richtige, kleine Familie.

Seine Hand krampfte sich fester um das kühle Glas der leeren Flasche. Hier, in der übertrieben teuren Superior Suite des Park Hyatt verstand er plötzlich die wahre Bedeutung des Wortes Reichtum. Er begann zu begreifen, dass Reichtum manchmal nur ein klappriges apfelgrünes Holzbett in einem kleinen windschiefen Häuschen inmitten von Kornfeldern sein kann.

Und er verstand, dass dieser Reichtum flüchtig ist.

16

JENSEITS DER SPIEGEL

Singer redete sich auch heute noch mit einigem Erfolg ein, dass er es gar nicht hatte bemerken können, dass die Symptome zu schwach, zu undeutlich und zu selten gewesen waren. Das stimmte sogar. Zumindest hatte es am Anfang gestimmt. Wie beispielsweise an jenem Sonntag, als er, wachgekitzelt von der Sommersonne, seine Hand nach Anna ausgestreckt hatte.

Ihre achtjährige Tochter Antonia, ein Frühaufsteher wie alle Kinder, würde wahrscheinlich bereits in ihrem Zimmer mit ihrer Holzpuppe spielen, die sie mindestens einmal pro Woche umtaufte. Diese Woche hatte ihr Auguste gefallen, wenn sich Singer recht erinnerte. Oder sie würde vielleicht lesen. Seit sie die Abenteuer des Lügenbaron Münchhausen für sich entdeckt hatte, kam sie morgens seltener zum Kuscheln ins Bett ihrer Eltern.

Zeit und Gelegenheit also für die jungen Eltern, sich ein wenig miteinander zu beschäftigen. Singer würde unter der leichten Sommerdecke auf Forschungsreise gehen und beginnen, Annas Bauch sanft zu küssen, dann langsam hinabgleiten, während seine Hände ihre …

Doch seine Hand tastete ins Leere. Als er die Augen öffnete, sah er, dass er heute Morgen tatsächlich allein in dem grün gestrichenen Holzbett lag. Neben ihm befand sich nur das zerwühlte Laken – Anna hatte sogar ihre Überdecke mitgenommen. Singer warf einen schläfrigen Blick auf seine Armbanduhr, 6:45 Uhr. Heller Morgen, ja – aber noch mindestens eine Stunde zu zeitig, um das Frühstück zuzubereiten, was sie sonntags ohnehin traditionell gemeinsam machten. Wie eine richtige kleine Familie, pflegte Singer dann stets grinsend zu sagen, und bis zu jenem Morgen hatte es tatsächlich so ausgesehen, als würden sie diese Tradition noch eine Weile pflegen.

Er war, lediglich mit einem T-Shirt, Unterhose und einer immer noch recht ansehnlichen Erektion bekleidet, nach unten gegangen und hatte Anna auf der Couch in der Diele vorgefunden, eingehüllt in ihre Decke wie ein frierendes Kind, obwohl die ersten Sonnenstrahlen das Zimmer bereits durchfluteten. Ihr Körper hatte sich eiskalt und fremd angefühlt. Kühl und merkwürdig klamm, wie etwas, das die Nacht über draußen im Garten gelegen hatte. Nur ihre Wangen glühten rot, als wäre sie von einem heftigen Fieber befallen. Das Schlimmste war allerdings ihr Blick, der leer und stumpf auf die gegenüberliegende Wand gerichtet war – bei diesem Blick war Singer auf der Stelle jede Lust an körperlichem Vergnügen vergangen. Ihre fragenden Augen hatten durch ihn hindurch geblickt und sie hatte leise zu schluchzen begonnen, als er sie in seine Arme zog. Er hielt ihren schlanken Körper an sich gepresst, und während er dies tat, konnte er spüren, wie die Feuchtigkeit ihrer erhitzten Wangen durch den Stoff seines T-Shirts drang. Gott, wie lange saß sie schon hier unten und weinte?

Wäre Singer in diesem Moment ihrem verwirrten, traurigen Blick begegnet, hätte er vielleicht den Eindruck bekommen, dass sie einen winzigen Teil ihrer Persönlichkeit zurückgelassen hatte in dem Traum, aus dem sie soeben erwacht war. Und er hätte sich vielleicht gefragt, wie lange schon seine junge Ehefrau nächtliche Wanderungen durch das Haus unternahm.

Irgendwann war Antonia die Treppe heruntergetapst gekommen, völlig vertieft in munteres Geplapper mit ihrer Puppe. Anna hatte tapfer ihre Tränen fortgewischt und Singer ein Lächeln geschenkt, das beinahe echt wirkte.

Der darauffolgende Winter war so ungefähr der Zeitpunkt gewesen, an dem der Wasserpegel kaum merklich, aber unaufhaltsam zu steigen begonnen hatte, sozusagen. Die Dinge hatten sich Stück für Stück vom Ufer gelöst, waren in den Fluss gefallen und wurden rasch davongetrieben, von einer immer stärker werdenden Strömung. Zuerst waren es winzig kleine, kaum merkliche Stücke gewesen. Treibgut, nichts Nennenswertes, kleine Blätter und Stöckchen, die den Fluss hinabdümpelten. Doch dieser Fluss hatte allmählich Fahrt aufgenommen und über die Jahre immer größere Brocken aus Annas Seele mitgerissen. Er war zu einem breiten Strom angewachsen und zum Schluss hatte er ganze Landstriche überflutet. Und sie waren voneinander weggetrieben, letztlich nur zusammengehalten von der lächerlichen Schmierenkomödie, die sie ihrer Tochter vorspielten. Die sie ihr fast zehn Jahre lang vorgespielt hatten, bis die Masken der Schauspieler so dünn wie Pergament geworden waren und ihnen die Schminke in großen Stücken von den Gesichtern bröckelte wie Putz von einer schimmeligen Fassade.

Zum Schluss war Anna eine andere gewesen, verbittert und mürrisch, mit tiefen Sorgenfalten um die Mundwinkel ihrer ehemals vollen Lippen. Graue Strähnen hatten ihr stumpfes, ungepflegtes Haar durchzogen. Aus sympathischen kleinen Eigenheiten waren Ticks geworden und aus den Ticks schließlich Neurosen. Sie wanderte nun immer öfter ziellos durch das Haus, auch tagsüber. Sie vergaß Dinge, und in der Wohnung machte sich eine Schmuddeligkeit breit, derer Singer nur mit einer Putzhilfe Herr wurde. Irgendwann kam auch die nicht mehr. Sie hatte Anna eine geschlagene Stunde durch die verschlossene Badtür weinen hören.

Es war nicht so, dass Singer seiner Frau nicht hatte helfen wollen. Er hatte sie zu den besten Ärzten geschickt, die sich für Geld auftreiben ließen. Neurologen, Therapeuten, Psychoanalytiker, die ganze Palette. Bis ihm auch dies irgendwann zu peinlich geworden war.

Ein knappes Jahr später war Anna bereits von einem guten Dutzend rezeptpflichtiger Antidepressiva abhängig und nur noch selten wirklich ansprechbar. Die Mittelchen sorgten dafür, dass sie funktionierte. Ausreichend gut, um jeden Morgen aufs Neue das immer gleiche Schauspiel darzubieten. Noch einen Tag, eine Woche, einen Monat.

Außerdem brachten diese Mittelchen sie ganz allmählich um.

Es hatte Singer innerlich zerrissen, dem Verfall seiner Frau tatenlos beizuwohnen. Es schmerzte, Anna dabei zusehen zu müssen, wie sie zu einer blassen Hülle ihrer selbst wurde, sich vor seinen Augen in ihr eigenes Gespenst verwandelte.

Also trat er den Rückzug an, als ihm nichts anderes mehr einfiel, das er hätte tun können. Er floh in seine Arbeit und begann mit seinen eigenen Mittelchen. Seine waren allerdings zur Gänze rezeptfrei und in jedem Supermarkt zu bekommen, wenngleich er den gut sortierten Einzelhandel bevorzugte.

Es war einer von Annas letzten wachen Momenten gewesen, als sie über die Scheidung gesprochen hatten. Sachlich und nüchtern – und ungemein verständnisvoll hatten sie sich gegenseitig mit vernünftig klingenden Floskeln bombardiert. Anna brauche »einfach eine Auszeit«, man habe sich »aus den Augen verloren«, die Arbeit war in den Vordergrund gerückt, bis man sich »einfach nichts mehr zu sagen gehabt hatte« und »Antonias Wohl war jetzt erst einmal das Wichtigste«. Natürlich. Diese in Klischees ertränkten Phrasen waren an Leere kaum zu überbieten gewesen. Kein Wort von den Unmengen von Pillen im Arzneischränkchen. Kein Wort von den leeren Flaschen teurer Whiskymarken, die sich in der Garage bis zur Decke stapelten.

Als es vorbei gewesen war, hatte Singer auf der Stelle das Christiansens angesteuert. Dann hatte er sich in der noblen Whiskybar betrunken, bis er sich auf der dunklen Edelholztheke die Stirn aufgeschlagen hatte, beim vergeblichen Versuch, nicht vom Barhocker zu rutschen.

Tags drauf hatte er sich in einem der besseren Hamburger Hotels einquartiert und war erst in die ehemals gemeinsame Stadtwohnung zurückgekehrt, als Anna mit Antonia schon in ihr kleines Häuschen am Rand von Hamburg gezogen war. Sie hatte ihm sogar einen Zettel hinterlassen, auf dem Tisch in der ansonsten leer geräumten Küche. Dass er sie jederzeit anrufen könne, wenn er meine, etwas von seinen Sachen zu vermissen und dass sie ihm die Papiere schnellstmöglich zuschicken würde.

In Liebe, Anna.

Die Scheidungspapiere waren ihm im Institut zugestellt worden, wahrscheinlich hatte Anna einfach nicht gewusst, in welchem Hotel er sich befand, und er hatte sie auch nicht angerufen, um es ihr mitzuteilen. Im Institut war er ohnehin die meiste Zeit über. Ihr Anwalt hatte recht saftige, aber Singers Gehalt durchaus angemessene Unterhaltsforderungen gestellt. Singer hatte die Papiere sofort unterzeichnet.

Keine drei Monate später war er vollständig in der Arbeit an dem Amazonas-Projekt vergraben.

17

P.S

Antonia hatte in den fünfzehn Monaten nach der Scheidung die meiste Zeit bei Anna verbracht. Sie hatte ihm einen einzigen Brief nach Peru geschrieben, knapp und ziemlich offensichtlich auf die Bitte ihrer Mutter hin. Belanglosigkeiten aus Deutschland, die im Licht seiner bedeutenden Forschungen verblassten, so hatte er es zumindest damals empfunden. Und doch – etwas an dem Brief hätte ihn vielleicht stutzig machen müssen, ihn regelrecht alarmieren oder wenigstens beunruhigen sollen. Im Postskriptum des knappen Briefs hatte gestanden:

Ich glaube, Mama geht es nicht so gut. Kannst du bitte nach Hause kommen?

Das war ein echter Brüller – Mama ging es seit ungefähr zehn Jahren nicht so gut, nicht wahr? Aber was hätte sie auch sonst schreiben sollen? Die hingekritzelte Zeile war nicht der verzweifelte Hilferuf eines Teenagers, sondern die knappe Notiz einer erwachsenen Frau. Einer tief enttäuschten erwachsenen Frau, die sich kaum traute, ihn, den großen Singer, der im Nebenberuf zufällig auch ein bisschen ihr Vater war, mit derlei Nebensächlichkeiten zu belasten.

Kannst du bitte nach Hause kommen?

Nicht sein Zuhause. Nicht mehr. Das kleine Haus inmitten der Kornfelder und das quietschende apfelgrüne Bett darin gehörten der Vergangenheit an. Und trotzdem hatte Antonia »nach Hause« geschrieben.

Als er den Brief geöffnet hatte, war dieser bereits knapp zwei Wochen alt gewesen und Anna war im fernen Deutschland bereits in die Welt jenseits der Spiegel gegangen, diesmal für immer. An einem regnerischen Dienstagabend hatte sie auf der B73 in der Nähe ihres Häuschens in Harburg die Kontrolle über den Volvo V40 verloren und war gegen einen Baum gekracht. Das Rentnerpärchen in der kleinen Reihenhauswohnung gegenüber hatte im ersten Moment geglaubt, Zeuge eines kleinen Erdbebens geworden zu sein. Auf das ausbleibende Nachbeben hin hatten sie schließlich durch die Gardinen ihres Fensters nach draußen gespäht und sofort die Notrufzentrale der Feuerwehr angerufen – fest davon überzeugt, dass in den großen Baum gegenüber ein Blitz eingeschlagen war. Das verbeulte Wrack des V40 hatten sie durch die dichte Regenwand gar nicht gesehen.

Sie war nicht angeschnallt gewesen, aber der Airbag hatte den Großteil ihres Körpers in Position gehalten, während ein armdicker Ast das Dach des Wagens durchschlagen hatte, was dem Volvo das Aussehen einer hastig geöffneten Konservendose verlieh. Ein breiter Streifen des Blechs aus dem Wagendach war ins Innere gedrückt worden und hatte sich zentimeterweise in Annas Gesicht und Oberkörper gegraben. Aus irgendeinem Grund hatte der Tank anschließend Feuer gefangen und den Wagen in einem grellorangen Feuerball verwandelt, der trotz des Regens fröhlich weiterbrannte, bis die Feuerwehr ihn schließlich löschte. Schuld daran war vor allem der Kunststoff des Armaturenbretts, der geschmolzen und in dicken Tropfen auf Annas Beine getropft war. Aber das hatte sie wahrscheinlich schon gar nicht mehr mitbekommen, der Rauch musste sie lange vorher bewusstlos gemacht haben. Zumindest gab das der verantwortliche Löschmeister zu Protokoll.

Die verkohlten Überreste auf dem Fahrersitz wurden schließlich anhand des Zahnprofils als die von Anna Singer, 38, geschieden, identifiziert. Andere Anhaltspunkte bot der bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leichnam nicht mehr. Da man ihren Ex-Ehemann nicht erreichen konnte, wandte sich die Polizei schließlich an das Institut, und so gelangte diese Nachricht über einige Umwege fast zeitgleich mit dem verspäteten Brief seiner Tochter in Singers Hände.

Antonia hingegen hatte noch in derselben Nacht vom Tod ihrer Mutter erfahren. Ein Polizistenpärchen mit einem übermüdeten Soziologen im Schlepptau hatte ihr die Nachricht im Studentenwohnheim überbracht. Die Polizisten blieben lange genug, um Antonia ihr Beileid auszusprechen und die Hilfe des Soziologen anzubieten, dem es nur mit Mühe gelang, sein Gähnen zu unterdrücken. Ob sie Angehörige habe, an die sie sich wenden könne? Und wenn sie Unterstützung brauche, einen Psychologen oder Therapeuten vielleicht, sie könne jederzeit … und sie solle sich schonen, einfach erst mal ausschlafen und …

Schließlich hatten die verständnisvollen Beamten ihr eine gute Nacht gewünscht und waren gegangen. Keine Minute zu früh.

Antonia hatte in dieser Nacht tatsächlich noch geschlafen. So gegen 6 Uhr morgens war sie am Ende ihrer Tränen gewesen und erschöpft in einen tiefen traumlosen Schlaf gefallen.

Irgendwie hatte sie es danach tatsächlich geschafft, weiterzumachen. Die Formalitäten durchzustehen. Sie hatte Kontakt mit ihren Großeltern, Singers Eltern, aufgenommen. Diese hatten dankenswerterweise den Papierkram und die Kosten der Beerdigung übernommen und ihr sogar angeboten, sie für eine Weile bei sich aufzunehmen. Antonia hatte abgelehnt. Es sei sehr nett, aber sie würde es schon schaffen, irgendwie. Bla bla bla …

Und sie hatte es geschafft.

Klar, sie hatte geweint, nahezu ununterbrochen am Anfang. Aber sie hatte die Beerdigung überstanden – also würde sie auch mit dem Rest klarkommen. Denn das war das Schlimmste gewesen. Allein auf dem riesigen Friedhof, nur mit ihren Großeltern und dem Pfarrer. Ohne ihren Vater, der in irgendeinem gottverlassenen Abschnitt des amazonischen Regenwalds Insekten aus der Erde wühlte. Sie hatte gehofft, bis zum Schluss und entgegen jeder Vernunft, dass er plötzlich auftauchen und sie in seine Arme schließen würde. Dass er da sein würde, wenigstens in diesem dunkelsten Moment ihres jungen Lebens.

Aber er war nicht gekommen.

18

GESCHENKE

Man konnte es fast einen Zufall nennen, dass Peter Singer seine Ex-Frau vor ihrem Tod überhaupt noch einmal zu Gesicht bekommen hatte. Das war am Tag seiner Abreise nach Peru gewesen – ein Tag, auf den zufällig auch Antonias achtzehnter Geburtstag fiel.

Als Singer vor dem kleinen Häuschen mit dem windschiefen Gartentor stand, hatte er einen Impuls verspürt, umzukehren und auf der Stelle zurück zum Flughafen zu fahren. Die kleinen Fläschchen, die in der ersten Klasse angeboten wurden, selbstverständlich als Inklusivservice, waren ihm plötzlich sehr verlockend vorgekommen.

Stattdessen hatte er die wackligen Steinstufen aus vor sich hin bröckelndem Porenbeton erklommen und auf den braunen Plastikknopf der Klingel gedrückt. Anna war nach geraumer Zeit an der Tür erschienen und hatte ihn wortlos eingelassen. Mit abwesendem Lächeln hatte sie ständig tonlose Silben gemurmelt und sich nach einem kurzen, etwas irritiert wirkenden Blick auf ihn wieder in den Garten hinter dem Häuschen zurückgezogen.

Er war die alte Holztreppe zum Gästezimmer hinaufgestiegen und hatte Antonia das kleine Paket mit dem breiten, roten Geschenkband überreicht. Sein Geburtstagsgeschenk, ein kleiner, brauner Plüsch-Orang-Utan, stammte aus dem Souvenirshop des Hotels. Er hatte ihn zuerst mit einem, dann zwei Hundert-Euro-Scheinen ausgestattet. Je eine Rolle unter den gebogenen Armen des tapferen kleinen Affen. Er hatte ursprünglich vorgehabt, ihr die zweihundert Euro zusätzlich zum Unterhalt zu überweisen oder vielleicht in einem Umschlag zu schicken. Mit einer netten Karte. Und er hatte selbstverständlich auch vorgehabt, sie anzurufen, vom Terminal des Flughafens aus.

Die Arbeit, Schatz, du weißt ja. Mach dir eine schöne Feier, bla bla bla …

Dieses Vorgehen hätte den Vorteil gehabt, dass er nicht zu dem kleinen Haus am Hamburger Stadtrand hätte fahren müssen. Zu dem kleinen Haus, welches inzwischen ein verfallenes kleines Haus war, so verfallen wie seine einzige Bewohnerin. Antonia dagegen verbrachte ihren achtzehnten Geburtstag offenbar freiwillig in diesem Haus und bei ihrer Mutter, die auf einem dünnen Drahtseil über einem tiefschwarzen Abgrund tanzte und dabei gar muntere Kapriolen schlug.

Er hatte die Tüte mit dem kleinen Plüschaffen auf den Beifahrersitz des Audi gesetzt und war hinaus nach Harburg gefahren. Ein Plüschäffchen? Gott, Antonia war achtzehn geworden und nicht acht!

Als er das kleine Zimmer betrat, saß seine Tochter auf ihrem alten, mittlerweile etwas zu kleinen Holzstuhl – eins von diesen unverwüstlichen Dingern, die von irgendeinem abgewirtschafteten Schulausstatter zu stammen scheinen, der Pleite gemacht hat, weil der Besitzer der vorsätzlichen Folterung von Schülern angeklagt und für schuldig befunden worden ist. Ihr blondes Haar hatte sie durch ein ausgeleiertes knallrotes Haargummi aus Frottee zu einem Pferdeschwanz gebunden. In ihrem blassblauen Pauli-T-Shirt wirkte sie kindlicher denn je. Der kleine Maulwurf stand stolz mit einem kleinen Spaten auf dem Gipfel seines Maulwurfhügels, daneben all seine Freunde. Anna hatte ihr das Shirt vor Jahren gekauft.

Antonia hatte die schmucke kleine Tüte mit dem eleganten blauen Geschenkband mit einem vorsichtigen Lächeln entgegengenommen, sich artig bedankt und sie ungeöffnet auf die Frisierkommode gestellt. Auf der Kommode thronte ein Ungetüm von einem Spiegel. Ein Spiegel, wie ihn Teenager seit Anbeginn der Zeit mit unzähligen Schnappschüssen von Freunden und Lieblingshaustieren zu bekleben pflegen, bis nur noch winzige Stückchen der Spiegelfläche frei für ihre eigentliche Verwendung sind. Antonias Spiegel hingegen erinnerte in seiner glatt polierten Leere auf gespenstische Weise an den Blick, den ihm ihre Mutter vor ein paar Minuten an der Tür geschenkt hatte.

Ein einzelnes Foto klebte am Rand dieses Spiegels, es zeigte sie drei während eines Zoobesuchs vor vielen Jahren. Anna, Antonia und er. Ein kleines Äffchen saß auf seiner Schulter und langte neugierig nach dem Eis in Antonias Hand. Das kleine Mädchen mit der verschmierten Schnute (es fehlten die beiden oberen vorderen Schneidezähne in dem entzückenden Kinderlachen – stolz wie Bolle war sie darauf gewesen: ‘Schau mal, Papa! Mein Zahn ist locker, mein Zahn ist locker!’) hatte das gleiche seidenweiche blonde Haar wie ihre Mutter, mit der sie um die Wette strahlte. Glückliche, längst vergangene Zeiten. Wie eine richtige kleine Familie …

Antonia war seinem Blick gefolgt und hatte ihren schmalen Körper hastig in die Sichtlinie zwischen ihren Vater und die Fotografie am Spiegel geschoben. Verlegen hatte er den Blick abgewandt und ihn durch das kleine, aufgeräumte Zimmer schweifen lassen. Weiße, schmucklose Wände, fast leer stehende Regale (Antonia war vor Kurzem ins Studentenwohnheim umgezogen – den Großteil ihrer Sachen hatte sie wohl schon mitgenommen) und alte, schwere Eichenschränke mit den Gebrauchsspuren vieler Jahrzehnte. Möbelstücke, die eine Geschichte erzählen konnten. Sie hatten sie gemeinsam aus Haushaltsauflösungen, von Flohmärkten und teilweise sogar vom Sperrmüll herbeigeschleppt. Damals, lange bevor das Treibgut im Fluss in die gefährliche Strömung geraten war.

Neben den wenigen Büchern auf dem windschiefen Regalbrett stand eine holzgerahmte Fotografie ihrer lächelnden Mutter, ebenfalls aus besseren Zeiten. Viel besseren Zeiten. Das Sommerlicht spielte in ihrem lockigen blonden Haar und Anna lächelte glücklich auf den Betrachter hinab. Und sah verdammt hübsch dabei aus. Er fragte sich, ob er jemals zu solch bedingungsloser Liebe fähig gewesen war, wie sie Anna auf diesem Bild ausstrahlte. Und ob er es verdient hatte, diese Art von Liebe empfangen zu haben.

Höchstwahrscheinlich nicht.

Am schlimmsten war allerdings die Geburtstagstorte – ein verhunztes, zusammengefallenes Ding aus billiger Sahne und Fertigboden, das aussah, als sei es völlig ungenießbar. Ein paar Gartenerdbeeren, bei denen man sich nicht die Mühe gemacht hatte, die schmutzige Erde und die grünen Blätter zu entfernen, steckten darin wie einsame, rote Leuchtbojen auf einem traurigen Meer aus Sahne. Die Hälfte der achtlos hineingedrückten Kerzen war umgefallen. Zweifellos hatte sie die Torte von ihrer Mutter bekommen und nur Gott allein mochte wissen, wie dieser lieblos zusammengeklatschte Haufen Elend in Annas Augen aussah. Rasch hatte er den Blick wieder abgewandt.

»Danke«, hatte Antonia daraufhin tonlos gesagt und sich ein weiteres Lächeln abgerungen. Nicht »Danke, Papa!«. Nicht »Nach Haus«. Damals noch nicht. Er hatte erfolgreich dem kurzen Impuls widerstanden, seine Tochter in die Arme zu reißen und ihr über die blonden Anna-Locken zu streichen. Sie an sich zu drücken, bis all ihre unterdrückten Tränen im Wollstoff seines eleganten Sommerjacketts versickert waren. Und seine. Bis sie ihren Vater wieder hatte und er seine Tochter. Und sie wieder eine richtige Familie waren.

Stattdessen hatte er seine Hände in einer hilflosen Geste in die Taschen seiner dunkelblauen Gucci-Jeans gestopft und war kurz darauf, nach ein wenig belangloser Konversation à la »Wie läuft’s in der Uni?« »Gut, danke. Alles prima. Und du so?«, gegangen.

Zurück im Wagen hatte er eine Weile in den leeren Raum vor seinem Lenkrad gestarrt. Anna war bei seinem Abgang nicht noch einmal aus dem Garten gekommen, worüber er ihr im Grunde ausgesprochen dankbar war. Dabei hatte sie mit Sicherheit gewusst, dass er den spontanen Geburtstagsbesuch bei seiner Tochter inzwischen beendet hatte. Das Knarren der alten Holztreppe, deren Reparatur er immer wieder aufgeschoben hatte, war einfach nicht zu überhören. Ein vertrautes Geräusch, das zu vermissen er sich nicht eingestehen wollte, damals. Nicht eingestehen durfte. In einer knappen Stunde hatte er schließlich einen Vortrag zu halten und am Abend würde sein Flieger nach Peru starten – die Würfel waren gefallen – rien ne va plus. Im Dschungel des Amazonas würden sie Geschichte schreiben, so hatte Dr. Murnauer ihnen in leuchtenden Farben ausgemalt und vermutlich hatte er damit sogar recht. Das Amazonas-Projekt war etwas, worauf sie alle sehr, sehr lange hingearbeitet hatten.

Schließlich hatte er den silbergrauen Audi gestartet und war zur Konferenz gefahren. Die Wissenschaft rief, und anschließend die Getränkeauswahl in der ersten Klasse an Bord der 747.

Und damit hatte Peter Singer das Ende der kleinen Familie besiegelt, die einst seine Familie gewesen war.

19

ZWEITER VERSUCH

Murnauer-Militärlabore, Sachsenwald

Das Pochen in seinem Schädel hatte etwas nachgelassen. Sogar die bunten Schlieren begannen sich allmählich zu verziehen. Singer sammelte seine Kräfte erneut und gab den verklebten Schlitzen, die angeblich seine Augenlider waren, den mentalen Befehl, sich zu heben und furchtlos dem zu begegnen, was die Welt für ihn bereithielt.

Was auch immer das sein mochte.

Sein Mut wurde prompt mit einem stechenden Schmerz belohnt, als sich der grelle Lichtstrahl erneut in seine überempfindliche Netzhaut bohrte. Er stöhnte auf und seine Pupillen rollten schutzsuchend zurück in seine Augenhöhlen. Ein zuckendes Negativbild der Neonröhre, in die er geblickt hatte, gesellte sich zu seinen alten Freunden, den wabernden Schlieren. Beim nächsten Mal würde er vorsichtiger sein, dachte er, während das Ziehen in seinem Schädel langsam nachließ.

Er befand sich jedenfalls nicht mehr in der übergroßen Luxussuite des Park Hyatt Hotel, so viel stand fest. Diese hatte nämlich allerorten, sogar auf dem verschwenderisch ausgestatteten WC, eine angenehme und auf allerhöchste Ansprüche geschmacklicher Vollendung abgestimmte Beleuchtung – mit anderen Worten: Pufflicht. Dies und eine großzügig gefüllte Minibar waren nur zwei der unbestreitbaren Vorteile des Hamburger Luxushotels.

Ein dritter war das Personal. Diese vortrefflichen Menschen waren offenbar nach dem Grad der Teilnahmslosigkeit ausgesucht worden, zu der ihre Gesichter fähig waren. Vermutlich fanden die Bewerbungsgespräche für Portiers, Zimmermädchen und Hotelpagen in einer Art mittelalterlicher Folterkammer statt – diejenigen Anwärter, die Streckbank und Daumenschrauben am längsten ohne die geringste Regung über sich ergehen ließen, bekamen schließlich den begehrten Job. Oberster Foltermeister dieser hochnotpeinlichen Befragung würde ganz sicher Steiner sein, der stets übereifrige und dabei völlig wertneutrale Chefportier mit dem dünnen weißen Bleistiftbärtchen, das kokett auf seiner Oberlippe saß.

Steiner gehörte ohne Zweifel zur Elite seines empfindungslosen Berufsstandes. Er hatte Singer mehr als einmal von zwei überaus diskreten Pagen auf sein Hotelzimmer begleiten lassen, wenn dieser die Hotelbar überreich mit Spesengeldern beschenkt hatte. Singer neigte glücklicherweise nicht zum Pöbeln, wenn er etwas beschwipst war. Er tendierte jedoch gelegentlich dazu, Treppenstufen zu übersehen und sich in Zimmertüren zu irren. Weder in den Augen Steiners noch in denen seiner Gehilfen war auch nur der Anflug eines Lächelns zu sehen gewesen, als sie ihn nach oben geleitet (oder eher getragen) hatten.

Nach und nach setzten sich weitere Bruchstücke seiner lückenhaften Erinnerung zu mehr oder weniger sinnvollen Fragmenten des großen Puzzles zusammen. Wie in einem Film über eine in tausend Stücke zerbrechende Porzellanfigur, den man rückwärts und in Zeitlupe abspielt, hüpften die einzelnen Teile nach und nach an ihren angestammten Platz und fingen an, einen Sinn zu ergeben.

Singer erinnerte sich.

Zu Beginn des fraglichen Abends hatte er sich noch relativ leichtfüßig von seinem Hotelbett im Hyatt erheben können, um ein weiteres Mal zum Getränkevorrat in der Minibar hinüberzuschlendern.

Besonders weit war er dabei allerdings nicht gekommen, denn …

20

EIN TELEFONAT

Singer vermutete zunächst sein Handy als die Quelle des Klingelns und blickte sich suchend im Zimmer um. Vielleicht war es Antonia, die endlich auf eine der unzähligen Nachrichten auf ihrer Mailbox reagierte? Seit seiner Rückkehr nach Hamburg hatte er beinahe ununterbrochen versucht, sie zu erreichen, bislang ohne Erfolg.

Singer wurde schließlich auf der Sitzfläche eines kalbslederbezogenen Sessels fündig. Er griff sich das elegante Smartphone und drückte auf dessen Display herum, bis er irgendwann begriff, dass das Teil überhaupt nicht geklingelt hatte.

Das Gebimmel dauerte an und irgendwann kam Singer auf die Idee, zum Telefon des Hotelzimmers hinüber zu schauen. Diese beeindruckende Scheußlichkeit war ein klobiger Koloss aus Edelholz, den irgendein Witzbold von Designer zu allem Überfluss noch mit Klavierlack überzogen hatte.

Singer angelte nach dem Hörer und meinte, in dem kurzen »Ja?« seine Verärgerung über den späten Anruf ausreichend deutlich zum Ausdruck gebracht zu haben. Diese wurde vom anderen Ende der Leitung jedoch mit eben jener professionellen Gelassenheit quittiert, die nur der Chefportier des Park Hyatt zustande brachte.

»Dr. Singer, entschuldigen Sie bitte den späten Anruf. Ein Gespräch für Sie, ein Professor Murnauer. Ich hätte Sie zu solch später Stunde nicht gestört, aber der Herr beharrt auf der unbedingten Dringlichkeit seines Anliegens. Möchten Sie, dass ich Ihnen das Gespräch aufs Zimmer stelle, Dr. Singer?«, ließ sich der Portier vernehmen.

»Kein Problem, Steiner, wie Sie sehen, bin ich genau wie Sie – immer im Dienst!«, zwitscherte Singer jovial durch den Hörer, der sich überraschend angenehm in seine Handfläche schmiegte. Deutlich angenehmer jedenfalls, als das bevorstehende Gespräch zu werden versprach.

»Sehr wohl, Dr. Singer.« Es klickte leise in der Leitung als Steiner die Verbindung schaltete.

»Singer?«, bellte Murnauers Stimme verzerrt durch die Hörmuschel des Luxusapparats – eine Stimme, von der Singer regelmäßig Kopfschmerzen bekam. Irgendwie schaffte es der Institutsleiter mit nahezu beängstigender Treffsicherheit, ihn jedes Mal im unpassendsten Augenblick anzurufen.

Vielleicht, weil seine Anrufe einfach immer ungelegen kamen.

Murnauer, einst ein überaus vielversprechender Wissenschaftler, hatte mit seinen Studien zur Klassifikation nutzbringender Körperchemikalien in Reptilien schon in den frühen neunziger Jahren für einiges Aufsehen in akademischen Kreisen gesorgt. Nicht zuletzt unter seinen eifrigen Studenten, von denen auch er, Singer, einer gewesen war. Murnauer konnte es sich schon damals leisten, nur die aussichtsreichsten Studenten an seinen Vorlesungen teilhaben zu lassen – junge Studenten mussten sich durch entsprechende Noten schon im Grundstudium dafür qualifizieren und eine Reihe ausnehmend schwieriger Tests bestehen, um in den Genuss von Murnauers Vorlesung zu kommen. Eine äußerst ungewöhnliche Methode, die nur einem ausgesprochenen Egomanen wie Murnauer einfallen konnte. Nichtsdestotrotz war er nicht nur ein brillanter Wissenschaftler, sondern stand außerdem in dem Ruf, über ausgezeichnete Kontakte zu verfügen. Damit stand jedem Studenten, der seiner kleinen elitären Strebergruppe angehörte, nach Abschluss des Studiums im wahrsten Sinne die gesamte akademische Welt offen. Inklusive Murnauers eigenem Institut natürlich. Schon während seiner Uni-Zeit hatte er die private Forschungseinrichtung aufgebaut, bis schließlich auch dem Dekan aufgegangen war, dass Murnauer seine Professur im Wesentlichen dazu nutzte, Spitzenkräfte für sein Institut zu rekrutieren.

Das unabhängige Bio-Institut forschte von da an ausschließlich für eine überaus illustre private Klientel und nicht weniger bedeutende multinationale Konzerne. Dank Murnauers hervorragend geölter Kontakte verfügte das Institut bald über nahezu schreckenerregende Geldmittel und eine hochmoderne Ausrüstung, die jedes Uni-Labor wie einen besseren Chemiebaukasten aussehen ließen.

Und der Markt boomte. Auch Singer hatte den Vorzügen der privat finanzierten Forschung nicht widerstanden, wenn auch aus eher wissenschaftlichen als materiellen Gründen – im Gegensatz zu Murnauer übrigens, der aus seiner Geldgier nicht das geringste Hehl machte. Die Besuche hochrangiger Militärvertreter – und beileibe nicht nur deutscher – hatten in den letzten Jahren deutlich zugenommen, was Singer mit zunehmender Skepsis über den Verwendungszweck seiner Forschungen erfüllte.

Letztlich war das vermutlich einer der Gründe gewesen, warum er sich für fast anderthalb Jahre der Feldforschung in den immergrünen Dschungel des Amazonas abgesetzt hatte, weit weg von Murnauers geldgierigen Plänen und seinem eigenen familiären Desaster. Murnauers spätabendlicher Anruf rief ihm seine Zweifel augenblicklich wieder ins Gedächtnis.

Das Militär, verdammt.

Singer mochte nicht einmal flüchtig darüber nachdenken, was Murnauer und seine mysteriösen Besucher in den hochmodernen Tagungsräumen hinter schalldicht verschlossenen Türen so alles ausheckten.

»Singer, sind Sie dran?«, quäkte Murnauers Stimme ungeduldig durch den Hörer.

»Ja, hier ist Peter Singer.«

»Hier ist Professor Doktor Murnauer.« Einfach lächerlich, wie dieser Kerl seine Titel in die Länge zog wie einen ausgeleierten Kaugummi. Seine schlaflosen Nächte verbrachte er vermutlich damit, sich neue auszudenken. Großimperator Murnauer, Seine Majestät Murnauer, Seine Eminenz Papst Krösus der Dritte von und zu Murnauer … falls Murnauer überhaupt je schlaflose Nächte hatte, was Singer allerdings stark bezweifelte.

»Singer, es gibt Arbeit für Sie. Ich brauche Sie im Institut. Noch heute Abend«, fuhr Murnauer fort.

»Wie bitte?« fragte Singer. Murnauer verschwendete keine Zeit für Höflichkeiten, so viel musste man ihm lassen. »Äh … Dr. Murnauer, ich bin gerade aus Peru zurück, habe seit achtundvierzig Stunden kaum ein Auge zugemacht und habe … nun, ich habe hier erst mal einiges Privates zu erledigen«, brachte Singer den Versuch eines Einwands vor.

»Ich bin mir Ihrer Lage durchaus bewusst«, sagte dieser, und ließ offen, was genau er damit meinte. Wie genau er über Singers momentane Lage Bescheid wusste. »Glauben Sie mir, ich hätte Sie nicht rufen lassen, wenn es nicht wichtig wäre. Ihre privaten Erledigungen werden aber warten müssen, fürchte ich. Wir benötigen Sie im Institut, sagen wir in einer Stunde?«

Singer zwang sich, ruhig zu bleiben. Er atmete ein. Er atmete aus. »Hören Sie, Murnauer, ich kann Ihnen die Ergebnisse der Amazonas-Forschungen auch rüberfaxen, wenn es denn so furchtbar dringend ist. Und morgen Abend könnte ich vielleicht mal im Institut …«

Murnauer überging das Weglassen seiner akademischen Grade großmütig, als er Singer unterbrach. Seine Stimme nahm einen jovialen Plauderton an, der Singer sofort argwöhnisch aufhorchen ließ.

»Nein, nein, Dr. Singer. Es geht nicht um Ihre Amazonas-Ergebnisse, die sicher ganz bemerkenswert sind.« Seine Worte klangen erstaunlicherweise ehrlich anerkennend. Singer wusste, dass er immer noch verdammt gute Arbeit leistete. Und Murnauer wusste es ebenso. Genau das war ja das Problem.

»Es geht um etwas wesentlich … Größeres. Etwas Einmaliges, von äh … internationaler Bedeutung.«

In Singers Kopf begann ein kleines, grellrotes Licht zu blinken. Internationale Bedeutung klang irgendwie verdächtig nach Krisenstab und finsteren Männern in straff gebügelten Paradeuniformen und einer Unmenge bunten Metalls an der Brust, die sich in einem atombombensicheren Bunker versammelten, um in aller Ruhe über die Art und Weise des nächsten Weltuntergangs zu beratschlagen. Unvermittelt sah er sich in der Rolle von Stanley Kubricks rollstullfahrendem »Dr. Seltsam«. Heil, mein Führer!

Singer fröstelte.

»Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Dr. Singer. Ich habe Sie nie leiden können.« Soviel Offenheit überraschte Singer, der Fakt an sich weniger. »Aber wir haben hier etwas, das wollen Sie sich ansehen, glauben Sie mir! Eine Chance, wie ich Sie ihnen nur einmal bieten werde.« Und nach einer wohlkalkulierten Pause setzte er hinzu: »Singer, wir untersuchen hier eine neue Spezies.«

»Eine neue … ?«, schnappte Singer. Und hasste sich im selben Moment dafür.

»Eine neue Spezies, ja.« Wieder eine dieser unheilschwangeren Pausen. Murnauer musste diese daheim vor dem Spiegel geübt haben, sie funktionierten jedenfalls prächtig.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739338859
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
wesen horror horrorthriller fiction science fremdes thriller alien monster Horror Science Fiction

Autor

  • L.C. Frey (Autor:in)

„Die ersten Plätze in den Bestsellerlisten ist er gewohnt, in den Kategorien Suspense und Psychothriller rangiert er meistens auf Platz 1. Viele Auszeichnungen schmücken seine Vita. Bestseller-Autor L.C. Frey ist […] sehr bekannt für seine Krimis und Horrorthriller.“ – Angela Baur, Tolino Media Blog
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Titel: Draakk: Etwas ist erwacht